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Wilnaer Abklatsch

Die Stadt des Elends *

Die Stadt des Elends hat goldene Kuppeln. Lockend glänzen sie in die Ferne hin. In der Nähe aber schrumpfen sie zur Nichtgeltenheit zusammen, und in ihrem Schatten wachsen die Schandhäuser.

Die Stadt des Elends hat prunkvolle Kaufläden, gefüllt mit Gütern aus der noch offenen Welt. Viel Lebensmittel gestapelt. Daneben aber in den lichtlosen Hausgängen hockt die Not und stuppt mit ihren dünnen Fingern den Kindern die Backen ein.

Die Stadt des Elends kennt Leute in Prunkkleidung. Gelbe Seide ist auf der Straße häufiger, als drin im Park die gelben Wiesenblumen. Aber neben diesen seidebekleideten, wohlgepflegten Leibern stolpern Bettler, armselige Menschenbündel, denen der Hunger aus jeder Gesichtsfalte schaut.

Die Stadt des Elends hat tausend Namen und tausend Gestalten. In diesem einen Fall aber heißt sie Wilna.

Die Gasse *

Die Sonne hat sich mit aller Pracht in eine alte, vergessene Gasse geworfen. Da sitzt sie nun wie eine Glucke auf dem Nest, brütet Lust und Leben, tut Herrgottsdienst, und lockt aus den dünnen Erdstreifen zwischen den Pflastersteinen Grashalme und grünes Gekräute hervor.

Anfangs zeigen sich die Pflänzlein nur zaghaft, aber sobald sie das Leben in seiner ganzen Köstlichkeit schmecken, werden sie breiter und stolzer und kommen in Scharen. Spitzgras, Breitgras, Kräuselgras, Gras in Rispen, wilder Hafer; das Hirtentäschelkraut sei auch nicht vergessen.

Ich rechne aus: Wenn das so weiter geht, wird in zwei Wochen die ganze Gasse grün sein.

Und sie wird auch grün! Sehr zur Freude eines alten Panjepferdes, das jedesmal, wenn es zur Tränke geführt wird, stehen bleibt und die zarten Spitzen frißt. Auch zu meiner Freude; denn meine Füße schreiten auf der grünen Pracht weich wie auf Walderde. Am meisten aber zur Freude der Kinder; die wälzen sich drin, als sei es der herrlichste Mattenboden.

Doch der Herr Stadthauptmann findet, daß in einer Gasse kein Gras wachsen soll, dazu sind die Wiesen da. Er schickt einen Mann hin. Der ist ganz alt wie ein Tropfstein und haßt alles Junge. Erst jagt er die spielenden Kinder weg. Dann zieht er seinen Rock aus und hängt ihn an einen Zaun. Dann sitzt er mit zusammengebissenen Zähnen da und kratzt mir spitzen Eisen die Fugen aus. Kein Hälmchen findet Erbarmen.

Die Sonne scheint und brennt ihm Nacken und Backen rot. Er läßt sich nicht stören, eine Ritze nach der andern kommt daran.

Regen fällt und macht ihm Hemd und Buckel naß. Was kümmert ihn Regen und nasses Gewand? Das Grasausroden ist seine Arbeit. Dafür wird er bezahlt. Für alles andere ist er blind und taub.

Also sträub dich nicht, widerspenstige Quecke!

Ich schau ihm zu. Wie das spitze Eisen knirscht!

Aber es geht trotz alledem nur langsam; das Herz der Pflanzen hält sich gar tief in der Erde verborgen. Bis zum Abend wird der Mann keine zehn Meter geschafft haben.

Und das freut mich. Denn wenn er heute zehn Meter schafft und morgen zehn Meter und übermorgen noch einmal soviel, so hat, bis das Knechtlein zu Ende ist, das ausgerodete Ende von neuem gesprießt. Denn ich kenne das Leben.

Das Panjefohlen *

Ein kleines, geschecktes Fohlen ist gestürzt. Quer liegt es über die Gasse und sperrt den Weg. Keiner der Fußgänger kann mehr weiter. Auf beiden Seiten stauen sich die Leute, die ihr Geschäft hier durchs Viertel führt. Der Glaser stellt seine Glastrage gegen die Wand; zwei, drei Handkarren fahren hintereinander auf; etliche Dämchen rümpfen die Nasen und sagen: »Pfui!« Der Kutscher schreit auf das gestürzte Tier ein, und, sieh nur, wirklich, die Ordnung wacht, da hinten kommt ein Miliziant gerannt, schwenkt seinen Holzknüppel und will Ruhe stiften. Aber als er ganz heran ist und das Elend sieht, läßt er den Knüppel sinken und schaut ratlos mit seinen blauen Augen in die Runde. Der Kutscher flucht noch immer. Da mischen sich ein paar Soldaten ein und versuchen, das Pferd auf die Füße zu bringen. Die faule Menschheit schaut zu.

Und wie sich die Kameraden da mühen um die arme Kreatur, fällt mir ein anderes Fohlen ein, das genau so klein, gescheckt, so struppig, so verwahrlost, so tierelend war. Das erstemal sah ich es, als ich in einer Jännernacht auf dem Parkplatz unserer Ortsunterkunft Wache stand. Kalt war es und winterlich, und der Schnee hatte eine Härte, daß die Schritte summend sangen, und daß die Sterne blitzten wie aus einem Spiegel heraus. Außerdem zog ein niederträchtiger Wind über die eingeschneite Sumpfniederung her. Da hatte sich das Fohlen auf die Seite des Bauernhofes verdrückt, wo der Wind nicht so scharf hinkam, und da stand es nun, gab seinem Hunger nach und knabberte an dem Stroh des schief herunterhängenden Daches. Als es mich daherstapfen hörte, wandte es den Kopf. Ich rief es leise an. Es lief aber nicht fort vor meiner Soldatenstimme, wie es sonst die Art der Panjepferde ist, sondern kam mir sogar ein paar Schritte entgegen und schnupperte die Luft ein. Als es aber merkte, daß ich ihm nichts zum Fressen mitgebracht hatte, kehrte es sich um, knatsch, knatsch und knabberte an seinem Strohdach weiter. Und als nun der Mond hinter dem Storchenrad des vorderen Hofes aufging und sein mitleidlos helles Licht in die Landschaft hineinhängte, so daß die Elendgestalt dieses Pferdes, der tiefeingesunkene Rücken, die spitzen Schulterknochen, die wunde, vom Geschirr aufgerissene, zerschundene, zerschwärte Haut erst recht offenbar wurde, kam ein heißes Mitleid über mich, und ich mußte daran denken, wieviel wir Menschen, wir Soldaten es doch besser haben, als diese Tiere. Unsere Heimat sorgt für uns, sie liefert Essen und Kleidung; sie liefert auch die Waffen, mit denen wir uns erhalten und verteidigen können. Aber welche Seele liefert diesen Panjepferden etwas? Der Bauer hat kaum genug für sich; Heu und Stroh sind dahin; wo soll er noch etwas herholen? So irren denn diese ausgestoßenen Kreaturen nachts im Freien umher, vom Hunger getrieben, nagen die Rinde der Bäume ab, scharren mit den Hufen den Schnee vom Feld und suchen nach Grasbüscheln und kehren hungriger zurück, bis – nun bis auch ihnen das Ende gemacht ist. So oder so. Und so lag auch dieser Panjegaul eines Morgens tot am Sumpfrand, die Füße weit von sich gestreckt, die glanzlosen Augen nach der Gegend gewendet, wo allmorgendlich hinter Winterwolken die Sonne aufging. Und Raben kreischten und flogen herzu und erprobten die spitzigen Schnäbel ...

