Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[1. Teil]

Neuer Abschied

Mein Leben könnte sich erfüllen in dir, ich weiß es.
Aber das Signal bläst zur Abfahrt.
Die Felder, die Wiesen fangen zu schwanken an.
Dein Arm, dein liebes Antlitz entschwindet.

O, ich könnte so fröhlich sein an deiner Seite!
Aufblühen wie ein Mattenkraut im Aprillen!
Blüten über mich werfen wie ein Kirschbaum!
Viele zärtliche Früchte tragen wie der Holunder!

Alles das könnte ich, staunenden Lebens voll,
Liebste, wenn du meine Nährerde bliebst.
Aber das Schicksal scheidet mit schallendem Hieb uns.
Bald donnern mir in den Ohren die Frontkanonen,
Nicht mehr deines Mundes Frauenküsse!

Ausmarsch

Morgen ist Ausmarsch.

Ich gehe wie trunken durch die Straßen hin und suche die Nähe der Menschen. Straßenauf und straßennieder, rechts hinein, links hinein in Höfe und Gassen treibt es mich. Ich weiß nicht, was mein Herz sucht. Aber in mir ist es so unruhig, so verlangend, so erwartend, als müßte noch heute etwas übermenschlich Großes in mein Leben treten.

Doch alles ist wie sonst. Die trüben Straßenlichter flackern. Die Kutscher schreien. Polternd fahren die Milchfuhrwerke. Soldaten in blauen Uniformen marschieren den Kasernen zu. Auf den Straßenseiten gehen gemächlich die Bürgersleute. Ein Haufen Menschen steht stumm vor einem Extrablatt, und junge Mädchen schreiten unbekümmert lachend an der Schicksalsschrift vorüber. Wer weiß hier an diesem friedlichen Ort, daß da draußen in der Welt Krieg ist? Die Schaufenster zeigen wie sonst die köstlichsten Güter. Die Blumenhandlung bietet wie einst die prunkenden Blumen des Südens. Auf dem Marktplatz wehen Fahnentücher. Sie passen aber nur schlecht in die neblige, kalte Herbstabendluft. Man sollte schwarze Kreuze heraushängen. Das gäbe wenigstens den Stil der Zeit.

Nieden am Flusse steh ich still. Schwarzadrig, dunkler Marmor, liegt die Fläche, sanfter Lichtwiderschein darin: ein Friedhof aus Wasser. Vom Marktplatz her klingt das Gelärme der Stadt.

O Brüder, o Menschen, wie bin ich euch fremd geworden. O Nacht, o Todesbote, o dunkles Haus, o fremde Stadt!

Morgen ist Ausmarsch!

Tropfen

Regennacht! Regennacht!

Wir marschieren! Wir marschieren!

Wir fühlen förmlich die Tropfen aufschlagen. Auf unsere Helme, auf unsere Mäntel, auf unsere Stiefelschäfte klatschen sie, kleine und große, langsame und behende, und das murrt und rurrt und schwillt auf wie der Trommelwirbel bei einem Angriff, und dann wird's leiser und versöhnlicher und verebbt zu dem dumpfen Geräusch marschierender Kolonnen.

Regennacht! Regennacht!

Ungezählte Tropfen sind es, die da fallen. Kaum geboren aus der Wolke Mutterschoß, von einer Riesenfaust geschleudert, verspritzend über das Erdall hin ...

Wir marschieren! Wir marschieren!

Singe, du dunkle Stimme des Tods! Die Tropfen hören nicht auf, uns zu begleiten in ihrer schrägen Bahn. Zur Erde müssen sie fallen; dort im Schmutze sich finden, sich zusammenschließen und als Bach und Strom rauschen meerhin, meerhin ...

Fallet, fallet!

Euer Sein müßt ihr aufgeben und früh enden, weil's das Schicksal so will, weil die Erde Wasser braucht, ihre Schiffe zu tragen, ihre Mühlen zu treiben, ihre Brunnen zu füllen, weil die Erde Wasser braucht für ihre Fabriken und für ihre Elektrizitätswerke.

Fallet, fallet, Tropfen! Euer Tod ist anderer Auferstehen!

Wir marschieren! Wir marschieren! Im Marschtakt des Soldaten geht's die fremden Straßen hin.

Wir marschieren! Wir marschieren!

Wir stampfen durch die Regennacht und hoffen auf den Tag. Die Sonne wird aufstehn und ihr feuriges Herz hineinhängen in all das verschüttete Naß rundum. Alle die kleinen Tropfen werden durchleuchtet unglänzende Könige sein.

Patrouille

Drei Mann und ein Leutnant: Patrouille seid ihr.

Vortastend aus den eigenen Linien, die Nacht zu Hilfe genommen, kriecht ihr vorwärts, feindzu! Unbarmherziges Licht zerreißt das gütige Antlitz der Nacht. Leuchtkugeln brennen ihr die starren Augen aus. Ihr erschreckt. Vor euch der feindliche Drahtverhau. Dahinter für den tausendsten Teil einer Sekunde Schießscharte an Schießscharte, unheimliche Löcher, in denen mit prallen Schenkeln, geduckt zum Sprung, der Tod sitzt.

Drei Mann und ein Leutnant: Patrouille seid ihr.

Die Drahtschere knirscht. Ihr schweigt und haltet den Atem an. In der innersten Seele das unbehagliche Gefühl eines Menschen, der mitten im Essen auf Sandkörner beißt. Die Schere knirscht wieder. Dieses Mal lauter. Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten. Ein tollgewordener Schuß springt flackernd auf euch zu. Tausend seiner irrsinnigen Brüder schließen sich an. Ihr liegt stumm bei den niedergestürzten Pfählen, selbst zu Stein und Holz geworden, und wißt kaum noch, daß ihr atmet.

Drei Mann und ein Leutnant: Patrouille seid ihr.

Was sag ich? Patrouille? Nein! Ein winziges Härchen auf dem Fühler eines riesenhaften Tieres seid ihr, auskundend vorgestreckt. Ein winziges Haar! Und wenn ihr jetzt sterbt?

Das schnarcht und schläft weiter
und blinzelt und frißt
und schlägt seine Feinde danieder.
Patrouille seid ihr.

Der Dichter spricht

Ich will den Krieg singen, wie ich ihn erlebt habe. Keines Alten Vorbild bewegt mich, keines Neuen Versschwung regt mich an. Die Wucht des Tatsächlichen spricht aus mir, die Furchtbarkeit allen Geschehens.

Erwartet nicht, große Taten von mir zu hören. Kein Mensch wächst über seine Art hinaus. Unser Jahrhundert ist krüpplig. Aber ich will den Gesunden singen, ein Lied von Deutschlands Atemschlag und Herzton, einen Aufschrei der Leidenschaft. Schart euch um mich, ihr Jünglinge! Merkt auf, ihr Mädchen! Ihr Väter, ihr Mütter, stellt die Arbeit ein, hört zu! Denkt euch, ich sei ein Verkündiger.

Lasset euch nicht verwirren! Tausend Schmähreden steigen wider mich auf, weil ich die Wahrheit zeuge. Den Kindern der Finsternis ist das Licht eine Qual. Lasset sie schreien! Die Zeiten kommen, da die Plärrer schweigen werden. Ich aber habe einen guten Atem, weil ich in Liebe gezeugt bin. Ich halte aus, weil die Wahrheit mir beisteht. O selig ist es, im Lichte zu leben!

Doch vom Krieg will ich singen, vom dampfenden Blute, vom Geschrei der Getroffenen, vom wahnsinnigen Brüllen unsrer Geschütze. Vom Kriege will ich singen, von Not und Entbehrung, von zuckenden Gliedern, Schweben der Erschlagenen Geister über Wüsten der Erde hin.

Vom Krieg will ich singen, vom Herzleid der Menschen, ihren tausendfältigen Gebeten. Mit der Unbarmherzigkeit eines Arztes will ich ins blühende Fleisch schneiden. Was schiert mich das Kreischen der Säge! Auf dem Schlachtfeld hab ich andere Schreie gehört.

Auf dem Schlachtfeld fliegen die Adler nicht, fliegen die Krähen, fliegen die Raben. Um Aas geht ihr Flügelschlag, um Aas kommen die schwarzen Gesellen.

Sie kommen bei Tage, sie kommen bei Nacht. Elendsboten heißen sie, Vettern des Todes, und der furchtsame Landmann bekreuzigt sich.

Manchmal

Manchmal, wenn Soldaten an dir vorbeimarschieren, die Infanteristen mit ihren schleppenden Schritten, die den Charakter des ganzen Feldzuges aufdecken, die Feldartilleristen mit ihren jungen, wissenden Gesichtern, die Pioniere mit ihren stolzen, todesmutigen Bewegungen, die Maschinengewehrler, die Jäger, die Fußartilleristen und wie die Truppen alle heißen: manchmal kommt es vor, daß ein Gesicht aufblitzt eines, den du Bruder nennest, du siehst es ihm an den Augen an.

Ihr sprecht kein Wort. – Ihr macht keine Gebärde. – Eure Blicke gehen als Boten. – Eure Seelen strecken sich als Hände aus. –

Passiert.

Vorbei.

Auf ewiglich geschieden.

Weiter ostwärts geht der Marsch in kalte Nächte, in öde Wüsteneien. Aber euch ist zumute, wie Menschen, die einen guten Trunk getrunken.

Einen guten Trunk, heilsam, klar und feierlich.

Die Uniform des Todes

Nicht nur die Lebendigen, auch die Toten haben eine Uniform. Die der Toten freilich ist seltsam. Aus keinem Tuch, aus keiner Farbe geschnitten, lediglich aus grenzenlosem Schweigen gesteppt. Da funkeln keine Knöpfe, keine Tressen, keine blinkenden Achselstücke und Schulterbänder, die die Unterschiede ankünden. Da ist alles gleich. Da liegt der Feldwebel neben dem Leutnant, der Leutnant neben dem Hauptmann, der Hauptmann neben dem Oberst, der Oberst neben dem gemeinen Mann. Da gibt es keine Stammesunterschiede mehr. Da hat die Uniform des Todes alle zu Bürgern des gleichen Reiches gekleidet, den Franzosen und den Deutschen, den Russen und den Österreicher, den Bulgaren und den Serben, den englischen Mann und alle die anderen unvergessen. Wie liegen sie alle da in einer Erstarrung! Alle mit dem gleichen unbegriffenen, antwortheischenden Zug im Gesicht. Ich sehe sie da gereiht, vom Anfang der Geschichte an, den Punier neben dem Römer, den Tataren neben dem Abendländer, den Azteken neben dem Spaniolen, alle das Gleiche aus dem Tode herausfragend, durch Jahrhunderte hindurch. Und das törichte Leben weiß nichts anderes zu tun, als ihnen, gleichsam zur Antwort, weitere Haufen Gefallener hinzulegen. Alle in den gleichen mütterlichen Mantel gehüllt. Den Mantel des Schweigens.

Die Margritten

Beim Vormarsch, sagte der Wintersteiner, wurden wir unerwarteterweise mit Flankenfeuer überschüttet. Sofort schollen die Befehle. Wir schwärmten nach links hin aus und brachen in eine Wiese voller Margritten ein. Auf dünnen Stengeln standen die Blumen da; die gelben, lockenden Augen schön umrandet mit einem weißen Fahnenkranz. Bei unseren Schritten wogten sie. Ganz das Gehabe junger Weiber, die zitternd auf das Pflücken und den Liebsten warten.

Wir Soldaten hatten keine Zeit, groß der wachsenden Schönheit zu achten. Wir mußten die Augen weit draußen haben, wo der Feind herschoß, und wir paßten nicht auf, wo der Fuß hintrat.

Als die Kolonne verjagt war und wir wieder auf der festen Landstraße standen, schaute ich auf die angerichtete Verwüstung zurück. Ich wurde traurig und fragte meinen Nebenmann: Wozu die weißen Dinger nur geblüht haben? Uns zu erfreuen für und für!

Er, der Hundsfänger, ließ das nicht gelten. Er sagte: »Du siehst, nicht dein Kopf, das Leben entscheidet. Sie haben gelebt, um von uns zertreten zu werden!«

Die Gelbscheibe

Bei einem Toten, dem Granatfeuer Rücken und Tornister aufgerissen hatte, fanden wir einen photographischen Kasten, schön in Wäsche verpackt, und dicht dabei eine unversehrte Gelbscheibe. Sie sah beinahe aus wie ein Einglas, und neugierig, wie die großen Kinder sind, nahm sie einer nach dem andern ans Auge und schaute hindurch.

Wie veränderte sich da die Gegend! Ein dünner Vorhang legte sich vor alle Dinge. Aber durch diesen Schleier hindurch traten die Farben der Welt mit einer unerhörten Deutlichkeit und Mannigfaltigkeit hervor. Da waren Abstufungen, daß einem über ihrer Zartheit und künstlerischen Prägung schier das Herz stillstand, und die man doch mit dem blöden, unbewaffneten Auge allein zu erfassen nie imstande gewesen wäre.

Der Volksschullehrer, den wir mit hatten, erklärte uns die Erscheinung, und zum Schluß sagte er: »Es ist mit den großen Künstlern genau so wie mit dieser Scheibe. Auch durch sie wird man zu Farben geführt und zu Beobachtungen, die einem ohne Hilfe ewig verborgen geblieben wären.«

Der Tote lag da, friedlichen Gesichts, das Gesicht nach der Heimat gewandt. Der Lehrer ging und gab ihm die Gelbscheibe in die Hand. Obwohl der Tote sie, genau genommen, nicht mehr brauchte.

Die späte Rast

In einer finsteren Regennacht waren wir von unserer Truppe abgekommen. Der Mantel hing uns klatschnaß um die Glieder, der Tornister drückte wie ein Bleiklumpen, und wir stapften schwerfällig durch das Dunkel, als seien wir keine Soldaten der Gegenwart, sondern Ritter der Ritterzeit und trügen gewichtige, eiserne Rüstungen.

Der Weg schien in Unendlichkeit gerückt. Die Minuten zögerten mit dem Auftauen und Zergehen, wie Eiszapfen im Frühjahr. Wir achteten es nicht. Alles Gefühl für Raum und Zeit war uns verloren gegangen.

Manche wurden von der Müdigkeit angefallen und überwältigt. Wir mußten ihnen zureden, gut und bös, doch nicht sitzen zu bleiben, sondern mitzukommen. Denn das Zurückbleiben in dieser Kälte und Verlassenheit bedeutete sicheren Tod.

Mitten unter dem Wandern fragte einer den andern: »Wieviel Uhr mag es sein?« Aber keiner wußte es. So tappten wir weiter. Die Müdigkeit fraß immer mehr von unserer Kraft und wuchs schließlich zu einem riesenhaften Ungeheuer, dessen feurigen Pranken wir nicht mehr entfliehen konnten.

Am Hügelfuße blieben alle stehen und sagten: »Nein, lieber gleich hier auf der Stelle umfallen und verrecken, als noch länger in der Finsternis umherzuirren.« Mit steifen, verklammten Fingern schnallten wir die Tornister ab und legten uns, trotzdem wir elendiglich froren, in die Reben zum Schlafe nieder.

Einer allein hatte die Kraft, weiter zu gehen. Er marschierte über den Hügel hinüber und fand ein Dorf. Voller Freude kam er und weckte uns aus der Erstarrung.

