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V.

Fokje war jetzt vier Jahre alt.

Mit seinem feinen, beinahe farblosen Gesichtchen, seinen sanften Augen und seinem zarten Körperbau, schien er fast ein Mädchen. Auch in seiner Art sich zu geben hatte er etwas Mädchenhaftes. Am liebsten war er bei der Mutter. Vor den anderen Kindern im Hause schien er sich zu fürchten.

Der Tagelöhner, der in der Wohnung ohne Tür hauste, hatte deren fünf. Die drei Großen, von acht, neun und zehn Jahren, waren fast niemals zu Hause. Wenn sie aus der Schule kamen, aßen sie geschwind, dann mußten sie sich mit dem Hundekarren auf den Weg machen, um im Dorf Petroleum zu verkaufen; am Abend erst kamen sie zurück. Die beiden kleinen Vierjährigen, Zwillinge – zwischen ihnen und den anderen waren ein paar gestorben – wurden des Morgens aus dem Fenster hinausgehoben und in den Garten gesetzt; die Mutter hatte keine Zeit, sich nach ihnen umzusehen.

In der Familie des Maurers gab es ihrer sieben, zwischen zwei und zwölf; das älteste, ein Mädchen, das eben erst aus der Schule gekommen war, wartete das Kleinste, die übrigen blieben so ziemlich sich selber und einander überlassen. Die ganze Kinderschar spielte, krabbelte, balgte sich und schrie durcheinander; Fokje verkroch sich vor ihnen hinter Mutters Röcken.

Sie wollte nicht, daß er bei ihr blieb, wahrend sie spann; sie fürchtete, daß die stäubenden Fasern ihm schaden könnten; Frau van Walsum, die ein paarmal auf den »Bunten Stein« gekommen war, um zu berichten, wie es dem Stillen in seiner Anstalt erging, hatte sie eindringlich davor gewarnt. Sie brachte ihn in den Garten an eine Stelle, von wo aus er sie durch die offene Dielentür sehen konnte und wo er hinter einer Hecke alter dürrer Stachelbeersträucher vor den anderen sicher war. Dort mochte er wohl sein. Er pflanzte Gärtchen in den Sand, aus Goldblumen und Tausendschönchen, mit weißen und roten Nelken gleich einer Hecke rings herum, und an den Ecken statt Bäumen steile Spiräenblüten. Der alte Karrenhund des Tagelöhners, dem die Kinder auch zu ungestüm waren, leistete ihm in seiner freien Zeit Gesellschaft. Den Kopf zwischen den Pfoten lag er neben dem kleinen Knaben und ließ die Sonne auf seine durch den Gurt kahl geschabte Haut brennen, bis er vor Hitze keuchte. Wenn Fokje aufstand, ging er mit. Nebeneinander schlenderten sie über die schmalen, mit Schatten und beweglichen Sonnenflecken überstreuten Pfade, von dem Vorgarten bis zum Gitter. Marretje hatte das aus Bohnenstöcken und ein paar alten Brettern zusammengezimmert und an großen Tauschlingen, die Angel und Schloß ersetzen sollten, am Eingang der Stechpalmenhecke aufgehängt, am Tage, nachdem zum erstenmal das Automobil von Hartestein den Weg heruntergesaust war. Der alte Hund streckte sich seufzend wieder hin; Fokje legte die Hände um die Speiler und schaute über den Weg. Meistens war der öde und verlassen. Ein einzelner Vorübergehender, ein Arbeiter, müde wohl von seinem Tagewerk, oder eine humpelnde Alte, sie alle, die Kinder sonst nicht sehr zu beachten pflegen, nickten dem blonden Bübchen zu, das durch die Speiler schaute, wie ein Zeisig durch die Gitter seines Käfigs.

Marretje rief ihn, um ihm seine Milch zu geben. Jeden Tag holte sie ein Maß bei Bauer Plugge, denn Ziegenmilch wollte er nicht. Es kostete sie stets Mühe, ihn auch nur den einen Becher austrinken zu lassen; der Hund mußte auch was haben, bevor er anfangen wollte. Er mußte es sehen, daß sie in die Schüssel mit Schwarzbrot und Wasser, in die das Tier begierig seinen großen Kopf steckte, einen kleinen Schuß hineingoß.

Die Kinder des Tagelöhners kamen, um Kees für die Petroleumkarre abzuholen; Fokje begann zu weinen, Marretje tröstete ihn mit bunt verzierten Sprüchen aus ihrem Meßbuch und vielfarbigen Reklamebildchen, die Zwaantje van der Scheer ihr im Laden gab.

Eines Tages brachte ihm Frau van Walsum ein Bilderbuch, aus dem sie ihm allerhand Geschichtchen erzählte. Damit konnte er lange Zeit in einem Winkel sitzen, indem er leise vor sich hinredete.

Wiewohl er sich den ganzen Tag so still verhielt, bemerkte Marretje doch des Abends, wenn sie ihn auszog, oft, daß sein ganzes Körperchen feucht war. Sie machte sich darüber Sorgen.

Tymen fand es so schlimm nicht; das käme ja nur daher, weil sie den Jungen zu warm anzöge bei dem Sommerwetter und in jeder Beziehung so verweichliche. Er solle lieber mit den anderen gehen, das tauge einem Knaben besser, als an Mutters Röcken zu hängen und ganz allein mit einem Buch dazusitzen.

Sie sprach nicht mehr darüber und nahm sich sogar in acht, damit er ihr die fortwährende Besorgnis um das Kind nicht anmerke. Wenn er von der Arbeit heimkam, mußte er ein fröhliches Gesicht sehen, das kam ihm zu.

Seine Tage waren lang. Um halb sechs begann die Arbeit in der Weberei: von zwölf bis zwei war Vesperzeit; dann begann es von neuem bis halb acht. Sein einstiger Kamerad war im Frühjahr als Teppichweber entlassen worden, weil er nicht mehr kräftig genug dazu war und hatte auf dem Speicher des Arbeitsraumes, wo auch der alte Kettingmakers saß, angefangen, Kuhdecken zu weben. An seine Stelle war ein neuer gekommen, ein junger Kerl, stark wie ein Pferd. Ihm war es wohl anzusehen, daß er nicht aus Holthum kam, solche Schultern hatte er und solch ein paar Fäuste. Der ganze Arbeitsraum dröhnte vom Boden bis zur Decke, wenn er beim Weben war. Mit ihm verdiente Tymen wöchentlich wohl zehn Stuiver mehr, als mit dem andern. Das Zusammenarbeiten mit diesem kräftigen Kameraden kam ihm gut zustatten, nun, da die Fabrik eine so große Bestellung für das neue Inspektorhaus auf Hartestein erhalten hatte.

Herr van Walsum hatte sich für die Meierei ein großes Terrain dazu gekauft; der »Kirmeskuchen« lag mitten darin. Plugge, der rechtzeitig um den vor allen geheim gehaltenen Plan gewußt, hatte für den Acker mehr als das Dreifache der an Tymen bezahlten Summe erhalten. Als sich nach Entdeckung dieses Streiches sein erster Zorn gelegt hatte, dachte Tymen nicht mehr daran. Marretje aber kostete es Mühe, darüber wegzukommen, bei dem Gedanken, daß sie sonst schon eine Kuh haben würde in den Kloosterkampen, anstatt der Färse, die auf dem sumpfigen Marschfeld doch nicht zu ihrem Recht kommen konnte.

Der Sommer war regnerisch; die verwahrlosten und zugewachsenen Gräben liefen über. Und als eines Sonntags die Leute hingingen, um nachzusehen, fanden sie die mageren jungen Tiere in einem Morast umherirrend. Es war notwendig, daß sie auf eine gute Wiese gebracht wurden. Aber die Wymenesser Bauern forderten ein so hohes Pachtgeld für ihre Wiesen; einzelne Kätner scharrten das Geld zusammen, die Arbeiter rechneten und schoben es hinaus, Tymen sowohl wie die anderen.

Eines Abends kam er während eines Platzregens von der Arbeit heim; im Schornstein ächzte der Wind. Er blies aus Nordwest. Unruhig horchte Marretje: wenn das einen Sturm gäbe und die See die tief gelegenen Wiesen überschwemmte!

