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IV.

Der »Bunte Stein«, wo Tymen mit seiner Mutter gewohnt hatte, war ein stattliches Bauerngehöft aus dem achtzehnten Jahrhundert, das seit langem schon kein Bauer mehr bewirtschaftet hatte und dessen Heumiete und Scheune längst verschwunden. Der Besitzer, der unter der stetig abnehmenden Anzahl der wohlhabenden Bauern keinen Kauflustigen finden konnte, vermietete das große Haus, das durch einen quer über der Diele angebrachten Verschlag in drei Teile getrennt war, an Arbeiterfamilien. Eine dieser Wohnungen hatte keine Tür, so daß die Leute durch das Fenster herein- und herausklettern mußten. Immer war Krakeel und Zank unter den Weibern über den Gebrauch der Pumpe, des Raumes, der früher als Kuhstall gedient hatte und wo sie ihr Brennholz und ihren alten Plunder hinwarfen, und der gewaltigen Feuerstätte, wo sie den Kessel für die Wäsche heizten.

Tymens Wohnung lag im Vorderhause; es war die einzige gute von den dreien, der Wohnraum von einst mit noch einer kleinen Kammer daneben und dem großen gewölbten Milchkeller darunter. Er wollte dort wohnen bleiben.

Es kostete Marretje große Mühe, ihren Vater, der zu ihnen ziehen sollte, aus seinem alten Heim loszulösen. Wenngleich er schon seit Jahren geklagt hatte über die Risse in der Mauer und im Dach, die der geizige Hauswirt nicht ausbessern lassen wollte, und durch die Kälte und Nässe eindrangen, welche die Schmerzen in seinem kranken Bein stets schlimmer werden ließen, konnte er sich doch jetzt nicht davon trennen.

Der Klapptisch, die sechs Stühle und die bemalte Kleidertruhe mit der kleinen Landschaft in einem Kranz hellroter Rosen, das Schränkchen mit dem Geschirr, das Küchengerät, der eingerahmte Spruch von Marretjes erster Kommunion und die beiden Heiligenbilder aus Porzellan wurden auf den Karren geladen. Und aus dem Hinterhaus brachte Tymen Marretjes Spinnrad fort. Als das von seinem Platz gerückt war und die Tür, die früher nur halb aufging, weit geöffnet stand, schien die Sonne auf eine längliche Vertiefung im Fußboden. Marretjes Mutter und Marretje selber hatten sie beim Spinnen mit dem immer wieder hinuntertretenden Fuß im Stein ausgehöhlt. Wie geistesabwesend starrte der Alte darauf hin, bis Marretje, die ihn schon zweimal gerufen hatte, sanft seinen Arm berührte.

»Komm, Vater.«

Ohne ein Wort ging er langsam zur weit geöffneten Tür hinaus.

In dem »Bunten Stein« war er die ganze Zeit noch nicht gewesen. Zaudernd blieb er am Eingang der mannshohen Stechpalmenhecke stehen und schaute auf den breiten hohen Giebel mit den großen Fenstern unter zierlich gemauerten Bogen, dem bunten Giebelstein, auf dem eine von blauen, roten und gelben Flammen umzüngelte Urne prangte und dem in Zacken gefügten Mauerwerk, das an der Spitze das länglich-runde Dachfenster einfaßte. Das Schilfdach, hügelartig erhöht über der Mitte der Diele, wo das Getreide Raum haben sollte, hing, halb beschattet von zwei gewaltigen Nußbäumen, beinah bis auf die Erde hinab. Der Schornstein glich einem kleinen Turm, so hoch und breit stand er da in seiner Umkränzung von wogendem Efeu. Eine vergoldete Wetterfahne in der Form einer die Posaune blasenden Fama blinkte hoch oben.

»Das ist viel zu schön für unsereins«, murmelte er vor sich hin.

Er fühlte sich erst beruhigt, als er das Haus von innen gesehen hatte, wie verwohnt und verwahrlost es war mit seinen ausgetretenen Fliesen, seinen durch Alter, Rauch und Schmutz geschwärzten Balkendecken und den farblosen, abgenutzten Fenstersimsen und Türen.

Marretje hatte den alten Hausrat, der in den dämmerigen Ecken des weiten Raumes verschwand, schon an Ort und Stelle geschafft und den Kessel in der mit bemalten Ziegeln verzierten Feuerstätte über das Feuer gehängt.