Wir in unserer Schlaftrunkenheit wußten lange nicht, was er eigentlich meine. Zaghaft und langsam, dünnwandig wie ein Herbstfeuer, wuchs das Begreifen hoch. Vor Freude fast weinend, nahmen wir das schwere Gepäck auf und schleppten uns weiter.

Nach einer halben Stunde glänzten die Lichter auf, und während wir hineingingen in das warme Dorf, sang einer ganz laut einen geistlichen Lobgesang, so daß die scheuen Bauern trotz Nacht und Kälte die Fenster aufmachten, zu schauen, wer da käme.

Die fremde Gasse

Mit meinen groben Soldatenschuhen bin ich in eine Gasse geraten, in die ich nicht hineingehöre.

Die Gassen meiner Heimat sind dörflich, sonnig. Man kann hinaus auf die Felder sehen. Die Seele weiß, dort in der Ferne fließt der kühle Rhein.

Die Gassen der Fremde aber sind voll Schmutz und Unrat und haben keinen Ausblick. Die Häuser stülpen sich mürrisch Strohmützen auf. Die Lehmmauern sehen ekelhaft zerrissen aus, wie die zerfressene, schorfige Haut Aussätziger. Kinder laufen mir nach und bestaunen mich. Ich weiß, daß ich als Kind nicht so triefäugig ausgesehen habe. Da blieb ich nicht in dunklen Winkeln hängen, da sprang ich froh in Busch und Ackerland, suchte zu haschen den Schmetterling, den Schmetterling bebenden Lebens.

Frauen stehen in finsteren Ecken. Kinderreiche Mütter, des Reichtums nicht froh, elendestes Elend in Stand und Gebärde.

Es soll ein Herbst, es soll ein Frühling sein, ein fröhlich Geben und ein sommerlich Gewähren. In dieser Gasse ist nur Schattentag.

Die jungen Soldaten

Die jungen Soldaten singen, wenn sie ins Feld ziehen. Die jungen Soldaten haben zarte Kindergesichter. Sie kennen den Krieg nur von der Schule her. Der öde Kasernendienst hat dieses farbige Bild ihrer Erinnerung nicht auslöschen können. In ihren Ohren hören sie das Abknirschen der Schlachtschwerter; vor ihren Augen tun sich flatternde Fahnen auf. Da steht der Feind! Der muß geschlagen werden! Vorwärts und drauf! Jauchzende Siegesrufe durchschneiden die Luft!

Die Wirklichkeit rennt diese Kartenhäuser mit einem einzigen Atemstoß über den Haufen. Flandrische Erde ist zäh und schwer, polnische Erde nicht minder. Da steht kein breitschultriger Feind, der stillsteht und wartet und den man ehrlich bekriegen kann. Da zieht sich Graben an Graben, Schützenloch an Schützenloch, und jeder Schritt nach vorwärts will errungen sein. Mit Blut! Mit heißem, mit rottröpfligem Blut!

Die jungen Soldaten singen, wenn sie ausziehen. Draußen sterben die Lieder ab, wie die Blätter an Herbstbäumen. Draußen dämpft das grausige Geschehen die frohen Töne. Trotz allem – die jungen Soldaten tun wacker mit, tragen Hunger und Kälte, Regen und Widerspiel, des Tornisters Schwere und den wütigen Knall zerspringender Granaten. Sie tragen das alles mit der gleichen ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der ein Strauch im Maien seine Blüten trägt, im Herbst seine Frucht. Aber in ihren Gesichtern wächst eine Frage groß, stumm ... wie das Auge eines Rehes wohl schaut, wenn es des Jägers todbringendes Rohr auf sich gerichtet sieht, unheimlich grausig anzuschauen.

Im Zelt

Es war am Abend vor einer schweren Schlacht. Wir hatten uns satt gegessen, ungezügelt, wie Tiere auf der Weide, und lagen in den Zelten drin, einer dicht am andern. Draußen gingen die Posten auf und nieder. Wir Ruhenden patschten im Wasser der Stunde, schwammen an den Strand des nächsten Morgens und waren schweigsam.

Morgen, schnurrten unsre Gedanken, würden wir wieder hier in den Zelten liegen. Wir? Wir alle? Gewiß nicht alle. Manche würden im Blutfelde bleiben. Manche? Gewiß manche! Aber welche? Das war die Frage, die schwer einen jeden bedrückte. Schließlich schliefen wir ein. Aber der Atem ging gepreßt wie das Schnaufen einer Lokomotive, die eine überschwere Last den Berg hinaufzieht.

Meine Gedanken marschierten in die Heimat. In fremde Wohnungen trat ich ein und sah verhärmte Menschen bei der Ampel sitzen. Bei meinem Anblick glänzte in aller Augen die gleiche stumme Frage auf: »Wird er morgen davonkommen, er, der mir der Liebste ist?«

Ich wachte auf. Eine dunkle Gestalt stand zu meinen Füßen. Bevor ich sie richtig erkennen konnte, war sie flüchtend verschwunden, den Vorhang offen lassend.

Der Wind blies durch die Lücke.

Kälte kam.

Ich schmiegte mich enger an die warmen Leiber meiner Kameraden.

Der Findling

Mitten im Felde fanden wir ihn. Er war schon von weitem zu sehen, das heißt nicht er, sondern eine Schar Raben, die einen schwarzen, ehrfürchtigen Tierkreis um ihn gezogen hatten.

Als unsere Schritte über den gefrorenen Boden schollen, flogen sie kreischend hinweg. Das brachte den ersten Mißklang in das friedliche Bild.

Der Tote lag lächelnd da, als ob er schlafe, die Hände fromm über dem Herzen gefaltet. Der Wind spielte mit dem blonden Haarbusch, der ihm in die Stirne hing, und legte eine winzige Wunde frei; eine winzige Wunde, nicht einmal von Fingernagelbreite, kreisrund, blau angelaufen, mit einem heimtückischen schwarzen Rand. Nebenher war bis zur Nasenwurzel in dünnen, feinen Strichen Blut versickert. Sonderbar, das sah aus wie die hastigen Rottintenstriche, mit denen ein Schulmeister in den Heften seiner Schüler die Fehler anstreicht.

Wir standen und erschauerten. Einer sagte: »Merkwürdig, daß durch ein solch' kleines Loch der Tod eingehen kann.« Ein anderer widersprach: »Mensch, da ist doch kein Tod hineingegangen. Das liegt einfacher, da ist das Leben hinaus!« Ein dritter sagte: »Sei's wie's will. Tot ist tot. Hin ist hin. Die Toten sehen die Erde nicht mehr. Die Toten werden von Würmern gefressen. Die Toten lassen sich nicht mehr lebendig machen!«

In diesem Augenblick ließ sich ein großes Brausen vernehmen. Wir schauten in die Höhe und sahen einen Flieger auf uns zuschweben. Da wir wohl wußten, was für einer das war, rannten wir in langen Sätzen davon, rasch rasch rasch rasch rasch, um unter ein sicheres Dach zu kommen.

Der Knabe

Das war im Sundgau, erzählte der Wintersteiner.

Der Hauptmann hatte uns vorgeschickt. Weil wir nicht wußten, wie's im Dorf drin aussah, schlichen wir langsam und besannen uns sehr, ehe wir gänzlich hineingingen. Denn jeder schätzt seinen Fetzen Leben.

Die Franzosen waren aber schon draußen.

Als wir die dritte oder vierte Scheuer durchsuchten – das Bajonett jedesmal tief in das Stroh und in die Heuhaufen hinein, denn dieses ist einfacher, sicherer und unverlogener als das Leuteausfragen – kam aus einer Nebengasse ein Knabe gesprungen, der bei unserem Anblick stutzte und verlegen den Finger in den Mund steckte, aber sich rasch wieder faßte und zu uns sagte: »Lanzer, droben im Kirchturm hocken noch ein paar drin!«

Vom Knaben geführt, gingen wir hin und wurden gleich, als wir den Marktplatz überschritten, mit heftigen Schüssen empfangen. Sie taten aber nichts.

Als das Schießen stiller war, riefen wir den Franzosen auf französisch hinauf, sie sollten sich doch ergeben, das Dorf sei von uns Deutschen umzingelt, sie säßen drin, wie die Ratten in der Falle, und könnten nicht mehr heraus, partu nicht mehr raus! Da lüpfte einer mit seinem Kopf das Schieferdach auf, daß die Platten flogen und unten auf dem Pflaster zerspritzten, und rief, sie ergäben sich nicht, wenn wir etwas von ihnen wollten, so sollten wir nur die Treppe heraufkommen, sie würden uns schon helfen. Und wenn wir jetzt nicht machten, daß wir wegkämen, tuttswitt, schössen sie uns andernach eine Kugel ins Hirn.

Die beiden Elsässer unter uns verlegten sich noch einmal aufs Parlieren. Doch die Franzosen wurden wild, riefen nichts als »Märd! Märd!« was da heißt »Scheißdreck!« und fingen zu knallen an. Daraufhin nahmen wir Deckung und schossen ebenfalls. Ein deutscher Schuß hat Kraft im Bauch, und wo so eine Kugel in den Turm hineinfuhr, klatschte der Mörtel ab. Die Franzosen waren auch nicht faul. Ohne Unterlaß pfefferten sie aus ihren Schießscharten heraus, daß es nur so schallte. Mit der Zeit wurde ihr Feuer schwächer. Nach einer halben Stunde hörte es gänzlich auf. Und von oben herab tönten Schreie. Dann, zum Schluß, ein lautes Gepolter, und alles war still.

Wir trauten dem Frieden nicht und schossen eine Weile weiter. Dann, als der Hauptmann dabei war, täpperten wir vorsichtig die lange, wacklige Leiter hinauf, am Glockenstuhl vorbei, und schlugen die hölzerne Turmtür mit Axt und Kolben ein.

Sechs Mann lagen oben, nur zwei davon lebten noch, dick mit Blut verspritzt. Die Toten in der Ecke ließen wir liegen. Die beiden Verwundeten trugen wir auf den Kirchplatz und legten sie unter der großen Kastanie ins Gras.

Der Knabe stand dabei, als wir die Franzosen brachten. Er kam ganz nahe hinzu, und ein verlegenes Staunen war in seinem Gesicht.

Nachher gab ihm der Hauptmann ein Fünfzigpfennigstück.

Lachend sprang er davon und kam sehr bald mit einer Handvoll Bonbons wieder.

Der Totenkopf

Die Gegend, durch die wir marschierten, schien ungewohnt friedlich. Keine schwelenden Häuser bekränzten die Wege. Die Frucht stand schön und hoch; auf einer Lichtung ästen unverschreckt drei Rehe. Zum Trinken hatten wir genug mitgenommen; außer dem Tornister drückte uns keinerlei Sorge, und so sprang denn bald in launischen Wirbeln, wie die Erde bei einem Granatenaufschlag, die Fröhlichkeit aus unseren Herzen, wir waren wie Kinder so glücklich und freuten uns, wieder einmal Menschen zu sein.

Als wir zur Rast lagen, holte Otto Krüger von Sahl aus einem nahen Acker einen großen Turlips, höhlte ihn aus und schnitt auf einer Seite zwei Augen, eine Nase und einen Mund hinein, so daß er aussah, wie ein Totenkopf.

Im letzten Viertel der Dämmerung, so die Zeit, da die kleinen Bürgersleute vor ihren Türen sitzen und den Abend verschwatzen, zogen wir in die Quartiere. Heute aber war weiter niemand in den Gassen, als Kinder, die lustiglaut ihr Nachrennerlis spielten, und Leuchtkäfer, die stumm verliebt ihr grün Ballönlein zogen. Krüger steckte den hohlen Turlips auf sein Gewehr, tat eine Kerze hinein und zündete sie an. Nun leuchtete das flackrige Feuer aus Augen, Nase und Mund und sah gespensterlich aus. Die Kinder, die uns vergnügt entgegengelaufen waren, stutzten, als sie den Spuk erblickten. Dann wandten sie sich jäh nach Kinderart, riefen: »O Mama! Der Tod! Der Tod!« und liefen schreiend in die dunklen Häuser.

Der Kopf fiel herunter.

Die Kerze erlosch.

Schweigend marschierten wir weiter, den Schlafstellen zu.

Blatt, einem Toten genommen

Christ, nimm das Dynamit deines Denkens, falls du welches hast, und zersprenge die atemabschnürende Schale, mit welcher der Schleim der Jahrhunderte dich umkrustet hat. Lerne deine langstieligen Augen auch auf Erden gebrauchen. Bade deine Seele, deine dünnen, schorfigen Arme in dem Wasserstoffsuperoxyd unserer Zeit.

Es ist gut und nützlich, ein sicheres Haus zu haben. Die Schnecke hat es, die Muschel, die Schildkröte. Wenn die Gefahr kommt, zieht sie ihre Glieder ein und verkriecht sich unter die Schale. Die feindliche Gewalt soll sich daran zerbrechen.

Ich habe kein Haus, kein Dach. Ich habe keinen Panzer, der mich schützen könnte. Nichts habe ich, was mir Sicherheit gibt. Frei bin ich allen Unbilden des Schicksals belassen. Der Regen näßt mir Hemd und Haut. Das Hagelkorn zerreißt mir das Gesicht. Die Stürme gehen nicht sanft mit mir um. Die Strahlen der Zweifelssonne versengen mich und machen mich unkenntlich.

Aber ich trage ein Göttergeschenk: ich bin nicht wie du, Armseliger und doch Beneidenswerter, an eine Tischecke gebunden, ich bewege mich frei im Kreise der Welt. Wehe, die Schatten!

Kindlein, liebet einander!

Konnte ein Gott deutlicher sprechen! Sicherlich. Wie könnte es sonst sein, daß jetzt als Widerhall jenes Satzes der Liebe die Todesschreie von Millionen Abgeschlachteter in meine Sterbestunde schallen?

Antwort!

Die Fledermaus

Abends, als ich bei einem Bauernmädchen an der Haustüre stand und sie beim Handgelenk packte, um ihr einen Kuß zu geben, mochte sie wollen oder nicht, kam eine Fledermaus geschwoben, setzte sich dem Weib in die Haare.

Es ging stark auf Dunkel zu, Dunkelheit vergrößert die Angst, und das Mädchen, als es das Scheusal an seinem Körper fühlte, fing laut zu schreien und sich zu wehren an. Ich ließ sie los und sagte: »Dummes Tier, sei still!« machte meine Finger so weich als möglich und nahm das Mäuslein beim Genick.

Es hatte sich in die Haare festgekrallt und wollte nicht weichen, was ich an einem so jungen, gesunden Mädel begreiflich finde; ich würde es auch nicht tun, wenn ich soweit wäre.

Als ich aber nicht nachgab, sondern, den Widerstand zu brechen, stärkere Gewalt anwendete, fing das Tier zu quieken an, in so lebhaften Tönen, wie ein Schweinlein, wenn es den Metzger in Hemdärmeln auf sich zukommen sieht. Es klappte sein Mäulchen auf und zu, zeigte die sehr spitzen Zähnchen, rümpfte das wulstige Näschen und gebärdete sich überhaupt so, daß, wenn das fliegende Hündchen größer gewesen wäre, etwa wie eine Ulmer Dogge, ich wohl Angst bekommen hätte.

Aber so nahm ich es bloß und trug's in die Stube hinein, ließ es frische Milch schlecken und fing ihm Fliegen, die es ohne langes Besinnen knatsch, knatsch verschluckte.