Diesmal sind es keine Rabenschnäbel, die auf dich einhauen, toter Gaul, diesmal sind es die spitzig neugierigen Augen der Menschen. Die Soldaten haben sich redlich gemüht mit ihrer Hilfe, haben mit scharfen Messern die Bindestränge zerschnitten, die dich an die unbarmherzige Deichsel fesselten, haben dir das Kummet vom Halse gezogen, haben dir den quälenden Lenkstrick vom Munde genommen. Aber dieser Liebesdienst kommt zu spät. Deine Seele ist längst dahin. Nur dein Blut ist noch da und sickert in dunklen, mohnroten Tropfen in den blendweißen Kalk, mit dem, genau nach Vorschrift, die Gosse ausgestrichen ist.

Jetzt packen kräftige Fäuste zu und zerren dich zur Seite. »Totes Tier, gib die Straße frei!« fordert das Leben. Der Fuhrmann steht an der Hauswand und heult um sein verlorenes Vermögen. Du warst es, totgequältes Pferd. Die Glaser packen ihre Scheibenkästen wieder. Schrrrapp, rasseln die Handkarren über das Holzpflaster. Der Miliziant trägt seinen Holzknüttel anderswo hin. Die Soldaten eilen zur Kaserne, schnell, es ist Zeit. Nur ein Dämchen steht noch da und putzt am struppigen Fell des Pferdes ihren Schuh ab. Denn sie ist unversehens, »Puh«, in das garstige Blut getreten.

Mittag *

Der Führer geleitete uns in den Gefängnishof. Der lag da, mit gelbem Sand bestreut, wie ein großer Exerzierplatz, erschreckend einförmig, und dieser Eindruck der Einförmigkeit wurde verstärkt durch die dreifachen Reihen vergitterter Fenster, die scharf ins Viereck liefen.

Wir wanderten auf der Seite, die jetzt zur Mittagszeit die meiste Sonne hatte. Da schloß eine hohe, dickbäuchige Mauer den Hof ab. In dem Winkel, wo die Mauer an das nächste Gebäude stieß, hatte sich ein dicker Schattenklumpen verkrochen, und aus seinem finsteren Maul wuchs ein Holzpfahl mit eisernem Halsring.

»Hier ist der Ort, an dem die Spione erschossen werden,« sagte der Führer und zeigte auf die Zieltafel, die den armen Schächern aufs Herz gebunden wird, und die schon vielfach von Kugeln durchschlagen war.

Wir wendeten uns, und trotz der Sonne, die stark und sommerwarm schien, war allen auf einmal recht kühl geworden, wir fröstelten beinahe. Die Gefangenen hatten inzwischen gemerkt, daß Besuch gekommen war. An jedem Fenster klammerten sich Fäuste ans Gitter. Erschreckte Augen schauten heraus.

Nahe klangen, als wir das Gebäude verließen, Weisen einer Militärmusik. Braungebrannte Soldaten marschierten. Noch hatte das Herz den Schall der Hinrichtungsschüsse im Ohr und schon summte der Mund das jauchzende Liedl mit:

Spiegelblank sind uns're Waffen,
schwarz das Lederzeug.
Wenn wir's bei den Mädchen schlafen
ist uns alles andre gleich!
Ja, ja, ja, ja:
Wenn wir's bei den Mädchen schlafen.
ist uns alles andre gleich!

Abend *

Die Sonne hat die Regenwolken zum Teufel gejagt. Da sitzt sie nun mit voll aufgeblasenen Backen, liebäugelt mit den Spatzen, die sich schreiend das naßgewordene Gefieder putzen, streicht mit linden Händen das wasserzerzauste Kleid der Bäume zurecht und, nachdem sie von dieser Arbeit rechtschaffenen Durst gekriegt hat, springt sie hin und säuft alle Pfützen und Lachen aus, die noch auf Straßen und Plätzen den Himmel abspiegeln.

Die Menschen lassen sich diese Arbeit der Sonne wohlgefallen. In Scharen marschieren sie hinaus, um die Stunden nachzuholen, in denen der niederrauschende Regengrobian sie in Haus und Hütte zwang.

Verliebte Mücken spielen; übermütig jagen zwei Hunde die Gasse entlang. Neben der Dachtraufe liegt behaglich ein Katzentier und schaut blinzelnden Auges in die Abendwelt.

Die rote Backsteinkirche hat ihre Türen aufgetan. Aus dem Innern singt die sanfte Stimme einer Orgel heraus. Scharen nackter, lieblicher Engel entschweben mit den Tönen, und das Licht, das sich in den bunten Fenstern bricht, liegt wie ein Kübel ausgeschütteter Malerfarbe auf den Steinfliesen.