Am besten gefiel ihr in der neuen Wohnung, daß sich dort, wie in keiner anderen Tagelöhnerbehausung, Platz für eine Kuh und Raum für Futter fand.

Tymen schien an sein Allmendrecht nicht im mindesten mehr zu denken. Als sie eines Tages davon zu sprechen begann, meinte er lachend, daß Leuten wie ihnen beiden das Allmendrecht ebenso viel nütze, wie jemandem, der kein Haus besitze, eine Wetterfahne. Er habe es gut mit seinem Verdienst und des Vaters Kostgeld und Marretjes Fleiß und Sorge, nach mehr verlange es ihn nicht. Wenn der Mensch an so vielerlei zu denken habe, werde er nur vor der Zeit alt und verdrießlich.

Marretje dachte um so mehr daran: eine Kuh zu besitzen, das war der Anfang von Geborgenheit und Wohlstand.

Es kam der Tag, da sie fühlte, daß sie Mutter werden sollte. Von dem Augenblick an wollte sie es um jeden Preis. Sie dachte an das Kind.

Während ihrer Arbeit sann sie darüber nach, so lange, bis sie es fest und klar im Kopf hatte, wieviel von ihrem Spinnlohn sie wöchentlich beiseite legen könne, und wie lange sie das tun müsse, um das Geld für ein Kalb zusammen zu haben, das sie großziehen und dann im Herbst verkaufen würde, und wie sie durch stets erneutes Einkaufen und Wiederverkaufen, durch Rechnen und Sparen endlich genug haben würde für eine Kuh und für Futter während der Wintermonate.

Tymen sagte sie davon nichts.

Zwar war er wohl manchmal erstaunt, wenn sie des Abends so spät noch am Spinnrad stand; das war doch jetzt nicht mehr nötig.

Am Sonnabend legte sie mit einem Lächeln der Befriedigung die Hälfte des Lohnes in die heimliche Sparkasse, die Tabaksdose von Tymens Vater, die sie unter Staub und Spinnweben gefunden, wo der »Stille« sie einst hatte liegen lassen.

Im Frühling kam das Kind. Es war ein Knabe, wie sie es gehofft hatte.

Die Nachbarinnen, die kamen, um es zu sehen, erklärten, daß es ein schönes Kindchen sei; eine meinte, daß es »dennoch« auch dem Tymen ähnlich sähe. Mit einem glücklichen Lächeln um die noch blassen Lippen schaute Marretje auf das kleine runzelige Gesichtchen, das auf ihrem Arm lag.

»Das will ich glauben.«

Der Sommer war lauter Sonne und Südwind. Sie saß mit Fokje – so war er nach Tymens Vater getauft, der Volkert geheißen hatte – im Garten.

In den viereckigen, mit Buchsbaum eingefaßten Beeten blühten die orangefarbenen Kaiserkronen und violette und hellrote Akeleien, die leicht an den geraden Stengeln hingen, und die Tausendschönchen, bunt gesprenkelt und gestreift, in Mengen. In einem Kranz graublättriger Grasnelken stand in der Mitte ein großer Lilienstock, aus dem sich eine Garbe schwerknospiger Blumenstengel erhob. Die Sonne schien darauf, die grünen Knospen wurden weiß und öffneten sich. Einem leuchtenden Sommerwölkchen gleich strahlten die vollen, von reifen Staubfäden golden besprenkelten Kelche. Sie durchdufteten den ganzen Garten. Trunken vor Süße taumelten die Bienen um sie her, ein Aufleuchten gelber Körperchen und durchsichtiger Flügel.

Längs der Stechpalmenhecke, daran die jungen Triebe sich mattgrün von dem glänzenden Schwarz abhoben, hüpften, hurtig wie Wasser, die Amselpaare, die nach Futter pickten. Immer wieder flog das schwarze Männchen oder das braune Weibchen mit einem Schnabel voll zu den zwitschernden Jungen im Neste unter dem Dach.

Marretje suchte ein Plätzchen unter den grünen und goldenen Zweigen des Nußbaumes, wo Fokje es gut hatte, geschützt vor Sonne und Wind. Auf einen Sonnenfleck starrend, der auf den durchsichtigen Blättern tanzte und verschwand, lag er da und gab kleine zufriedene Laute von sich. Sie schaute in seine braunen Augen herab, in deren heller Iris dunklere Fleckchen sich zeigten. Mit der Spitze ihres Zeigefingers streichelte sie sanft die blaue Ader an der Schläfe, die in dem schon dichter werdenden Haar verlief.