Kurz darauf blies es Zapfenstreich, und ich ließ das Tierchen dem Mädchen als Andenken. Als ich am nächsten Abend wiederkam, hatte die bäurische Magd die Fledermaus zu den andern an das Scheunentor genagelt. Die Bauern tun nichts lieber als das. Heidnischer, verworrener Aberglaube.

Das Tierlein hing mit gespreizten Flügeln am Balken, wie der gekreuzigte Heiland am Kreuz. Ich konnte nicht anders, ich mußte mich umwenden, und alles Leben beekelte mich.

Aber glaubst du, daß ich dem Mensch die Freundschaft gekündigt hätte?

Die Fahne

Die Fahne wird durch die Stadt geführt, lustig blühende Fahne. Die Musik spielt einen fröhlichen Marsch. Rührend anzusehen: in dichten Scharen laufen die Kinder mit.

Die Fahne wird durch die Stadt geführt, lustig blühende Fahne. Die Musik spielt einen fröhlichen Marsch. Der Stift auf der Straße rennt von seinem Handkarren weg und schaut gierig zu. Die Kaufleute lassen ihre Geschäfte im Stich und kriechen aus den dunklen Läden heraus. Alle Fenster sind dicht besetzt. Die Augen der jungen Mädchen blitzen, und manches nestelt heimlich einen Rosenzweig los.

Die Fahne wird durch die Stadt geführt, lustig blühende Fahne. Die Musik spielt einen fröhlichen Marsch. Ich geh im Gleichschritt hinterher, und mein Blick schweift auf einmal von den hohen Häusern ab und sieht vor sich ein unermessen freies Feld. Geschütze blitzen im Morgenlicht. Feuerschlünde dröhnen. Trommeln rufen zum Angriff. Schreie der Verwundeten flattern wie Sturmvögel auf. Unsere Lungen blasen den Regimentsmarsch! Vorwärts! Vorwärts!

Die Fahne wird durch die Stadt geführt, lustig blühende Fahne: ihr seidenes Bäuchlein bläht sich munter im Wind. Die Herzschläge der Musik klingen hinreißend wie nie.

Ich sehe eine Frau hinter den Vorhang gehen und bitterlich weinen.

Der Hund

In den Nächten hörte ich ein grausiges Heulen. Es kam, wenn ich über dem Einschlafen war und quälte mich mehr, als ich sagen darf.

Endlich, in der neunten Nacht, wurde das Geschrei so arg, daß es mich zum Aufstehen zwang. Ich schlüpfte in die Schuhe, zog meinen Mantel an und ging hinaus.

Scharf blies der Wind vom Hügel her und wollte mich nicht weiterlassen. Mühsam ging ich über das Feld hin. Da lag eine breiige Masse am Weg, bleiig, plump und greisenhaft. Ich wollte darüber hinwegsteigen, aber meine Füße blieben am Sumpfmatsche kleben, und ich hatte das Gefühl, als ob ich ein riesiger Baum sei und immer tiefer in den Boden hineinwachse. Dreimal mußte ich bitten, eh' mich das Ungetüm freiließ.

Als ich eine Strecke weiter gegangen war, sprang eine wütende Ratte über die Ackerfurche. Ein großer Stachelbaum sagte mir, daß ich alsobald sterben müsse, streckte seine Klammern aus und zog mich zu sich heran. Weil aber das ferne Geschrei immer größer wurde und weil die schwarze Ratte mit rattischer Wut und bleckendem Giftzahn seine Hauptwurzel benagte, ließ er mich los. Ich war frei und konnte weitergehen.

Ein hoher Berg stellte sich protzig in den Weg und wollte mich erdrücken. Ich lachte. Da sagte er: »Lache nicht, ich wandle mich zu Wasser und ertränke dich!« Ich lachte wieder. Da ließ er mich ungeschoren, und ich wanderte weiter, fernhin, fernhin, dem Geschrei nach.

Auf einem zackigen Hügel, längs und quer mit Mordblumen bewachsen, fand ich's. Es war ein abgemagerter, räudiger Hund, die Haut vom Aussatz durchfressen. Er hatte eine feurige Kette um den Hals hängen und schrie in fürchterlichen Tönen, als er meiner ansichtig wurde: »Hilf mir! Hilf mir! O Mensch, o Mensch, ich bin an den Nabel der Erde gebunden!«

Ich sagte: Wie kann ich dir helfen, da ich mich selber kaum zu schleppen vermag?« Er wimmerte: »Es kommt auf nichts, als auf den Mut an!«

Darauf löste ich ihn von der feurigen Kette. Seitdem begleitet er mich auf Tag und Stunde, Schritt und Tritt, und sein Heulen ist mit der Zeit zu einem marklosen hundshündischen Winseln geworden.

Die Lokomotive

Eine Lokomotive, die in ihrer Jugend ein feuriger Renner gewesen war – sie hatte Schnellzüge von Basel nach Berlin gezogen und umgekehrt – jetzt aber sich begnügte, auf einer Sekundärbahn ihren geschätzten Dampf in die Luft zu zischen, hatte bis zum Kriegsausbruch ruhig und getreulich, ohne allzuviel Kohlen zu fressen, ihren Dienst erfüllt, wie es einer ordentlichen Staatsmaschine auch nicht anders geziemt.

Der vermaledeite Krieg aber schlug ihr – wie auch anderen Strippenziehern – in den ersten Wochen gleich so auf die Nerven, daß sie den Größenfimmel bekam und mit Aufbietung all ihrer Kraft Gümpe machte, um aus dem Geleise des Herkommens zu springen.

Schließlich, mit dem nötigen Kraftaufwand, gelang ihr's, und sie kollerte mit einem weitschweifigen Anhang leerer Wagen den Bahndamm hinunter, allwo sie liegen blieb. Es war ein kläglicher Anblick, das dicke Tier, das bisher so stolz die Schienen hinauf und hinunter gebraust war, nun hilflos auf der Seite liegen zu sehen. Die Räder drehten sich leer in der Luft, und mit zornigem Geschrei sprang das Wasser aus dem geplatzten Kessel in die Feuerung. Das gab einen Mordsstank.

»Die verrückte Lokomotive!« sagst du, »das muß drollig gewesen sein. Schade nur, daß ich nicht dabei war!«

Nicht dabei warst?

Freund, du bist dabei! Schlage die Zeitung auf, in jeder Spalte kannst du das komische Tier fauchen hören.

Der Sternbremser

Einem Manne, der von seiner Umgebung schon seit langem für narrecht gehalten wurde – ich weiß nicht, mit welchem Recht –, war eine große Erfindung gelungen, wohlgeeignet, den Sieg des menschlichen Geistes über die rohe Stoffwelt zu beweisen.

Er hatte sich in sein Gehirn einen Apparat eingebaut, und wenn er den auf die Sonne richtete, so stellte sie ihr himmlisches sonnisches Sausen ein und blieb auf der Stelle stehen. Und wenn er das geheimnisvolle Gehirninstrument nach dem Monde hinschwenkte, legte sich der dicke, aufgeblasene Geselle gleichfalls in die Mondwiese und strampelte mit den Sichelbeinen. Und alle die ungebärdigen Sterne am Himmel wurden brave Kinder, taten keinen mutwilligen Sprung mehr, sondern standen solange standhaft steif wie glitzernde Eiszapfen, bis der Erfinder eine kleine Schraube seines Motors lockerte und ihnen die sausende Fahrt wiedergab, so daß ihnen das himmlische Silber über die breiten Sternhüften quoll.

Als der Mann als gewissenhafter Europäer sein Instrument so genugsam ausgeprobt hatte, daß an der guten Wirkung kein Zweifel mehr walten konnte, ging er zu dem König seines Landes und sagte ihm Bescheid. Der König, bisher immer sorglich behütet und von der Welt abgeschlossen, war nicht wenig verwundert, dergestalt eine recht kräftige Hampfel Leben unter die Nase gerieben zu bekommen; schleunigst zog er an dem blauen Glockenseil, das auf die rote Schlafdecke seines breiten Himmelbettes herniederhing und ließ alle Sterngucker und Himmelsgelehrten zu sich kommen.

Als die sich versammelt hatten, putzten sie erstmals ihre Brillengläser, die beim Eintritt in die warme Stube dick beschlagen waren, wie man's von Gelehrtenbrillen nicht anders gewohnt ist, und als sie vom König hörten, worum es sich handelte, zogen sie zuerst ihre Stirnen kraus und machten die Finger naß und sahen in ihren Büchern eine Seite nach der andern nach. Sie sagten, eine solche Erfindung sei unerhört und würde die ganze göttliche Weltordnung von einem Tag auf den andern auf den Kopf stellen; aber das stimme schon und ließe sich aus ihren Schmökrianten leicht nachweisen, daß in letzter Zeit am Himmel allerlei Allotria getrieben worden sei; aber das seien sicherlich himmlische Lausbuben gewesen, die ihren Übermut also aus der Tasche hätten schießen lassen, keineswegs die Einbildungen irgend eines eingebildeten Erdenmenschen. Bei diesen Worten sahen sie den Sternbremser mit giftigen Blicken an; wenn der Kerl wirklich soviel könne, wie er angebe, so solle er einmal seine Hörner auf der Erde spitzen und einen Schnellzug in voller Fahrt anhalten, dann würden sie ihm Glauben schenken und eher nicht.

Der gute Tscholi war den Handel zufrieden und setzte sich auf die Geleise, fünf Minuten bevor der Zug kam. Als nun das eiserne Untier mit feurigen Augen heranschoß, daß die Schienen donnerten und der Boden Magendrücken bekam von dem schweren Gewicht, griff der Mann nach dem Hinterkopf und ließ den klugerdachten Gehirnapparat spielen. Aber, was den Himmel regierte, was für Sonne, Mond und ihre sphärischen Goldkinder Gültigkeit hatte, versagte auf der gewöhnlichen, auf der dreckigen Erde. Der Schnellzug ließ sich nicht aufhalten; ihn zwangen nicht die Haltekräfte des Denkergehirns; er heulte vor Wut, als er einen Menschen auf den Schienen sah, kriatsch! und zerfuhr ihn zu Brei.

Der König hatte dem traurigen Schauspiel beigewohnt, ohne eine Miene zu verziehen, wie's die gute Erziehung den Königen dieser Welt vorschreibt. Nachher nahm er eine Prise aus der Dose seines Kämmerers und ging nachdenklich, von tiefen Gefühlen bewegt, nach Hause. Hinter dem Feuerkern seiner Krone her zog wie ein Kometenschwanz die Schar der Bulläugigen und der Tintenpeiniger. Der Krümmste und der Buckligste dieser Krummen und Buckligen rieb sich grinsend die Magengegend und freute sich sehr; denn dieses Begebnis gab ihm Stoff für eine neue Schwarte. Und dieses bildet doch schließlich die Welt: Schwarte auf Schwarte!

Nur das blonde Mädchen des Torschließers blieb an der Stelle des Unglücks zurück. Es grub ein Grab, dreimal so groß, wie ein Fingerhut, aus Silber getrieben, und legte die kläglichen Überreste des Phantasten hinein. Als sie fertig war, steckte sie der Graberde ein kleines Kreuz in den Bauch.

Und wenn ich mit der ganzen Geschichte etwas zu tun hätte, würde ich an das Grabkreuz eine schneeweiße Tafel hängen, und auf der schneeweißen Tafel müßte in feurigroten Buchstaben klar zu lesen stehen:

Armer Friedensapostel!

Das Weib

Bei Stryj unten, als ich an einem freien Nachmittage über die Felder ging und mir die Gegend beschaute, in der die Österreicher die Russen totgeschossen haben und die Russen die Österreicher, uns saftige Deutsche ganz abgerechnet, traf ich auf den von Wahnwitz und Pulvergewalt zerwühlten Äckern ein Weib an, das Granatstücke und Schrapnellkugeln suchte. Für jedes Pfund Metall, das zur Ablieferung kommt, zahlt die Heeresverwaltung ein paar Pfennige, und da Geld das rarste Pflänzlein ist, das in dieser stryjigen Gegend wächst, machen sich viele Leute an dieses Einsammeln.

Ich sah das Weib, den Kleidern nach eine ruthenische Bäuerin, nur von hinten. Sie war nacktfüßig und hatte als einziges Kleidungsstück einen linnenen, hemdartigen Überwurf an. Der Wind, der trotz der vielen Sonne recht kräftig über die Ebene blies, trieb ihr das Gewand in einemfort an die Beine, und ich sah, wie schön gerade und sauber die gewachsen waren.

Ein Soldat kratzt sich gleich, wenn ihn das Fell juckt, und ich überlegte auf der Stelle, wie sich am besten eine Bekanntschaft mit diesen schönen Beinen anknüpfen ließe. Ich machte mich gleichfalls auf die Suche nach Schrapnellkugeln, hatte Glück und fand nacheinander ein paar Nester zusammengewachsenes Blei, noch mit Kolophonium beklebt.

Die beiden Kitteltaschen voll, die beiden Hosentaschen voller Metall, und nicht ohne Herzklopfen, trat ich zu dem Weibe hin und rief sie an.

Sie richtete sich auf und wandte mir ihr Gesicht zu. Wie erschrak ich, als ich das sah: alt, verrunzelt, übertiefe Gesichtsfurchen, von der Entzündung eingerandete Triefaugen. Auf dem Körper eines Engels der Kopf eines Affen.

Ich war so betroffen, daß ich jede Anrede vergaß und wortlos diese Sammlung verhinderten Tods, meine Ladung kleiner Kugeln, auskramte und sie dem Weibe hingab. Nicht eine behielt ich.

Dann trollte ich mich, einen kräftigen Fluch im Halse. Die Alte sagte: »Tschänkujä«, das ist polnisch und heißt auf Deutsch Dankeschön, wischte mit der gelben, abgegerbten Hand über die Augen und sah mir kopfschüttelnd nach.

Der Unterschied

In der Heimat habe ich gesehen, wenn da die Zeitung einen neuen Sieg bringt, bleiben die Leute auf der Straße stehen, geben sich die Hand, sagen: »Fein, nicht wahr, wir haben doch brave Soldaten! Ein solches Deutschland kann in der Welt nicht untergehen, und es gibt nichts Schöneres!« und ein freudiges Lachen steht in ihrem Gesicht, und wenn gerade ein Verwundeter in der Nähe ist, dann sind sie recht freundlich mit ihm und schenken ihm beim Abschied eine Zigarre oder zwei. Die Kinder jubeln gleichfalls. Der Lehrer singt mit ihnen in der Schule das Lied: Kein schönrer Tod ist in der Welt, als wer vorm Feind erschlagen! Dieses Lied ist zum Singen sehr schön, daher seine Beliebtheit, besonders bei solchen, die den Krieg nur aus der Zeitung kennen, und die noch keine erschossenen Menschen gesehen haben. Und wenn's ein ganz großer Sieg ist, der gefeiert wird, gibt's einen freien Nachmittag, und die Buben und Mädel können tun, was sie wollen.