Ein Wagen kommt dahergesackt, wie ihn die hiesigen Bauern auf ihren Feldern haben. Klein, schmutzig, verwahrlost, seit Jahren nicht mehr geschmiert. Die Räder knirschen unwillig bei jeder Umdrehung, und wenn's bei dem Holperpflaster über einen Stein geht, scheint es, jetzt reiße das Gestell voneinander. Ein kleiner Panjegaul ist vorgespannt, struppig, mager, wie das Bildnis des Tods von Basel. Die Rippen sind bequem zu zählen. Aber die Last, die das Rößlein zu ziehen hat, scheint nicht schwer. Ein kleiner, weißer Kindersarg ist mit Stricken auf den Karren gebunden. Ein Bursche fährt und knallt unbekümmert mit der Geisel. Ein Bauer und seine Frau traben mit gesenkten Köpfen hinterher dem Kirchhof zu. Kein Pfarrer dabei, kein Meßner. Wozu auch? Die Sonne ist heute Totenbegleiter. Sie weiß es und schickt jetzt, da immer merkbarer Abend wird, ihren mildesten Schein.

Über dem Fluß fängt die Nachtsingerin Nachtigall an zu schlagen, und auf der Bank, die unter dem roten Beerenbaum hinter der Totenmauer steht, liegt ein Soldat bei einer Magd in engem Umarmen.

Sterbendes Kind *

Von einem fröhlichen Abend war ich heimgekommen. Nach langer Zeit wieder hatte ich feststellen können, wie ein deutscher Wein schmeckt, und so froh ging ich dahin und so lustig, daß die Sterne am Himmel nicht mehr Schritt halten konnten und merklich zurückblieben. Was Schönes gesprochen war an diesem Abend, flammte noch einmal auf wie ein Feuerwerk und blieb lange in ruhigem Schweben, und durch das Gassendunkel, das ich händeschlenkernd zerteilte, stieg volleuchtend wie das Mondgestirn ein liebes Gesicht auf und grüßte nach mir hin.

Die Nachbarshunde bellten, als ich die Gartentür aufschloß, und wurden erst still, als ich sie anrief. Die Haustür klinkte lachend hinter mir zu; ich tappte mich durch die Zimmer, suchte nach der Streichholzschachtel und zündete den Kerzenstumpen an. Ein Nachtkäfer kam und flog mit Summen um die Flamme, und während mein Auge seinen lichttrunkenen Bewegungen folgte, mußte ich denken, wie sehr unser Leben gleich dem seinen sei. Sechzigmal in der Minute richten wir unsere Flügel dahin, wo uns der Schein lockt.

Die schwarze Katze kam und strich mir an den Stiefeln entlang. Ich nahm sie in den Arm, stellte sie aufs Fensterbrett und fuhr ihr über den Rücken. Bald fing sie zu schnurren an, in ihre grünen Augen kam merkwürdiger Glanz. Ich öffnete das Fenster vollauf, ließ mir die kühle Luft um die Backen spielen und schaute durch die Kirschbaumzweige, an denen wie schwebende Welten die Schattenkugeln der reifen Früchte hingen, hinauf zur Himmelsbahn, wo die Kompagnien der Sterne marschierten.

Da scholl auf einmal ein Schrei durch die Nacht. Langgezogen, markdurchdringend. Wie wenn ein Mensch in Todesnot ist, die letzte Minute vor seinem Ende.

Lauter, unheimlicher, grausiger klangen die Rufe, spitz, mißtönig, unangenehm, als ob die Schaufeln einer Arbeiterkolonne auf dem harten Steinpflaster einer Straße entlang scharrten.

Da wird jemand umgebracht! dachte ich, griff nach dem Koppel und rannte davon.

Beinahe ohne Atem vom schnellen Lauf, traf ich auf zwei dunkle Gestalten, die vor einem hellerleuchteten Fenster standen und die Szene drinnen im Zimmer betrachteten. Etwa zwanzig Menschen, verwahrlost, zum Teil nur halb angekleidet, standen in diesem Raum. Und eine Frau, an einem Korb lehnend, der wohl eine Wiege vorstellen sollte, hielt ein Kleiderbündel in Händen, aus dem ein Säuglingskopf herausschaute: bleich, mit starren Augen, offenem Mündchen, die kleinen Fingerchen krampfhaft zu Fäusten geschlossen. Dieses Bündel schwang sie hin und her mit Gebärden des Schmerzes, und als es ihr jemand aus der Hand riß und in den Korb zurücklegte, stieß sie dieses wahnsinnige Geheul aus, das alle Nerven aufriß und einem schier das Blut in den Adern gerinnen machte.

Ein alter, weißbärtiger Mann kauerte auf einem Schemel in der Ecke, in seinen Augen den roten Widerschein der Petroleumlampe, und sein weißer Bart schien so unbewegt, als sei er gleich Marmorfäden aus einem marmornen Antlitz gewachsen.

»Was ist das?« fragte ich einen der beiden Wächter, der, in seinen dicken Mantel gehüllt, gleich mir dem allen zugesehen hatte.

»Was wird das sein, Herr,« sagte er, »ein Judenkind ist gestorben.«

Und fröstelnd knüpfte er sein Kleiderzeug fester, tippte seinem Kameraden auf die Schulter und hinkte davon.

Eine nacktfüßige Frau kam aus dem Hause gestürzt, weinend, schreiend lief sie die Gasse hinab, das aufgelöste Schwarzhaar hinter sich herflattern lassend.

Litauisches Lied *

Ich glaubte zu träumen, als ich ins Zimmer geführt wurde. Spiegel an den Wänden, bunte Bilder, Abklatsch des Lebens, ein Tisch, ganz weiß gedeckt, blinkendes Geschirr, Polsterstühle, für einen Soldaten, der frisch aus dem Graben gekommen war, Sachen, die er nur noch vom Hörensagen kannte.

Die Liebenswürdigkeit der Wirte war nicht zu erschöpfen, das Gespräch floß so ruhig dahin, wie das Wasser in einem sauber abgestochenen Kanalbett, das Essen war so gutmundend, daß ich keinen Augenblick daran dachte, unter fremden Menschen zu sitzen.

Als die Lichter angezündet waren, setzte sich der dicke Pfarrherr an den Flügel und, von einer weichen Frauenstimme getragen, schwebte das Lied durchs Zimmer:

Als ich saß beim Mütterchen,
blieb die Arbeit ungetan,
hatte mir mein Gärtlein
mit grünem Ahorn umzäunt.

Säte Raute, säte Minze,
säte weiße Lilie,
säte meine jungen Tage
wie die grüne Raute.

Reimt die Raute, keimt die Minze,
keimt die weiße Lilie,
keimen meine jungen Tage
wie die grüne Raute.