Fokje wollte trinken; ungeduldig begann er plötzlich zu schreien; sie nahm ihn an die Brust.

Wenn sie so mit ihm saß, das steif eingewickelte Körperchen im gebogenen Arm, und die Füßchen von ihrer anderen Hand umschlossen, und wenn sie dann an ihrer straff gespannten Brust, nach der seine Händchen unbeholfen tasteten, das Saugen und Ziehen des gierigen kleinen Mundes fühlte, dann ward es ihr zumute, als ob mit der Milch ihr ganzes Wesen in ihr Kind hinüberflösse. Und immer noch mehr hätte sie ihm von sich geben mögen. Nichts mehr wollte sie behalten. Sie war nicht mehr da, sie war nur noch Nahrung und Schutz für ihn.

Gesättigt ließ er ihre Brust los; er lag schläfrig da, ein weißer Tropfen Milch hing noch am Rande des geöffneten Mündchens. Kaum atmend, aus Furcht ihn aufzuwecken, blieb sie da sitzen. Die Vögel zwitscherten um sie her, die Bienen summten, ein einlullendes Säuseln kam und ging durch die Blätter des Nußbaumes. Seine Augen schlossen sich; er schlief.

Wenn sie ihn behutsam auf sein Bettchen getragen hatte, setzte sie sich daneben und begann für ihn zu nähen.

Sie war nicht geschickt mit der Nadel; das wenige, was sie davon gelernt hatte in der Klosterschule, wo sie, für die nicht bezahlt wurde, öfter hinter den anderen zurückstehen mußte, hatte sie zum großen Teil bei der Arbeit im Hause und auf dem Felde wieder vergessen. Flicken und Ausbessern, das war schon das Höchste, wozu sie es je hatte bringen können. Aber sie mühte sich so sehr und so anhaltend, daß sie endlich doch die kleinen Kleiderchen zustande brachte.

Sie hatte Fokjes Bett so gestellt, daß sie ihn, wenn die Tür nach der Diele geöffnet war, von ihrem Spinnrad aus sehen konnte. Während sie ihre Augen zwischen dem sich stetig drehenden Knäuel und ihm hin und herschweifen ließ, spann sie die sich selbst gestellte Aufgabe ab. Ganz anders war das jetzt als früher. Es war, als ob in ihrem Kopf alles weiter würde, sich öffnete und von Licht erfüllt ward. Verschwunden war das Heute und das Morgen, weit hinaus in der Ferne, in der Sonne ereignete sich allerhand Glückliches für Fokje. Er war ein kräftiger Knabe mit klaren Augen und roten Wangen, er war ein strammer junger Bursche, der seine Sense schwang durch das dichteste Poldergras, der seine eigene Kuh melkte in der Allmend ...

»Wenn wir doch nur eine hätten,« dachte sie sehnsüchtig. Es währte wohl lange damit.

Immer wieder war es etwas anderes, das fehlschlug. Entweder forderten die Bauern einen zu hohen Preis für das Kälbchen, oder sie selbst konnte für das großgezogene auf dem Markt nur einen zu niedrigen erzielen; das Futter war teuer, oder das Tier wollte nicht gedeihen. Ein andermal wieder hatte sie in der Weberei nicht soviel Lohn erhalten wie sonst, da sie, weil Fokje viel Zeit und Sorge kostete, nicht genug spinnen konnte. Als er zu zahnen begann, mußte sie auch hin und wieder den Arzt kommen lassen und Arzneien kaufen, wofür sie in die heimliche Sparkasse greifen mußte, weil sie vom Wirtschaftsgeld nichts entbehren konnte. Und eine Zeit lang hatte Vater keine Arbeit, da der Patron, der seinen Vorrat nicht absetzen konnte, keine Decken mehr weben ließ.

Marretje begann schon den Mut zu verlieren, als ein unerwartetes Glück ihr zu Hilfe kam; Tymens kinderlos verstorbener Onkel hinterließ ihm ein schönes Stückchen Ackerland in der Nähe von Wymenes, und am nächsten Tage kam Bauer Plugge und bot dreihundert Gulden dafür.

