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VI.

Am Tage nach der Beerdigung zog Marretje mit dem Großvater aus dem »Bunten Stein«, da ihnen das Wohnen dort jetzt zu teuer war. Ihr altes Häuschen, das während der sechs Jahre abwechselnd leer gestanden und achtlos bewohnt worden, war für wenige Stuiver wöchentlich zu haben. Sie bezogen es wieder. Ein Nachbar half ihr das Dach ausbessern mit Schilf von einem auf Abbruch verkauften Häuschen, dessen Besitzer es auf eine Hand voll Stroh nicht ankam.

Als der Zimmermann ihr Spinnrad von neuem auf dem alten Fleck aufstellte und sie den Abdruck ihres Fußes wiedersah, den sie und Tymen zusammen angeschaut hatten beim Umzug am Tage nach ihrer Hochzeit, ward ihr während einer Sekunde alles undeutlich vor den Augen. Dann aber dachte sie an Fokje.

Er mußte jetzt bald wiederkommen.

Als das Zimmer sauber und alles in Ordnung, war es ihr erstes, daß sie das Bett für ihn herrichtete. Um sein Kissen tat sie einen neuen, weiß und blau karrierten Bezug, den sie genäht hatte mit Stichen so fein säuberlich, wie es die Schwester in der Klosterschule nicht besser hätte machen können. Sie strich die Decke glatt, während sie sich vorstellte, daß er jetzt schon schön warm darunter lag mit »Farben wie die Kirschen« vom Schlafen.

Er hatte es in jeder Beziehung so gut gehabt seit einem halben Jahr; es durfte ihm doch jetzt nicht gar zu vieles abgehen bei Mutter daheim. Um etwas dazu zu verdienen, arbeitete sie halbe Tage bei Plugge, dessen Tochter geheiratet hatte und dessen Frau, die auch schon um einen Tag älter und ein wenig kränklich geworden war, die Arbeit nicht mehr allein schaffen konnte. Aus den Brettern einer alten Kiste und ein paar Latten zimmerte sie gegen das Hinterhaus einen kleinen Stall für eine zweite Ziege; und eines nach dem andern kaufte sie sechs Hühner, damit er an jedem Tag sein Ei haben solle.

Der erste Mai kam.

Vor Freude hatte Marretje des Nachts nicht geschlafen. Morgens um sieben schon war das Haus hübsch hergerichtet wie für den Sonntag, der schmale gepflasterte Steig rings umher gescheuert, der Pfad geharkt. Über dem Herd hing ein reiner, steif gebügelter Faltensaum, auf dem Tisch vor Fokjes hohem Stuhl stand ein dickes Bund Schlüsselblumen.

Der Morgen ging vorüber. Dann der Mittag. Dann der Abend. Sie trat wohl schon zum hundertstenmal auf die Straße hinaus und starrte in die Ferne. Da war nichts zu sehen. Es begann zu dunkeln. Sie wartete einen Tag und wieder einen Tag. Als am dritten noch immer keine Nachricht da war, zog sie ihre Sonntagskleider an und machte sich mitten in der Arbeitszeit auf den Weg nach Hartestein.

Der Herr sei schon seit einem Monat zurück; die gnädige Frau würde auf der Rückreise von Italien noch eine Weile in der Schweiz bleiben, des klimatischen Überganges wegen.

Langsam ging sie zurück.

Aus der Ferne blickte sie sich noch einmal um nach der langen Fensterreihe des Herrenhauses. Dort war er jetzt nicht ...

In der folgenden Woche kam ein Brief; in vierzehn Tagen würden sie zurück sein.

Wiederum ging der Tag vorüber. Marretje saß weinend da. Gewiß war Fokje krank und die gnädige Frau wollte es nicht sagen.

Aber eines Abends, als sie vom Acker heimging mit einer Schürze voll Gras, das sie unterwegs für die Ziege geschnitten, sauste das Automobil von Hartestein auf dem Wege zur Stadt an ihr vorüber; um die Schutzwand herumschauend, rief der Mann ihr zu, daß die gnädige Frau am vorigen Abend spät heimgekommen sei.

Das Gras aus ihrer Schürze und das Messer fielen zu Boden.

Quer durch die Felder lief sie nach Hartestein. Frau van Walsum ging gerade durch die Auffahrtallee, an der Hand führte sie einen kleinen, weiß gekleideten Knaben mit blonden Locken, die ihm bis auf die Schultern herabfielen.

Marretje schrie es hinaus: »Fokje!«

Der kleine Junge stand still. Er wurde rot bis unter die Haare und bis in den Hals hinein. Einen Augenblick blieb er unbeweglich. Dann breitete sich plötzlich ein Glanz über sein Gesicht; und während ein stets glücklicheres Lächeln in seinen weitgeöffneten Augen aufstrahlte, kam er langsam auf seine Mutter zu.

Marretje war niedergekniet und streckte ihm die geöffneten Arme entgegen. Ohne einen Laut von sich zu geben, schmiegte er sich an sie.

Sie fühlte sein Körperchen an ihrer Brust, in ihren Armen, sie fühlte seine weiche Wange an ihrem Gesicht, und sein Haar, sie griff nach seinen Händchen und dann wieder nach seinem Gesichtchen und küßte ihn überall, lachend und schluchzend zugleich.

Dann hielt sie ihn, indem sie ihre beiden Hände auf seine Schultern legte, ein wenig von sich, um ihn nochmals so recht genau anzusehen. Nein, nein, wie hatte er sich verändert, um wieviel schöner war er geworden, wie prächtig sah er aus! Sie konnte sich nicht sattsehen an seinen runden braunroten Wangen, seinen klaren Augen, aus denen er so kühn und freudig in die Welt schaute, an seinen Locken, die dick wie gelbe Blumendolden um seinen kleinen, runden Hals herumhingen, an seinen gebräunten Händen mit den Grübchen auf all den Knöchelchen, und seinen drallen Beinchen, um die die Strümpfe sich spannten.

Sie sah ihn an und lachte und die Tränen liefen ihr über das lachende Gesicht, während sie nichts anderes hervorbringen konnte als immer und immer wieder: »Fokje, ach Fokje du!«, als sei mit diesem Namen alles von Glück und Liebe und Herrlichkeit gesagt.

Der kleine Junge sagte plötzlich: »Ich kann auf dem Pony reiten, wenn Tante Klara mich festhält.« Wer war Tante Klara? Ein Pony, was sollte das heißen?

Frau van Walsum, die in geringer Entfernung stehengeblieben war, kam lächelnd näher. Sie sprach, aber mit einer gewissen Verlegenheit, über einen unvorhergesehenen Aufenthalt auf Reisen und das Vorhaben, das sie gehabt, Fokje noch an demselben Abend zurückzubringen, und forderte Marretje auf einzutreten, während der Wagen angespannt wurde, der sie und Fokje heimführen sollte.

Marretje verstand das alles nur halb und wußte kaum, daß sie sich weigerte zu bleiben, oder was sie eigentlich sagte oder tat, bevor sie wieder draußen auf der Holthumer Landstraße war, mit Fokje an der Hand.

Wie ein kleiner Mann schritt er einher auf seinen kräftigen Beinchen. Von Zeit zu Zeit blickte er unter den um seine Stirn tanzenden Locken zu ihr auf, mit einem halb verlegenen, halb schalkhaften Blick in den goldbraunen Augen mit den dunkleren Fleckchen. Das schnitt ihr ins Herz: genau so konnte Tymen dreinschauen, der Tymen von einst, ihr Bräutigam, ihr junger lustiger Mann, der sie zum Narren hielt mit erstaunlichen Neuigkeiten aus der Weberei und mit ernsthaft aus der Zeitung vorgelesenen Dingen, die gar nicht darin standen. Das runde, warme Händchen in ihrer Hand, schaute sie in das frische Kindergesicht herab und sah die Augen und das Lachen von Tymen in den Augen und dem Lächeln von Tymens Söhnchen, schaute ihren lieben Mann an in ihrem lieben Kinde und wußte nicht, welcher von beiden es war, den sie mit solch einer fast schmerzlichen Freude liebte.