Tymen, der zähneklappernd seine triefend nassen Kleider auszog, antwortete, daß die großen Bauern ihr Vieh auch draußen ließen, es drohe keine Gefahr. Der Regen rauschte, endlich legte sich der Wind.

Aber in der Nacht erwachte Marretje durch ein Getöse, wie von Donnerschlägen und brausendem Meer, durch das Gebrüll einer ganzen Herde geängsteter Tiere.

Es wurde an die Tür geklopft: sie sprang aus dem Bett. Der hineinpfeifende Stoßwind schlug ihr die Tür aus der Hand, als sie sie öffnete. Im Schein einer Laterne sah sie das nasse, glimmende Gesicht eines Nachbarn.

»Sie ist gekommen!« rief er.

»Sie«, das war die Zuyderzee.

Sie konnte Tymen nicht wach bekommen; er lag da wie ein Toter. Als sie ihn endlich aus dem Bett heraus hatte, sank er auf einen Stuhl und starrte wie geistesabwesend vor sich hin. Da war keine Zeit zu verlieren. Sie fuhr in die Kleider, den Rock vom Vater zog sie noch drüber, griff nach einem Strick und eilte, indem sie gegen den Wind ankämpfte, nach der Allmend.

Es begann schon zu tagen; vor sich her sah sie andere gehen, gebückt und keuchend, wie unter einer Last. Ächzend bogen sich die Bäume am Wege, und warfen ihre Zweige, so daß die matte Unterseite des Laubes sich aufwärts kehrte. Der Regen schlug hernieder gleich Gischt sprühenden Wogen einer sturmgepeitschten Flut. Es war als käme das Meer selber daher.

Marretje konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten; zwei Männer, die hinter ihr her kamen, nahmen sie in ihre Mitte, jeder an einem Arm. Zu dreien kämpften sie sich vorwärts. Es dauerte beinahe zwei Stunden, ehe sie die Allmend erreichten.

Eine brüllende Herde stand vor dem großen Zauntor zusammengedrängt; und aus der Ferne kamen Trupps von Tieren daher, aufgescheucht durch das wachsende Wasser, das den niedriger gelegenen Teil der Kloosterkampen bereits überschwemmt hatte. Hinter dem Deich lag das Marschfeld, wie die hohe See. Ein kurzer Wellenschlag warf die herausragenden Spitzen der Sträucher hin und her, ein ausgerissener Baum trieb dazwischen, seine schwarzen Wurzeln reckten sich leichenstarr in die Höhe. Durch das Brüllen des Orkans und des Meeres hindurch schrie jemand: »Vielleicht sind sie in dem Holthumer Winkel, der liegt etwas höher!«

Die Männer strengten ihre Augen an, ob sie auf den fernen Ausläufern der unter dunklen, ausgefranzten Wolken weißlich schimmernden Dünen ihr Vieh auch irgendwo entdecken könnten. Einer rief, daß er etwas sich bewegen sähe. Sie gingen und suchten unterwegs die Deichabhänge ab. Keiner sprach. Marretje, der die Kehle vor Angst wie zugeschnürt war, glaubte jeden Augenblick das Weiß und Schwarz der ertrunkenen Färse auf dem glucksenden Wasser schwimmen zu sehen.

Zwei von den Männern fanden ihre Tiere, das eine halb schwimmend, halb am Deich entlang watend, das andere in einem von Brombeerranken durchwucherten Weidengestrüpp verstrickt, das aus dem Wasser herausragte. Eine Strecke weiter rief ein Dritter, daß er das seine habe, beinah ertrunken, aber doch noch lebend. Auf der niedrigen Düne des Holthumer Winkels irrten etliche umher.

Bles war nicht dabei.

Ein Arbeiter, der auch sein Kalb nicht gefunden hatte, sagte mit schwerem Seufzer, daß die mutterlosen Tiere wohl ertrunken sein mochten; auf der großen Wiese liefen die Kälber mit der Mutter mit, die sie in Sicherheit bringe, diese aber seien gewiß in ihrer Angst und Verwirrung in das Meer hineingerannt.

Marretje antwortete, daß sie es noch nicht aufgeben könne. Weiter hinab gäbe es noch mehr Dünen und hügeliges Land. Bevor sie nicht alles abgesucht habe, wolle sie nicht heim. Er folgte ihr, indem er gegen den Sturm und den peitschenden Regen ankämpfte, mit müden Schritten, die in den Sand einsanken.

An der Landseite der Düne wächst viel Krüppelholz. Marretje durchsuchte jedes Gebüsch. Sie glaubte jedesmal im nächsten etwas Buntes sich durch die Zweige bewegen zu sehen. Dann kehrte sie wieder zurück zum Strand, lief auf die Hügel, von wo aus sie die fernsten Fernen sehen konnte und rief gegen den Wind, wenngleich sie wohl wußte, daß Bles ihre Stimme nicht kannte. Hin und wieder standen sie plötzlich vor Wasser, so daß sie entweder waten oder einen weiten Umweg machen mußten. Endlich sagte der Arbeiter, daß er umkehren wolle; er müsse an die Arbeit, und das Kalb sei doch nicht mehr zu finden.

Sie ging allein weiter.

Ab und zu begegnete sie ein paar Bauernknechten und Arbeitern aus Valkenswaard, die auf die Äcker gingen. Verwundert blickten sie der Frau in den triefenden Kleidern und dem Mannsrock nach, die sie angehalten hatte, um zu fragen, ob sie nicht irgendwo eine scheckige Färse mit einer Blässe auf der Stirn gesehen hätten, und die solch ein blasses Gesicht hatte unter dem verregneten Haar, und so starre Augen. Bei den ersten Häusern des Dorfes sah sie eine Gruppe Menschen stehen; sie hörte etwas von einem Kalb und von »aus dem Wasser geholt«, drängte sich durch die Gruppe und sah ein falbes junges Tier, tot und schlaff auf einem Karren. Vielleicht war es wohl das Kalb des Arbeiters.

Sie fragte die Männer aus, die es gefunden hatten.

Ein Fischerknecht in Öljacke und Wasserstiefeln kam daher, stand still, als er ihre Fragen hörte und sagte, er habe unterwegs eine Kuh brüllen hören, aber nichts gesehen, es habe so geschienen, als käme der Laut über das Wasser daher.

»Wo?« Marretje schrie es beinahe.

Er sagte, daß er sie an die Stelle führen wolle.

Es war ein weites Ende zurück in der Richtung, aus der sie gekommen war, dann ging der Fischer zwischen niedrigen, dunklen Häusern hindurch und an Schuppen entlang, wo Reusen aufgestapelt lagen und Netze hingen; das Wasser glänzte dazwischen auf, dann ward es wieder grün; sie schritten über eine Wiese, wo Pferde grasten und kamen an einen Deich, der schräg nach dem Wasser abfiel; auf dessen Höhe machte der Fischer Halt.

»Da ist es wieder!«

Der bange Laut erklang aus nächster Nähe: er schien mitten aus der Flut zu kommen. Drei Weiden streckten ihre vom Wind gerüttelten Zweige daraus empor, etwas blendend Weiß-Schwarzes kam zum Vorschein und war auch sogleich wieder im Grün verschwunden. Wiederum bogen sich die Zweige auseinander, der Kopf einer bis an den Hals im Wasser stehenden Kuh ward deutlich sichtbar. Der Fischer ging zum Hafen zurück; einige Augenblicke später sah ihn Marretje mit einem Kameraden auf die Weiden zurudern. Sie brachten die Kuh an Land. Es war Bles.

Marretje wußte nicht, wie sie es den Fischern danken und was für einen Lohn sie ihnen versprechen solle. Die aber sagten, dafür brauche es keinen Lohn, so viel müsse ein jeder Mensch für den andern übrig haben, wenn er ihn in Not sähe.

Halbwegs Holthum kam Tymen ihr entgegen; sie hatte ihn nicht erkannt aus der Ferne, so langsam ging er, so schwerfällig und gebeugt, wie ein alter Mann. Er war blaß und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, gleich als wäre er es gewesen, der die vier Stunden lang gegen Sturm und Regen angekämpft. Er schien nicht so recht zu wissen, was sich in dieser Nacht ereignet hatte. Der Arbeiter, der mit Marretje gegangen war, hatte ihm gesagt, wo sie hin sei und hinzugefügt, es sei doch alles verlorene Mühe und Bles müsse ebenso sicher ertrunken sein, wie sein Falbes.