In der Front habe ich gesehen, wenn da die Zeitung einen Sieg bringt oder der Fernsprecher meldet's oder der Leutnant schreit's laut in den Graben hinein, da schauen die alten Landsturmleute auf, als verstünden sie im ersten Augenblick nicht, was da gesagt wird. Dann, wenn sie begriffen haben, schaut einer den andern an, als hätten sie eine große Abrede miteinander, und wer grad am nächsten dran ist, der nimmt die Pfeife aus dem Munde und sagt: »Ein großer Sieg! Da wird's wieder manchen braven Kameraden gekostet haben!« Und die Nebenleute nicken mit dem Kopfe, sagen: »Jawohl, jawohl!« und schauen dann wieder durch die Schießscharten nach der Gegend, in der die Anderen liegen, oder sie bauen an der Brustwehr oder am Unterstand oder holen Holz für den Kaffee: denn die Nächte sind bitterlich kalt.

Merkblatt

Es ist gut Hurra schreien, wenn man in Deutschland hinterm vollen Humpen sitzt und wenn einem das Fett in der Pfanne nie ausgeht.

Es ist gut Siege feiern, wenn man noch kein anderes Prasseln gehört hat, als das Prasseln des Feuerwerks, und wenn man platzende Schrapnelle und Granaten nur aus der Zeitung kennt.

Es ist gut vom Durchhalten sprechen, wenn man nachts bei seiner Frau im Nest liegt und ihr ein Kind macht und sich die warme Decke nach Belieben übern Kopf ziehen kann.

Es ist aber schwer, ein Soldat zu sein; denn der Regen näßt, die Kälte zwickt, die Sonne sticht, der Hunger tut weh, der Durst brennt den Hals aus, und die feuchte Erde macht Kreuzweh und Rheumatismus.

Es ist aber schwer, ein Soldat zu sein; denn man ist kein Mensch für sich; man muß seinen Willen einem andern Willen unterwerfen; man sieht nie weiter, als die eigenen Augen gehen; man muß jede Sauerei mitmachen und weiß nie, wann der Greuel ein Ende hat.

Es ist aber schwer, ein Soldat zu sein; denn man muß nicht nur marschieren und wieder marschieren, man muß auch töten. Da heißt es, dem obrischen Herrgott ins Gesicht schauen und die Verantwortung dafür übernehmen sein Leben lang. Die nimmt einem kein Befehlshaber ab. Auch der höchste nicht. Keiner.

Wundert euch darum nicht, daß wir so still sind. Kommt heraus zu uns fürchterlichen Gesellen, und ihr werdet begreifen, daß wir die deutsche Erde heißer lieben als ihr. Weil wir ihr soviel ferner sind. Weil wir stündlich dafür sterben müssen. Weil wir erst an der Fremde messen konnten, was deutsche Erde eigentlich ist. Da werdet ihr begreifen, daß wir gegen unsern Feind keine großen Worte gebrauchen, sondern an den Helm greifen in Hochachtung. Und doch, wenn er kommt, dann zögern wir keinen Augenblick, dann drücken wir los und schießen ihm in die breite Brust hinein!

Amen!

Die Fremden

Du siehst sie oft wie ernste Störche in unseren Gräben und Schanzungen umherhüpfen, die Herren Kriegsberichterstatter und die Herren Kriegsmaler. Meistens Männer ohne Schnauz im Gesicht, Pfarrersköpfe mit feisten, unbekümmerten Backen und aufmerksamen Augen, die sie tüchtig spielen lassen. Denn diese Augen sollen aufpassen und das auffangen, was man unsere »Seele« nennt, damit sie denen daheim hübsch geschminkt, in wortbetriefter Tunke aufgetischt werden kann. Die Herren sind freundlich, sehr freundlich sogar, schenken wohl Spreizel und Köderworte und betrachten uns im übrigen als gefundenes Fressen, als ganz für sie in Dreck und Speck gestellt, Kapital, wie geschaffen, Wucherzinsen daraus zu schlagen.

Werte Herren! Setzt eure dicken Brillen ab, sie sind zu schwach! Laßt das nutzlose Putzen! Schraubt euch tausendfache Brillen, schraubt euch Mikroskope an die Hirnfenster!

Ich fürchte, auch das nützt euch nichts. Was ist's, wenn ihr einen strampelnden Käfer unter der Lupe habt? Meint ihr, weil er strampelt und sich in Schmerzen windet, hättet ihr seine »Seele« gefunden? Selbst wenn ihr ihn mit euren scharfen Messern tausendfach durchteilet, selbst wenn ihr ihn mit euren scharfen Federn hundertfach zerspickt, kommt ihr dem käferischen, ameiseanischen Grunde nicht näher. Im Gegenteil.

Nein, wenn ihr Wissen wollt, nehmt selbst die Knarre in die Hand, hockt euch hinein in Erdlöcher, erleidet Kälte und Hungertage, verscheißt euch die Hosen, wenn das Schiffsgeschütz brummt, und wenn es Angriff heißt, so schnellt vor und stecht mit kaltem Eisen ins lebendige Menschenfleisch, daß der beste, der röteste Saft der Welt in die Luft spritzt, dann werdet ihr wissen, wie es uns armen hinausgezogenen, hinausgelogenen Frontteufeln zu Mute ist!

Verwundete

In langen Reihen werden sie angefahren. Draußen war ein hitziger Tag. Der Zuzug will nicht enden.

Am Bahnhofe wartet der Lazarettzug. Die Verwundeten werden ausgeladen und behutsam vor an die Rampe getragen. Schwere Fälle sind dabei: Kopf – und Kieferschüsse, Knochenbrüche, Splitterungen in den Armen und Beinen, schmerzhafte Bauchwunden. Die kleinste ungeschickte Bewegung der Träger verursacht den Verwundeten neue, ungeheuere Schmerzen.

Leute aller Waffengattungen sind zu sehen: Infanteristen, Reiter, Kanoniere, tapfere Kerle von den Genietruppen, Trainsoldaten, Brückenbauer. Aber trotz den vielen verschiedenen Uniformen, trotz den vielen unterschiedlichen Haut – und Haarfarben liegt etwas Gemeinsames in den schmerzdurchschlagenen verqualten Gesichtern. Alle diese Verwundeten haben die gemarterten Augen des Erdenheilandes Jesus Christus. Und fröstelnd fällt mir ein: auch bei verwundeten Franzosen und Russen habe ich diese Augen gesehen.

Begräbnis

Ich weiß die Stunde noch, da sie den Toten brachten. Es ging auf Abend zu, die Zeit der Dämmerung. Die rechte Hand hing vom Gestell herab. Bei jedem Schritt der Träger schwang sie hin und her.

Vorn von den Unterständen her die Lieder quollen. Die Jungen dort, die fühlten froh ihr Leben. Wir Ältern haben dich hinabgesenkt, du Fremder. Es schämte keiner seiner Tränen sich.

Lichtkugeln stiegen in den Himmel hoch. Ihr blutiger Schein begoß uns jäh. Wir legten dir die Heimatschollen aufs Herz, du Toter, und dachten unsres eignen Lebens.

Wann endet es?

Wann steigt die Kugel nieder? Wann kommt der Fährmann uns zu Bord?

Acht Augen starrten in den schwarzen Strich, den jäh ein Vogel zog.

Doch keine Antwort kam.

Frühlingsgang

Rasttag. Drei Mann hoch gehen wir in den polnischen Wald hinaus. Vorfrühling, so die rechte Zeit, da ein Schneehaufen zum andern sagt: Bruderherz, komm, wir wollen auf Wanderschaft gehen! Wo wir vorbeitapschen, nicken die gelben Kätzchen mit buschigen Mäulern aus den Sträuchern, und die moosigen, dampfenden Plätze laden uns ein.

In einer Lichtung rasten wir und hocken auf Baumstumpen nieder. Als richtige Germanski können wir keine fünf Minuten still sitzen, sondern müssen unverweilt unser dickstes philosophisches Garn spinnen. (Es hat jeder seinen Knäuel davon auf Lager!)

Nach heftigem Hin und Her kommen wir überein, daß Krieg eine Erhaltungsform der Menschheit sei, etwa wie Trinken, Essen und Begattung, und schließen dies aus dem Umstand, daß es noch aller Zeiten, solange die Welt steht, organisierte Totschläge gegeben habe ...

Also, daß der Krieg sein muß, darüber sind wir uns klar. Aber, warum er sein muß, das ist die Nuß, deren Schale unsere kümmerlich entwickelten Denkerzangen nicht knacken können. Trotz allem Bemühen!

Drei Meinungen kommen im Redegeplätscher dahergeschwommen: Krieg muß sein, damit die Welt nicht einschläft. Mehr theologisch gefaßt: Krieg muß sein, damit die Menschheit den Atem Gottes spürt. Schließlich realpolitisch deutsch klipp und klar umrissen: Krieg muß sein, damit das Reich die Füße zudecken kann, die ihm schon lange genug nackt zur Bettlade heraushängen.

Eine alte Eule, die gleich uns auf philosophischem Ast im Holzwald sitzt und unseren Kinderfloskeln bisher geduldig zuhörte, kriegt's mit der Angst zu tun und flattert weg. An ihrer Stelle kommt ein dicker Wurm aus seinem Würmerloch gekrochen, macht uns einen Spottbuckel und fistelt mit eitriger, schleimiger, widerlicher Würmerstimme: »Ihr dummen, anmaßenden Menschen bezieht alles auf euch! Als ob der Krieg euretwegen da wäre! Krieg muß sein, damit wir ausgehungerten Würmer uns endlich einmal sattfressen können. Denn Gott der Herr sorgt für alle seine Geschöpfe.«

Und aus dem Wald klingt des Widerhalls Stimme: Der Wurm hat Recht! Der Wurm hat Recht!

Der ...
     Wurm ...
          hat ...
              Recht ...

Begegnung

Versprengt und hinter meiner Truppe zurückgeblieben, traf ich, nachdem ein breit dahingestreckter Lärchenwald durchschritten war, auf eine Straße, die in gewohnter melancholischer Eintönigkeit gegen Osten führte. Am Rande der Straße waren einmal Doppelreihen stolzer Bäume gestanden; aber die hatte der Krieg scharfer Hand gefällt. Stämme und Zweige waren von durchziehenden Truppen an Lagerfeuern verbrannt, von Bauern gestohlen worden, und so stand weiter nichts mehr da, als die zurechtgehauenen Wurzelstumpen, aus denen sich mit hartem Frühlingswillen junge Sprossen herausarbeiteten.

Es war Frühling. Die Vögel durchsegelten die Luft mit brünstigen Schreien, und mein Blut ging in gewaltigen Wellen. Kein Wunder, mitten im Weg lagen ein paar Weiberschuhe. Ich hob sie auf: feines Leder, zierliche Absätze, auf denen sich kaum gehen ließ, schmal über das Rüst, mit Perlmutterknöpfen und Lackkappen, die verführerisch glänzten. Schühchen mit einem Duft, der die Mannslippen heiß machte.

Die Schuhe mitnehmend, ging ich weiter. Meine Verwirrung steigerte sich. In einer Staude hing eine Weiberhose, mit neckischem Spitzenbesatz, rosaroten Bändern durchzogen; nicht weit davon ein schöngeschwungenes Schnürleibchen. Vorsichtig sammelte ich dies alles. Zwei Minuten nachher stand ich auf einer Brücke und fand dort am Geländer hängend einen Überrock, eine Bluse und eine Jacke. Selbst ein Hut mit kecker Feder fehlte nicht.

Da lebte die Straße. Aus der Ferne kam ein nacktes Weib gelaufen. Strähnig flatterte ihr Haar. Als sie mich sah, schrie sie laut auf vor Schreck, hob die eine Hand vor die Augen und die andere Hand vor den Leib, wie wohl Bauernmädchen tun, wenn man das erstemal bei ihnen ist.

Ich stand wie ein Stein und konnte mich nicht satt sehen an der prallen Gestalt. Sie heulte sich an mich und sagte, sie wäre ein anständiges Ding, aber sie sei vier Soldätchen nachgelaufen, die hätten sie in ihren, Holzwagen mitgenommen und splitternackig ausgezogen, huhuhu. Ich gab ihr die Sachen hin, die ich aufgelesen hatte, und sie kleidete sich hastig an.

Dann ging ich meinen Weg weiter. Am Hügelabhang, wo die Straße einen Rank macht, lag eine Weinflasche, noch zu drei Vierteln voll. Ich nahm sie, stieß mit dem Seitengewehr den Korken weg, und besoff mich.

Über mir segelten fünfhundertfünfzehn Weltwolken hin. Im Straßengraben liegend, erinnerte ich mich plötzlich, das nackte Weib müsse doch kein Mädchen gewesen sein, sondern eine Hure; denn sie hatte ja Puderstriche auf den Wangen und eine scharfe Falte unter dem Kinn gehabt.

Also hatte ich mich umsonst besoffen.

Krummstiefel

Krummstiefel fällt überall auf. – Morgens in aller Herrgottsfrühe: Jetzt kommt dieses faule Luder schon wieder nicht zum Stroh raus!

Nachher beim Antreten: Hier, dieser frische Fleck auf dem Rock! Hast wohl mit den Säuen zu Mittag aus dem Sautrog gefressen! Was?

Beim Appell: Waffe liederlich geputzt! Die Ritzen nicht mit Talg verstrichen! Natürlich, wer kann's man bloß sein? Krummstiefel! Habe gute Lust, dir ein Stück Vaterland in die Fresse zu werfen! Astloch, papierenes!

So geht es fort. Stunde für Stunde, in den boshaften Bewegungen eines Krötentieres, das sich selber das Schwanzblech begeifert.

Krummstiefel, glaub mir's, auch wenn du sterben solltest, hat die Maschine keine Ruhe. Dann heißt es: Satan, warum mußtest du sterben? Ausgerechnet heute, wo wir den großen Angriff planen und sowieso einen Mann zu wenig auf der Liste haben.

Bäurischer Tölpel, konntest du nicht einen Tag später verrecken?

Fabel

Eine Häsin saß im Nest bei ihrem Jungen. Da ging rundum ein großes Geschieße los. »Aha,« sagte die Alte und stellte die Löffel, »ich merke, es geht auf den Herbst zu, die Menschen verlangt es nach unserem Pelz. Junge, Junge, wir wollen uns retten!«

Sie flüchteten sich ins Ackerland. Da sahen sie Menschen über die Felder springen, denen andere entgegensprangen, alle mit rauchenden Gewehren in der Hand.

Piffpaff, da knallte es.

Piffpaff, weiter ging die wilde Jagd.

Piffpaff, schnell wie ein Spuk war alles vorbei.

»Nein so was,« sagte die Alte und schnupperte neugierig an einem Toten, der mit eingeschlagenem Hirn in der Ackerfurche lag, »die Welt ist verrückt geworden. Man hat uns Hasen gänzlich vergessen. Die Menschen jagen sich selber!«

»Haben die auch einen Balg, Mama?«

Fata Morgana

Indem ich trockenen Halses die polnische Straße hintrotte, peinvoll meinen Durst empfinde, taucht auf einmal, wie ein Tal aus dem Nebel, ein Tag meiner Kindheit vor mir auf.

Es ist Mittag. Die Fabriken pfeifen, mit scharfem Klange, mißtönig wie die Schiffssirenen. Die breiten, eisernen Tore tun sich auf, und schweigend und schwatzend schreiten die Arbeiter davon, in Hast, um noch zur Zeit den Eßtopf zu erreichen.