Sie kamen heim.

Der Großvater stand mit verdrießlichem Gesicht vor der Tür und schaute aus, wo Marretje denn doch bliebe, was doch geschehen sei, daß sie noch nicht einmal für das Abendessen gesorgt habe. Befremdet blickte er den kleinen Knaben an, mit den langen Locken wie ein Mädchen, der so städtisch gekleidet war und ganz in Weiß, und den Marretje an der Hand führte. Fokje erkannte seinen Großvater nicht; er wollte ihm nicht die Hand geben.

In dem Häuschen blickte er erstaunt um sich und wollte nicht von dem Kaffee trinken, in den Marretje zwei Stückchen Zucker tat aus der Sonntagsbüchse, oder auch nur den in aller Eile gebackenen Buchweizen-Pfannkuchen kosten, in dessen Mitte ein Stückchen Speck lag.

Marretje sagte:

»Es ist ihm fremd hier, auf dem Bunten Stein würde er sich gleich heimisch gefühlt haben!«

Und es fiel ihr ein, daß er natürlich auch keinen Hunger haben könnte, so kurz nach dem Mittagessen auf Hartestein.

Er wurde schläfrig: sie kleidete ihn aus und zog ihm das Nachtzeug all, das schon seit beinah einem Monat auf der Decke bereit lag. Und jetzt sah sie erst so recht, wie er gewachsen war: es wollte nirgends mehr passen!

Weil er sich vor den dunklen Winkeln in der Alkove fürchtete und durchaus wieder hinaus wollte, legte sie sich, angezogen wie sie war, neben ihn hin und schlug den Arm um ihn. Bänglich schmiegte er sich an sie. Jetzt war es wieder genau so wie damals, als er noch ganz klein war und gerade hineinpaßte in das Nestchen zwischen ihrem gebogenen Arm und ihrer Wange, die sie an sein Köpfchen legte. Sie wagte sich nicht zu rühren, als sie an seinem stets stiller und stiller werdenden Atem und seinem ruhigeren Herzchen, dessen Klopfen sie an ihrer Hand fühlte, bemerkte, daß er schlief. Allmählich fiel auch sie in Schlaf.

Frau van Walsum kam schon früh am Morgen. Sie hatte Fokjes Koffer bei sich in ihrem Wagen, und auf einem Wagen der Musterwirtschaft stand ein ganzer Stapel Kisten Schachteln und Pakete, ein Sportwägelchen und eine Badewanne.

In dem Hause war kein Platz, um das alles unterzubringen. Frau van Walsum versprach, daß sie ihr den Schrank aus dem Kinderzimmer schicken wolle, schaute sich nochmals um und sagte, während sie leicht errötete, daß auf der Meierei eine Melkerwohnung leer werde, die für Marretje und ihre Familie gerade geeignet sei. Ein Gefühl, über das sie sich keine Rechenschaft ablegte, trieb Marretje dazu, kurz zu antworten, daß sie hier zu Hause seien, schon von Großvaters Zeiten her, und daß sie nicht weg wollten.

Als Frau van Walsum fortging, lief Fokje ihr bis auf die Straße nach.

»Tante Klara! Tante Klara!«

Sie mußte aus dem Wagen steigen, um ihn zu seiner Mutter zurückzubringen. Beinahe heftig schloß Marretje die Tür.

Aber alsbald schon mußte sie es erkennen, daß sie ihr Kind nicht bei sich hatte, wenngleich sie es eifersüchtig in ihrer engen Stube eingesperrt hielt. Fokje fühlte sich allem entfremdet. Mit dem Essen, wovor sie sich so sehr gefürchtet hatte, war es noch nicht am schlimmsten: er hatte einen gesunden Hunger, der alsbald schon mit grobem Brot, Buttermilch, Brei, Salat mit Essig und ausgelassenem Speck und einem Stückchen Pferdefleisch des Sonntags fürlieb nahm. Die süßliche Ziegenmilch schmeckte ihm jetzt auch, nachdem er sie den ganzen Winter über getrunken hatte, des Morgens, wenn der von einem Fell umhangene Hirte seine blökende Herde vor die Tür des Hotels trieb. Er fürchtete sich auch nicht mehr vor der Alkove nach jener ersten Nacht, als er in Mutters Arm erwacht war, und lief gern auf seinen kleinen Holzschuhen durch das taufeuchte Morgengras am Acker entlang.

Aber das Schwierige, an das sie nicht gedacht hatte, weil sie es nicht kannte und nicht darum wußte, war die neue Richtung in seinem Denken.

Immerfort gebrauchte er Worte, die sie nicht verstand, sprach er über Dinge, die sie nicht einmal dem Namen nach kannte. Sie wußte nichts mit seinem Spielzeug anzufangen, woran allerlei Häkchen und Schlüssel saßen, an denen gedreht, oder worunter irgendein Brennstoff, von dem sie nie gehört hatte, entzündet werden mußte, damit es in Bewegung kam. Fokje stampfte zornig mit dem Fuß auf. Sie versuchte aufs Geratewohl, das Spielzeug zerbrach, er begann zu weinen.

Oft auch stellte er sich neben sie und lehnte sich an ihren Schoß, um eine Geschichte zu hören.

»Was soll Mutter ihrem Kleinchen denn erzählen?«

»Von Liederreich, der mit den Vögeln sprach, so wie Tante Klara.«

Dann stand sie hilflos da.

Er, der doch früher ganze Tage lang zufrieden gewesen, trotzdem er völlig sich selbst überlassen war, wollte jetzt keinen Augenblick mehr allein bleiben. Immerfort sollte sie mit ihm spielen. Aber das war doch nicht möglich, sie mußte ja für ihn arbeiten! An den Tagen, da sie zu Frau Plugge ging, war es am schlimmsten; er wollte nicht zu den Nachbarn, Großvater konnte um seinetwillen nicht daheim bleiben, sie durfte ihn nach dem einen Mal, als es die gutherzige Frau gestattet hatte, nicht wieder auf das Gehöft mitnehmen und konnte doch auch andererseits den Verdienst nicht entbehren.

Sie brachte ihn in die Klosterschule zu den Schwestern.

Obwohl es ihr ans Herz ging, hatte sie ihm seine langen Locken abgeschnitten, auf daß die Jungens ihn deßwegen nicht necken sollten. Sie zog ihm seinen ältesten und dunkelsten Anzug an und suchte das Spielzeug und die Bilder, die er am wenigsten entbehren würde, für die Kinder der Nachbarn zusammen, damit er schon gleich zwischen Freundchen sein sollte.

Die Nonne, die ihn in ihre Klasse bekommen hatte ein sanftes Gesicht und sprach freundlich über ihn mit Marretje. Auf dem Schulspielplatz brachte sie ihn zu einem kleinen Trupp, der singend umherzog..

»Zwei und zwei, in Schritt und Tritt
Gehen wir mit der Schwester mit.«

Um zwölf Uhr kam er heim inmitten der Kinder des Nachbars, mit einer jungen Amsel unter seinem Kittel, die ihm ein Knabe gegeben hatte im Austausch für sechs Marmeln und einen Kreisel, der während des Drehens Musik machte. Er wehrte sich nicht mehr, als er wieder gehen sollte.

Er spielte jetzt mit anderen Knaben, und begann von neuem so zu sprechen wie sie, hin und wieder mit possierlichen Flüchen und Schimpfworten. Und immer weniger hörte Marretje jene Worte, die ihr wie ein Stich durchs Herz gingen: Tante Klara.

An einem Sonnabend wollte sie ihn auf dem Rückweg von der Weberei abholen, um ihm ein Paar neue Holzschuhe anprobieren zu lassen.