Goß die Raute, goß die Minze,
goß die weiße Lilie,
goß auch meine jungen Tage
wie die grüne Raute.

Wuchs die Raute, wuchs die Minze,
wuchs die weiße Lilie,
wuchsen meine jungen Tage
wie die grüne Raute.

Pflückte Raute, pflückte Minze
pflückte weiße Lilie,
pflückte meine jungen Tage
wie die grüne Raute.

Flocht die Raute, flocht die Minze,
flocht die weiße Lilie,
flocht auch meine jungen Tage,
wie die grüne Raute,

Welkte Raute, welkte Minze
welkte weiße Lilie,
welkten meine jungen Tage
wie die grüne Raute.

Tot die Raute, tot die Minze,
tot die weiße Lilie,
tot auch meine jungen Tage,
wie die grüne Raute.

Einfach die Worte, einfach die Weise, Ausdruck der Seele eines Volkes, das bisher das Leben einer Pflanze geführt.

Mit jeder Zeile, die verklang, löste sich die Schale, womit hier draußen das Leben die Herztür verkrustet, und ich hätte der lieben Stimme ewig zuhören mögen.

Der Geiger *

Als er mir das erstemal auffiel, erstaunte ich über seinen seltsamen Kopf. Wie eine unreif vom Stiel gerissene Birne sah der aus, oben hübsch breit, rundlich beinahe, nach unten aber, dem Kragen zu, immer armseliger werdend, bis das Ganze schließlich in einem lächerlich dünnen, von einer breiten, schwarzen Künstlerkrawatte bedeckten Halsstengel verschwand. Und wenn dieser urgelungene Kopf einen Schatten hinter sich warf, sah das an der Wand aus, als ob da aus irgendeinem alten, braungebeizten Kapellenbild der nachttriefende, kohlenglotzige Teufel hervorsehe, der sich selber, hahaha, auf den Zottelschwanz tritt. Über die Mitte des Kopfes war wie mit zarten Bleistiftstrichen ein starkgelichteter, wirrer Haarkranz gezogen, und von vorn glänzte vom Aufstieg der Stirne an die Glatze so glatt wie ein gutgewichster Tanzboden. Und es war auch wahrhaftig ein Tanzboden – nur daß sich da nicht die Gedanken der Freude vergnügten, sondern die schmerzbringenden Plattfüße der Not und die Bleiklumpen der Sorge.

Dieser Geiger mit dem seltsamen Kopf stand also Tag für Tag vor seinem Pult im Saal eines großen Kaffeehauses. Eingepreßt stand er da zwischen Cellist und Harmoniumspieler, mit so wenig Raum für sich, daß er nie zu einem weiten, kräftigen Bogenstrich ausholen konnte. Daher klang der Ton seiner Geige immer ein wenig bedrückt, gepreßt; es hörte sich an, als ob da mit dem Schreiten der Melodie jedesmal ein leises, verhaltenes Kinderweinen mitginge, mochte das Lied, das er spielte, nun lustig sein oder traurig. Es war wirklich ein Weinen, das da mitschwang: das Schluchzen einer gefangenen Seele. Von den Gästen aber hörten das nur wenige. Die meisten saßen mit sich, mit Gott und der Welt zufrieden, breit in den Stühlen und tranken das schöne braune Bier, das es da gab. Oder sie schlozzten Kaffee und kauten an Kuchen. Manche auch bliesen Rauch von sich, und der schwang sich bläulich kräuselnd zur Decke, eine Wolke des Behagens bildend.

Freilich, in diese Wolke des Behagens schrillte manchmal des Geigers Geigenstimme wie ein falscher Ton hinein. Da schaute wohl hie und da einer der Kunstverständigen einen Augenblick lang auf und rümpfte mißbilligend die Stirn. Und der Geiger, von diesem Anschauen betroffen, fand sich plötzlich wieder hinein in die Umwelt, sah die würdigen Mohrenköpfe auf seinem Notenblatt in feierlicher Prozession dahergehn, und spielte den nächsten Satz so sauber und gestochen, daß, wenn das Stück zu Ende war, der Landsturmmann Meyer IV, der in der Ecke saß, mit seiner Anerkennung nicht zurückhielt und knallend in die Hände klatschte. Die Mehrzahl der Anwesenden folgte diesem Beispiel. Eine Geräuschwoge wälzte sich durch den Saal hin, und der Geiger, dem ein feines Rot in die Wangen gestiegen war und der sich im ersten Augenblick hinter seinem Notenpult zu verstecken gesucht hatte, mußte vortreten und sich mehrfach verbeugen.

Das Leben und Schwatzen im Saal ging weiter. Der Geiger aber stellte sich während der Pause mit dem Rücken an den Kachelofen, als ob er da Schutz finden könne vor der inneren Kälte, die seine Seele überlief. Der Saal versank vor seinen Augen, wenn er so dastand; das ganze erbärmliche Leben versank; er konnte ein paar Minuten frei sein und sich auf den bunten Matten der Erinnerung ergehen, jenen Wunderwiesen, auf denen die leuchtenden Blumen genossener Stunden wachsen. Das heißt, diese Wunderblumen blühten nur so lange, als der Wirt wollte; wenn der mit seinen feisten Augsdeckeln zwinkerte, mußte der Geiger von dem wärmenden Ofen fort, fröstelnd die Schulter hochgezogen, aufs Podium hinauf, neues Harz an den Bogen tun und spielen, spielen ...