Auf einmal stocken die Scharen. Alles bleibt stehen und streckt die Hälse. Trumm! Trumm! Pumperlepum! Trumm! Trumm! Pumperlepum! Die Straßen herauf kommen Soldaten: Infanteristen, vorn dran die Musik. Das dampfende Mittagessen ist vergessen. Alle sättigen sich an dem ungewohnten, farbigen Bilde. Staub liegt den Lanzern im Gesicht. Sie sehen arg verbrannt aus, der Schweiß trieft ihnen von den Backen, aber scharf im Takte der Musik fallen die Schritte. Vorn dran reitet der Hauptmann. Die Leutnante halten die blanken Degen.

Ganz hinten ein Soldat, der kaum mehr mitkommt, winkt mir und reicht seine Feldflasche hin: »Bub, hol mir ein Wasser!« Ich geh an den Brunnen an der Kreuzstraße und schöpfe ihm ganz frisches heraus. Aufgeregt, gierig, ganz Mund, trinkt er's.

Die Musik hat aufgehört. Die Trommeln fallen ein: Trumm! Trumm! Pumperlepum! Trumm! Trumm! Die Pfeifer pfeifen: »Wenn i kumm, wenn i kumm, wenn i wiederum kumm!« Adjes, ihr schönen Soldaten! Adjes, du ungesorgte Kindheit!

Polnische Straße. Polnisches Elend. Oede der Seele.

Knabe, wo bist du, der mir mein Wasser trägt?

Flüchtlinge

Auf dem Vormarsch.

In der Ferne donnern die Geschütze. An den Seiten pattern die Maschinengewehre. Die Straße ist in ihrer ganzen Breite eingenommen von vorwärtsstrebenden Kolonnen. Zu beiden Seiten flutet in der uns entgegengesetzten Richtung über Äcker und Wiesen die Welle der Vertriebenen, die Woge der Ausgestoßenen. Erst waren es nur Einzelne, die uns begegneten, dann wurde ein kleines Rinnsal daraus; kurz darauf war es zum Bache gewachsen, und jetzt gar ist's eine springende See geworden, und eine Elendswoge folgt der andern.

Alte Männer mit struppigen, verwilderten Haaren. Weiber mit Säuglingen an den Brüsten, mit Kindern auf den Armen, die uns kläglich anstarren mit Augen, so groß schier wie Markstücke. Zweirädrige Karren, mit wertlosem Hausrat bepackt, von abgetriebenen Mähren geschleppt. Vieh, das vor Hunger brüllt und zerrend an den Stricken reißt, versuchend, loszukommen. In der Ferne der dunkle Qualm brennender Ortschaften. Wie lustige Raketen springen lodernde Strohbündel hoch, Schwärme mutwilliger Funken hinter sich lassend.

Unsre frohe Vorwärtsstimmung ist verflogen. Unser aller Schritt hat einen merkwürdigen Klang bekommen. In soldatischem Rhythmus drängt sich ein Fluch hoch: Gott verdamme die Schürer dieses Weltkriegs!

Das sind unsere Füße, die so reden. Hoffentlich kommt der Tag, an dem auch unsere Fäuste die Sprache finden!

Das unerwartete Licht

In der Vorstadt, kämpfend eingenommen, lagen tote Russen überm Weg. Die Gewehre zertreten, zerbrochen; die Kolben zersplittert; Patronenhülsen verschwenderisch verstreut, wie sonst ein Wildbirnenbaum seine Frucht von sich wirft, und jeder schmutzige Pflasterstein doppelt beschmutzt und seltsam überfärbt von vergossenem Menschenblut.

Infanterie ging mit aufgepflanztem Bajonett in die Häuser. Es wurde allenthalben geschossen. Keine Sekunde war man seines Klumpen Lebens sicher. Links, vom Flusse her, rannte der Senggeruch brennender Häuser. Finsternis schattete Seele und Blick.

Trotz Tod und Verderben waren schon Händler unterwegs und wollten Geschäfte machen. Schreiend liefen sie uns nach, wir sollten doch die schönen Möbel aus den Häusern herausholen, Tücher, Teppiche, Kleider! In den Hausgängen kauerten zerlumpte Gestalten, mit unverhülltem Entsetzen in den Augen allen unseren Bewegungen folgend. Hier hatte das »Berliner Tageblatt,« das diese Skizze in seinem Feuilleton zuerst brachte, von sich aus eingefügt: Keiner von uns dachte an Raub, wir sind Deutsche.

Mitten durch den Dreck und das menschliche Elend, das hier stromweise floß, kam eine Frau gegangen. In ein buntes Fürtuch gewickelt, hielt sie ein Buschi an der Brust, und während das junge Menschenkind gierig schmatzte und sog, schaute sie mit einem glücklichen Lächeln, das die ganze Gasse hell machte, auf ihr Kindlein nieder und schritt davon.

Wir sahen uns an, einer den andern, machten die Gewehrschlösser auf und nahmen langsam die Patronen aus den rauchenden Kammern.

Das schöne Mädchen

Das hübscheste Stückchen weiß ich von Swenziany her. Da stand neben uns auf der liederlichen, löcherigen litauisch-polnischen Landstraße eine Munitionskolonne und wartete wie wir auf den Befehl zum Weitermarsch. Den Bumsern wurde das lange Umherstehen verdrießlich, das kann man sich denken, und als einer von ihnen im Nebenhaus ein hübsches Mädchen entdeckt hatte, konnte er das Geheimnis nicht lange für sich behalten und bald rannte alles dorthin und bestaunte die Schönheit. Wer polnisch konnte, kam dabei am besten weg, der konnte mir der schönen Jüdin reden, was er nur wollte und wozu er nur Lust hatte. Wer aber kein Polnisch konnte, der mußte gleich am Gartenzaun stehen bleiben und an dem Spiel der roten Lippen und an dem Glanz der schwarzen Augen sein Genüge haben. Unterdessen kam der Hauptmann mit dem Befehlszettel in der Hand von der Kommandantur geritten, und als er seine schönen Munitionswagen so verzottelt und verlassen wie Waisenkinder auf der Straße stehend fand, fing er ein mächtiges Donnerwetter an über die verfluchte, verrasselte Bande. Vierzehn Tage einsperren wolle er sie, einen wie den andern; bei trockenem Barras könnten sie darüber nachdenken, was es heiße, von seinem Wagen so mir nichts dir nichts wegzulaufen. Sein blonder Hauptmannsschnauzer zitterte bis in die Spitzen vor Zorn und Aufregung, aber als er selbst das schöne Mädchen sah und sie unverwandt ihre funkligen jerusalemsmäßigen Augen auf ihn richtete, fiel ihm das Wort mitten im Satze von den Lippen herunter, und er sagte keinen Ton mehr. Im Gegenteil, von seinem Schimmel herab mußte er herzlich lachen. Die Kanoniere drückten sich indessen, hüohott! die Kolonne setzte sich in Marsch und polterte davon. Schon bogen die letzten Wagen um die Ecke, und noch immer hielt der Hauptmann an der gleichen Stelle und schaute nach dem Fenster, an dem das schöne Mädchen gestanden hatte, und wo jetzt nur noch ein dunkler Ausschnitt war.

Aus der Geschichte lernt sich dreierlei:

1. daß es auch in dieser abseitigen, verschrauenen Gegend schöne Weiber gibt;

2. daß die Herren Bumser sie zu finden wissen;

3. daß auch ein preußischer Hauptmann mal aus dem Konzept gebracht werden kann.

Im Hohlweg

Nur der Beobachtungswagen kam glatt durch. Gleich das erste Geschütz blieb im Dreck stecken und versank bis an die Achsen. Die Fahrer ließen die Stecken auf die Pferde niedersausen und schrien so recht fahrermäßig, das heißt, wie irrsinnig; mit letzter Kraft warfen sich die treuen Gäule ins Geschirr; aber es ging nicht, zitternd, mit schlagenden Flanken, in Schweiß gebadet, mit dampfender Haut standen die Gespanne da, und die Fahrer in ihren dicken grauen Mänteln zogen ratlos die Schultern hoch und sahen aus wie krummgewachsene Büschel der Verzweiflung.

Der Hauptmann kam den Teufelsweg heruntergeritten und gab Befehl, die Zugtaue auszulegen. Fünfzig Mann hoch standen wir an jedem Tau, standen wir bis über den Stiefelschaft in Matsch und Dreck, hielten das rauhe, dicke Seil in den Händen und warteten, bis sechs neue Vorspannpferde kamen. Anfangs hatten wir uns nur zaghaft in den Dreck gewagt, denn es war die erste Arbeit an diesem Morgen; wir hatten uns gehütet, den widerlich glitschigen Lehm an die Finger zu bekommen. Aber als wir sahen, daß es für die Sonntagshosen keinerlei Rettung gab, daß uns einzig und allein nur die Arbeit helfen konnte, griffen wir unverzagt und fest zu und zeigten, was eine Kanonierfaust ist.

Jetzt ging's los! Neben die Gäule waren Leute mit Haselstecken gestellt, die kräftig darauf losfitzen sollten, falls Stockung eintrat; denn sobald die Karre steht, kommt man nicht mehr über den toten Punkt hinweg! »Achtung! Aufgepaßt!« schrie der Alte. Die Armmuskeln strafften sich; die Füße suchten einen recht festen Halt.

»Zu-gleich!«

Hui, da legten sich hundert junge Leiber gleichzeitig in die Stränge, anfeuerndes Geschrei scholl, zwölf Pferde gaben die letzte gewaltige Kraft ihres Leibes, und vorwärts mit einem plötzlichen Ruck schnellte das Geschütz, daß uns der nasse Dreck nur so ins Gesicht spritzte.

»Nicht stecken bleiben!«

Kaum war dies Wort draußen, da gab es einen solchen Ruck, daß es uns das Tau aus den Händen riß. Eines der hinteren Sattelpferde war gestürzt, seinen Reiter unter sich begrabend, und wurde vom Gespann noch eine Strecke weit geschleift. Da lag nun das hilflose Tier. Von seinem Reiter sah man nichts mehr, als den Kopf und ein Bein. Der Fahrer in seiner Todesangst machte krampfhafte Versuche, loszukommen. Er strampelte mit dem einen freien Bein und trat das Pferd mit dem Sporn in den Bauch. Das Tier, ebenfalls bis in den Tod geängstigt, wurde wild, schlug aus und traf mit einem Huf das Gesicht des Mannes. Wir sahen das alles, das so schnell vor sich ging, daß keiner von uns helfen konnte, und ein vielfältiger Schrei stieg zum Himmel. Unser Grauen nahm zu, als wir sahen, mit welch wütender Gewalt das Blut in die Erde schoß und weithin den Schlamm färbte. Einer sprang hinzu, ein großer, breitbuckliger Kerl, bis an den Bauch in ein Schlammloch versinkend, und mühte sich unter Gefahr seines Lebens, den Menschen unter dem Gaule hervorzuziehen. Lob ihm! Es gelang!

Der halb bewußtlose Fahrer wurde von zwei Kameraden den Weg hinaufgeführt. Ich habe, solange ich lebe, nie einen schrecklicheren Aufzug gesehen. Dieser Mensch, über und über ein Dreckhaufen, von Schmutz und nasser Erde triefend, höhnisch angespiegelt von dem letzten Restchen Novembersonne, und dieser von ihm niedertriefende Dreck vermischt und gefärbt vom quellenden Blut, das unermüdlich aus der fürchterlichen Gesichtswunde sprang; Mund, Bart, Auge und Nase nicht mehr erkennbar.

Es war alles ein breitgeschlagener, blutiger Klumpen, und von weitem sah es aus, als würde ein geköpfter Mensch durch den Hohlweg geführt.

Kamerad

Wenn der Tod seinen schurkischen Banditenstreich wirklich ausführt, wenn dich die Kugel auslöscht, so schnell oder noch schneller, als du eine Fliege an der Fensterscheibe zerquetschest, ob dir wohl einer nachheult, auch nur einer von allen? Nein. Keiner.

Du sprichst mit ihnen. Du zahlst ihnen hie und da Bier. Du schenkst ihnen Zigaretten. Dafür nennen sie dich »guter« Kamerad. Im übrigen verachten sie dich. Sie wissen noch von der Garnison her, welch schlechten Parademarsch du machst. Das erhebt sie flugs auf den Gaurisankar ihres Überlegenheitgefühls.

Sie tragen einen harten Neid auf dich. Die Geschichte an der Rawka können sie dir ihr Leben lang nicht vergessen. Tor, weshalb warst du so vermessen, als Einzelner aus der Masse hervorzuragen? Hier sind alle gleich. Hier wird jedes Sichherausheben als Sünde bezeichnet.

Du darfst nicht üppiger ins Kraut schießen als andere auch. Was bildest du dir eigentlich ein, beschränkter Wolkenstürmer? Bist du eine besondere Blume, Schwertlilie etwa, nicht das übliche Küchengewächs, Petersilie und Knollenwurzel?

Bedenke doch, welches Unterfangen! Welche Anmassung! Präg' dir auf ewiglich ein: groß oder klein, arm oder reich, die Uniform macht alles gleich!

Bist du morgen tot, gut! Stirbst du heute schon, umso besser! Was schreist du nicht mit? Was hast du dich auszunehmen? Hurrje! hurrje! Es lebe das Leben!

Was ist's

Was ist's, das mir keine Stunde Ruhe läßt? Was ist's, das, wenn sich die anderen lagern, mich zum Aufstehen zwingt, zum Betrachten der Gestalten, deren phantastische Schatten das Feuer über die zerstörten Wände wirft? Was ist's, das mich aufweckt in der Nacht, wenn die Atemzüge meiner Kameraden ruhig gehen wie die Sommerwinde meiner Heimat? Was ist's, das mich die Sterne, des Himmels hellsten Überschwang, mit anderen Augen anschauen läßt, als bisher? Was ist's, das mich die Toten, die wie klotzige Steine an den Wegen liegen, nicht mehr beachten läßt? Was ist's, daß ich das Wahnsinnsgebrüll der Verwundeten nicht mehr höre? Was ist's, daß ich die Landschaft nur noch wie ein breites Schattenbild sehe, nicht mehr in ihrer Einzelheit? Was ist's, daß ich auf einmal so widerwillig die Körperlichkeit meines Daseins empfinde? Was ist's, daß ich die Vögel beneide? Des Fliegens willen? Was ist's, daß ich die Wurmschar beneide? Des Kriechens willen? Die Pflanze? Des unbewußten, triebhaften Lebens willen? Was ist's, daß ich mir selber vorkomme wie in einem Traum, in einer Entschwobenheit, die nur auf den ersten Hahnenschrei wartet, um zu zersplittern wie eine Kristallschale am Stein? Und, Rätsel, Seele, Mensch, was ist's, daß ich des schlechten Weges weiter wandre, trotzdem die scharfe, lösende Kugel im Laufe meines Karabiners steckt? Seele, sag mir, was ist's?

Der Bauer will nicht singen

Nach mancherlei Nöten war das Quartier erreicht. Naß bis zum Bauch, froren wir sehr und klopften daher dem Bauern freundlich auf den bäurischen Rücken, als er im Ofen ein großes Feuer anmachte, an dem wir unsere Kleider trocknen konnten. Wir vier Mann saßen nun in frischen Hemden um den Tisch herum, sahen aus wie die Spukgestalten in einem Theaterstück, fühlten uns aber übermaßen wohl, denn Matka stellte einen großen Eisentopf gut geschwellter Kartoffeln auf den Tisch. Derweilen wir sie schälten und aßen, kamen aus der Nachbarschaft ein paar junge Burschen mit ihren Mädchen, blieben still in der Nebenstube stehen und gafften uns an.