Sie mußte lange warten, bevor sie an die Reihe kam mit dem Abwiegen, dann konnte der Patron das Geld nicht abzählen, und der Spuljunge, der zum Wechseln geschickt war, kam und kam nicht zurück. Steven van Es wollte nicht fertig werden mit dem Aufmachen eines soeben hineingetragenen Ballens Werg und dem Abwiegen und dem Einpacken von Marretjes vierzig Pfund: es war bald Eins, als sie sich auf den Weg machte.

Jetzt saß Fokje wartend vor ihrer geschlossenen Tür! Sie trabte beinah hinter ihrem schweren Schubkarren.

Er war nicht da, als sie atemlos das Haus erreichte. Sie rief ihn. Es kam keine Antwort. Sie lief zum Nachbarn. Die vier Knaben saßen beim Essen: Fokje sei mit ihnen heimgekommen und habe sich auf die Schwelle gesetzt, um zu warten, als er die Tür verschlossen gefunden. Ob er denn nicht mehr da sei?

Sie fragte im Nebenhaus und suchte den Garten ab zwischen den Johannisbeer- und Himbeersträuchern, immerfort rufend. Es kam keine Antwort. Ein Vorübergehender rief ihr vom Wege aus zu, daß er einen kleinen Knaben in Kleidern, so wie man sie in der Stadt trage, den Pfad zu van Dissel habe hinaufgehen sehen, etwa vor einer halben Stunde. Ein Junge, der dazu kam, meinte, daß er dann bestimmt nach dem »Kolk« gegangen sei, denn dort gäbe es Salamander zu fischen.

Wirr vor Angst eilte Marretje nach dem Tümpel. Aber die van Dissels hatten den kleinen Fok weitergehen sehen; sie gaben die Richtung an. Marretje atmete auf: er war nach Hartestein!

Sie vergaß ihren Kummer über diese Anhänglichkeit an »Tante Klara« ob der Freude, ihn geborgen zu wissen. Aber als sie den Gärtner fragte, der seine Pfeife rauchend vor dem Gitter stand, hatte er von Fokje weder etwas gesehen noch gehört.

Er ging, um es der gnädigen Frau zu sagen.

Sie kam auf Marretje zugeeilt, blaß vor Schrecken.

»Er ist nicht hier gewesen.«

Die Dienerschaft wurde ausgeschickt, nach links und nach rechts, die drei Mädchen, der Kutscher, der Diener, der Gärtner, die große Glocke der Meierei wurde geläutet, um die Arbeiter zusammen zu rufen. Herr van Walsum kam aus seinem Arbeitszimmer.

Er fragte streng, ob das Kind denn nicht beaufsichtigt werde. Kurz und sachlich erteilte er seine Befehle bezüglich des Absuchens des Landgutes und ging dann selbst, indem er die Dogge mitnahm.

Am Abend war Fokje noch nicht gefunden.

Die Nachricht wurde Marretje gebracht, die rastlos den Weg schon zweimal zurückgelegt hatte, um auf Hartestein nachzufragen, und dann wieder in der Umgebung ihres eigenen Hauses zu suchen.

Es wurde Nacht.

Steif auf ihrem Stuhl saß sie wartend da, ohne auch nur einen Gedanken im Kopf zu haben, völlig wesenlos.

Die Nachbarn kamen und klopften bei ihr an, steckten den Kopf durch die Tür, versuchten etwas zu sagen, um ihr Mut zuzusprechen, und schlichen mit mitleidigen Gesichtern wieder von dannen.

Mitternacht ging vorüber.

Großvater, der, die Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, vor Erschöpfung in Schlaf gefallen war auf seinem Platz, stöhnte überlaut in seinem Traum.

Es wurde ein Uhr, zwei Uhr, das bleiche Frühlicht färbte den Weg weiß. Marretje ging ihn eine Strecke hinauf und kehrte zurück und lief wiederum nach der Biegung der Landstraße, ob denn immer noch nichts zu sehen sei.

Die Karren der Melker kamen vorüber auf dem Wege nach der Allmend; sie rief die Männer an, sie alle schüttelten den Kopf als Antwort auf ihre Frage.

Es ward Morgen: Arbeiter gingen an ihr Tagewerk. Mechanisch gab sie dem Großvater sein Brot und seinen Kaffee, irrte nach dem Hinterhaus, wo die Ziegen blökend standen und gemolken werden mußten, blickte wie geistesabwesend um sich, kam zurück, blieb mit schlaff herabhängenden Armen mitten in der Stube stehen und ging wieder hinaus auf die Landstraße.

Die Sonne schien glühend auf die Pflastersteine. Starr und still stand da das grau verstaubte Blätterwerk der Erlengebüsche am Grabenrand. Über den violett gesprenkelten Kartoffelfeldern zitterte die Luft. Es war nichts zu sehen.

Sie ließ sich am Wegrain nieder, von wo aus sie weit über die Äcker hinweg und auch nach ihrem Hause schauen konnte.

Ein Orgeldreher kam vorüber. Darauf ein Junge mit einem Äffchen auf der Schulter, der fragte, wie weit es noch sei bis zur Kirmes, und als er keine Antwort bekam, müde weiterging auf seinen wundgelaufenen Füßen, das Grimassen schneidende Äffchen auf seiner Schulter. Eine Weile darauf kam eine gebräunte schwarzäugige Zigeunerin, unter deren wirren rötlich-verbrannten Haarsträhnen Silberohrringe hervorglänzten, und die in einem bunten Tuch ihr Kind an der Brust trug. Sie blieb vor Marretje stehen und schaute sie mit ernsten Blicken an. Den Kopf zur Seite geneigt, und während sie mit einer instinktiven Gebärde ihren Säugling fester an die Brust drückte, murmelte sie schnell und leise ein paar unverständliche Worte in einem Ton mitleidigen Fragens.

Das Kind ließ ihre Brust los und gab einen wimmernden Laut von sich.

»Er ist fort!« schrie Marretje, in Schluchzen ausbrechend. Ihre Tränen strömten, die tödliche Starrheit in ihr entspannte sich. Sie begann zu beten, zum erstenmal in ihrem Leben mit ihren eigenen Worten, flehentlich, als ob sie Ihn, von dem sie mehr als ihr Leben erflehte, mit Augen vor sich sähe.

Endlich wurde sie ruhiger.

Ihr verweintes Gesicht mit den Händen trocknend, stand sie auf und ging heim. Es konnte nicht anders sein, sie würden ihn nach einer Weile bringen.

Hinter ihr her kam mit durchdringendem Hupensignal ein Automobil in voller Fahrt den Weg heruntergesaust. Das rasselnde Gefährt schoß vorüber und ließ eine wirbelnde Wolke von Staub und Gestank hinter sich.

Eine Sekunde stand Marretje unbeweglich: dann rannte sie hinter dem Wagen her.

Er war schon zum Stehen gebracht. Ein Feldhüter sprang heraus. Frau van Walsum reichte ihm Fokje hin. Fast in demselben Augenblick hatte Marretje ihn in ihren Armen.

Herr van Walsum war am frühen Morgen nach Wymenes und nach Kloosterhuizen gefahren, um eine Belohnung auszusetzen für das Auffinden des Kindes, und die Polizei in der Umgegend telegraphisch zu verständigen: und der Feldhüter hatte ihn gefunden in dem Zeltwagen eines Seiltänzers auf der Kirmes zu Inner-Enkum.

Soviel begriff Marretje endlich von dem, was er sagte und auch, daß er den Kleinen nach Hartestein gebracht hatte.

Aus Fokje konnte sie kein Wort herausbringen, als sie allein mit ihm war, und ihn, indem sie ihm sanft über das Haar streichelte, fragte, warum er denn auch fortgelaufen sei und wohin er eigentlich gewollt habe. Blaß und scheu saß er auf ihrem Schoß. Sie fragte stets wieder:

»Wolltest du Mutter suchen?«

Endlich nickte er bejahend.