Das Stück lag zu weit entfernt, als daß sie es selbst hätten bebauen können; dreihundert Gulden – Plugge legte die Banknoten auf den Tisch – soviel hatte Tymen noch nie zusammen gesehen. Er wollte sogleich zuschlagen.

Marretje hielt ihn zurück.

Sie kannte den Bauern gut genug, um zu wissen, daß er den wirklichen Wert nicht bot. Sie sagte, daß sie den »Kirmeskuchen« nicht verkaufen wollten; so hieß der Acker, weil er in der Franzosenzeit um einen Kirmeskuchen gekauft worden war. Der reiche Bauer schlug mit der Faust auf den Tisch, so daß der Kaffee aus den Schalen spritzte und rief fluchend, daß er mit Frauensleuten keine Geschäfte mache, und Kettingmakers flüsterte ihr ängstlich zu, sie solle doch nur ja vorsichtig sein, denn wenn er zornig werde, sei ja alles verloren. Marretje aber blieb fest.

Gleich, als ob er sie weder sähe noch höre, begann Plugge von neuem mit Tymen. Er setzte den Kirmeskuchen herab. Das sei kein guter Ackerboden, so wie anderer Ackerboden in Wymenes, gar nicht daran zu denken, aber das Feld läge bequem in der Nähe seiner eigenen Äcker dort drüben, und darum wolle er es wohl nehmen.

Tymen schaute Marretje an und schüttelte den Kopf. Das Bieten und Feilschen begann und währte beinah zwei ganze Stunden, bis Plugge mit einem barschen Wort davonging.

Großvater – Marretje nannte ihn nicht anders mehr seit Fokjes Geburt – murmelte ängstlich, daß er jetzt sicherlich keine Arbeit mehr von Plugge bekommen würde, und wäre dem Bauern am liebsten nachgelaufen, wenn Marretje ihn nicht zurückgehalten hätte.

Am nächsten Tage kam er wieder und dann zum drittenmal. Endlich bot er im Austausch für den Kirmeskuchen einen größeren Acker unterhalb Holthum und fünfundvierzig Gulden obendrein.

Der Acker lag neben Kettingmakers Kartoffelfeld; Plugges Pflüger und Pferde zertraten das Gewächs beim Ackern stets jämmerlich; es war ein großer Vorteil, zwei aneinander grenzende Grundstücke zu besitzen. Großvater stieß Tymen an.

Marretje rechnete aus, daß sie für fünfzig Gulden und den Verkauf ihres Kälbchens eine Färse bekommen könnten, eine, die während des Sommers in der Allmend weiden und im folgenden Jahre kalben und Milch geben würde. Tymen war schon im Begriff, in Plugges hingestreckte Hand einzuschlagen, als sie fünf Gulden über das Gebot forderte. Plugge begann zu schelten; sie gab nicht nach. Endlich siegte sie.

Sie und Tymen gingen zusammen, um eine schöne Färse auszusuchen. Die großen Bauern – zu den Kätnern gingen sie nicht, weil sie die Güte ihres Viehes bezweifelten – behandelten sie ein wenig kurz angebunden und von oben herab. Marretje ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie fand endlich, wenngleich für etwas mehr Geld, als sie wohl gern gegeben hätte, ein schönes Tierchen, schwarz, mit einer sternförmigen Blässe auf der Stirn und von so glattrundem Bau, »daß kein Wassertropfen auf ihm stehen bleiben konnte«. Am Abend vor dem Austreiben sollte Tymen kommen und es holen.

Zum erstenmal in seinem Leben ging er jetzt zu der Versammlung der Allmendberechtigten.

Sie dauerte lange. Marretje, die vor ihre Tür trat, um auszuschauen, hörte, daß eine Menge Leute vor dem Wirtshaus »Zum Grauschimmel« standen, wo die Versammlung abgehalten wurde, und daß drinnen geschrieen und mit der Faust aufgeschlagen wurde.

Einer, der später kam, wußte zu erzählen, daß es zwischen der Partei der reichen Bauern mit ihrem Anhang und dem großen Haufen der Mitberechtigten, die aus Handwerkern und Arbeitern bestand, zu Zwistigkeiten gekommen sei.