Wir, die wir das warme Essen im Bauch hatten und die schönen Mädchen sahen, wurden lustig, und noch war keine Zigarette bis zum Mundstück abgeraucht, so stieg der erste Gesang zur Decke. War der fertig, so wurde ein zweiter herausgeschmettert; ein Lied trieb das andere, wie sich verliebte Vögel im Frühjahr treiben, bis sie sich schließlich doch in einer Ackerfurche fangen.

Der alte Bauer stand an den Ofen gelehnt, ließ keinen Blick von unserem Munde, und wenn ein besonders herzhafter und mutwilliger Takt kam, schlug er mit der Faust gegen die Kacheln und stampfte mit dem Stiefelabsatz auf. Wir merkten wohl, wie sehr ihm die flüssigen Melodien die Seele und das Blut auftrieben, und als wir eine längere Atempause machten, zogen wir ihn an den Tisch heran und sagten, er solle auch einmal singen.

»Nein,« gab er zur Antwort, »ich habe zwei Kinder im Krieg, ich singe nicht!« Wir redeten ihm lange zu, wir legten ihm Geld auf den Tisch: zehn Mark in Silber und einen Fünfrubelschein, für ihn ein halbes Vermögen; er ließ es liegen und sang nicht. Je mehr wir auf ihn eindrangen, desto standhafter wurde er, so wie ein guter Eichbaum stark im Waldboden steht, mag Frühlingssturm, der Verführer, an ihm rütteln und schütteln, wie er nur will.

Das sonderbare Gasthaus

Vom vielen Gehen war es mir unbehaglich geworden. Ich schnatterte vor Kälte und trat ohne langes Besinnen in das erste beste Gasthaus ein. Der warme Raum war hell beleuchtet; die Strahlen der Glühbirnen brachen sich in hohen Spiegeln und warfen mattschimmernden Widerschein auf die köstlichen Verwandungsstreifen aus schwarzem Marmor.

Das Zimmer war, wie mein erster Blick erraffte, stark besetzt. Wohin ich sah, wippten stolze Federn von Damenhüten, und die Glatzen älterer Herren schimmerten in jenem rosigen Ton, der nur der Schwarte gebrühter Ferkel eigen ist. Am letzten Tisch, ganz in der Ecke, aber hell bestrahlt von einem großen Licht, war noch ein Platz frei. Ich setzte mich hin.

Kein Kellner kam. Ich hatte Zeit und dachte nach, was ich eigentlich bestellen wolle. Zum Schluß entschied ich mich für einen tüchtigen, heißen, warmmachenden Grog.

Der Kellner hatte sich noch immer nicht blicken lassen, trotzdem ich bereits eine geschlagene halbe Stunde an meinem Platz saß. Ich sah mich um, und mit einem Mal fiel mir die Stille auf, die in dem Raume sich ausbreitete. Wohl saßen die Musiker vor ihren Pulten und Notenständern und strichen kräftig ihre Instrumente, und der Kapellmeister schlug mit langen, würdigen Armbewegungen den Takt dazu, aber es ließ sich kein Ton hören.

Jetzt schaute ich die Leute an den Tischen genauer an. Sie hatten alle eine unnatürliche Blässe im Gesicht. Sie redeten wohl, aber ich verstand sie nicht. Sie lachten wohl, aber ich begriff das Lachen nicht. Es war ein Lachen aus Stein, gleichsam an den Lippen angefroren. Und wenn sie beim Gespräch die Arme bewegten, sah das so geisterhaft aus, als winkten sie aus einer anderen Welt.

Mir wurde, als ich das erfaßt hatte, unheimlich zu Mute; um so mehr, als das Licht ob meinem Haupte mit immer größerer Gewalt brannte, und mit den elektrischen Flügeln sauste und zu brummen anfing, wie eine Riesenimme, die sich an einer Glasscheibe gefangen hat.

Um dem Grauen zu entgehen, griff ich zu der silbernen Glocke, die mitten auf dem Tisch stand, und läutete. Die Stille wurde noch größer. Aller Augen sahen her, und aus einem Nebenzimmer heraus kam ein langer, hagerer Mensch auf mich zugegangen.

Er verbeugte sich, hörte meine Bestellung an und sagte leise: »Mein Herr, Sie bemühn sich umsonst!« Er deutete auf die Gläser rundum, und ich las auf allen das eine gleiche Wort: »Auf Vergessen des Lebens!«

Lange betrachtete ich die schlanken Buchstaben aus schwarzem Metall, da stand ich langsam auf und ging hinaus. Der Besitzer des Gasthofes schlich höflich hinter mir her, und an seinem Atem, der mir wie Asche auf die Schultern fiel, spürte ich, daß es der Tod war.

Die Musik spielte noch immer, als ich wegging, und erst, als die Tür hinter mir ins Schloß schlug, gab der eisige Bann nach, der mich bisher umschlossen hatte, und ich fuhr empor aus dem Schlaf.

Und da ich fest an Träume glaube, bin ich noch niemals ruhigeren Herzens in die vorderste Linie gegangen, als gerade an diesem Tag.

Nur ein Russ'

Beim Rückzug von Warschau war's eine Zeit lang eine böse Geschichte. Ständig die feindliche Artillerie in der Weiche und trotz dem starken Drucke doch kein schnelles Vom – Weg – Kommen, weil die dichten, eigenen Kolonnen alle Straßenadern verstopften.

Wir, in der Nachhut, dachten nicht mehr an Essen, nicht mehr an Trinken, und das will viel heißen bei Soldaten, die keinen schärferen Herrn über sich haben, als den eigenen Magen, sondern wir achteten lediglich darauf, daß von den Russen, die wir gefangen mitführten, keiner entschlüpfte. Denn das hätte eine böse Sauerei geben können.

In einer Nacht, wir hatten eine halbe Stunde zu lange gerastet, gelang es feindlicher Artillerie, alle Abmarschwege unter Feuer zu nehmen. Gottlob lagen die Sprengpunkte der Schrapnelle durchweg zu hoch. Ein einziges nur sauste mitten in unsern Trupp hinein. Wir blieben wie angewachsen auf dem Flecke stehen, so steif gefror uns der Schreck. »Vorwärts, Affen! Was steht ihr und gafft?« rief der rote Sergeant, »es ist nichts passiert, nur ein Russ'!«

Hei, wie lieblich das den Ohren klang! Und wenn es Dostojewski gewesen wäre oder Tolstoi, den das Schrapnell fauchend aufriß, was wäre gewesen? Roll weiter, Weltgeschichte! Was sagt der rote Sergeant? Weiter! weiter! Affen! nur ein Russ'!

Damals

Damals, vor Nowo-Georgiewsk liegend, auf der Südseite, wenn die Russen gewußt hätten, wie wenige wir waren, dreitausend gegen dreißigtausend, sie hätten keine Waffen gebraucht, sie hätten uns mit Mützen totgeschlagen, sie hätten uns zerdrückt in der flachen Hand.

Nacht und Tag brüllten unsere Geschütze. Vorn die Infanterie, Mann für Mann fünfzig Schritt Abstand, unverdrossen feuernd, öfters die Stellung wechselnd, daß man am Platz wohlaufgefüllte Regimenter vermutete.

Und der Russe merkte nichts. In seine Mauern eingeschlossen, von der Angst bedrückt, wagte er keinen Ausfall, und wir setzten ihm zu, daß er sich gänzlich ergab.

Damals, achthundert Gefangene lagen in einem Fort, von keinem anderen Menschen als mir bewacht, zwei Tage ohne Speise, ohne Trank, ungeduldig, hungrig harrend des Abtransports, ich, nur mit hundert Patronen im Gurt, fest die Faust um den Gewehrschaft, mittendrin unter den Tieren, des Augenblicks wartend, da mein Blick versagte, da sie mich brüllend zerrissen,

damals, in Angst und Grausen lernte ich ihn kennen, den launischsten Gott,

blind ist er, täppisch, faulgliedrig und boshaft, heißt Zufall.

Schwaben

Auf einer Landstraße Russisch – Polens traf ich drei schwäbische Landsturmleute, die einen meuchelnden Gefangenen mit den bloßen Fäusten hatten totschlagen müssen, weil der Kerl so schnell und so hitzig und ihnen so nah am Leibe war, daß sie zu keiner Waffe hatten greifen können.

Diese drei Soldaten standen um einen jungen Storchen herum, den der Sturm des Morgens aus dem Neste geworfen hatte. Hilflos lag das Unglückstier da, halbnackt, nur dürftig den Leib mit Fläumling bedeckt, und sperrte den jungen, gelben Schnabel weit auf vor Hunger und Angst. Einer der Männer sagte: »Wir müssen ihn wieder ins Nest bringen, sonst verreckt er.« Aber das Nest hing hoch; die Pappel, darauf es stand, war dick und dünnastig; sie zu erklettern eine heillose Arbeit und konnte das Leben kosten. Einer von den dreien wagte es doch und brachte den Jungen glücklich hinauf. Die Alten flogen in weitem Bogen um den Baum herum und plapperten zornig mit den störchischen Schnäbeln.

Als der Soldat wieder drunten war, schulterten die Drei das Gewehr, sagten mir »Grüß Gott!« und gingen davon.

Merkwürdig! dachte ich, wie der Mensch doch beschaffen sein kann. In einem Atemzuge tötet er und setzt nachher sein Leben aufs Spiel, eines Nichts wegen.

Und ich heftete meinen Blick auf die Drei, bis ihre Bilder im Dunste des Himmels verschwunden waren.

Das Elend der Pferde

Vom Elend und der schlechten Lage der Menschen ist schon viel geredet worden; ich möchte auch einmal vom Elend und der schlechten Lage der Tiere reden, vorzüglich der Pferde. Denn die Kreatur ist stumm und hilflos und kann ihr Recht nur durch den Menschen fordern. Der ist ihr nächster Verwandter.

Ihr, die ihr jeden Tag die Zeitung leset und eifrig die Verlustlisten überfliegt, die Toten, Verwundeten und Vermißten zusammenzählt und überrechnet und nicht zögert, euch in die Toga der Wissenschaft zu werfen und die qualvolle Summe der Leiden als umgesetzte Kraft zu bezeichnen, habt ihr jemals daran gedacht, daß auch das Elend der Tiere zusammengezählt und überrechnet und gewertet sein will?

Geht hinaus in die Frontgebiete! Kommt aus dem Bezirk der Sicherheit heraus in die Zone des Tods und schaut euch unsere Mitstreiter an! Betrachtet die Pferde der Batterien, wie sie die schweren Geschütze durch den Marterdreck der Feldwege ziehen. Wie sie auf dem glatten, gefrorenen Boden ausglitschen, hinfallen und doch wieder aufstehen und mit neuer Hingabe in das verfluchte Geschirr springen. Wie sie, gleich uns, in die Schlacht gehen. Wie sie, gleich uns, Verwundungen tragen und Tod. Wie sie, noch mehr als wir, Mangel leiden und in den Nächten ohne Stall sind, einzig die Sterne als Deckbett.

Habt ihr schon die abgetriebenen Gäule der Proviantkolonnen gesehen, die, tiertreu, Stunde für Stunde dem Heereskörper das nötige Blut zuführen? O, ich sage euch, die Wege des Krieges sind leicht zu erkennen; denn sie sind von toten Pferden flankiert, denen zur Winterszeit nicht einmal die Ehre eines Begräbnisses wird. Nur die Raben kommen und hacken das Fleisch los.

Habt ihr schon einmal die Leichen der Tiere gesehen? Wie unerbittlich die Linie des Todes darin ausgeprägt ist! Welche Fülle Leides in den gekrümmten Leibern liegt! Für dich, o Mensch, erlitten ...

Der Soldat, wenn er sich bewährt, bekommt ein eisernes Kreuz behängt. Sind Tiere keiner Belohnung wert? Versucht's doch! Können sie auch keine Orden und bunte Bänder tragen, auf stofflichere Art kann für sie gesorgt werden. Ihr Männer des Reichstags, bewilligt für Deutschlands Pferde im Kriege täglich zwei, drei Pfund Hafer mehr.

Agenten

Ein Bursche trat in den Unterstand und meldete: »Herr Rittmeister, es sind Agenten draußen!«

»Was, Agenten?«

»Jawohl, Herr Rittmeister, es ist einer von der Feldpolizei dabei, der sagt, sie müßten noch heute durch die Linie gebracht werden!«

»Gut!«

Der Rittmeister stand vom Schemel auf und ging hinaus. Dabei ließ er die Türe offen. Ich schloß sie nicht, denn auf diese Weise konnte ich von meinem Fernsprechkasten aus bequem das Bild draußen betrachten. Vier junge Kerle standen da, knapp in den zwanzig, mit widerlich gelben, verlebten Zügen. Sie waren städtisch gekleidet, trugen weiße Kragen und schwarze Halsbinden, hatten Spazierstöcke in den Händen und prunkten mit Lackschuhen, die aber durch das Sumpfwasser böse mitgenommen schienen. Das waren also Agenten! Der Berittene, der sie hergebracht hatte, erstattete Meldung. Der Rittmeister hob leicht die Hand an die Mütze und fragte nach den Ausweisen. »Sie haben keine,« sagte der Polizist, »sie sind gänzlich schwarz, um jede Spur zu verwischen!« Unterdessen war eine Schar Ulanen aus dem zweiten Graben herausgeklettert und betrachtete die Agenten mit der gleichen Art Neugier, mit der man gefährliche Tiere in einem Käfig betrachtet.

»Schaut's,« sagte einer und steckte die Hände recht tief in die Hosentaschen, »das müssen erztraurige Fötzel sein!«

»Ja,« stimmte ein zweiter bei, »solchen Halunken ist nicht über den Weg zu trauen. Die tragen das Wasser auf beiden Achseln. Die verraten den Russen bei uns und uns bei den Russen.«

Und ein dritter schneuzte sich und polterte los: »Man sollte die Bande totschlagen, dann wär'n ein paar Schufte weniger auf der Welt!«

Die Agenten, die sich, derweil der Rittmeister mit dem Polizeimenschen unterhandelte, auf einen gefällten Baum gesetzt hatten, hörten die Reden der Soldaten sehr wohl. Aber sie taten, als ob sie kein Wort davon verständen, schauten gleichgültig in die leeren Äste hinauf oder stocherten mit ihren Spazierstöcken im Moose herum. Nur einer wurde rot, und damit man ihm nichts anmerken sollte, trat er einen Ameisenhaufen ein. Das Gemurmel der Ulanen wurde lauter. Der Rittmeister, der wußte, was die Uhr schlagen wollte, gab dem Sergeanten einen Wink und sagte: »Führen Sie die Leute weg!«

Nachher im Unterstand ging er mit lauten Schritten auf und nieder und fand lang keine Ruhe. Ich hatte draußen zu tun. Als ich nach dem Nachtessen wiederkam, gab unsere vorgeschobene Feldwache Nachricht herein, die Brüder seien durchgelassen worden. Schüsse hätten sie keine gehört, es scheine alles in Ordnung zu sein. Der Rittmeister sprang auf und setzte seine ununterbrochene Wanderung geräuschvoll fort. Auf einmal blieb er nahe bei der Tür stehen, schrie zornig: »Herrgott, Herrgott, für lumpiges Geld verrät ein Mensch seine Heimat!« und spuckte aus.