Die Färse erkrankte.

Die Hausmittelchen, die ein Bauer verabfolgte, der sich auf solche Dinge verstand, halfen nicht. Der Vieharzt wurde dazu geholt, er sah sich das trächtige Tier an und riet achselzuckend, man solle es verkaufen, bevor es so mager würde, daß niemand es mehr wolle. Plugge, der davon gehört hatte, bot ein paar Gulden, es würde ja doch wohl verenden. Marretje ging von der Diele weg, um es nicht mit ansehen zu müssen, wie er Bles einen Strick um die Hörner schlug und sie zum Stall hinausführte.

Im Dorf waren die Zeiten schlecht; viele kleine Bauern mußten ihr Vieh abschaffen; unter den Handwerkern und Arbeitern hatte keiner mehr das Seine. Bekümmert sahen sie auf dem Acker den Roggen, der sich gelagert hatte und sich nicht mehr aufrichten wollte und das Kartoffellaub, das schon zu welken begann, während die Knollen soeben erst angesetzt hatten.

Gleich einer Nachwelle der Flut, die die Strandweiden überschwemmt hatte, zog über das Land ein dünnes Nebelmeer, das flutete und ebbte und wieder flutete, bis es über die naßdunklen Schilfdächer des Dorfes und über die Bäume hin anschwoll, den tief herabhängenden, regenschweren Wolken entgegen. Wie auf dem Boden eines durchsichtig hellgrauen Gewässers zeigten sich die Dinge, undeutlich und treibend, farblos. Von den gleichsam rauchumhüllten Bäumen sank lautlos das fahle Laub herab; ein Gestank von Fäulnis hing über den Äckern. Das Schwirren der auffliegenden Spatzen und Stare, die in Schwärmen über den Buchweizen herfielen, bildete das einzige Geräusch des Tages. Es waren viele Kranke im Dorf.

Auch Tymen ging es nicht gut.

Wenn Marretje ihn fragte, was ihm doch fehle, antwortete er, es sei nichts und würde schon besser werden, wenn es nur erst einmal wieder gutes Wetter gäbe. Sie blickte verstohlen auf sein immer spitzer und fahler werdendes Gesicht, kaufte eines Tages, mitten in der Woche, Fleisch und nahm ihm aus der Hand, was sie nur konnte. Allein – denn mit dem Großvater wollte es so recht nicht mehr gehen seit dem letzten Winter – grub sie die Kartoffeln aus und spatete den Acker um. Sie wollte es sogar nicht mehr dulden, daß er ihr Garn mitnahm nach der Fabrik, so wie er es von Fokjes Geburt an stets getan, und gab sich den Anschein, als sei sie noch nicht fertig mit der Arbeit, als er an jenem Samstag danach fragte, damit er nicht merke, wie sehr sie ihn schonen wolle; das konnte er nicht leiden.

Als sie mit ihrem Schubkarren zur Werkstatt kam, sah sie von der Tür aus den neuen Kameraden, der neben Tymen auf den Fußhölzern seines Webestuhls auf- und absprang. Rot wie ein Backstein glühte sein vierkantiges Gesicht mit den starken zusammengebissenen Kiefern neben dem grauen Gesicht des Tymen, der mit offenem, hängendem Mund keuchte. Sein Hemd war geöffnet über der rötlich behaarten Brust. Mit seinen zwei knorrigen Fäusten auf der Lade zerrte und stieß er, daß sie hin und her sprang wie ein böser Hund an der Kette. Tymen schien mitgerissen zu werden. Ein Faden brach ab. Ohne sich umzusehen, griff der Neuling hinter seinem Kopf nach dem Bund Fäden, das von dem Balken herabhing, und nestelte, mit Fingerbewegungen, die so fein und behend waren wie die einer Frau, die auseinandergesprungenen Enden zusammen. Noch bevor Tymen sich den triefenden Schweiß aus den Augen gewischt hatte, hielt er seine roten Fäuste mit den gelben Knöcheln schon wieder auf der Lade und hatte, während er aus seinen kleinen, stechenden Augen einen verstohlenen Blick auf seinen Kameraden warf, einen dröhnenden Schlag auf das Gewebe niedersausen lassen. Marretje sah, daß mit großen weißen Lettern auf dem Querbalken des Stuhles geschrieben stand: »Im Fortschritt liegt das Heil« und über und neben Tymens Platz wohl dreimal das Wort: »Faulpelz.«

Am Abend fragte sie Tymen so beiläufig, ob der Patron ihn nun für immer mit Steven van Es zusammengesetzt habe. Er antwortete bejahend und sagte, daß er sich recht darüber freue, des guten Verdienstes wegen. Mit seinem halb spöttischen Lächeln fügte er hinzu, daß er augenblicklich unter der Kälte im ungeheizten Arbeitsraum nicht mehr zu leiden habe. Das Weben mit Steven zusammen sei so gut wie ein rotglühender Ofen im Rücken.

Aber dabei legte er die Hand in die Seite mit einer Bewegung, gleich als wolle er einen Schmerz verdrängen. An Stelle des kleinen Spulknaben, der von seinem Vater heimgeholt worden war, weil er seiner Ansicht nach mit seinen drei Cents pro Stunde nicht genügend bezahlt wurde, hatte er an jenem Morgen selbst die Spulchen aufgewunden und so von der Arbeit durchnäßt, auf dem zugigen Boden hockend, mochte er sich wohl erkältet haben; es sei ihm »wie ein Messer durch den Körper gegangen«.

Am Sonntag morgen konnte er zum Kirchgang nicht aufstehen. Am Montag glühte er und schüttelte sich im Fieber. Er lag beinah drei Wochen krank. Den Arzt hatte er nicht haben wollen. Als der Patron eines Tages kam, um nachzusehen, wie es ihm ginge, erklärte er, ihm sei besser und er werde am nächsten Tage wieder zur Arbeit kommen. Er ging, ohne auf Marretje zu hören.

Drei Tage später kam er mitten in der Arbeitszeit heim. Er hatte einen Blutsturz gehabt. Er sagte, daß es nichts zu bedeuten habe, »weil es nur aus dem Magen käme«; aber plötzlich fing er an zu husten, als müsse er ersticken. Eine Blutwelle quoll ihm aus dem Munde. Marretje rannte zum Arzt.

Es stellte sich heraus, daß er eine Lungenentzündung gehabt habe und noch nicht genesen sei: er mußte zu Bett bleiben.

Der Großvater trat vor ihn hin, sah sich aufmerksam die scharfen grauen Züge an und sagte mit seiner langsamen gleichgültigen Stimme, daß er, wenn er es nicht besser wüßte, sagen würde, Volkert läge da in der Bettstatt, so wie sie ihn vor dreißig Jahren aus der Fabrik heimgebracht hatten. Und den ganzen Tag über murmelte er Erinnerungen an Tymens früh verstorbenen Vater, der sein Kamerad gewesen, als sie beide noch jung waren.

Der Arzt verordnete dem Kranken kräftige Nahrung, täglich Milch, Eier und Fleisch. Wovon sollte das nur bezahlt werden? Marretje traf mit dem Boten von Wymenes ein Abkommen, daß er ihr aus den dortigen großen Roßschlächtereien Fleisch mitbringen solle; er wollte für den Gang nur die Hälfte von dem haben, was er den Bauern anrechnete. Wenn sie das bläuliche Fleisch auf dem Petroleumkocher briet und der prickelnde Geruch bis an seine Bettstatt drang, kam Leben in Tymens matte Züge. Er wandte sich um, – beinah immer lag er mit dem Gesicht der Wand zugekehrt, – und schaute zufrieden zu.

Fokje kam herbei. Er hielt sich an einer Falte von Mutters Rock fest. Seine gierigen Blicke hingen wie gebannt an dem appetitlichen, immer brauner werdenden Stück, das im Fett zischte.