Sie saß mit ihm auf der Bank vor der Tür an jenem Nachmittag, als der Seiltänzer mit einer johlenden Kinderschar hinter sich her, in springendem Trabe die Straße hinuntergetanzt kam, indem er auf dem Kopf stand und Purzelbäume schlug. Sie griff nach Fokje. Aber der mit Schellen behangene Mann, der mit seinem fleischfarbenen Trikot und dem scharlachroten sammetnen Lendenschurz beinah nackt erschien, kam gutmütig lachend auf ihn zu; und während die ganze Nachbarschaft sich um ihn drängte, erzählte er mit seiner heiser geschrienen Stimme, wie er den Kleinen ganz allein und verlassen auf dem Kloosterhuizener Weg gefunden habe, weinend vor Müdigkeit, und wie er ihn dann zu seinen eigenen Kindern in den Wagen gehoben: er habe nichts anderes gesagt, als daß er zu Tante Klara wolle.

Am Abend kam Frau van Walsum.

Sie saß lange an Fokjes Bett, wurde rot und blaß und ging endlich wieder fort, ohne gesprochen zu haben.

Der Großvater meinte:

»Den Reichen gehört eben doch nicht die ganze Welt.«

Marretje antwortete nicht.

Lange blieb sie an Fokjes Bett sitzen. Er warf sich unruhig im Schlaf hin und her. Es schien als sei sein Gesichtchen abgemagert. So blau und schwer hatten die Adern doch vor ein paar Wochen nicht an den wachsbleichen Schläfen gestanden.

Zwei Tage darauf kam Frau van Walsum zurück. Ihr Mann entstieg nach ihr dem Wagen.

Marretje war erstaunt.

Aber er sagte ihr sofort, warum sie gekommen seien: sie wollten den Kleinen an Kindesstatt annehmen.

Die Sache war zwischen den beiden Gatten lange besprochen worden.

Er hatte sich anfangs entschieden geweigert. Warum sollte man sich eine solche Verantwortung aufladen und eine täglich wiederkehrende Last und Sorge? Und konnten sich in diesem Arbeiterkinde, das jetzt noch reizend schien, nicht mit der Zeit allerlei Eigenschaften geringer Leute entwickeln? Er versuchte seiner Frau sogar klar zu machen, daß es für Fokje selbst nicht gut sein würde, wenn sie ihn seiner natürlichen Umgebung entrisse.

Sie aber beharrte und bestand stets fester auf ihrem Verlangen. Und da er aus einem Grunde, den er vor ihr verbarg, nicht nur Mitleid allein empfand für ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach einem Kinde, und er sie auf seine Art doch auch liebte, hatte er zu guter Letzt und unter dem Eindruck ihrer Erregung über Fokjes Verschwinden und Wiederfinden seine Einwilligung erteilt und nur die eine Bedingung daran geknüpft, daß sie die Regelung der Angelegenheit völlig ihm überlassen müsse; denn gestützt auf seine Erfahrung hinsichtlich der den Bauern eigenen Habsucht war er schon lange darauf bedacht, die Mutter daran zu hindern, daß sie versuchen könne, ihn vermittelst des Kindes auszubeuten. Daß sie sich weigern könne es abzugeben, – der Gedanke kam überhaupt nicht in ihm auf.

Er sagte also, daß er und seine Frau den kleinen Volkert in ihr Haus nehmen und ihn erziehen wollten, als sei er ihr eigenes Kind, wenn sie, Frau Vos, endgültig auf alle ihre Mutterrechte verzichten wollte. Und in der sachlichen Weise, in der er den Bauern aus der Umgegend seine Vorschläge bezüglich des Ankaufes eines Ackers oder eines Stückes Wiesenland zu machen pflegte, setzte er seine Absichten auseinander, während seine Frau, unruhig erst und dann ängstlich, von ihm zu Marretje hinüberschaute, die regungslos dasaß mit einem blassen Gesicht, auf dem zwei rote Flecken zu brennen begannen.

Plötzlich ergriff sie Marretjes beide Hände.

»Denk doch an ihn, Marretje, denk doch an ihn! Es ist doch zu seinem Besten! Er ist ja so zart! Er wird nie ein Arbeiter sein können. Ich werde für ihn sorgen, damit er gesund und stark aufwächst und ein glücklicher Mensch wird.«

Die Tränen rannen ihr über die Wangen.

Mit einer fast rauhen Bewegung riß Marretje ihre Hände los.

»Mein Kind gehört mir, ich gebe es nicht ab.«

Während einiger Augenblicke blieb es still in dem Zimmer.

Herr van Walsum schob seinen Stuhl zurück, hüstelte ein paarmal und sagte, daß in einer so gewichtigen Angelegenheit ein Entschluß doch wohl nicht so übereilt gefaßt werden könne. Es handle sich ja nicht um ihre Rechte, – die kein Mensch antasten wolle, – sondern um das Wohl des Kindes, das ihr als Mutter doch vor allem andern am Herzen liegen müsse. Er wolle ihr gern Zeit zu ruhiger Überlegung lassen. Und er schritt zur Tür mit einem zwingenden Blick auf seine Frau, die sich vergebens mühte, ihre Tränen zurückzuhalten.

Vom Kopf bis zu den Füßen zitternd ging Marretje im Zimmer auf und ab. Mit kurzen hastigen Bewegungen, von denen sie selber nichts wußte, schob sie die Stühle, auf denen Herr und Frau van Walsum gesessen, wieder an die Wand. Ihr Herz pochte. Weil jene reich, und sie selber arm war, darum wagte jene Frau es, ihr das einzige, was sie besaß, auch noch nehmen zu wollen!

Sie hatte Fokje an sich gelockt mit Spielsachen und Leckerbissen. Ein Kind war nun einmal nicht anders, das war auf sein Vergnügen bedacht. War er wirklich so zart? Dann wollte sie selber schon dafür sorgen, daß er gesund und kräftig würde!

Von diesem Augenblick an erwachte der Gedanke in ihr und verließ sie nicht mehr, weder bei Tage inmitten ihrer Arbeit, noch auch in der Nacht, während sie sich seufzend in ihrem Bette umherwarf, der eine Gedanke: wie sie wohl so viel verdienen könne, daß Fokje es gut hätte.

Es kam ein langer Brief von Frau van Walsum. Sie wollte ihn nicht lesen. Die Banknoten, die dem Kuvert entfielen, brachte sie zurück. Selber würde sie für ihr Kind sorgen.

Von ihrem Vater hörte sie, daß der junge Patron – Steven van Es war van der Scheer's Schwiegersohn und zugleich sein Kompagnon geworden – künftighin Segelgarn spinnen lassen wolle, das, da sich nur wenige Frauen auf die schwierige und mühsame Arbeit verstünden, per Pfund um einen Cent höher bezahlt werde, als das Spinnen des Kuhdeckengarns. Er hielt die Sache geheim, weil er die vorteilhafte Arbeit Verwandten gönnen wollte; aber die mit reinem Flachs gefüllten Säcke aus Krommenie lagen schon auf dem Speicher.

Marretje machte sich, ungeachtet ihrer Angst vor Steven, auf den Weg, ihn um die Arbeit zu bitten und vertrat ihre Sache so gut, daß er ihr endlich versuchsweise einen Sack Flachs mitgab, unter der Bedingung, daß sie am kommenden Samstag mindestens fünfundvierzig Pfund abliefern müsse.

Marretje versprach es freudig.

Sie schaffte es, indem sie noch eine Stunde früher aufstand.

Aber es waren doch bei alledem nur neun Stuiver, die sie sich damit wöchentlich extra verdiente, und sie versuchte daher, noch etwas dazu zu bekommen, indem sie einen Kostgänger ins Haus nahm.

Die Armenverwaltung gab ihre Pfleglinge für zwei Gulden wöchentlich in die Kost. Unter den fünfen, für die sie gerade ein Unterkommen suchte, waren vier, die entweder krank oder so alt waren, daß ihr Alter an sich schon eine Krankheit bedeutete. Die fünfte, ein junges Mädchen, war idiotisch. Den Kopf vorgestreckt und den Oberkörper gekrümmt, lief sie im Trab durch das Dorf und sprach immerfort murmelnd vor sich hin.