Es war das erste Mal, daß ich den Rittmeister ausspucken sah.

Bildnis

Den Kopf voller krauser Gedanken, stehe ich in einer Landschaft, deren breiige, einförmige Flächenhaftigkeit nur durch das Gefauche platzender Schrapnelle unterbrochen und belebt wird.

Ich fühle die Zeit körperhaft als sprudelndes Wasser um meine Füße rinnen, daß sie mich erkältet, und ich rechne aus, wann sie mir um Bart und Mund plätschert und ich elend ersaufen muß.

Die Wolken ziehen grüne Larven an. Die Sonne versteckt sich, die Himmelseule vor der Himmelssperlingsschar, und die wenigen verkrüppelten Bäume stehen in dem fahlen unwirklichen Schein einer Gestirnverfinsterung.

Die Luft ist zu lauter Glas geworden. Ich bin gleichsam eingewachsen in diese kühle, gallertartige Masse, kann keinen Schritt vorwärts tun, keinen Schritt rückwärts.

Mein Blick geht krampfhaft geradeaus in die Weite und kreist einen Mann ein, der langen Schrittes die Felder auf- und niedergeht und, was da lebt, zu zuckenden Schwaden schneidet.

Schwarze Raben fliegen krächzend davon. Ihr widerliches Geschrei gibt dem Bilde die rechte Umkränzung.

Der Regenbogen

Wenn's ausgeregnet hat und die Sonne scheint, und irgendwo stehen dunkle Wolken am Himmel, so brennt, wenn Gott gut aufgelegt ist, wohl ein Regenbogen darauf, und fromme Leute sagen zu ihren Kindern:

»Schaut nur, Kinder, das farbige Ding! Dort gucken die tausend bunten Augen der Englein zum Himmel heraus!«

»Quatsch!« sagt die Wissenschaft und tritt mit dem Fuße auf eine Schweinsblase, daß es laut knatscht. »Hohlköpfe, das sind keine Engelsaugen, das sind lediglich Brechungen des Lichts ...« und so weiter ... und so weiter ...

Wenn dieses europäische Wetter ausgetobt hat, Stille ist nach dem Sturm und durch die reichlich geflossenen Tränen hin der Friedensschein prangt über Gottes edle Welt, werden wohl gläubige Seelen verkünden:

»Schaut nur, Kinderlein!«

Poet, soweit stimmt dieses Gleichnis. Aber, Verehrter, was wird die Wissenschaft sagen?

Das Grab

Ein einzelnes Grab liegt vor unserer Linie, einsam, verlassen, wie der Christus der Menschen in seiner Sterbensstunde; nackten, widerlich grauen Himmel zum Gesellschafter und zwei Krüppelfichten, deren Mißwuchs sogar die vernunftlosen Vögel abschreckt. Die Stille liegt platt auf dem Bauche und erwürgt jeden lebendigen Ton, der aufkommen will. Ein Tümpel, krötig gefärbt wie der Mißmut, breitet sich halbmondförmig als Schutzwall aus, den Schritt des Wandrers durch breite Sumpfstrecken schreckend.

Wer mag ergründen, wer da schläft den Todesschlaf? Ob Freund, ob Feind? Ob jung, ob alt? Der Sohn seiner Mutter? Der Mann seiner Frau? Der Vater blühender Kinderschar? Mein Bruder vielleicht? Was meinst du, Herz? Schaudert's dich nicht seltsam, wenn du die Stätte des Todes betrittst? Du unerschrockenes, das du selbst vorm rauschigdampfenden Blute nicht zurückschreckst, zuckst hier zusammen wie die Nordnadel, wenn sie vom magnetischen Strom der Erde getroffen und bewegt wird.

Der Talisman

Unteroffizier Bück, im Leben vor dem Kriege Theologe, ein kleiner, schmächtiger Mensch, dem man den Bücherhocker in der ersten Minute ansah, war der Einzige von den Einjährigen-Unteroffizieren, der das Eiserne nicht hatte. Trotzdem, so ging die Meinung der ganzen Batterie, das heißt aller Kanoniere, hätte er es zehnmal eher verdient als mancher andere; denn er war ein Kerl, der mit einer unglaublichen Waghalsigkeit vorging.

Bei Sachen, vor denen es selbst den abgebrühtesten Infanteristen graulte, zeigte er, der Artilleriehilfsbeobachter, einen solchen Unverschrock, als hätte er's Zeit seines Lebens mit den russischen Pimpatschen zu tun gehabt.

Galt's eine verlorene Patrouille vorzutreiben, Bück war dabei. Galt's eine feindliche Beobachtungsstelle auszuknobeln, Bück erknobelte sie. Galt's eine Leitung zu legen in schwierigem Gelände, im Artilleriefeuer, Bück legte sie. Und alle seine Verrichtungen tat er, dem Maunzen der blutgierigen Schrapnelle zum Hohn, mit einer Unbekümmertheit, als sei er unverwundbar.

Wir, seine Kameraden, warnten ihn mehr als einmal, sein Leben so leichtsinnig aufs Spiel zu setzen.

»Ach was!« sagte er. »Was heißt Gefahr? Mumpitz! Mir tut keine Kugel was, ich habe einen Talisman.«

»Sie, der Bibelpflüger, einen Talisman?«

Er lachte nur zu unseren Erstaunungen und sagte in seiner etwas schüchternen Art:

»Und wenn ihr erst wüßtet, was für einen!«

Bück hat Recht behalten. Er fiel keiner Kugel zum Opfer, er mußte in den giftigen Krallen des Typhus enden. Bei Blonie liegt er begraben.

Als die Batterie seine Sachen heimatfertig machte, wurde auch der Talisman gefunden, ein kleines, zusammengefaltetes Blatt Papier. Darauf stand mit violetter Tinte geschrieben, in klaren, unerschrockenen Buchstaben:

 

»Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem; und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh; denn es ist alles eitel.

Es fähret alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub.

Wer weiß, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehes unterwärts unter die Erde fahre?

So sah ich denn, daß nichts Besseres ist, denn daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil; denn wer will ihn dahin bringen, daß er sehe, was nach ihm geschehen wird?«

 

Dieser Zettel wurde nicht mit weggeschickt. Er sei zu unchristlich, sagte der Feldwebel. Ich bat ihn mir aus. Als ich ihn späterhin, nicht ohne eine gewisse Bewegung, einem Kandidaten zeigte, zuckte der gleichmütig die Achseln: »Was ist da besonders Großes dabei? Die Stelle ist doch sattsam bekannt, siehe Prediger 3, Vers 19-22!«

Das Asternfräulein

Geburtstag. Ich hatte mich davongeschlichen, zwischen den Sandsackwällen hindurch, in einen verlassenen Unterstand hinein. Dort konnte ich mein Leben überdenken. Es war nicht viel Schönes daran. Wenn ich alles vorurteilslos überdachte und es mir vorstellte, kam ein schlechtes, eintöniges Bild heraus, schwerflüssige Farbe, von stümpernder Hand grau in grau gemalt.

Ein Schrapnell, das irgendwo draußen mit schmalzigem Schnelzer fauchend zersprang, brachte hellere Farbe hinein. Ich sah, wie ich an einem Herbsttag in der Straßenbahn saß und ins Geschäft fuhr. Mir gegenüber saß ein Fräulein in einem roten Kleid. Sie hatte einen Stock weißer Astern auf dem Schoß, und die Blumen nickten und sahen so fleischig und lebendig aus, als seien sie aus den duftigen, saftigen Schenkeln des jungen Mädchens gewachsen.

Am Feuer

Draußen im Walde fuhrwerkt der Sturm. Die mageren Bäume ächzen vor Angst. Wir in der Köhlerhütte sind in Gedanken bei dem wüsten Wetter draußen und schauen stumm in die unruhige Herdglut. Die russische Familie hat sich schüchtern in eine Ecke gesetzt. Die Kinder, die sonst so lustig sind, stopfen verlegen den Finger in den Mund und trauen sich nicht, etwas zu sagen. Es ist so öde. Aus allen Fugen und Ritzen des Baus kriecht die Verlassenheit.

Mit wohligem Schnurrlaut kommt ein Kätzchen gesprungen. Mein Kamerad scheucht's fort, da springt es mir auf den Schoß. Ich streiche ihm langsam über den weißen Rücken. Da schnurrt's laut und immer lauter, reibt sich den Kopf an meinen Fingerknöcheln und gräbt seine feinen Krallen tief ins Hosentuch. Wenn ich den Finger hebe, schlägt es mit der Pfote dagegen. Es ist viel schneller und viel gewandter als ich. Schließlich wird es müde, streckt sich lang aus und schläft auf meinen Knien ein.

Draußen wütet der Sturm weiter. Die Hilferufe der Bäume werden zu Verzweiflungsschreien. Die Russenfamilie steht noch immer abgesondert in der Ecke und starrt uns an. Die Kinder möchten, um ihre Angst los zu werden, gerne weinen und dürfen doch nicht. Ich schaue das Kätzchen an. Wie friedlich es daliegt, so voller Vertrauen. Wie gut's doch die Tiere haben; keine häßlichen Gedanken zerschneiden ihnen das Leben.

Die Köhlerhütte weitet sich zur Welt. Wo Macht ist, wuchert die Unterdrückung. Töten ist häßlich.

Alter Ofen, könnte kein Feuer brennen, das Wärme geben würde für alle?

Die bösen Leuchtkäfer

Mit einer hübschen Litauerin war ich in den Wald gegangen. Hand in Hand, ungesorgte Kreaturen, waren wir durch die grünen Gewölbe geschlendert. Wo eine schöne Blume stand, hatten wir uns gebückt, um ihre Blütenblättchen zu zählen, und zu schauen, ob wir uns auch von Herzen lieb hatten oder nicht. An keiner Haselstaude waren wir vorbeigegangen, ohne nicht ein Stöcklein zu schneiden, mit dem wir uns gegenseitig milde hauen und wehtun konnten. Als wir uns müdgespielt und müdgeküßt hatten, setzten wir uns an einen Mooshügel und schlummerten ein. Mir träumte, ich sei in einem wunderschönen Schloß in einem wunderschönen Bett, der höchste Berg sei mein Kopfkissen, mit den Wolken der Welt deckte ich meine und meiner Liebsten Glieder, und wenn ich vor Übermut an den Himmel spuckte, blieb's hängen, und es wurden goldene Sterne daraus.

Erst die Abendkühle machte mich munter. Ich weckte das Mädchen, das neben mir schlief wie ein unschuldiger Engel, und unter mancherlei Liebkosungen wanderten wir im Abendschein dem Dorfe zu. Es wurde immer dunkler, und als wir an den Kreuzweg kamen, wo von einem hohen Balken herab der sterbende Heiland in die Finsternis schaut, sah ich eine Menge glänzender Leuchtkäfer schweben. Kaum merkte ich diese leuchtenden Pünktlein, da ließ ich das Mädchen los, es mochte rufen wie es wollte, ich hörte nicht darauf hin, sondern rannte über Acker und Acker, um einen dieser schwebenden Nachtdiamanten zu fangen. Endlich kriegte ich ein verliebtes Pärchen, das sich einen Grasstengel zum Hochzeitsbett ausgesucht hatte, und dem solcherart die Verliebtheit zum Verderben wurde. Frohlockend brachte ich den schönen Fang dem Mädchen, das noch immer beim Kruzifix stand; aber es freute sich nicht mit mir, sondern schlug mir auf die Hand, daß die Funken davonflogen, war sehr zornig und redete an diesem Abend kein Wort mehr.

Hm, dachte ich, sind die litauischen Geigen so leicht verstimmt, ich will kein Harz an den Bogen tun, mag sie selber kommen oder nicht. Und dies gedacht, hatte ich mich schon gewendet und das Mädchen stehen lassen.

Der Stiefel

Ein Stiefel? Jawohl ein Stiefel! Freilich, früher in Zivil, da kannte ich ihn nicht, da rümpfte ich die Nase und ging fürnehm an ihm vorbei. Da hatte ich's nur mit seinen stolzeren Geschwistern zu tun, feinlackierten Schnürschuhen, glanzhaften Bottinen, luftigen Sandalen.

Aber er trägt mir keine Feindschaft nach, wir beide sind gute Freunde geworden.

Schön braun glänzte sein Schaft, als ich ihn das erste Mal anzog; und das feste Leder der Sohle bog sich wohlgefällig, um zu zeigen, welche Geschmeidigkeit drin stecke. Damals hatte ich keine Zeit, darauf zu achten. Damals war die heiße, stürmische Zeit der Mobilmachung.

Die Liebe kam später. Auf den grundlosen russischen Wegen. Dreck und Wasser fielen über den Stiefel her. Aber da sperrten sich die Nähte und sagten: Nein, wir sind deutsche Stiefelnähte, in Pirmasens genäht oder in Tuttlingen; russische Brühe darf da nicht durch! Später, als Schnee kam, setzten sich die kleinen Fettbollen als Wächter hin, wie der Hund in der Hütte, und ließen keine Kälte einpassieren.

So, unter dem Zwange der Notwendigkeit, wurden wir Kamerad, der Stiefel und ich, und es kam soweit, daß ich den treuen Ruprecht wochenlang nicht von den Füßen ließ.

Jetzt ist's ihm ergangen, wie es allen ergeht, die im Dienste eines Herrn stehen: er verbrauchte sich vor der Zeit. Sein schöner, brauner Glanz ist geschwunden und hat einer dicken, öligen Schmiere Platz gemacht. Sein Äußeres ist unansehnlich geworden. Sein Schaft hat sich in nachdenkliche, philosophische Querfalten gelegt.

Seine Absätze sind krumm geworden und ausgefasert, wie ein Altmännerbart. Kurz, er sieht verwahrlost und heruntergekommen aus, wie ein alter Landstreicher.

Und trotzdem! selbst wenn mir einer einen nagelneuen Zwanziger hinlegte, würde ich den braven Stiefel nicht hergeben. Zwar unser Hauptmann schaut mich von Tag zu Tag bedenklicher an, wenn ich in den breiten Elbkähnen an ihm vorbeilatsche.

Aber schließlich: Blicke sind doch nur Blicke, nicht wahr, Herr Hauptmann! Und auf das Weitere pfeif ich!

Der Tod als Freund

In einer Feuerpause – die Haubitzen waren blank gewischt und frisch geölt, die Russen ließen uns in Ruhe und wir hatten Zeit, in den Mannschaftunterständen plaudernd auf dem Stroh zu sitzen – kam das Gespräch auf verdämmerte Dinge und einer sagte, indem er die Arme gegen den Himmel bog und sich reckte, daß die Gelenke knackten: »Herrgott! Ich möcht' doch mal wieder in einem Puff sein! Und wenn's zehn Mark kostete!«

Es war einer unter uns, frisch vom Städtlein gekommen, Kriegsfreiwilliger von achtzehn, neunzehn Jahren, der spitzte die Ohren wie ein Hühnerhund, wenn ihm gepfiffen wird, und fragte neugierig: »In einem Puff möchtest du sein? Was ist das, ein Puff?«

Da ging ein Schreien und ein Gelächter los, daß es nur so durch die Batterie schallte. Sogar von den Nachbargeschützen kamen sie, zu schauen, was es gäbe, und als sie hörten, warum es sich handelte, klopften sie mit der flachen Hand auf die Schenkel, daß beim Aufprall ein lauter Knall herauskam, und lachten: »Hahaha! hahaha! Der da weiß nicht, was ein Puff ist! hahaha!«

Der junge Freiwillige wurde verlegen, als er alle so übermaßen lachen sah. Das Rot stieg ihm in die Ohren und in die Wangen, und an der Zartheit, mit der es die Backen durchschimmerte, konnte man erkennen, daß er noch ein halber Knabe war. Er wollte sich nicht auslachen lassen. Er wollte vor allen Dingen wissen, was das eigentlich sei, ein Puff.