Marretje setzte ihn neben Tymen ins Bett. Und abwechselnd fütterte sie die beiden mit den sorgfältig feingeschnittenen Stückchen. In Tymens Augen trat ein mattes Lächeln, wenn er sah, wie der kleine offene Mund auf den Bissen wartete, gleich einem jungen Vögelchen, dem die Mutter die Nahrung in das aufgesperrte Schnäbelchen steckt.

Eines Tages trat der Arzt ein, während sie gerade damit beschäftigt war. Tymen und Fokje schauten gleichzeitig zu ihm auf: und er blieb stehen, anscheinend erschreckt durch den Anblick der beiden Gesichter, die da so blaß nebeneinander in dem dunklen Bett sichtbar wurden. Mit einer hastigen Bewegung hob er das Kind hinaus.

Als er fortging, nahm er Marretje mit auf die Diele, schloß die Tür und sagte ihr, daß Tymen die Schwindsucht habe und daß sie das Kind von ihm fernhalten solle; es trage ohnedies schon den Keim dazu in sich. Sie blickte ihn an, gleich als habe sie ihn nicht verstanden. In ihren Ohren war ein Sausen wie von einem starken Winde, und ihr ward kalt, kalt bis in das Innerste ihres Herzens.

Weil sie nicht antwortete, dachte der Arzt zunächst an den starren Unglauben und den Widerstand, auf die er in seiner Praxis im Dorf so häufig stieß; und er war im Begriff die Frau, die ihr Kind, ein Kind aus einem Geschlecht von Hungerleidern, das zu einem Geschlecht von Schwindsüchtigen geworden, aus Achtlosigkeit nun auch zugrunde gehen ließ, schroff auf ihre Pflicht zu verweisen. Allein das weiße, steinern-starre Gesicht schaute ihn an mit Augen wie von einer Ertrinkenden. Er legte seine Hand auf Marretjes Arm und sagte sanft, gleich als spräche er zu einem bangen Kinde, daß Fokje jetzt allerdings noch nicht krank sei und daß er es auch niemals zu werden brauche, wenn sie nur gut für ihn sorge; es seien doch schon so viel zarte Kinder zu kräftigen Menschen herangewachsen.

Ein Blutschimmer kehrte in ihre Wangen zurück.

Er wiederholte nachdrücklich, daß sie den Kleinen lieber heute als morgen aus dem Hause schaffen müsse.

Sie sagte leise, als spräche sie zu sich selber:

»Wohin denn?«

Das sei Nebensache, zu einer Schwester, zu einer Nachbarin, zu irgendeinem, der ihn so lange aufnehmen wolle. Die Menschen im Dorf wären schon bereit, einander zu helfen. Es sei für ihn überall besser als daheim. Er dachte einen Augenblick nach und versprach dann Hilfe von seiten der Frau van Walsum.

Plötzlich rief Marretje mit einer gänzlich veränderten Stimme:

»Steht es schlimm um Tymen?«

Er schaute sie befremdet an; in diesem Augenblick erst begriff er, daß sie nichts geahnt hatte. Er riet ihr nochmals, doch vor allen Dingen für das Kind zu sorgen.

Zu ihren Schwestern konnte sie es nicht bringen.

Gyoertje, die wiederum den ganzen Tag in der Fabrik arbeitete, seitdem ihr Mann, der nach jenem Unglück beim Kistenaufladen nie mehr so recht gesund geworden, gestorben war, mußte selber ihre Kinder zu einer Nachbarin geben, die sie inmitten ihrer eigenen Beschäftigungen überwachte, so gut es eben gehen wollte. Alies Mann war außer Arbeit. Aus Ärger betrank er sich; kein Stück von ihrem armseligen Hausrat war mehr ganz, und die Kinder verkrochen sich, sobald sie seinen wankenden Schritt sich der Tür nähern hörten.

Sie dachte an den Nachbarn, der gekommen war, um sie zu warnen, als die Marschfelder überschwemmt wurden: die Frau war ebenso gutherzig wie er. Zu ihnen brachte sie Fokje gegen ein Kostgeld, das die Frau anfangs nicht nehmen wollte, indem sie sagte, daß da, wo es Essen für sechs gäbe, auch wohl für den siebenten etwas abfiele, und daß es keine Mühe mache, in der Bettstatt ihrer Jungens, die je zu zweit am Kopfende und am Fußende lägen, für den Kleinen ein Plätzchen zu schaffen.

Es waren gesunde lustige Kinder. Sie rauften und balgten sich sogar noch unter den Decken. In dem Gedränge zwischen den strampelnden Beinen und greifenden Händen begann Fokje ängstlich zu weinen. Länger als eine Stunde mußte Marretje bei ihm am Bett sitzen, mit seinen beiden Händchen in den ihren, bevor er in Schlaf fiel.

Tagsüber wollte er immerfort nach Hause: sie konnte hören wie er nach ihr rief. Wenn sie nur einen Augenblick an die Tür trat, fragte Tymen mit seiner heiseren, schwachen Stimme, wo sie hin wolle. Eines Abends, nachdem es stark geregnet hatte, fand sie das Bettzeug, unter dem Fokje lag, ganz durchnäßt und sah, wie es durch die Decke in das Bett tropfte. Die gute Frau sagte, daß das manchmal geschähe und daß es ihren Kindern nichts schade.

Am nächsten Tage hustete Fokje.

Sie wagte ihn nicht länger dort zu lassen. Es kostete sie viel Mühe und mehr Geld, als sie entbehren konnte, ihn bei einer wohlhabenden Frau unterzubringen, die in der Nahe allein ein hübsches Häuschen bewohnte.

Frau Smit war nicht freundlich zu dem Kinde. So oft Marretje kam, mußte sie Klagen anhören über die Last, die sie durch ihn habe und die Unordnung, die er in ihrem Hause verursache. Der kleine Junge klammerte sich an ihre Röcke, er wollte sie nicht loslassen, wenn sie ging. Halbwegs daheim, glaubte sie ihn noch zu hören mit seinem schluchzenden »Muttchen, Muttchen!« Ach, wenn sie sich doch nur hätte zerteilen können, so daß sie Tymen pflegen und gleichzeitig mit Fokje auf dem Arm irgendwo hinlaufen könnte, wo es gut war für ihn!

Der Arzt sprach nicht mehr von Frau van Walsum: und sie wagte nicht zu fragen. Aber eines Tages hielt die Equipage von Hartestein vor dem »Bunten Stein« und die junge Frau stieg aus. Sie war auf Reisen gewesen und am vorigen Abend erst heimgekommen. Als sie gehört, wo Fokje untergebracht, fuhr sie sogleich hin, um ihn zu holen: bei dem Inspektor auf Hartestein war schon alles für ihn in Ordnung gebracht.

Als sie zurückkam, auf daß Marretje ihn nochmals sehen könne, saß Fokje auf ihrem Schoß. Sie öffnete lachend den Pelzmantel, um ihr zu zeigen, wie sie ihn darunterhielt gleich einer Glucke, die unter den Brustfedern ein gelbes Küchlein birgt: mit einem noch halb verlegenen Lächeln schaute er daraus hervor.

Tymen kannte den Inspektor, er war im Hause gewesen, um das Maß zu nehmen für die Teppiche und die Läufer. Marretje fragte ihn nach dem Mann und seiner Frau, und nach den Kindern. Er sagte mit seiner heiseren Stimme, daß der Mann nicht übel zu sein scheine: das Haus sei schön.

Später am Tage, nachdem ihn ein Glas des spanischen Weines, der von Hartestein gekommen war, und allerlei sorgfältig zubereitete Speisen und Früchte aus dem Treibhaus ein wenig aufgemuntert hatten, wurde er redseliger. Wenn er solche gute Kost bekäme, meinte er schmunzelnd, wolle er wohl noch ein Weilchen krank sein. Marretje, die mit stets neuen Fragen kam, brachte in Erfahrung, daß die Frau des Inspektors freundlich und gutherzig sei, daß die beiden Kinder jedes sein eigenes Bettchen hätten in einem geräumigen Zimmer neben dem der Eltern, und daß sie so viel Milch zu trinken bekämen wie sie nur wollten.