Eines Abends, es ist noch nicht so lange her, stand an des Geigers Stelle plötzlich ein anderer da, ein junger, breitbrüstiger Mensch, der sich gleich eine Ellenbogenlänge mehr Platz geschafft hatte, so daß er mit dem Bogen ausholen konnte, so weit er wollte. Der Neue spielte keine falschen Töne, da ging kein verhaltenes Weinen mit: bei dem klang nur in einemfort das freche Lachen der E-Saite durch. Denn die war aus Stahl, damit sie recht schallte. Der Neue kannte das Leben: er schickte den »Juxbaron« gleich hinter der »geschiedenen Frau« her, und das süße Schmalz der »Dollarprinzessin« trug er so dick auf, als er nur konnte, wenn der Landsturmmann Meyer IV und, von diesem angesteckt, der ganze Saal Beifall klatschte, verbeugte sich der Neue so tief, daß man bequem seinen pomadebestrichenen Scheitel sehen konnte, der ihm bis ins Genick reichte. Und der dicke Wirt hinter dem Ausschank sah wohlgefällig zu, rückte sich die Weste zurecht und schmunzelte: »Ja, ja, der Neue, das ist ein ganz anderer!«

Die Waschfrau *

Eine kleine, zusammengeschrumpfelte, grausträhnige Gestalt, die da jeden Montag früh, wenn wir gerade überm Kaffee saßen, aus dem Boden gewachsen vor uns stand, wie eine frischausgegrabene Kartoffel, so unansehnlich, so erdfarbig sah sie in ihrem lehmgrauen, aus russischen Soldatenmänteln gefertigten Gewand aus. Und so klein und unansehnlich sie war, so winzigklein und unansehnlich war auch, wenigstens zu Wochenanfang, ihr Mut. Jedesmal ließ sie sich zuerst ansprechen. Was sie sei und was sie wolle? Die Waschfrau sei sie, und die Wäsche möchte sie holen kommen von den Herren Soldaten. Denn sie arbeite ja so sauber und so billig und so schnell, und man könne sich auf sie verlassen. Nichts würde sie verwechseln, und wiederbringen würde sie alles zur Zeit, selbst wenn wir einmal unversehens abmarschierten. Da brachte denn ein jeder, was er gerade hatte an verschwitzten Sachen, herbeigeschleppt, und die Alte überschlug den Haufen Wäsche mit ihren kleinen, schon ein wenig trüben Augen, merkte sich die Eigentümer, breitete dann ein Laken aus und packte alles in ein Bündel zurecht. Das Ding, das sie da drehte, wurde meist so umfangreich, daß sie's kaum zu erschleppen vermochte. Aber vorsorglich hatte sie sich einen Stock zugelegt, den sie unter den zusammengeknüpften Enden durchsteckte, so daß sie die Last viel leichter aufheben konnte. Wie weiland Atlas mit einer unförmlichen Kugel behangen, humpelte sie mühsam davon. Kein Unterschied. Atlas mag an der seinen nicht schwerer getragen haben.

Sonnabends, wenn die Alte die Sachen zurückbrachte, war sie von Grund aus verändert, viel kecker und zutraulicher. Da war ihr altes, abgehärmtes Herz fröhlich gesonnen, und ihr welker, furchenumzogener Mund zuckte vor Lustigkeit. Sie wußte: für jedes gewaschene Hemd kriegte sie zwanzig Pfennig, für jedes Paar Strümpfe zehn, für jedes Schnupftuch fünf. Und die ganze Woche hindurch hatte sie, am Waschkübel stehend, ausgerechnet, wie hoch das gesamte Ergebnis wohl sein würde, wenn ihre zittrigen, rotüberlaufenen Hände erlahmen wollten bei der Arbeit, hatte sie sich neue Kraft und neuen Mut getrunken an dem Gedanken, daß sie diesmal an die sechs Rubel bekäme oder gar noch mehr. Sechs Rubel! das ist leicht dahingesagt! Aber was steckt da alles darin an durcharbeiteten Tagen, an durchwachten Nächten, an Leid und an Not! Sechs Rubel: das gab nun wieder für eine Woche nährend Brot, das gab Salz und Zwiebeln für die Suppe und, Sommers gar, wenn alles billig kam, ein Pfund Fisch. Sechs Rubel: davon konnte, wenn die Obrigkeit mahnte, die fällige Kopfsteuer bezahlt werden, die Hausmiete für den nächsten Monat. Sechs Rubel: davon konnte neue Seife gekauft werden und neues Feuerholz. Und die Alte überlegte und überlegte und erkor und verwarf, und in ihrem alten Kopf schossen eilig die Gedanken hin und her wie die gelben und schwarzen Holzkugeln auf einem Rechenbrett, wenn's voller Hast auf das Ende geht. Und dieses Denken und Rechnen machte sie fröhlich. Das war Leben nach der Sonnenseite hin. Geld gab es, schönes gutes Geld wenn's auch nur buntes Papier war. Geld! Geld! Das schloß der Not, deren Atem der Alten Stunde für Stunde eisig über die Achsel pfiff, für diesen Tag wenigstens den Mund.

Die Freude am Gelde wandelte die Alte beinahe zum Kind. Das Alter macht gierig. Wenn sie unsere Rubelscheine sah, brannten ihre Augen auf wie Signallichter in der Nacht. Hastig griff sie danach, und sie mußte es sich darum gefallen lassen, zum Gegenstand harmloser, gutmütiger Neckereien gemacht zu werden. Das störte aber die gegenseitige Freundschaft nicht, im Gegenteil, sie festigte sie eher, und so war uns denn ihr Dasein mit der Zeit so unentbehrlich und nötig geworden, wie das tägliche Brot.

Eines Samstags aber, als wir sehr auf ihr Erscheinen gerechnet hatten – sogar das übriggebliebene Essen war für sie zurückgestellt worden – blieb die Alte aus. »Nanu,« sagte der Stubenälteste, als die Uhr schon stark gegen zwei ging und sich ihr bekannter Schlürfschritt noch immer nicht auf den Steinfließen des Klostergangs vernehmen ließ, »nanu, sie wird mit unseren schönen Hemden doch nicht etwa durch die Lappen gegangen sein?« Das war ausgeschlossen. Aber als sie auch Sonntags und Montags nicht erschien, jagte eine Vermutung die andere. Schließlich wurde einer ausgeschickt, um nachzusehen. Bedrückt kam er nach Stunden wieder. »Sie ist uns doch durchgegangen,« sagte er, »sie ist gestorben.«

Und während er anfing zu berichten, wie er die Alte in ihrer Hütte gefunden hätte, tot und erstarrt zwischen vollen und halbvollen Waschfässern liegend, sonst nichts Lebendiges im dunkeln Zimmer als einen grauen Kater, der, den Fremden anfauchend, mit gekrümmtem Rücken, giftgrünfunkelnden Augen in der Ecke stand und kläglich schrie, wenn man auf ihn zuging, wie er dann weiter berichtete, wie er die Nachbarn herbeigerufen hätte und die Polizei, und wie er dann schließlich damit endete, daß alles den gesetzlich vorgesehenen, gesetzlich geregelten Weg gegangen sei, zwang es meinen Blick auf einmal zum offenen Fenster unserer Stube hin, wo eine Spinne sich eben daran machte, ihre Netze des Todes zu weben. Die Kameraden sahen das auch und verstummten.