Marretje zauderte, Fokjes wegen. Es mochte ja wohl wahr sein, daß die Krankheiten der Alten nicht ansteckend, und die Schwachsinnige so gutmütig, daß sie keiner Fliege ein Leides antun könne. Aber in dem einen engen Zimmer Tag und Nacht mit dem Kinde zusammen!

Zu guter Letzt nahm sie eine fast achtzigjährige Frau ins Haus, die an beiden Beinen gelähmt war und seit fünfundzwanzig Jahren das Bett nicht verlassen hatte. Wegen ihrer schlechten Laune und der Mühe, die sie durch Unsauberkeit verursachte, wollte niemand sie mehr haben; aber sie litt an keiner Krankheit.

Marretje trat ihr ihr Bett ab und zimmerte für sich selber im Hinterhaus, dicht am Ziegenstall, einen Bretterverschlag zurecht.

Wegen Fokje, den sie mit ihrem frühen Aufstehen stets aufzuwecken fürchtete, paßte es ihr ganz gut, da zu schlafen.

Sie gab ihm jetzt jeden Tag Butter auf sein Brot und auch in der Woche Fleisch, zwar heimlich, auf daß der Großvater es nicht merken und sich darüber kränken solle.

Er war mürrisch in der letzten Zeit, hatte an allem, was Marretje tat, was auszusetzen und sagte, »daß sie den Reichtum im Kopf habe, was das Kind anbeträfe, und daß es ihr noch danach ergehen würde«.

Marretje hatte auf seine ärgerlichen Ausstellungen niemals eine Widerrede: sie meinte, das sei gewiß die Barschheit eines alten Menschen, der mehr leisten mußte, als er wohl konnte; Steven van Es verstand es seine Leute arbeiten zu lassen.

Seine einstigen Kameraden fürchteten sich vor ihm. Sie blickten verstohlen zu dem Pult hinüber, an dem er vom Morgen bis zum Abend saß und rechnete und schrieb. Sogar der Spuljunge, der früher während der Arbeit wie ein Fink zu pfeifen pflegte, verhielt sich still. Zwaantje durfte den Knechten zur Vesperstunde keinen Kaffee mehr bringen, wie es stets Brauch gewesen. Still betrat der alte Patron die Werkstatt und blickte sich mal um, bis Steven van Es ihn über seine Bücher und Briefe hinweg anschaute. Dann hustete er und ging, stiller noch, von dannen.

Beim Nachprüfen der Arbeit und bei der Ausbezahlung des Lohnes am Sonnabend ließ er sich gar nicht mehr sehen.

Die Weber mußten es hinnehmen, so wie es van Es beliebte. Immer entdeckte er Fehler im Gewebe, wofür dann vom Lohn abgezogen wurde. Und beim Kaufmann war alles um Cents und halbe Stuiver teurer geworden, von dem Salz und der Seife bis zu den Kleidern.

Kettingmakers wagte kein Wort der Widerrede. Gleich als fände er einen Trost darin, sprach er viel von der alten Zeit, da alles besser gewesen.

Vater und Mutter und die Kinder, acht an der Zahl, hätten zusammen in dem Verschlag gearbeitet, den Großvater, als er heiratete, selbst an das Häuschen angebaut. Vater und die Jungen webten, Mutter und die Mädchen spannen.

Es wurde dazumal doch auch tüchtig gearbeitet, aber der eine half dem andern, und gar zu müde war niemand am Abend.

Ihm fielen die Liedchen ein, die seine Schwestern mit ihren hellen, die Mutter mit ihrer tiefen Stimme zusammen sangen.

Herr Halewin sang ein Lied so fein
Und wer das hörte, wollt' bei ihm sein.

Das hörte des Königs Töchterlein,
Gleich wollte sie zu dem Ritter fein.

Vor ihre Mutter stellt' sie sich hin,
Frau Mutter, laßt mich zum Halewin hin.

Ach nein, meine Tochter, nein du nicht,
Die zu Halewin gehen, die kehren nicht.

Er blieb stecken. Er fragte Marretje, wie es doch weiter ginge? Sie wußte es nicht, sie kannte keine Lieder, ihre Mutter hatte nie gesungen.

Er versank in Gedanken, während er murmelte, nein, das sei richtig, sie allerdings nicht mehr ... Und aus langem Grübeln wieder erwachend, sagte er plötzlich, daß seine Eltern stets geglaubt hätten, sie würden mal bessere Tage sehen. Oftmals hätten sie davon gesprochen, wie es wohl würde, wenn sie eine kleine Fabrik begründen könnten: sie hätten ja die Werkstatt, sie hätten das Arbeitsgerät, und die Arbeitshände hätten sie, die ihrer zehn, ebenfalls. Aber das Geld, um Flachs einzukaufen und ohne Verdienst auszuhalten, bis die Decken abgesetzt und bezahlt wären, das hätten sie niemals zusammenbringen können, nicht mit Scharren und Sparen und Borgen; und so sei denn alles beim alten geblieben.

Der alte Weber sagte mit seiner klanglosen Stimme: »Schwer arbeiten und Geld verdienen, das ist zweierlei, sonst brauchte ja wohl kein Mensch arm zu sein.«

Fokjes wegen sann Marretje auch wohl manchmal über solche Dinge nach. Frauenarbeit verlohnte sich nun einmal am allerschlechtesten. Aber eines schönen Tages hörte sie von Männerarbeit, die sie eigentlich ebensogut verrichten könnte: das Melken der Kühe in der Allmend.

Im Dorf herrschte seit einer Versammlung, in welcher ein Bauernknecht aus Friesland gesprochen hatte, zwischen den Bauern und den Allmendgängern Uneinigkeit bezüglich des Lohnes. Statt zehn Stuiver wie bisher, verlangten die Knechte wöchentlich elf für eine Kuh. Die Kätner, die selbst eine Kuh in der Allmend weiden ließen und sich einen Nebenverdienst verschafften, indem sie für die reichen Bauern melkten, schlossen sich ihnen an; darauf machten auch die Melker aus Wymenes, Enkum und Kloosterhuizen mit, und schließlich mußten die Bauern nachgeben.

Nur Plugge und zwei seiner Nachbarn, kleine Bauern, die von ihm abhängig waren, verweigerten die Lohnerhöhung. Plugge hatte seinen Knecht, der schon seit zwölf Jahren auf dem Gehöft gearbeitet hatte, fortgejagt, weil er seinen Sohn in die Allmend zu schicken beabsichtigte; aber die Frau, die es ihr Lebtag noch nicht gewagt hatte nein zu sagen, wenn der Patron ja sagte, hatte diesmal ohne Umschweife erklärt, daß sie Elbert nicht in die Allmend gehen lassen würde; denn die Verunstaltung, die unausgewachsene Hände durch das Ziehen und Zerren an den zähen Eutern erleiden, wollte sie an dem hübschen jungen Burschen, ihrem einzigen Sohn, nicht sehen. Plugge mußte nun selber gehen. Und, grimmiger mit jedem Tage, stand er morgens um halb drei auf zu der langen Fahrt mit dem Hundekarren, fluchend ob der Schmerzen in seinen gichtbrüchigen Knochen, und am Nachmittag um halb drei ging er zum zweitenmal.

Eines Tages, als sie es wieder sah, wie er mit seinem bitterbösen Gesicht heimkam und die beiden Karrenhunde mit einem Fußtritt in ihre Hütte jagte, ging Marretje auf ihn zu und sagte, daß sie wohl zum Melken gehen wolle.

Der Bauer und seine Frau sahen sich an, als glaubten sie, daß es mit ihr nicht ganz richtig sei.