»Hast du das selbst gesehen?« fragte sie immer wieder. Und blieb still neben dem Bett sitzen, die Augen auf das Gesicht ihres Mannes geheftet, auf das der Wein und all das gute Essen ein wenig Farbe und Glanz gebracht, indes sie unbewußt dem Kinde zulächelte, das sie so deutlich, als säße es da neben ihm, an dem blank gescheuerten Tisch sitzen sah, zwischen zwei anderen Kindern, von der köstlichen Milch trinkend, die ihm eine Frau mit mütterlich dreinschauenden Augen reichte. Nur quälte sie sich wohl ein wenig mit dem Gedanken, daß sie seine Kleider nicht erst noch habe hübsch in Ordnung bringen können. Frau Smit hatte sich darum, so sehr sie auch auf sich selber hielt, nur wenig gekümmert.

Der Milchkutscher hielt am nächsten Tage vor der Tür; die gnädige Frau, sagte er, ließe fragen, ob Marretje vielleicht auch mit nach Hartestein zurückfahren wolle, um nachzusehen, wie es dem kleinen Fokje ginge; aber so sehr sie sich auch danach sehnte, doch lehnte sie dankend ab: da der Großvater nicht daheim war, hätte sie Tymen ja allein lassen müssen.

Es schien wohl, als wolle die Woche gar kein Ende nehmen. Und als es endlich Sonntag war, kam es ihr vor, als würde Großvater niemals von der Messe heimkehren.

Fertig angezogen, Fokjes sorgfältig geflickten Sonntagsanzug und die Unterwäsche, die sie sauber gewaschen und fein gebügelt hatte, in einem kleinen Bündel unter dem Tuch, stand sie da und blickte hinaus, zitternd vor Verlangen.

Endlich kam er durch das Gitter hereingehumpelt. Sie eilte davon. Innerhalb einer Stunde hatte sie die fünf Meilen nach Hartestein zurückgelegt. Der Gärtner, der an den steinernen Pfeilern des Einganges stand und seine Pfeife rauchte, sagte ihr, daß Fokje im Herrenhaus sei: die gnädige Frau habe ihn zu sich genommen, weil die Kinder des Inspektors mit dem Scharlach aus der Schule heimgekommen seien.

Marretje wagte kaum an der hohen, blinkenden Tür zu klingeln. Ein Diener in Livree, der ihr öffnete, – seiner vergoldeten Knöpfe und seines barschen Gesichtes wegen hielt sie ihn für noch viel mehr als einen Korporal, – maß sie prüfend vom Kopf bis zu den Füßen, während er von oben herab sagte, daß der Eingang für die Dienerschaft unter der Terrasse sei.

Aber sie hörte Fokje lachen!

An dem hochmütigen Mann vorüber eilte sie durch das weite, mit Blumen und Pflanzen geschmückte Vestibül zu einer geöffneten Zimmertür, hinter welcher der Laut erklang.

Kreischend vor Vergnügen spielte Fokje um einen großen Tisch Haschen mit einem etwa fünfjährigen Mädchen, das ihr beim Spielen aufgegangenes, lockiges Haar während des Laufens nach rückwärts warf mit der Bewegung eines jungen Hundes, der seine Ohren schüttelt. Sie blieben alle beide zugleich still stehen, das kleine Mädchen, beide Hände um den Rand des Tisches geklemmt, wiegte sich hin und her, von dem rechten Fuß auf den linken, weil es nicht recht wußte, mit welchem es würde davonlaufen müssen, wenn der Spielkamerad von neuem begänne. Und Fokje stand an der anderen Seite des Tisches, seine leuchtenden Augen auf ihr Gesichtchen geheftet.

Er hatte seine Mutter in der Tür nicht gesehen.

Frau van Walsum, die auf dem Sofa saß, kam freundlich auf sie zu und rief den Kleinen von seinem Spiel fort.

Er trug einen schönen blauen Anzug mit einem blanken Ledergurt und neue, braune Stiefelchen. Und wie sein Haar glänzte! Noch nie hatte sie ihn mit einer so frischen Farbe gesehen.

Frau van Walsum zeigte ihr die Bilderbücher und das Spielzeug der beiden Kinder, – alles Neue gehörte ihm – und darauf das Zimmer, worin sie schliefen mit dem Kindermädchen der kleinen Klara, ihres Nichtchens, das der frischen Landluft wegen auf Hartestein zu Besuch war.

Es war ein freundliches Zimmer mit einer weiß und blau gestreiften Tapete und ebensolchen Vorhängen, und einer Glastür, die nach der Terrasse zu offen stand. Marretje fühlte verwundert, daß es dort dennoch warm war.

In einer Ecke stand unter zwei blitzenden Messinghähnen eine kleine Badewanne; jeden Morgen, sagte die gnädige Frau, bekäme Fokje darin ein Bad; und da war auch noch ein Waschtisch mit einem großen Spiegel darüber. An der Wand hingen schöne, bunte Bilder, auf denen Kinder, Tiere und Blumen zu sehen waren. Der Fußboden war aus spiegelglattem Holz.

In einem der zwei kleinen Bettchen, die zu beiden Seiten eines größeren standen, lag ein kleiner, brauner Sammetbär, mit dem Kopf auf dem Kissen und den steif von sich gestreckten Vorderpfoten auf der Decke; das war Fokjes unzertrennlicher Schlafkamerad. Und in einem Schrank lagen drei Bretter, vollgestapelt mit seinen Sachen!

Das Blut schoß Marretje ins Gesicht. Und sie wußte nicht, wo sie hin sollte mit dem kleinen Bündel, das sie, in ein Taschentuch vom Großvater eingeknüpft, noch immer fest an sich preßte.

Frau van Walsum schloß, um ihr Verlegenheit und Dank zu ersparen, rasch den Schrank und begann von Fokje zu sprechen, wie artig und folgsam er wäre und was für ein allerliebster Spielkamerad für ihre kleine Nichte, die sonst gar einsam sei, jedesmal, wenn sie hierher käme; noch niemals sei sie so lustig gewesen wie jetzt.

Das Kindermädchen kam herein, mit den beiden Kleinen an der Hand, Fokje in einem Wams, mit einer Pelzmütze auf dem Kopf. Und sie traten alle zusammen aus der Glastür hinaus auf die in breiten Stufen sich herabsenkende Terrasse und in die Buchenallee, die zu den Ställen führte.

Sechs Melker in reinen weißleinenen Kitteln saßen dort unter den Kühen; mit einem feinen, hochklingenden Geräusch spritzten die Strahlen in die blankgescheuerten hölzernen Eimer. Fokje und Klara bekamen von einer kleinen, rötlichen Kuh zu trinken, deren Kopf fein zugespitzt war wie der eines Rehes. Frau van Walsum hob sie abwechselnd auf, damit sie dem sanft dreinschauenden Tier die Stirn streicheln konnten. Es sei die beste aus dem Stall, sagte sie; die Kinder bekämen niemals andere Milch als von ihr.

Das Kindermädchen sagte etwas zu ihr in einer Sprache, die Marretje nicht verstand. Es war die Zeit, zu der die Kinder spazieren gingen. Marretje mußte heim; die gnädige Frau sagte, daß sie doch sehr gut ein Stückchen Weges mit ihr gehen könnten. Sie gab ihr das Geleit bis an die Gartenpforte, während sie vertraulich über Fokje's Gesundheit sprach und ihr all das Beruhigende erzählte, daß ihr der Professor in der Stadt, zu dem sie mit ihm gegangen war, darüber gesagt habe.

Mit Fokje's kleiner warmer Hand in der ihren ging Marretje Schritt für Schritt, um es nur ja so lange wie möglich wahren zu lassen.

Aber endlich mußte Fokje umkehren. Sie blickte ihm noch lange nach, bis er an der Biegung des Weges verschwand; dann eilte sie heimwärts, so rasch sie nur konnte.