Jetzt ist die Alte längst vergraben, vergessen. Und verirrt sich die Rede jemals wieder auf ihre Zittergestalt, so sagen die Kriegsgenossen: »Ja, meine Lieben, bei dieser Gelegenheit gingen unsere schönen Hemden flöten!«

An die schönen Hemden denke ich schon lange nicht mehr. Ich denke nur an die dicke Kreuzspinne vor unserem Fenster, die da unbekümmert um unser Reden und Tun spitzzähnig wie das Schicksal in ihrem frischgebauten, schillernden Netz saß und einer Fliege, die sich heftig wehrte, das Mark aussog.

Und ich weiß: »Ja, Freundchen, das Leben!«

Der Tatar *

Der Tatar, den ich hier auf dem Korn habe, trieb sich hauptsächlich in der Gegend der unteren Popowschysna umher. Später aber, als seine Unternehmungslust stieg, machte er die Saschetschestraße und – wenn's hoch kam und es frische Mazzen gab – am Schabbes auch die Färbergasse unsicher. Über diesen engen Bezirk hinaus ist er aber meines Wissens nie gekommen.

Dieser hierher versprengte Vollasiate war ein höchst merkwürdig gewandetes Bündel Mensch. In Deutschland hätte man ihn in seinem Aufzug nicht frei umherlaufen lassen: Hagenbeck hätte ihn sicherlich in seine Tier- und Völkerschau mitgeschleppt. Hier aber in Wilna ließ man ihn ruhig gewähren – zur Bereicherung des Stadtbildes und zur Belustigung der Gassenjungen.

Von hinten merkte man an ihm weiter nichts Auffälliges. Er wies da den breiten, dem Soldaten gewohnten Anblick des pelzbedeckten, harmlosen Panje-Buckels auf. Damit aber der Tatar zum Vorschein kam, brauchte er nicht gekratzt, sondern nur umgedreht zu werden. Da sah denn das erstaunt sich weitende Auge ein Gesicht, wie man es wohl in schlechten Bilderbüchern dem Hunnenkönig Attila aufgemalt findet: gelb wie getrocknete Zitrone, backenknochig, schlitzäugig, niederstirnig: kurzum Asiens Abklatsch.

Es wurde vorhin von einem Buckel gesprochen, der pelzbedeckt war. Das stimmt nicht ganz; denn es war kein Pelz, in dem der Tatar eingemummt ging, sondern nur eine Sammlung von Teilen von Kleidungsstücken, die ursprünglich einmal zu einer Art Winterpelz gehört haben mochten. Was aber nicht ausschloß, daß der Tatar diese Überreste von Kaninchen-, Katzen-, Hund- und Schafsfellen auch im heißesten Sommer trug. Freilich, um diese Kleidung erträglich zu machen, war ein Luftloch vonnöten, das sich in Gestalt eines länglichen Schlitzes vorfand, der sich über die zottige Brustwand hinzog. Aber die Bezeichnung dieser Einrichtung mit Luft- oder Lüftungsloch stimmt auch nicht. Es müßte Fangloch heißen; denn diesem nützlichen Zwecke diente es. Nie, wenn die vom Schmutz schwarzgebeizte Hand hineinfuhr, sah man sie ohne reiche Beute zurückkehren. Schuhe und Hemden trug der Tatar keine; dafür schwang er aber einen Filzhut ohne Krempe, der aussah, als ob allmittäglich Kartoffeln drin gesotten würden.

Doch so wild, rinaldinimäßig und herzbeklemmend er auch aussah, sein Herz war zahm und mild, tierhaft schüchtern beinahe. Zornig hab ich ihn nur dreimal getroffen.

Das erstemal wollte er von einem Feldwebel, der ihn abgeknipst hatte, einen Rubel Trinkgeld haben. Da wurde er ausgelacht. Zornig schnappte er Gestell und Apparat und sauste damit, von einer großen Schar Menschen verfolgt, bis zum alten Judenfriedhof hin und warf das Ganze in eine Kalkgrube. Hernach kletterte er gewandt wie eine Eichkatze auf einen Baum hinauf, meckerte wie eine Ziege, streckte allen Leuten die rote Zunge heraus und war durch keine Macht der Erde zu bewegen, herunterzukommen.

Das andremal hatte er irgendwo eine Brotkruste aufgegabelt und saß nun damit auf einem Straßenbord und aß und aß. Da kam eine alte Bettlerin gelaufen, stellte sich vor ihn hin, redete mit Mund, Hand und Krückstock und wollte etwas von dem Brot abhaben. Die Alte kam vom Reden ins Schreien. Der Tatar hörte mit Kauen auf und fing zu knurren an, wie ein Hund, den man beim Fressen stört. Ein böses Funkeln kam in seine Augen. Fauchend sprang er auf, steckte den Rest der Kruste in den bekannten Schlitz und entlief schimpfend in einen Hof. Die Alte, zeternd, keifend, hinterdrein.

Das drittemal kam er, von einer Kinderschar aufgeschreckt, unter einer Treppe hervorgekrochen, wo er geschlafen hatte. Die Kinder ärgerten den plumpen Gesellen, riefen ihn mit Schimpfnamen. Nicht genug damit, fingen sie an, Steine aufzulesen und nach ihm zu werfen. Als der erste, klatsch, den Kopf traf, faßte den Tataren unbändiger Zorn, von einem Zaune brach er eine Latte los und sprang, das Holz wie ein Richtschwert schwingend, in stummer Wut den Kindern nach. Das sah aus wie der Teufel auf der Jagd nach armen Seelen. Die Kinder retteten sich aufkreischend in den nächsten Hausgang. Da stand der Tatar ohne Macht, weinend vor Zorn, krampfhaft die Fäuste schüttelnd. Als zuviel Leute kamen, warf er den Lattenprügel in die Gosse, spuckte aus und zottelte davon.

Er lebte das natürliche Leben eines Tieres, was kümmerten ihn die Satzungen wohlanständiger Menschen! Wenn Regen, wenn Nacht war, kroch er irgendwo unter. Schien die Sonne, so war er schlafend zu treffen, wo sie am heißesten hinschien. Hatte er Durst, so legte er sich lang über den Brunnen hin und soff aus dem Troge. Und die Muttergottes im Brunnenstock hielt auch über ihn segnend die Hand auf. Hatte er Hunger, so wußte er schon, wo's Abfälle gab.