Die Frau schlug die Hände zusammen, während sie ausrief: das könne doch nicht »angehen«, daß eine Frau Männerarbeit verrichte. Und sie fragte Marretje, ob sie denn niemals von Jans Blom gehört habe, die vor fünfundzwanzig Jahren von einer bösartigen Kuh totgestochen worden, als sie ihrem Schatz nach wollte in die Allmend.

Der Bauer meinte kopfschüttelnd, daß die Knechte sie ja nicht auf die Wiese lassen würden.

Aber Marretje, die sich alles wohl überlegt hatte, sagte entschlossen: »Ich kann es wirklich tun.«

Plugge dachte nach.

Mit raschem Überlegen rechnete er aus, daß er nicht nur über die Melker den Sieg davontragen und die Lohnerhöhung umgehen würde, sondern daß er auch noch einen kleinen Vorteil von ein paar Stuiver wöchentlich erzielen könne, indem er für seine beiden Nachbarn, die sich daran beteiligen sollten, die Milch beförderte; – Marretje könnte dann neben dem Wagen herlaufen, wenn es etwa für die Hunde zu schwer werden sollte.

Nachdem er sich also lange genug geweigert und Schwierigkeiten gemacht hatte wegen der Unschicklichkeit, dem Brauch zuwiderzuhandeln, und wegen des Schadens, den die Milch vielleicht erleiden könne, wenn die Kühe scheuten vor ihren Röcken und wegen des unordentlichen Melkens von Frauen, die keine Kraft in den Händen hatten und immer den letzten, den »Buttertropfen« im Euter sitzen ließen, sagte er endlich und zu guter Letzt, daß er es, um ihr, der Wittfrau, zu helfen, dann nur »riskieren« und sie als Melkerin anstellen wolle, natürlich für einen Stuiver weniger per Kuh, als er seinem Knecht gegeben habe, weil es ja doch nur Weiberarbeit sei, die sie leiste. Bei seinen Nachbarn, von denen ein jeder drei Kühe in der Allmend grasen ließe, wolle er dann auch noch ein gutes Wort für sie einlegen.

Marretje war überglücklich.

Um die Hunde, zwei große, zottige Tiere mit funkelnden Augen, die sie, wild an ihrer Kette zerrend, ankläfften, an Marretje zu gewöhnen, ließ Plugge sie von ihr füttern. Am ersten Tage ging er mit in die Allmend, um sie zu seinem Vieh zu bringen. Er ermahnte sie, daß sie doch nur ja kein hellfarbenes Halstuch tragen solle: je weniger die Tiere von ihr sähen, desto besser sei es, denn es liefen ein paar bösartige herum in der Weide, ohne Klotz.

Plugges Kühe weideten am Seedeich entlang. Marretje mußte über die ganze Breite der Wiese hinüber.

Zusammengekauert saß sie hinter den Fässern auf dem Milchkarren, während die flinken Hunde den gewundenen Pfad hinuntertrabten, zwischen den weidenden Tieren hindurch.

Am Deich machten sie von selbst Halt. Die Kühe kamen ihnen bereits entgegen. Allen voran lief stets eine Rotscheckige, vor der Plugge Marretje gewarnt hatte, weil sie stößig sei.

Ein ganzes Ende hinter den andern her kam allein ein schönes, junges, glänzend weiß und schwarzes Tier mit einer Blässe auf der Stirn und mit so vollen Eutern, wie keines der anderen, es war Bles! Plugge hatte beiläufig erzählt, daß sie in der Tierarzneischule in der Stadt genesen und mit einem schönen Kälbchen zurückgekommen sei, das er schon vorteilhaft verkauft habe.

Marretje hatte stets nur ihre Ziege gemolken. Von dem pressenden Ziehen an den schweren, zähen Eutern schwollen ihr die Finger an und wurden steif. Jedesmal, wenn sie bei der letzten der dreizehn Kühe anlangte, meinte sie, daß sie es nicht mehr fertig bringen könne. Sich Gewalt antuend und mit Tränen in den Augen hielt sie stand. Sie dachte an das, was der Patron gesagt, und sie wußte, daß ihr die Melker von allen Seiten auf die Finger sahen.

Wenn endlich der letzte Tropfen herausgepreßt war, schleppte sie mit einer Anspannung, unter der sie ihre Schultern krachen fühlte, die großen, bis an den Rand gefüllten Fässer auf den Karren. Von selbst zogen die Hunde an.

Langsam zogen sie die schwere Last über den holperigen Pfad, der sich in Windungen durch die Wiese hinzieht. Die weidenden Kühe hoben den Kopf, wenn sie hinter dem Karren Marretjes Röcke flattern sahen. Mit beiden Händen preßte sie die Falten an sich und verbarg sich, so gut sie konnte. Die Tiere kamen auf sie zu mit schwerem Tritt und unruhigem Schnauben: sie senkten die Hörner. Sie wußte, daß die ganze Herde sie verfolgen würde, falls sie die Flucht ergriffe; und während ihr das Herz bis in den Hals schlug, blieb sie an der Seite der im Schritt gehenden Hunde. Am meisten fürchtete sie sich vor einem plumpen fahlen Tier mit stierartig breiten Hörnern und in weißen Kreisen schier stehenden Augen, das stets unerwartet auf sie zukam. Wenn sie das zornige Gebrüll nur von weitem hörte, begann sie schon zu zittern. Eines Tages hörte sie es plötzlich, während sie mitten auf der Wiese beim Melken war. Eine Viertelstunde im Umkreis kein Baum, kein Strauch, kein Zaun, hinter dem sie sich hätte verbergen können. Die Hörner gesenkt, kam die fahle Kuh auf sie zu. Um Hilfe schreiend sprang sie auf und entfloh, wußte in ihrer Angst nicht, wo sie lief, bis sie plötzlich vor dem Kanal stand und auch schon bis an die Knöchel in den sumpfigen Boden einsank. Die Kuh war dicht hinter ihr. In ihrer Verzweiflung riß sie einen vermoderten Pfahl aus dem Boden und ließ ihn in weitem Bogen mit aller Macht auf den wilden Kopf niedersausen. Das Tier stand still. Sie schlug nochmals und zum drittenmal: es machte Kehrt.

Als sie auf Händen und Knien wieder auf den festen Wall gekrochen war, sah sie drei Männer, die sich das grinsend angesehen hatten.

Die Melker ließen es Marretje entgelten, daß sie ihnen »ins Brot tastete«. Sie ging ihnen aus dem Wege. Sie riefen ihr Schimpfnamen nach und schmutzige Worte. Am schlimmsten trieb es ein Arbeiter, der eine große Familie zu ernähren hatte und es Sünde und Schande nannte, daß sie mit einem Vater, der noch arbeiten konnte, und mit einem einzigen Kind, für das Frau van Walsum sorgte, – denn so glaubten die Menschen im Dorf, – aus eitel Habgier einem andern das Brot nahm. Er schwärzte sie im Dorf so sehr an, daß niemand ihr mehr ein gutes Wort gönnte, und er hatte schon einmal, dicht an ihr vorübergehend, während sie beim Melken saß, wie aus Versehen mit seinem schweren Holzschuh gegen ihren Schemel getreten, so daß der Fuß darunter entzweiging und sie hinten überfiel. Ein anderer lauerte stets auf eine Gelegenheit, ihren Eimer umzustoßen. Ein Bengel von etwa siebzehn Jahren hatte schon dreimal ihr Faß umgewälzt, so daß die Milch herauslief.

Marretje verhielt sich still zu alledem. Endlich ließen sie sie, wahrscheinlich, weil es sie zu langweilen begann, in Ruhe.