Mit Tymen schien es etwas besser zu werden. Marretje meinte, daß der Arzt sich am Ende doch geirrt haben könnte. Zeitweise war er sogar heiter und einmal wollte er aus dem Bett und blieb ein Weilchen am Feuer sitzen. Und Marretje mußte seinen Arbeitsrock wieder an den Nagel der Alkoventür hängen, wo er ihn immer gehabt hatte, damit er gleich beim Aufstehen danach greifen könnte. Es würde jetzt nicht mehr sehr lange dauern, dann könne er wieder in die Weberei. Aber bei alledem aß er jetzt je länger je weniger von dem schönen Essen, das Frau van Walsum regelmäßig schickte. Er ließ so viel übrig, daß Großvater noch genug daran hatte. Marretje nötigte ihn. Er sagte halb lachend, daß sie sich doch lieber freuen solle über einen so vorteilhaften Mann, der, wenn er nicht arbeite, doch wenigstens auch nicht äße.

Er wurde mager und magerer, wie ein kranker Baum, dessen Blätter erst schlaff herabhängen und dann abfallen, bis an den starren Zweigen nichts anderes mehr übrig bleibt als runzelige Borke. Mit einer Stimme, die nur noch ein rauhes Flüstern war, bat er immerfort um einen Trunk.

Der Arzt band es Marretje auf die Seele, daß sie nur ja recht vorsichtig mit allem umgehen solle, was der Kranke berührt habe.

An einem Sonntagmorgen, als sie sich gerade fertig machte, um wieder zu Fokje zu gehen, wurde von Hartestein ein Korb mit Wein und Früchten gebracht; obenauf lag ein Brief. Sie konnte die fließende Schrift nicht lesen und wartete, bis der Arzt kam. Er schien zu wissen, was in dem Brief stand: ohne ihn zu lesen, setzte er Marretje auseinander, daß es wohl besser sei, wenn sie nicht nach Hartestein ginge. Herr van Walsum sei vielleicht ein wenig übertrieben mit seiner Angst vor Ansteckung, aber Kehlkopfschwindsucht, das müsse er zugeben, bilde doch immerhin eine Gefahr. Es dauerte lange, bevor Marretje aus seinen behutsamen Worten begriffen hatte, daß sie nicht mehr zu ihrem Kinde kommen dürfe, so lange sie ihren Mann pflege.

Frau van Walsum schickte ihr jeden zweiten Tag Nachricht. Nachdem sie durch den Arzt gehört, daß Marretje ihre Schrift nicht lesen könne, schrieb sie ihre Briefe auf der Schreibmaschine des Bureaus.

Marretje buchstabierte sie laut, Silbe für Silbe, und las sie immer wieder, von Anfang bis zu Ende. Sie wußte ganz genau, wie Fokjes Tag eingeteilt war, wann er aufstand, was er zum Frühstück aß, welches Spielzeug er am liebsten hatte, wohin er spazieren ging, welche Kinder zum Spielen zu ihm eingeladen wurden, nun, nachdem die kleine Klara wieder gegangen, und daß ihr englisches Kindermädchen für ihn dageblieben sei, weil er so sehr an ihr hing.

Sie las das alles Tymen vor. Aber es schien ihm nichts daran zu liegen: es war, als ginge es ihn nichts an, was mit Fokje geschah; und indem Marretje während des stockenden Vorlesens immer wieder innehielt, um nochmals zum hundert und sovielsten Male eine Besonderheit dazu zu erzählen, deren sie sich von ihrem Besuch auf Hartestein erinnerte, oder die sie vom Arzt vernommen hatte, hielt er seine matten, farblosen Augen mit dem stets gleichen, geistesabwesenden Blick auf das Fenster gerichtet, hinter dem der graue Winterhimmel dunkelte.

Es begann zu schneien. Ein rauher Ostwind jagte die kleinen, scharfen Flocken. Der Frost fiel ein: den ganzen Tag über zerschmolzen die Eisblumen nicht an den Scheiben. Marretje dachte, daß Frau van Walsum Fokje doch gewiß im Zimmer behalten würde bei solch einer Kälte; die hatte er nie ertragen können. Trotz ihrer Scheu vor ihm und Frau van Walsum ersuchte sie den Arzt, ihr das doch sagen zu wollen; er antwortete, daß er gerade gekommen sei, um mit ihr darüber zu sprechen. Fokje huste ein wenig. Frau van Walsum wolle ihn mitnehmen nach dem Süden, wohin sie jeden Winter auf einige Wochen gehe. Marretje fragte, wo das denn eigentlich läge, und ob die Reise viel länger dauere als bis nach Amsterdam.

Die Antwort machte sie völlig bestürzt. Wenngleich sie auch hier nicht zu Fokje durfte, so war er doch in ihrer Nähe, sie kannte all die Dinge um ihn her, und wenn sie den Weg nach Wymenes ein Stück weit ging, konnte sie in der Ferne zwischen den kahlen Bäumen die Wetterfahne von Hartestein schimmern sehen und dabei denken: da ist er nun und es geht ihm gut! Ihre Lippen bebten. Sie hielt die Hände krampfhaft im Schoß gefaltet. Der Arzt sagte ihr, daß Frau van Walsum es nicht tun wolle, wenn sie nicht durchaus einverstanden sei.

Sie fragte, ob es für Fokje nötig wäre? Und als er antwortete, daß es nicht absolut nötig sei, fragte sie weiter, ob es gut sei für das Kind, ob er dazu rate?

Und ihre Augen flehten gleichzeitig um ein Nein und um die volle Wahrheit.

Fokje sei ein wenig zart, der Winter außerordentlich streng; und sie wisse ja selber, wie schlecht er die Kälte ertrage, meinte der Arzt. Ihre Finger wurden völlig weiß, so fest preßte sie sie zusammen. Halb hörbar sagte sie endlich:

»Wenn es gut für ihn ist, so soll er gehen.«

Der Arzt stand auf.

Bei der Tür ergriff sie ihn am Arm.

»Darf ich ... darf ich ... ihn denn nicht noch einmal sehen, bevor er abreist?«

Der Arzt wandte den Blick ab, als er antwortete:

»Für ihn ist es besser, wenn es nicht geschieht.«

Sie ließ ihn los. Er ging.

Aber noch bevor er an der Gartenpforte war, hatte sie ihn wieder eingeholt.

»Wann geht er fort?«

»Geplant war die Abreise für übermorgen.«

Sie ging zu Tymen zurück.

Er hustete mit einem unheimlichen röchelnden Geräusch. Sie wischte ihm den blutigen Schaum von den Lippen, gab ihm zu trinken, legte ihm das Kissen bequemer unter den Kopf, und währenddessen dachte sie immerfort: übermorgen, übermorgen.

Tymen wollte wissen, was der Arzt ihr doch eigentlich mitzuteilen gehabt habe, daß sie ihm so nachgelaufen sei bis auf die Diele und dann auch noch in den Garten hinein: voller Mißtrauen glaubte er stets, daß er Schlimmes über seine Krankheit zu sagen habe, während er selber doch fühlte, daß es besser wurde. Marretje sagte es ihm. Er antwortete mürrisch, es sei eine Torheit von reichen Leuten, zu glauben, daß ein gesundes Kind den Winter nicht vertragen könne. Er selber vertrage ihn doch sogar noch, wenngleich es augenblicklich nicht allzu gut um ihn stehe. Wenn ein Mensch zum Leben wirklich so viel brauche, wie die Reichen meinten, dann würde von ihresgleichen wohl kein Einziger mehr gesund sein.

Großvater kam hinzu. Er, der sich aus seinen übrigen Enkelkindern nicht viel machte, wollte Fokje stets vor Augen haben; er hatte sich über die Trennung bitter beklagt. Und als würde ihm von neuem ein noch kränkenderes Unrecht angetan, sagte er mit seiner dumpfen Stimme, daß ein armer Mensch es nicht mit den Reichen aufnehmen könne, daß er sich eben zu fügen habe.

»Aber wenn es doch gut für ihn ist, Großvater,« murmelte Marretje.

Sie blickte auf Fokjes Stühlchen, auf den Platz, wo er bei Tisch zu sitzen pflegte: es schien, als seien die erst jetzt leer geworden.

Und wiederum dachte sie: übermorgen, übermorgen in der Frühe.

Ach, wenn sie ihn doch noch einen Augenblick hätte sehen dürfen, nur sehen wollte sie ihn, nicht einmal beim Händchen nehmen! Wenn sie ihn nur aus der Ferne sehen dürfte, ohne daß er sie sah, so daß er nicht zu ihr wollte und nicht weinen würde, wenn er nicht durfte, wenn sie nur im Garten stehen könnte, draußen auf der Terrasse, wahrend er im Zimmer war, so würde sie schon zufrieden sein.