So erschöpfte sich sein Leben in wohlgerundetem Kreis. Und seine Tage würden vollkommen gewesen sein und ohne jede Beschwernis, wenn nicht im Hintergrund der Miliziant mit dem Holzknüppel, das drohende Gespenst der Einziehung zum Arbeiter-Bataillon gestanden hätte; denn vor der Arbeit hatte er eine heilige Scheu. Ein einziges Mal nur habe ich ihn einen Wasserkrug schleppen sehen.

Seit dem ersten Schneefall ist der Tatar von der Straße verschwunden, wie von der Erde verschlungen.

Gestorben?

Von der Kopfsteuer vertrieben?

Aufgegriffen und im Lukischki?

Oder doch von Hagenbeck für seinen Zirkus gewonnen?

Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß seine an hellem Sommertag von jenem Feldwebel photographierte klobige Gestalt, in das Viereck einer Postkarte gezwängt, beinahe schon in jedem Papierladen zu kaufen ist. Und da sie bloß zehn Pfennig kostet, ist der Tatar auf dem besten Weg, eine Wilnaer Berühmtheit zu werden.

Schwester Frieda

Ein Soldatenheim. Da lärmt's und schwärmt's wie in einem Bienenstock. Türen fahren auf, Türen fahren zu, Kameraden kommen, Kameraden gehen. Das Auf- und Niederwogen der Männer hat Rhythmus im Leibe, den Herzschlag der Eile; der weite Saal scheint lebendig geworden zu sein. Und am Eingang an der Ecke sitzt an einem kleinen Tisch Schwester Frieda und verwaltet die Kasse. Schwester Frieda! Als ich sie das erstemal sah, erschrak ich ordentlich; denn soviel Schönheit hatte ich an diesem Orte nicht vermutet. Denk dir, du hockst ein Vierteljahr lang oder noch länger von aller Welt abgeschlossen in einem litauischen Froschtümpel, wo's nichts gibt, als Wasser und Moor und Moor und Wasser, wo sich die Füchse nur einmal im Jahr gute Nacht sagen und wo die Welt mit Brettern vernagelt ist, aber mit recht dicken; du hast in deiner Ortsunterkunft nichts anderes gesehen als alte verrunzelte Panjeweiber und anderes berocktes Unerfreuliches, und kannst dir gar nicht mehr recht vorstellen, wie eine schöne Frau eigentlich aussieht, und nun kommst du in die Stadt und gleich im ersten Haus, in das du eintrittst, findest du ein schönes Mädchen, wahrhaftig, ein deutsches Mädchen, mit blonden Haaren und blauen Augen, und bist von diesem unerwarteten reizenden Anblick ärger überrascht als von einer platzenden Handgranate. Aber es ist eine angenehme Überraschung, und ohne daß du willst, steigt dir das Blut zu Kopf; alles nimmt schönere Farben an, und die Welt scheint dir auf einmal so weit geworden. Der Aufwärter bringt dir einen Teller Suppe; Suppe in einem Teller, der so blendend weiß glänzt, wie Neujahrsschnee. Aber die gute Suppe, in die sich sonst die Augen bohren, ist aus einmal recht nebensächlich geworden. Dein Sinn ist voll gefüllt mit der schönen Schwester an der Tür, die lachenden Gesichtes eine Eßmarke nach der anderen verkauft. Diese Augen, diese Haare, dieser kleine Mund, diese feinen, roten Ohren, das Kinn erst, die blanken Backen, der schöne Hals, die weißen Hände! Mensch, das ist mehr Schönheit, als dein ausgehungertes Herz ertragen kann, das ist rein zum Verliebtwerden! Vor lauter Gucken habe ich meine Suppe kalt werden lassen; sie ist ein Stearinsee geworden. Der Aufwärter nimmt sie weg und stellt mir schweigend Fleisch und Gemüse hin. Gleichmütig stochere ich mit der Gabel drin herum. Der Hunger ist weg; meine Augen sind zu Essenden geworden und zwar zu rechten Vielfraßen. Ich fürchte, wenn ich noch lange dasitze, wird von Schwester Frieda wenig mehr übrig bleiben, wie keck sie die weiße Schürze gebunden hat! wie schön ihr das geriffte Häubchen steht! Wie anmutig sich die Ärmel bauschen! Und der Fuß erst! Dieser feingeformte Knöchel! Diese niedlichen Lackschuhe! Eine Strophe aus dem »Annchen, liebes Annchen!« fällt mir ein, und ich summe vor mich hin:

Deine Schürz und deine Kleider,
deine Strümpf und deine Schuh,
und auch alles, alles, was du anhast,
das kleidet dich gut!

Wie rasch man doch verliebt sein kann. Ich fahre auf aus meinem Versunkensein. Eine Bajonettsbreite Februarsonne fällt durch das Fenster auf den Platz, wo die Schwester waltet; es ist wie ein silbriges Band, das zu ihr hinführt, und ich merke auf einmal, daß nicht nur ich die schöne Erscheinung anstarre, sondern daß fast alle Soldatenaugen im Saale zu ihr hingehen. Sie ist der Mittelpunkt; um sie ründet sich alles. Am Tisch neben mir sitzt ein Schwäble, ein fester Brocken: »Liebs Herrgöttle vo Biberach,« sagt er, »wenn däs moi Woib wär, däs gäbt e Hochzoitsrois fümf Jahr lang!« So vermessene Reisewünsche hege ich gar nicht. Ich bin bescheidener; ich möchte das schöne Bild nur immerzu anschauen dürfen.

Schwester Frieda weiß nichts von unseren dummen Gedanken. Lustig, unbekümmert verkauft sie ihre Marken. Für Jeden, der kommt, hat sie ein freundliches Lächeln. und so blüht sie dahin wie eine Blume, deren lieblicher Schein den ganzen Saal hell macht.