Der Sommer war glühend heiß, ohne einen Tropfen Regen oder einen Windhauch, Wochen und Wochen hindurch. Die kahle Wiese ward von der Sonne versengt. Aus den Furchen zwischen dem bräunlich gewordenen Gras schlug scharf riechende Hitze empor. Es fiel Hitze aus dem feuerblauen Himmel. Hitze entstieg dem Meer, das weißlich glühend dalag, wie geschmolzenes Metall. Die zitternde Luft selber war Hitze. Das Vieh regte sich nicht aus den schmalen Weidenschatten, die hier und dort, an den Gräben entlang und bei den Dämmen und Zauntoren verstreut auf dem brennend heißen Boden lagen. Schweißtriefend schleppte Marretje ihre Eimer durch die grelle Sonne. Der Boden schwankte vor ihren Füßen, gleich als müsse sie mit jedem Schritt ins Leere treten. Die schwarz-weiß-roten Flecken der lagernden Tiere, die Starenschwärme, die wie Mäuse am Boden wimmelten, das Glitzern des zu lauterem Licht gewordenen Wassers, der feuerblaue Himmel, an dem blendend weiße Mövenscharen schwenkten, begannen ihr vor den Augen zu drehen. Sie preßte, von Schwindel ergriffen, die Hände vors Gesicht. Zeitweise glaubte sie dem Licht und der Hitze erliegen zu müssen. Wenn sie die dreizehn Kühe gemolken hatte, schnitt sie am Seedeich entlang, wo die Tiere wegen des stacheligen Wirrwarrs von Brombeerranken, dornigem Leinkraut und Disteln nicht weideten, hastig noch ein wenig Gras für die Ziegen, indem sie sich unter dem rauhen Gestrüpp, das ihr die Arme blutig ritzte, so weit wie möglich verkroch. Denn es gibt wohl ein Sprichwort: »Wer eine Ziege hat, stiehlt Gras«, und gar so genau nimmt es auch wohl keiner, wenn ein Armer ihm etwas wegschneidet von dem Rand seines Ackers oder aus seinem Graben; aber wegen des Neides der Melker wollte sie sich nicht von ihnen erwischen lassen. Und beim Nachhausefahren versteckte sie die gefüllte Schürze zwischen den Milchgefäßen. Diese heimlich ergriffene Hand voll war ihr einzig Teil von dem unermeßlichen Reichtum der Allmend.

Ihr Arbeitstag dauerte jetzt von halb drei Uhr des nachts bis des Abends um acht.

Oftmals, wenn sie den Wecker ablaufen hörte, war sie noch so schläfrig, daß sie mit geschlossenen Augen zur Tür hinaus ging. Erst vom schrillen Kläffen der Hunde, die sie vor den Karren spannte und der holperigen Fahrt über die Landstraße im kühlen Frühmorgenwind, der ihr ins Gesicht blies, wachte sie völlig auf.

Wenn die Morgenarbeit auf der Wiese und bei den drei Bauern beendet war, begann die Arbeit im Stall, im Hause und am Spinnrad, und nach dem Mittagessen konnte sie so rasch nicht alles forträumen, daß es nicht schon beinah wieder zu spät war für die Allmend, und sie mußte laufen was sie nur konnte, zu Plugge, der schon vor der Dielentür stand, um nach ihr auszuschauen, und sie mürrisch fragte, wo sie doch bliebe? Was Pünktlichkeit anbeträfe, könne man sich doch nie auf die Weibsleute verlassen! Wenn sie zurückkam mit der Milch, mußte sie sie in den Keller tragen und die leeren Gefäße ausspülen helfen. Auf dem Heimwege trabte sie beinah, um Fokjes willen, der wartend allein auf der Straße herumlief, und wegen all der Arbeit, die noch verrichtet werden mußte, bevor sie für den Abendbrei sorgen konnte. Um halb acht kleidete sie Fokje aus und badete ihn so wie Frau van Walsum es ihr gezeigt hatte. Wenn sie dann das Geschirr fortgeräumt und Großvaters Brot und Kaffee bereit gestellt hatte für den folgenden Morgen früh, weil sie schon in der Allmend war, wenn er zu Plugge mußte, hatte sie ihr Tagewerk vollbracht.

Sie fiel auf ihr Bett, oftmals noch halb angekleidet. Durch das Fenster, dessen Läden sie zu schließen vergessen hatte, schien ihr die Abendsonne ins Gesicht.

Des Sonntags konnte sie, wenn sie sich beeilte, noch gerade rechtzeitig heimkehren aus der Wiese, um sich zum Kirchgang umzukleiden. Bis zur mittägigen Melkstunde hatte sie dann den Tag frei, um mit Fokje zusammen zu sein.

Sie kleidete ihn gemächlich an, mit allerhand kleinen Sorgen, zu denen sie in der Woche niemals Zeit hatte, und saß zufrieden bei ihm, wenn er sein Brot aß, das sie ihm, weil es Sonntag war, mit Zucker bestreut hatte. Darauf setzte sie sich mit ihm auf die Bank, die vor dem Hause stand.

Die Menschen kamen vorüber auf dem Wege zur Kirche, die Männer schwarz, die Frauen bunt gekleidet, mit glitzernden Ohreisen und geblümten Halstüchern, worauf goldene Kreuzchen und Ketten blitzten. Fokje saß da und sah sich das alles an, still wie ein Erwachsener.

Auf die Straße und zu den anderen Knaben zog es ihn nicht. So wie dereinst auf dem »Bunten Stein«, saß er am liebsten allein in einem Winkel mit dem alten Hunde der Tagelöhnerkinder, den er eines Tages mitgebracht hatte aus dem Dorf, triefend vor Entengrün und Schlamm, den Stein, der nicht schwer genug gewesen war, um ihn zu ertränken, noch um seinen kahlen, blutig geriebenen Hals. Der Überschuß an Kraft und Frohsinn, der ein Kind nicht still bleiben läßt und der ihn damals, wohl ebenso sehr wie das Verlangen nach Tante Klara von der verschlossenen Haustür hinweggetrieben hatte, war schon längst geschwunden.

Frau van Walsum hatte nie den Versuch gemacht, ihn wiederzusehen. Aber eines Abends begegnete Marretje ihr auf einem schmalen Pfad zwischen Hecken, und sie blieb stehen und errötete bis in die Schläfen und bis in den Nacken. Ohne zu wissen warum, und wiewohl sie es gerade nicht wollte, sagte Marretje:

»Er ist gesund und ich tue alles für ihn, so wie die gnädige Frau gesagt hat, daß es sein müsse.«

Die junge Frau ergriff Marretjes Hand: »Ich danke dir, liebe Marretje, ich danke dir!«

Und obgleich sich das auf nichts bezog, begriff Marretje es dennoch, begriff sie auch, wie innig Frau van Walsum Fokje lieb haben und wie sehr sie sich nach ihm sehnen müsse, um sich über ein einziges Wort, das ihn betraf, so sehr zu freuen. In ihrem Herzen erwachte eine weichere Regung für sie. Und sie war doch auch wirklich sehr gut für Fokje gewesen.

Marretje grübelte viel darüber nach, wie sie ihn wohl durch den Winter hindurch bringen könnte, die böse Zeit, wenn man so viel braucht und so wenig verdient. Nicht lange mehr, und es würde aus sein mit dem Melkerlohn.

Es war Herbst geworden.

Des Morgens in der Frühe lag der Polder da wie ein dünnes, weiß sich dehnendes Meer. Die kalten Wogen, die einen üblen Sumpfgeruch ausströmten, umspülten den Melkern das Gesicht, wenn sie in dem nassen Grase neben den Tieren niederhockten. Ihre Hände, die sie über Kreuz kräftig gegen die Schultern schlugen, wurden ganz starr während der Arbeit; sie fühlten, wie ihnen die kalte Feuchtigkeit durch die Kleider bis auf die Haut drang. Um den erstarrten Körper wieder zu beleben, trabten sie auf dem Rückweg neben ihren Karren her.

Marretje hustete so, daß sie des Nachts nicht schlafen konnte. Sie bezwang sich, um Fokje nicht aufzuwecken, bis ihr vor Beklemmung der Schweiß auf die Stirn trat und der Husten zerreißend losbrach. Alles an ihr tat weh. Ihr Gesicht war grau und scharf geworden, gleich als sei jedes Lot Fleisch mit einem Messer von den Knochen abgeschabt. Zwischen Jochbein und Kiefern zeigte sich eine scharfe Einsenkung, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Lippen waren dünn. Und die Kleider hingen ihr weit und hohlfaltig um die Glieder.