Die ganze Nacht dachte sie daran, indes sie mit brennenden Augen ins Dunkel starrte. Sie sann darüber nach, ob sie es wohl wagen würde, das zu tun, einzutreten durch die Pforte von Hartestein und so lange zu warten, bis er zur Tür hinauskäme in seinem warmen Überzieher und seinem Pelzmützchen. Aber er durfte ja nicht hinaus bei der Kälte und mit seinem Husten.

Ihre Gedanken verwirrten sich.

Tymen hustete. Sie stand auf, um ihm seine Arznei zu geben.

Am nächsten Tage hörte sie, daß Frau van Walsum des schlechten Wetters wegen ihre Abreise beschleunige: noch am nämlichen Abend um halb sechs Uhr wollte sie fort.

Seit Mitternacht hatte es geschneit.

Der Garten, der Weg, wo die tiefe Spur des Automobils, das in der Frühe dort vorübergekommen, schon nicht mehr zu sehen war, die Stechpalmenhecke, das lange Dach der gegenüberliegenden Reihe von Arbeiterhäuschen, das alles lag da unter dem gleichförmigen Weiß, Da war keine Grenze mehr zwischen dem Pfad und dem Acker, die Gräben längs des Weges waren zugeschneit, die Reihe durchsichtiger Birkenbäume wurde dicht und dick. Und aus dem tiefhängenden grauen Himmel fielen stets mehr Flocken herab, schwärzlich, während sie daherkamen, totenweiß, sobald sie lagen.

Der Wind begann darin zu spielen. Jetzt wirbelten sie in schrägem Flug, in stets dichteren Mengen strichen sie immer hastiger vorüber. Über das Feld kamen sie daher gejagt, wie ängstlich sich duckende Herden banger, weißer Tiere. Ein plötzlich aufheulender Windstoß jagte sie in die Höhe, eine wirbelnde Wolke, dünner als Rauch, zerteilte sich jählings. Aus immer kleineren, schärferen, rascheren Flocken ward es ein schräg ausgespanntes Segel, hinter dem, in einer Entfernung von wenigen Schritten, alles verschwand.

Marretje saß, die Hände im Schoß, an Tymens Bett. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken, unzählbar und stets die gleichen, wie die ruhelosen Flocken des Schneetreibens.

Es ward Abend: Unter der Dunkelheit dort oben breitete sich weißlich-hell der Boden, wie ein weißer Hügel schimmerten am schwarzen Hintergrund die schneebeladenen Häuserreihen jenseits des Weges.

Ein Fünklein glomm auf, rötlich-gelb entzündete sich eine Lampe, an dem Fenster erschien im Schatten ein Frauenkopf und daneben das runde Köpfchen eines Kindes.

Wie von Händen emporgezogen von ihrem Stuhl eilte Marretje zum Zimmer und zum Hause hinaus und so, wie sie ging und stand, durch den Schnee nach Hartestein.

Die Schulkinder und die Arbeiter aus der Weberei hatten im Dorf den Schnee mit ihren Holzschuhen ein wenig festgestampft; unter dem frisch gefallenen war die Festigkeit zu verspüren.

Aber auf dem großen Wege in der Einsamkeit ging sie durch hoch zusammengewehte Haufen. Bis zu den Knien stand Marretje plötzlich darin; es war zugleich wie Klettern auf einen Hügel hinauf und wie Waten durch Morast, und mühsam versuchte sie vorwärts zu kommen.

Der Schnee wirbelte ihr ins Gesicht, raubte ihr den Atem, legte sich schwer auf sie. Keuchend stand sie still. Sie hörte, wie es von dem Holthumer Turm herab halb fünf schlug, als sie noch nicht ein Drittel des Weges zurückgelegt hatte. Da lief ein Pfad quer durch die Felder: auf gut Glück ging sie in die mattschimmernde Weite hinein, suchte zwischen den eishart gefrorenen Erdklumpen der umgepflügten Felder, die sie wie kantige Steine rissen und verwundeten, während sie darüber strauchelte, den schmalen, ebenen Weg, fand ihn, folgte ihm tastend eine Weile und verlor ihn dann wieder: sie ging durch Eis, das zu Scherben zerbrach, durch Wasser, das sie bis ins Mark erstarren ließ, durch rauhes, rissiges Schlagholz, durch Heidegebüsch und Dornen: ein Instinkt gleich dem, der den Vogel durch Nächte und leere Lufträume geleitet zu dem einen nur von ihm gekannten Fleck, ließ sie durch das Weglose hindurch die Richtung zu ihrem Kinde innehalten. Und endlich sah sie in zwei schimmernd bleichen Regenbogenkreisen die beiden elektrischen Lampen an der Auffahrt von Hartestein.

In der großen Allee war der Schnee zusammengefegt: ein weißer Wall stand zu beiden Seiten an den Baumreihen. Leicht wie eine Amsel lief sie über die dünne, unter ihren Füßen knirschende Schicht auf das Haus zu.

Aus allen Fenstern schimmerte Licht. Sie sah das Weiß und Grün der Vorhalle mit den hohen Palmen in der Mitte, und während eines kurzen Augenblickes Frau van Walsum, die hindurchschritt. Ohne zu zögern, ohne auch nur nachzudenken, rannte sie quer über den Rasen, an einem Gitter entlang, wo ein Hund mit wütendem Gekläff aufsprang, nach der Hinterseite des Hauses, fand die Stufen der Terrasse und stand vor der Glastür, die zu Fokjes Zimmer führte.

Er war da.

Er saß auf Frau van Walsums Schoß, während ihm das englische Kindermädchen, am Boden kniend, die Stiefelchen zuschnürte. Mit einem heiteren Gesichtchen blickte er zu ihr auf; sie strich ihm das Haar aus der Stirn und sagte ihm lachend etwas, das ihn noch fröhlicher machte. Seine kleinen weißen Zähne kamen zum Vorschein, so lachte er, und in jeder Wange bildete sich ein Grübchen; er tanzte vor Freude. Sie legte ihre beiden Hände um ihn und hielt ihn fest auf ihren Knien. Er streckte das eine Beinchen mit dem zugeschnürten Stiefel aus. Sicherlich war es ein neuer, denn Frau van Walsum betastete sein Füßchen und fragte ihn etwas, worauf er verneinend den Kopf schüttelte; dann steckte sie ihre Hand prüfend in den anderen, den das Kindermädchen vom Boden nahm und ihr reichte. Marretje sah, daß er mit Pelz gefüttert war. Das Mädchen zog Fokje den Hausschuh aus; leicht bewegte er seine Zehen, die er in dem feinen Gewebe des braunen Strumpfes auseinander spreizte, und dann fuhr auch dieser Fuß in den warmen Reisestiefel.

Das Mädchen stand auf. Frau van Walsum hob Fokje auf den Tisch und zog ihm sein Hauskittelchen aus. Und da stand er nun gerade unter der Lampe mit seinem seinen Goldhaar und den kleinen, nackten Schultern und Ärmchen! Wie eine Rose so mattrot war er; in den Muscheln seiner Öhrchen lag eine leichte Glut und auch in der Biegung seiner Arme, die er, sich selbst hätschelnd, übereinander schlug.

Unbeweglich stand Marretje im Schnee, schaute ihn an und lächelte voller Entzücken. Sie sättigte sich an ihm mit ihren Augen. Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß sie vom Kopf bis zu den Füßen erstarrte und daß das Schneewasser an ihrem vorgestreckten Halse entlang in ihr Tuch sickerte. Aber jede Bewegung, die Fokje machte, fühlte sie so, als habe sie sie selbst gemacht. Über ihre Züge spielte unwillkürlich die Nachahmung von seinem Schauen und seinem Tun. Sie fühlte die warmrote Stelle in der Falte seines Armes, wo seine Fingerchen gerade hineingriffen, an ihren eigenen Fingerspitzen. Sie bewegte, ohne es zu wissen, ihren Fuß, als das Kindermädchen den seinen in das Pelzstiefelchen einschnürte. Ihr Herz sprang auf mit einem Lachen, das ihr bis in die Kehle drang, als er sich so freudig jauchzend hin und her warf zwischen den Händen, die ihn umschlangen. Und sie war im Zimmer, sie wußte, gleich als habe sie es gehört, um jedes Wort, das Frau van Walsum über seine Stiefelchen sagte, von denen sie hoffte, daß sie ihn nirgends drücken möchten, über die Wäsche, die sie nochmals betastete, ob sie auch wirklich wohl warm genug sei für die Reise, und wie sie ihm allerhand reizende Dinge versprach für dort, wo sie nun hingingen.