Der Sommertag

»Bin ich nicht schön?« fragte das Mädchen, als wir in die finstere Gassenschlucht einbogen, und lief verführerisch vor mir her. Ich beschaute und maß ihre schlanke Gestalt und sagte: »Ich will mir den Mund nicht verbrennen, euch Mädchen kennt man erst, wenn ihr aus den Kleidern seid.« Lachend drehte sie sich um, drohte mir scherzhaft mit dem Finger und zeigte dann nach dem Eingang. Sie ging die Treppe voraus, und wenn eine schadhafte Stufe kam, packte sie mich rasch beim Ärmel: »Vorsicht, Vorsicht, lieber Soldat, sonst fällst du!«

Das Zimmer war schön und lieblich, wie man es eigentlich nur bei Töchtern aus gutem Hause findet. Eine Kommode stand da, die anheimelnd glänzte. Das Bett sah weiß und duftig aus, als sei ein Korb voll Apfelblüten darüber geschüttet. Ein breites, messingenes Uhrpendel war auf ewiger Wanderschaft, und auf dem weißgestrichenen Fensterbrett standen in hohen Gefäßen zwei dicke Büschel Rosen. Ich beugte mich über sie, um ihren Duft zu trinken, und da sah ich vor meinen Blicken über den Dächern hinweg den breiten Strom, auf dem hundert bunte Schifflein in den Sommertag fuhren. Auf dem Dachfirst gegenüber saß ein geschecktes Kätzlein, schleckte sich die Pfoten und wusch das Gesicht, und als es damit fertig war, legte es sich breit in die Sonne und blinzelte faul zu mir herüber.

Das Mädchen hatte sich auf meinen Schoß gesetzt und erzählte mir sein Leben. Und während ihr die Worte mühelos von den Lippen flossen, führte mich der wohlklingende Tonfall ihrer Stimme weit fort in die Heimat. Das Haus, darin ich wohnte, sah ich da, die beiden hellgetünchten, lieblichen Kammern, den sonnigen Balkon. Liebe, bekannte Bilder hingen an den Wänden, und jedes Bild hatte Leben bekommen, und aus jedem Bild sahen mich zwei Augen an. Es war kein Vorwurf in diesen Augen, aber doch kamen sie mir vor wie Richter, die in mein ganzes Leben hineinsehen und da eine Grenze machen, die die sonnige Seite scheidet und die Seite der Nacht.

Das Mädchen erzählte noch immer, als ich zu mir selber zurückkam und aus meiner Versunkenheit auffuhr. Einen Augenblick mußte ich mich besinnen, eh ich mich gänzlich zurechtfand und wußte, was ich tun sollte. Alles Geld, das ich bei mir hatte, legte ich auf den Tisch, riß die Mütze vom Nagel und rannte ohne ein Wort des Abschiedes die Treppe hinunter, noch das Koppel in der Hand. Das Mädchen rief einen Schwall Worte hinter mir her, die ich aber nicht mehr verstand.

In die finstere Straße war inderweilen Sonne gekommen. Freudig sog ich die warme Luft ein und ging zum Strome hinunter. Dort blieb ich lange an der Brücke stehen und sah, wie still und gelassen die nasse Kraft dem Meere zuwanderte. Auf dem Heimweg, als ich mich umwandte, lief das gescheckte Kätzchen hinter mir her.

Ich wollte es locken, da sprang's davon.

Die Alte

In der eroberten Stadt steht zu den Füßen der alten Kirche eine Hütte aus Leinwand. Wie festgeklebt hängt sie an dem verwitterten Gemäuer, und die verblichenen Leinwandfetzen klatschen im Wintersturm mißmutig dagegen. Die Hütte ist ein Verkaufsstand. Eine alte Frau haust hier und handelt mit Gebetbüchern, geweihten Kerzen, Heiligenbildern und Weihwasserkesseln. Zusammengekauert hockt sie auf einem gebrechlichen Stuhl, Kopf und Körper der Kälte wegen tief eingemummt, und dreht mit einer kleinen Zange den Draht ab, reiht geschnitzte Holzkugeln darauf und fertigt Rosenkränze. Tausend Leute gehen in die Kirche, tausend Leute kommen aus der Kirche, tausend Leute eilen an der Leinwandhütte vorüber. Die Heiligen auf den Bildern machen ihre heitersten Gesichter, freundlich glänzt der Goldschnitt der Erbauungsbücher. Umsonst. Nur selten bleibt jemand stehen und kauft.

Draußen auf der Straße braust das Leben in seiner lautesten Form. Kraftwagen zischen und knattern, vorübersprengende Kolonnen erschrecken einen, Soldaten marschieren, ein Trupp nach dem andern. Aber die Alte läßt sich nicht stören. Flink wie Spinnenfüße gehen ihre gelben, eingetrockneten Finger. Stumm, zu einer Säule des Schweigens geworden, sitzt sie da und bäschelt ihre Rosenkränze.

Sakret

Ich fahre in den Winternachmittag. An einer goldkuppligen Kirche geht es vorbei, eine weiße, schweigende Straße dahin. Das Pferdchen greift munter aus. Rüstig klingen die Schlittenschellen, als ginge es zu Spiel und Tanz. Aber diese Stunde gilt der Gegenseite des Lebens, den Toten.

Am Ende der Stadt, im Herzen der Landschaft, allem Lärm entrückt, hat man den toten Kameraden die Grabstatt bereitet. Wolkenbehangenen Winterhimmel haben sie zum Gesellschafter und rauschenden Wind in den Wipfeln der Lärchenbäume. Schnee liegt auf den Hügeln, und nichts mehr zeugt von den Toten, als die schwarzgestrichenen Holzkreuze. Wenn der Frühling kommt, werden hier Blumen blühn, und die Bienen summen, und die Vögel singen, und diese Menschenbehälter stehen nicht mehr verlassen und trostlos da.

Wenn der Frühling kommt.

Aber jetzt ist noch Winter. Zaghaft nur geht mein Fuß die engen Gänge hin. Die Augen bleiben auf den weißgemalten Namen hängen, und aus den Buchstaben der Grabtafeln baut sich auf einmal das Land auf, für das diese Menschen gestorben, die Heimat.

Ein hohes, wuchtiges Kreuz ragt auf und kündet: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg!« Als Sinnbild der Hoffnung über das Grab hinaus behangen mit grünen Guirlanden.

Ich nehme Abschied. Auf der Straße jagen sich Kinder. Der Kutscher läßt die Peitsche knallen. Die fröhlichen Schlittenschellen klingen wiederum. Der Lärm der Stadt braust mir entgegen.

O ihr köstlichen Laute des Lebens!


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