Halb mitleidig, halb schadenfroh meinten die Bauern aus der Nachbarschaft, »daß sie es sich vom eigenen Körper abnähme« mit der Allmendarbeit.

Aber mit jedem Tage war wieder ein Tagelohn gewonnen, jetzt, da es zum Winter ging, und sie hätte wohl gewünscht, daß die allzu schwere Arbeit bis zum November dauern möge, wenn es nicht gerade Fokjes wegen gewesen wäre.

Er war blaß und unlustig, wollte nicht essen, was Marretje sich auch ausdenken mochte, um es ihm recht zu machen, und bat immer nur, ob er zu Bett und schlafen und aus der Schule wegbleiben dürfe. Die Nachbarin riet ihr, ihn mal vierzehn Tage zu Hause zu behalten, das hätte ihrem Jungen auch gut getan. Aber das ging doch nicht, wenn sie den ganzen Nachmittag von Hause fort war. Es sei doch nichts rechtes, dachte Marretje jetzt oft, wenn eine Mutter durch Arbeiten außer dem Hause die Kost verdiene: dabei werde mehr verdorben, als man mit Geld wieder gutmachen könne.

Als sie anfangs Oktober an einem Sonnabendmorgen mit steifen und schmerzenden Gliedern vom Frühmelken kam, sagte ihr Plugge, daß sie nicht wiederzukommen brauche. Er bekäme einen Jungen ins Haus, dessen Vormund er geworden, an dem er einen Knecht ohne Lohn haben könne, der ihm außerdem für Kost und Logis etwas einbringe. Noch an dem nämlichen Nachmittag solle Knelis in die Wiese, und für die beiden Nachbarn könne er es gleichzeitig mit besorgen. Halb enttäuscht, halb erleichtert ging Marretje heim, mit dem letzten Melkgeld, wovon Plugge für die Mittagsarbeit mehr abgezogen hatte, als es ihrer Berechnung nach wohl stimmen konnte. Und um zwölf Uhr holte sie Fokje ab, um der Schulschwester zu sagen, daß sie ihn ein Weilchen zu Hause behalten wolle. Die Nonne mit dem freundlichen Gesicht sagte, es geschehe häufig, daß Kinder aus der Schule bleiben müßten, und sie habe auch schon mal daran gedacht, die Fenster ein wenig mehr zu öffnen, so wie der Arzt das wünschte, aber der Zug könne solchen Kleinen doch auch so sehr schaden, nicht wahr? Sie riet Marretje, ihn bei dem schlechten Wetter drinnen zu behalten, aber nur ja nicht im Hinterhause in der Nähe ihres Spinnrades: das wisse ja wohl ein jeder, wie schädlich die stäubenden Fasern für Kinder seien! Und von der Pforte aus, vor der sie stand, die Hände in den weiten Ärmeln, nickte sie den beiden, die sich nach ihr umschauten, nochmals freundlich zu.

Es regnete; ein feuchtkalter Wind trieb die gelb gewordenen Blätter an ihnen vorüber. Marretje, die Fokje ihr Umschlagetuch umgebunden hatte, lief eilig, den Kleinen an der Hand. Nun konnte sie doch endlich mal so recht für ihn sorgen!

Allein entsetzt blieb sie auf der Landstraße vor dem Hause stehen. In Schmutz und Regen stand da der ganze Hausrat. Und durch die weit geöffnete Tür sah sie den Vater, der dabei war, mit Hilfe eines Zimmermanns den Webstuhl in der Stube aufzustellen.

Steven van Es, der den Bodenraum zu der vorteilhafteren Teppichweberei brauchte, schickte seinen Deckenwebern nunmehr die Arbeit ins Haus.

»Im Zimmer«! rief Marretje. »Wo das Kind ist!«

Der alte Kettingmakers wandte ihr sein graues, mattes Gesicht zu:

»Im Hinterhaus ist ja kein Platz.«

Marretje wußte es wohl: mit dem Ziegenstall und dem Verschlag für die Hühner und dem Holz und den Kartoffeln und dem Spinnrad war es dort so eng, daß es sie schon Mühe gekostet hatte, auch noch ihre Schlafstelle einzurichten. Aber nichtsdestoweniger wiederholte sie, daß das nicht anginge, der Webstuhl in dem Zimmer, wo Fokje sich den ganzen Tag aufhalten mußte und wo er des Nachts schlief! Großvater antwortete, der Patron wisse darum und wünsche es so. Und weil er sonst nicht genug fertigbringen könne, jetzt, da er sich ohne den Spuljungen behelfen müsse, solle Fokje künftighin spulen.

Marretje wurde blutrot.

»Das leide ich nicht! Es hat seinen Vater umgebracht, es soll nicht auch ihn umbringen!«

Der Alte stand einen Augenblick wie unschlüssig, dann aber wiederholte er mit seiner matten Stimme:

»Der Patron hat es befohlen.«

Trotz ihrer Angst vor van Es lief Marretje in die Fabrik. Aber der ließ sie nicht einmal zu Worte kommen. Er schrie ihr zu, daß sie und der Vater sich alle beide hinausscheren sollten, wenn die Arbeit ihnen nicht passe. Kuhdeckenweber und Spinnerinnen gäbe es in Holthum ja mehr als genug! Sie wußte es nur allzu gut. Mit einer drohenden Bewegung trat er auf sie zu, als wolle er sie gleich zur Tür hinauswerfen. Der Mut entsank ihr. Was sollte aus dem Kinde werden, wenn er sie entließ, sie selber und den Großvater?

Als sie heimkam, war der Webstuhl schon aufgestellt.

Er stand vor dem Fenster. Die ganze Breite des Zimmers, von einer Wand bis zur andern, nahm er ein; all der Hausrat war beiseite und in die Ecken geschoben, um Platz zu schaffen.

Vom Morgen bis zum Abend saß der Großvater nun daran, die Spule tickte, die Fasern flogen. Neben ihm, auf dem Boden, hockte Fokje, die Garnwinde zwischen die Füße geklemmt und spulte. Er tat es unwillig und verdrießlich und fragte immerfort, ob er denn noch nicht spielen gehen dürfe. Der Alte mußte ihm drohen, um ihn bei der Arbeit zu halten. Im Hinterhaus, wo sie stand und in atemloser Hast spann, hörte Marretje es.

Sie hielt die Tür nicht mehr geschlossen jetzt: es war im Zimmer ebenso schlimm wie bei ihr. Die Fasern wirbelten durch die Luft: sie klebten an der Fensterscheibe, am Hausrat, in den Falten der Bettvorhänge. Wenn sie hineinschaute, sah sie den Großvater und Fokje in einem dünnen, zitternden Nebel. Großvater hüstelte, räusperte sich und spuckte aus.

Die lahme Frau in der Alkove begann zu husten. Nach einer Woche hustete Fokje auch.

Der Laut schnitt ihr ins Herz.

Jetzt war es noch viel schlimmer als damals, da Tymen krank war und sie das Kind vor Ansteckung schützen mußte. Die Ansteckung der Arbeit ging nicht vorüber, niemals, vor ihr konnte sie ihn nicht schützen. In der Nacht hörte sie die rauhen, heiseren Atemstöße aus der zarten, kleinen Brust. Und während sie, aufrecht im Bett sitzend, in Angstschweiß gebadet, hinhorchte, fühlte sie wie es näher und näher kam, das Allerletzte, das Schlimmste, dem sie nicht mehr entweichen durfte, weil es das einzige war, das ihn retten konnte. Und schon wußte sie, wenn sie es auch nicht wissen wollte, daß sie nun selber jene reiche Frau bitten würde, das Kind zu sich zu nehmen.


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