Aber als wir ihn so vor uns stehen sahen, von seinem eigenen Feuer übergossen, so kindhaft, so jünglingshaft, so unverdorben, wollte keiner mit der Sprache heraus. Einer stupfte den andern: »Sag' du's ihm!« »Nein,« sagte der, »sag' du's ihm!« Keiner wollte. Selbst Eitenschlenz, der sonst die frechste Schnauze hat, wurde dußma und sagte nur, als des Jungen Drängen nicht nachließ: »Jetzt, am Tage, kann ich dir's nicht sagen. Warte, bis es Nacht ist. Dann!«

Doch bevor es Nacht wurde, so um die Abendzeit, wenn bei uns daheim im Elsaß die Glocken das Ave Maria von einem Dorfe zum andern läuten, fingen die Russen ein großes Schießen an. Sie feuerten in unsere Stellung hinein, und die vierte Granate war ein Volltreffer und fuhr mitten in den Unterstand, zwei Leute tötend, darunter den Freiwilligen, und viele verwundend. Uns andere machte der Schrecken blaß.

Nachher, als Nacht war, und die Sterne heraufzogen, einer nach dem andern, pünktlich, wie man's von alten Soldaten nicht anders gewohnt ist, sagte Eitenschlenz zu mir: »Eigentlich ist's ein Glück, daß er fiel. Sonst hätt' ich ihn mit meiner Antwort in eine Drecklache führen müssen. So ging er wenigstens mit saubern Stiefeln weg!«

Ich löffelte meinen Kaffee weiter. Dann sagte ich, wie aus einem Traum auffahrend: »Ja! ja!« Schlenz hörte das nicht mehr. Er hatte sich auf die Seite gelegt und schlief. Sein Atem ging wie die Posaunenstöße eines Engels.

Der Beobachtungsstand

Die Russen bauten einen Beobachtungsstand. Durchs Scherenfernrohr konnten wir sie deutlich bei der Arbeit sehen. Eine hohe Tanne im Wald, etwa zwanzig Meter vom Waldrande ab, hatten sie sich ausgesucht. Von unserem Spähloch aus verfolgten wir, wie einer mühsam den Baum erkletterte, ein Seil umgebunden, an dem er nachher ein langes Rundholz hinaufzog. Dieses schob er durch eine Astgabel auf den Nachbarbaum. Andere Hölzer, Dielen und Latten wurden ihm hinaufgereicht. Er ging flink damit um, wie ein gelernter Zimmermann. Es war schön und herzbeklemmend anzusehen, wie er da von einem Aste auf den andern sprang.

Am Abend hatte er seine Arbeit beendet. Es war ein schöner Stand geworden, hübsch in dem dichten Nadeldreieck versteckt mit einem wetterfesten Regendach. Beim Abstieg nagelte der Soldat Sprossen an den Stamm. Auf denen konnte man hinaufsteigen wie bei einer Leiter.

Dem allen hatten wir schweigend zugesehen und die Arbeit nicht gestört. Als aber jetzt ein Fernsprecher mit einer Kabeltrommel den Stand erkletterte und eine Leitung hinauflegte, bekamen wir Befehl, eine Haubitze aus der Deckung zu ziehen und einzurichten. Wir warteten dann ab, bis der russische Beobachtungsoffizier hinaufstieg. Als der mit noch einem Manne droben war und eben sein Fernrohr aufstellte, scholl das Kommando: Feuer! Der erste Schuß ging fünfzig Meter zu kurz. Der zweite saß. Als sich die Schußwolke verzogen hatte, sahen wir keinen Stand mehr, sondern nur noch einen zersplitterten Stamm ohne Krone.

Am nächsten Morgen bauten die Russen von neuem. Aber weiter hinten.

Trompetertod

Am See von Swirki, wo die Front einen großen Bogen nach dem Hindenburg-Wald hinüber macht, liegt hinten auf einem trockenen Buckel eine Scheune, die heißt »Trompetertod«.

Die Bayern, die da in der Nähe quartieren, wissen wohl, warum das baufällige Gehäuse so heißt, denn es war einer von ihren Hornisten, der sich angesäuselt dort schlafen legte, in der Dezemberkälte liegen blieb und so zu seinem rumvollen Ende kam.

Was sie aber nicht wissen, ist, daß der Trompeter gar nicht tot ist, sondern leibt und lebt wie ein anderer Mensch und in den Nächten umgeht ohne Glück und ohne Ruhe. Wo ein Soldat marschiert, folgt er ihm als Schatten. In die Schützengräben geht er hinein und in die Unterstände, und wo er Schnaps sieht, nimmt er das Glas vom Bord und schüttet es aus.

Die Elsässer haben den Spuk zuerst gemerkt; und wenn sie jetzt ihren Kognak verwahren, treiben sie der Vorsicht halber einen festen Kork in die Flasche.

»Sonst säuft's der Trompeter aus!« sagen sie.

Wodka

Wir saßen im Quartier bei einem Russenbauern, das Gespräch ging rund im Kreise herum, jeder wußte irgend ein Kohlgestäude, das er ungestraft an den Mann bringen konnte, und zum Schlusse, bevor wir ins Bett, das heißt auf den Fußboden gingen, erzählte unser kleiner Polacke eine Geschichte vom Wodka.

Der Russenbauer hatte bisher andächtig unseren Reden gelauscht, trotzdem er keinen Ton davon verstand. Als aber jetzt das Wort »Wodka« in seine Gehirnkammer fiel, rannte ein fröhliches Leuchten über sein verrunzeltes, eingefallenes Gesicht. Er sprang unvermittelt auf und begann einen russischen Tanz, der so merkwürdig war, daß wir sehr darüber lachen mußten. Nachher verzapfte er allerlei verworrenes Zeug, sprang dahin, sprang dorthin, fing zu lallen und zu schwanken an und schließlich, als seine Frau in die Stube kam, nahm er einen Knüttel vom Feuerholz und verknüllte sie derart, daß sie heulend entlief.

So ist also im Jänner des Jahres 1916 geschehen, daß schon der Klang eines Wortes einen Menschen besoffen gemacht hat.

Deutschlands letzte Hoffnung

Der Hauptmann, wenn er unsern Dichter so in schlechtem Parademarsch über das Blutfeldlein herschwanken sieht, sagt wohl, wenn er gut aufgelegt ist: »Seht, da kommt Deutschlands letzte Hoffnung!«

Unser Hauptmann, sonst kein großer Wegweiser, hat diesmal den Zeiger mitten auf die Stunde gestellt.

Wirklich, wenn man unsern Eduard daherstampfen sieht, so gänzlich regelwidrig, die Nase in den Sternen, in den Fäusten die Welt, einen Schatten hinter sich herschleifend, in dem Deutschlands sämtliche Schmierer ersaufen können, so glatt deckt er sie zu, wenn man ihn so daherkommen sieht, sage ich, inmitten des papierenen Literaturseichs von heute, zutretend, daß die Wasser sich bäumen und aufspritzen, da kann es auch dem unkundigsten Thebaner in die Seele läuten: »Siehe, da kommt Deutschlands letzte Hoffnung!«

Der Sibirer

Heute habe ich in unserem Abschnitt den ersten Toten gesehen. Es war ein Sibirer, den unsere Feldwache von einer Fichte heruntergeschossen hatte. Auf dem Rücken lag er da, die eine Hand steif in die Luft gestreckt, die andere tief in das Moos und die Erde gekrampft. Mantel und Bluse standen offen, im Todesschmerz zerrissen, die Kugel war mit wütender Fahrt durch Brust und Rücken gegangen. In der Tasche hatte er ein paar Handschuhe stecken; die waren jetzt überflüssig. Dicht neben dem Toten hockte ein Infanterist und schaufelte mit seinem kurzen Spaten das Grab aus. Wenn er müde war, setzte er sich eine Weile hin und biß von seinem Brot ab. Als ich ihn nach dem Russen fragte, sagte er: »Wir wissen nicht, wer er ist. Er hatte keine Erkennungsmarke, kein Soldbuch, kein Blatt Papier auf sich. Nur seine Regimentsnummer konnten wir feststellen.«

Ich ging weiter und verschwand in den Graben. Ein kleiner Erdhügel wird sich morgen über dieser Stelle wölben. Im nächsten Jahr wächst Gras und Unkraut aus der Scholle, und sind erst ein paar Jahre herum, weiß keine Seele mehr, daß hier in dieser Wildnis ein vergrabener Mensch liegt. Eine Mutter wartet daheim, und wenn's auch nur eine Sibirerfrau ist; der da erschossen in den Himmel schaut, war doch ihr Sohn.

Die drei Schreie

Bei Koroliza mußte auf dem Rückmarsch ein Spion erschossen werden. Man bewilligte ihm einen Pfarrer; aber er war störrig und wollte ihn nicht. Er wolle nur eines, sagte er, daß man ihm drei Schreie vergönne. Der alte Oberst, dem's vorgebracht wurde, nickte ja.

Der erste Schrei: Ich verfluche euch Fremden bis in das Mark meiner Seele.

Der zweite Schrei: Wo ich begraben bin, soll ein Wald wachsen.

Der dritte Schrei: Ich danke meiner Mutter für jeden Schluck Milch, den ich aus ihren Brüsten getrunken hab.

Der Dolmetscher stand dabei und übersetzte uns Schrei um Schrei, Wort um Wort. Und mein Herz mußte gestehen: Bei Gott! für einen Spion sind sie sehr merkwürdig; wert, daß man sie niemals vergißt.

Eingebrochen

Wenn die Marschkolonne durch den gefrorenen Sumpf geht, ist der alte Vorteil, man marschiert einer hinter dem andern, scharf auf Vordermann mit zwei, drei Schritt Abstand; denn wenn die Sache brenzlich wird und einer reinplumpst an einer schwachen Stelle, so trifft das nur einen, den ersten. Der Rest behält die trockenen Hosen, und das ist in der kühlen Jahreszeit schon mancherlei wert.

Es gibt aber Leute, auf die das Sprichwort gemünzt ist, »wenn's dem Esel zu wohl geht, tänzelt er auf den Eisschollen«, und zu dieser Art gehört auch unser Meerschweinchen. Wie ein übermütiger Köter lief er an der Seite der Kolonne, und wenn ihm einer nachrief, er solle doch wie die andern hübsch in der Reihe gehen, warf er sich in die Brust und sagte: »Ich bin eine starke Persönlichkeit, ich brauche nicht in der Hammelherde zu laufen, meinen Weg bereite ich mir selber!« So schön und voll das Wort auch klang, es behütete ihn doch nicht davor, daß eines Tages das dünne Eis unter seinen Füßen wegsprang und er bis über die Achseln in den stinkenden, widerlichen Morast versank. In dieser Notlage rief der Vertreter der individualistischen Weltanschauung die vielgeschmähte Allgemeinheit zur Hilfe und schrie jämmerlich. Die Allgemeinheit in ihrem angeborenen Gutmut, fuhrwerkte ihn aus dem Dreckloch hinaus und hatte wenigstens für diesen Tag die bescheidene Genugtuung, daß er getreulich hinterherzottelte wie ein begossener Pudel und den Mund hielt. »Meerschweinchen,« sagte am Abend der breite Dischinger vorm Einschlafen, »merk dir, solche Schulstunden gibt das Leben in der Regel nur einmal!«

Gefesselte

In den Gräben liegen wir festgebunden, wir Reiter, wir Fußvolk, wir Kanoniere. Der Winter hat uns überwältigt. Wir sind zu Söhnen der braunen Erde geworden.

Die Städte des Lebens liegen vergessen. Das Locken des Waldes erschallt umsonst. Wir müssen unsere treuesten Brüder, die Bäume umhauen. Wir brauchen Feuer für unsere Leiber.

Die Einsamkeit hängt dicke Tücher um uns her. Alleinsein spricht aus jeder neuen Gruft. Der Tag ist zu Essen, Wachen und Schlafen geworden. Daß wir noch Menschen sind, wer sagte es doch?

Daß doch der Kampf wieder käme, der Vorwärtssturm! Daß man tötend wenigstens die Bestätigung seines Lebens hätte! Himmel, wo sind deine Säulen? Erde, wo ist dein Dach? Sinn, sei wie Simson! reiße sie ein!

Im Winterwald

Im Winterwald zu gehen, ist wirklich eine Lust. Die geschäftige Unruhe der Front liegt vergessen; die großartige Einsamkeit der Bäume nimmt dich gefangen.

Starre Ritter, ernsthaften Antlitzes, stehen die Tannen da. Mit fraulich gelösten Gliedern warten die Birken. Die Buchen sind überschlank, jungen Mädchen gleich. Die Erlen tragen die laublosen Wipfel so unbekümmert, als seien sie Hochzeiter. Gravitätisch grüßt dich ein Ahorn.

Sträucher und Kräuter haben zierliche Schneehauben an. Wie weiß getünchte Hallen, ehrwürdig sehen die Gänge aus, und über dem gefrorenen Sumpf klingen die Schritte vorweltlich hohl.

Die Enge des Horizontes wird dir nicht bewußt. Du hast keinen Schneehimmel über dir. Die grauen Wolken siehst du nicht. Einzig die Wunders volle Form der Baumkronen tritt in Erscheinung. Jetzt, da kein Blatt mehr an den Zweigen hängt, und der leuchtende Schnee die dunklen Linien der Äste kräftig unterstreicht, da du hüllenlos des Baumes Gerüst vor dir hast, scheint's, als ob das Gewachsene seine innerste Seele aufgeschlossen habe. Eigenwillige, widerspruchsvolle Strukturen und doch gelöst, aus mächtiger Lebenskraft heraus.

Im platten Schnee laufen vereinzelte Hasenfährten. Du siehst, wie sorglos das Tier gesprungen ist. Fern zwitschert die Meise, die blaue.

Ein dürrer Ast bricht unter deinem Schritt. Das laute Knacken läßt dich erschrecken. Ohne daß du willst, fährt die Hand ans Gewehr, und jetzt erst wird dir wieder bewußt, daß du Soldat bist.

Weihnachten *

Punkt Mitternacht brannten wir die Kerzen an und schauten, solange die fünf Flämmchen brannten, schweigend in den Lichterglanz. Dann setzten wir drei uns an das Bett, das den Tisch vorstellte, der Offizier schenkte die Flasche Wein aus, die er mitgebracht hatte. Wir tranken, aßen den trockenen Barras und dachten an die Heimat und an vergangene Zeit. Ums Reden war's keinem. Nur der Ofen in seiner Ofenecke, gut genährt, schnurrte wie eine zufriedene Katze. Im Graben, auf dem Holzrost, stapfte der Posten auf und nieder, und ein Maschinengewehr, das ferne knatterte, war die Antwort auf die Botschaft des Engels.


 << zurück weiter >>