Die Tränen liefen ihr immerfort über die Wangen, aber sie wußte es nicht, ebensowenig, wie sie wußte, daß sie lächelte und daß es ihr um die Lippen zuckte und um das bebende Kinn, und daß sie ihre Finger leicht bewegte, während Frau van Walsum und das Mädchen die Knöpfe an Fokjes Mäntelchen zumachten. Und abgesehen von diesen fast unmerklichen Bewegungen stand sie so regungslos unter dem verhüllenden Schnee, daß, wenn einer sie von da drinnen aus gesehen hätte, sie nicht anders erschienen wäre, als wie eine der dunklen Zypressen hinter der Terrasse, weiß und gebeugt unter der Schneelast.

Die innere Tür wurde geöffnet und Herr van Walsum in Hut und Überzieher blickte ins Zimmer hinein: er habe ein strenges Gesicht, meinte Marretje. Sie sah die junge Frau antworten, daß sie fertig sei. Sie ließ Fokje auf den Boden hinuntergleiten, aber er suchte nach etwas, das er durchaus haben wollte. Beinah hätte sie ans Fenster geklopft: »sein brauner Bär!« Das Kindermädchen holte ihn aus seiner Ecke, er griff danach, sie gingen alle aus dem Zimmer hinaus.

In der Auffahrt knarrten die Räder eines kehrenden Wagens. Wie der Wind lief Marretje um das Haus und die Sträucher herum und an der wütend aus ihrer Hütte hervorschießenden Dogge vorüber nach der Auffahrt zu. An der äußersten Grenze des grellen Lichtkreises vor der Terrasse blieb sie wartend stehen, hinter den Rhododendren versteckt. Eine Stimme rief dem wild kläffenden Hund »kusch« zu, Herr und Frau van Walsum schritten die Terrasse herab, sie hielten Fokje in ihrer Mitte an der Hand. Darauf verschwanden sie in den Wagen. Der Diener, der den Schlag zugeworfen hatte, sprang auf den Bock, sie sah noch flüchtig den Glanz von Fokjes blondem Haar, während die Pferde dicht an ihrem Versteck entlang davontrabten.

Glücklich ging sie heim.

Tymen schlief. Auf den Knien vor dem Kamin, blies Großvater mit schwachem Atem in einen glimmenden Haufen Reisig.

Er sagte nichts, als sie wankend auf einen Stuhl niedersank. Vielleicht erriet er an dem Leuchten der Augen in ihrem wie Schnee so bleichen Gesicht, wo sie gewesen.

Am ersten Tage, da die Wege wieder gangbar waren, kam der Arzt; er brachte ein Bild von Fokje, das Frau van Walsum Marretje als Abschiedsgruß sandte. Sie betrachtete das glatt retouchierte Bildchen, während sie bei sich dachte, was sie nicht auszusprechen wagte, daß er doch eigentlich viel hübscher sei.

Kurz darauf kam eine Ansichtskarte: zwischen blauem Himmel und blauem Meer ein Strand mit weißen, flachdachigen Häusern, um die blühende Blumen wuchsen. Fokje sei gesund und munter: mit viereckigen Buchstaben, so wie ein Kind sie schreibt, dem jemand die Hand führt, stand sein Name darunter geschrieben. Marretje befestigte die Karte neben dem Bildchen mit einer Nadel an Tymens Alkoventür.

Er schaute immerfort auf das Bunte; das erinnerte ihn wohl an den sommerlichen Polder und die Allmend längs der See, wenn das Wasser blau liegt unter dem blauen Himmel, die blinkenden Möven zu Hunderten schimmern und untertauchen in den untiefen Buchten, und die in Sonntagsfreiheit einherschlendernden Burschen in dem Gras, das voller Maasliebchen, Klee und Butterblümchen steht, Nester von Kiebitzen und Strandläufern mit den flaumigen Jungen darin, suchen.

»Wenn ich Bauernknecht geworden wäre anstatt Teppichweber...« sagte er eines Tages.

Großvater blickte auf aus dem Winkel, wo er, vor dem Ofen zusammengekauert, sein steifes Bein rieb.

»Er sieht das Fett auf eines Andern Teller.«

Marretje sprach mit einer weichen Stimme von Besserwerden im Frühjahr: er glaubte ja immer noch daran.

Frau van Walsum hatte ihr so viel gegeben, daß sie während einiger Wochen weder Sorgen zu haben noch auch den ganzen Tag an ihrem Spinnrade zu stehen brauchte. Was Fokje anbetraf, so war sie beruhigt. Jetzt wich sie nicht mehr von Tymens Bett.

Er mochte es gern, wenn sie von früheren Zeiten sprach. Er antwortete nicht, er hatte nicht mehr die Kraft dazu; aber an dem stillen Aufleuchten in seinen Augen sah sie, daß dann oftmals ein glücklicher Gedanke in ihm aufkam. Sie sagte:

»Denkst du noch an jenen Montag vor St. Johannis, als wir beide im Heuland waren und du mir bei der Vesper aus deinem Krug zu trinken gabst und ich dich aus meinem Napf essen ließ?«

Der Schein eines Lächelns spielte über sein Gesicht, so wie über eine Mauer, die an einem sonnigen Wässerchen entlang in ihrem eigenen Schatten steht, wohl ein kreisförmiger Lichtglanz gleitet, nicht Sonnenschein, sondern der Abglanz von Sonnenschein. Sie sprach auch immer wieder über Fokje.

»Ob ich seine Augen sehe oder die deinen, das bleibt sich gleich!«

Eines Tages, nachdem sie ihm wiederum einen Brief von Frau van Walsum über ihn vorgelesen hatte, sagte er plötzlich mit sichtlicher Anstrengung:

»Nicht Weber werden!«

Und sie begriff, daß er schon lange über die Zukunft des Kindes nachgedacht hatte. Wenn sie ihn doch jetzt nur hier hatte! Was hatte er denn eigentlich von seinem Kinde gehabt, das er vom Montag bis zum Sonnabend nicht anders gesehen, als während eines Viertelstündchens beim Mittagessen?

Sie unterdrückte ihre Tränen, um fröhlich zu sagen:

»Im Mai kommt er wieder, Vater!«

Tymen schien es nicht zu hören. Seine matt gewordenen Augen starrten wieder stumpf und geistesabwesend ins Leere. Durch das Fenster schien weiß und bläulich der erste Lenzhimmel des März. Ein lauer Südwest spielte in den Zweigen des Nußbaumes, an dem die braunen Knospen bereits zu glänzen begannen. Die Kinder des Tagelöhners, die man fortgeschickt hatte, um am Graben entlang Löwenzahnsprossen Die ersten Sprossen des Löwenzahns werden als Gemüse gegessen. auszustechen, wälzten sich im spärlichen Gras mit roten Wangen, das Haar voller Sonne; ihr kreischendes Lachen klang durch die geöffnete Tür zum Zimmer hinein, gleichzeitig mit dem Zwitschern der sich paarenden und zankenden Spatzen in der Stechpalmenhecke.

Mit seiner knochigen Hand machte Tymen eine matte Bewegung nach seinem Rock hin, der an dem Nagel der Alkoventür hing. Marretje konnte nicht verstehen, was die fahlen, geschwollenen und geborstenen Lippen so mühsam auszusprechen versuchten, aber sie begriff es wohl: sie nahm den Rock fort, und als sie, während sie es tat, ihn anschaute, ob es gut sei so, gewahrte sie in seinen Augen die Willigkeit zum Sterben.

Still setzte sie sich neben ihn und nahm seine Hand in die ihre.

So blieben sie zusammen während der ganzen Nacht.

Als es Morgen ward, starb er.


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