Die Bauern hatten den Vorschlag gemacht, auf den fruchtbarsten Teil der Allmendwiesen – den Kloosterkampen – nur milchgebende Kühe und ihre, dem gleichen Besitzer gehörigen Kälber zuzulassen; das beschränkte die Rechte der kleinen Besitzer, die nur ein einziges Kalb für den Markt mästeten, auf den dürftigen Holthumer Winkel und die verwahrlosten Marschfelder, wo niemals Vieh weidete. Sie schrieen, daß diese Anordnung, mit der die Partei der Reichen sie überlistet habe, widerrechtlich sei; die Reichen wollten, daß es durch Stimmenmehrheit entschieden werde.

Inmitten einer Gruppe finster dreinschauender murrender Männer kam Tymen endlich zurück; er und die Seinen hatten verloren. Was war sein Allmendrecht nun noch wert?

Marretje tröstete ihn; es sei ja nur für ein Jahr; im nächsten Sommer, wenn alles gut ginge, würde Bles ein Kälbchen haben und sie könnten dann zwei Tiere in die Kloosterkampen schicken.

Er antwortete nicht. Da sie wohl sah, wie sehr ihn die Sache verdroß, trieb sie selber, als der Sammeltag kam, das Kalb in die Allmend.

Das erste Licht erhellte den Himmel, als sie Bles zur Stalltür hinausließ; kein Sonnenschein noch, aber die farblose Klarheit, die ihm vorangeht. Die Luft war kühl und rein wie Tau und ohne den leisesten Duft; regungslos standen an den luftig herabhängenden Zweigen die glänzenden Birkenblättchen ausgebreitet, das weiß betaute Gras lag danieder. Das schwarz- und weißgefleckte Kalb stand einen Augenblick verwirrt da in der Dunstwolke, die von seinen warmen Flanken und aus seinen geblähten Nüstern aufstieg. Ein starkes Brüllen erschütterte die Luft in nächster Nähe; von drei, vier Seiten erscholl es, wie ein Echo; es streckte den Kopf vor und antwortete mit seiner jungen Stimme. Springend galoppierte es den Weg hinunter.

Hinter den Hecken kamen von rechts und links die Kühe daher.

Aus den großen Bauerngehöften, die gleich Festungen innerhalb ihres Walles von Linden und Eibenbäumen geborgen lagen, brachen sie hervor, zu sieben und achten gleichzeitig, der größten Anzahl, die das alte Allmendgesetz gestattete; aus den Behausungen der Kätner waren es höchstens drei oder vier; einzelne Tiere, meist Kälber, kamen aus den Hintertüren der Arbeiterwohnungen.

Die großen schwerfälligen Tiere, die, durch den im Stall verbrachten Winter abgestumpft, erst unbeweglich auf dem Hof stillgestanden hatten oder verwirrt hin und herirrten, wurden in der frischen, kühlen Maimorgenluft plötzlich lebhaft. Sie trabten, sie ließen ihre starken Stimmen durch die Luft erschallen. Mit schiefem Schwanz galoppierten die Kälber ins Feld hinein, machten plötzlich Seitensprünge, standen einander mit gesenktem Kopf gegenüber und jagten davon, wenn die Knaben schreiend und ihre Birkenzweige schwingend, auf sie zukamen. Die Knaben machten sich einen Scherz daraus, die jungen, ausgelassenen Tiere, die plötzlich wie gebannt still standen und dann an ihnen vorüberschossen, um in entgegengesetzter Richtung davon zu galoppieren, auf dem weitesten Umweg zur Herde zurück zu treiben.

Stets größer wurde diese. Hinter den Tieren kamen Männer mit knorrigen Stöcken und Frauen und Kinder mit grünen Zweigen in der Hand. Der eine sah sich die Tiere des andern auf ihre Wohlgenährtheit und ihre Sauberkeit an; daran noch mehr als an dem Aussehen des Treibers ließ sich die Wohlfahrt des Gehöftes erkennen und die Ordnung, die die Frau darauf hielt. Ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren in halb städtischer Kleidung, mit einem roten Band in den ungleichmäßig gelben Zöpfen, trieb ein knochiges und mit Schmutzkrusten bedecktes Tier vor sich her. Eine noch junge Frau, die alt erschien, weil ihre zahnlosen Kiefer schon eingefallen, lief atemlos hinter zwei Kälbern her. Da waren junge Burschen in blauen Kitteln, die vor lauter Neuheit glommen, und hier und dort ein vereinzelter Handwerker in Hemdsärmeln und Stiefeln oder Pantoffeln inmitten all dieser Bauern, die auf Holzschuhen gingen. Die reichen Bauern hatten zumeist ihre Knechte geschickt, vielleicht, weil sie Streitigkeiten befürchteten, denn nach der Versammlung, in der sie, obwohl in einer kleinen Minderheit, dank sei der Unterstützung ihres zahlreichen Anhanges in der Verwaltung und unter den mit ihnen verwandten und befreundeten oder durch Armut von ihnen abhängigen Allmendberechtigten, ihren Willen durchgesetzt hatten, war es im Dorf zu heftigen Auftritten gekommen. Und von den kleinen Besitzern sah mehr als einer Bauer Plugge schief an, der, die Pfeife im Munde, mit gleichgültiger Miene zwischen den acht vor Wohlgenährtheit glänzenden Tieren herschritt, die von seinem Sohn und seinem Knecht getrieben wurden.

Die Sonne ging auf, als die Vordersten der Truppe in den langen, geraden Baumweg einbogen, der auf den Holthumer Zugang der großen Wiese hinführt. Durch die dichten Tannen und die zarten Birkenzweige fiel das rote Licht schräg und in stetem Wechsel auf die scheckigen Tiere; Sonnenglanz und Schattendunkel, Flecken Weiß und Flecken Schwarz und Flecken Rot und Flecken Fahl sprangen hin und her, so daß es schien als trabe die Kuhherde. Sie ging, im Gegenteil, langsamer, zusammengestaut in der Enge des hohlen Weges.

Bles sah plötzlich ihre Mutter inmitten all der Kühe aus ihrem Stall: sie drängte zu ihr hin. Der Bauer gab ihr, wütend, mit seinem Knüppel einen Schlag quer über die Augen. Sie konnte nicht mehr zurück, zwischen den vorwärts drängenden Tieren festgeklemmt. Indem er Marretje, die, ängstlich, weder vor- noch rückwärts konnte, mit Flüchen und Schimpfworten überhäufte, begann er blindlings drauf los zu schlagen, als ein plötzlicher Ruck ihn von den Füßen hob; die vordersten Kühe, die zusammengestaut vor dem Schlagbaum gestanden hatten, wo die Allmendwächter das Brandmal auf ihren Hörnern prüften, brachen durch die geöffneten Gitter in die Wiese ein.

Als Marretje, nachdem sie immer wieder gestoßen und vorwärts gedrängt worden war, endlich mit Bles vor den Schlagbaum gelangte, wies der Allmendwächter mit dem Daumen über seine Schulter hinweg nach einem neu gezimmerten Gitter über einem Damm: es bildete den Eingang zu den Marschfeldern und dem Holthumer Winkel. Mit einem Schlag auf die Flanken jagte ein zweiter Wächter das Kälbchen hindurch auf das sich nach der See zu hinabsenkende Weideland.

Einige andere junge Tiere liefen dort schon herum. Die Besitzer standen vor dem Gitter auf dem Damm und sprachen murrend über die zugewachsenen Gräben und den schlechten Boden.

Das Seewasser, das in jedem Winter noch wochenlang, nachdem es von dem höher gelegenen Land abgelaufen, hier stehen geblieben war, hatte die Wiese allmählich in einen sumpfigen Strand umgewandelt. Zwischen dunklem rauhem Gewächs, das die grasenden Tiere mieden, schimmerte nasser Meeressand und das Weiß zertretener Muscheln.

Aus ihrem Nest aufgescheuchte Möven flatterten mit schrillem Schrei über eine mit Halm bewachsene Sandbank. Hier und dort lagen noch Haufen halb vergangenen Tanges.

Während sie schweigend den bekümmerten Worten der Männer lauschte, pflückte Marretje etwas von dem Gras auf der Weide. Sie hatten Recht: es war dürr und schlecht, aber die Weide war ja so groß, vielleicht gab es auch bessere Strecken darin.

Die Sonne stieg über die Eibenbäume und Pappeln auf den hohen Erdwall der großen Weiden; ein kleines Kalb, das an der Sandbank entlang graste, hob sich glänzend vom blauen Himmel ab. Auf dem Damm des Kloosterkamp graste eine braune Stute, deren zottiges Füllen während des Gehens gierig an dem dunklen Euter sog.

Marretje, die wie stets bei allem, was sie tat oder erlebte, an Fokje dachte, lächelte froh und hoffnungsvoll, ohne es zu wissen.


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