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Der treue Freund

Eines Morgens steckte der alte Wasserratz den Kopf aus dem Loch. Er hatte glänzende Kugeläuglein und einen grauen borstigen Backenbart, und sein Schwanz war wie ein langes Stück schwarzes Gummi. Die kleinen Entlein schwammen gerade im Teich herum und sahen aus wie eine Gesellschaft gelber Kanarienvögel, und ihre Mutter, die ganz weiß war mit echten roten Füßen, versuchte ihnen beizubringen, wie man auf dem Kopfe im Wasser stehen könne.

»Ihr werdet nie in die feine Gesellschaft kommen, wenn ihr nicht auf dem Kopfe stehen könnt«, sagte sie ihnen. Und von Zeit zu Zeit zeigte sie ihnen, wie es gemacht werden müsse. Aber die kleinen Entlein gaben nicht acht darauf. Sie waren so jung, daß sie noch nicht wußten, wie vorteilhaft es ist, in der feinen Gesellschaft zu verkehren.

»O die ungehorsamen Rangen,« schrie der alte Wasserratz, »sie verdienten wirklich zu ersaufen!«

»Nicht doch«, antwortete die Ente. »Aller Anfang ist schwer, und Eltern können nie geduldig genug sein.«

»Bah, ich verstehe nichts von elterlichen Gefühlen,« sagte der Wasserratz, »ich bin kein Familienmensch. Ich war nie verheiratet und habe gar keine Lust, es je zu sein. Die Liebe ist ja in ihrer Art eine ganz nette Sache, aber die Freundschaft steht viel höher. Ich kenne nichts in der Welt, was edler und seltener ist als eine treue Freundschaft.«

»Und wie, bitte, stellen Sie sich die Pflichten einer treuen Freundschaft vor?« fragte ein grüner Hänfling, der in der Nähe auf einem Weidenbaum saß und dem Gespräch zugehört hatte.

»Ja, das möchte ich eigentlich auch ganz gerne wissen«, sagte die Ente. Und sie schwamm fort zum Ende des Teiches und stellte sich auf den Kopf, um den Kindern ein gutes Beispiel zu geben.

»Was ist das für eine dumme Frage?« schrie der Wasserratz. »Der treue Freund muß mir treu sein, das ist doch natürlich.«

»Und was geben Sie ihm für seine Treue?« sagte der kleine Vogel und schwang sich auf einen Silberzweig und wippte mit seinen dünnen Flügelchen.

»Ich verstehe Sie nicht!« antwortete der Wasserratz.

»Ich will Ihnen eine Geschichte über dieses Thema erzählen«, sagte der Hänfling.

»Betrifft die Geschichte mich,« fragte der Wasserratz, »dann will ich gerne zuhören, denn ich habe Romane sehr gern.«

»Sie können die Sache auch auf sich beziehen«, antwortete der Hänfling, Und er flog herab und ließ sich am Ufer nieder und erzählte die Geschichte vom treuen Freund.

»Es war einmal«, so sagte der Hänfling, »ein braver kleiner Bursche namens Hans.«

»War er sehr vornehm?« fragte der Wasserratz.

»Nein«, antwortete der Hänfling. »Ich glaube nicht, daß er sich durch irgend etwas von anderen unterschied, es sei denn durch sein gutes Herz und sein lustiges, rundes, gutmütiges Gesicht. Er lebte in einem kleinen Häuschen ganz allein und arbeitete jeden Tag in seinem Garten. In der ganzen Gegend gab es keinen schöneren Garten. Federnelken wuchsen darin und Levkojen und Hirtentäschel und Frauenhaar. Da gab es rote und gelbe Rosen, lila Krokus und goldene, purpurne und weiße Veilchen. Akelei und Kresse, Majoran und Thymian, Schlüsselblumen und Lilien und Narzissen trieben und blühten der Ordnung nach, wie es die Monate verlangten, und eine Blume trat an Stelle der anderen Blume, so daß immer schöne Sachen zu sehen waren und es immer wunderbar duftete.

Der kleine Hans hatte eine Menge Freunde, aber der treueste von allen war der dicke Hugo, der Müller. Ja, der reiche Müller war dem kleinen Hans so ergeben, daß er niemals an dem Garten vorbeigehen konnte, ohne sich über den Zaun zu lehnen und einen großen Strauß zu pflücken oder eine Handvoll duftender Kräuter, oder seine Taschen mit Pflaumen oder Kirschen, je nach der Obstsaison, zu füllen.

›Wahre Freunde müssen alles gemeinsam haben‹, pflegte der Müller zu sagen. Und der kleine Hans nickte und lächelte und war sehr stolz, einen Freund zu haben, der so edel dachte.

Freilich manchmal meinten die Nachbarn, es sei sonderbar, daß der reiche Müller seinerseits dem Hans niemals etwas schenke, obwohl er hundert Säcke feinsten Mehls in seiner Mühle hatte und sechs Milchkühe und eine große Herde wolliger Schafe; aber Hans kümmerte sich nicht um solche Dinge, und nichts machte ihm mehr Vergnügen, als wenn er dem Müller zuhören konnte, wenn dieser die wunderbarsten Dinge von der Uneigennützigkeit der wahren Freundschaft erzählte.

So arbeitete der kleine Hans weiter in seinem Garten. Während des Frühlings, des Sommers und des Herbstes war er sehr glücklich, aber wenn der Winter kam und er keine Früchte und Blumen auf den Markt bringen konnte, litt er nicht wenig vor Hunger und Kälte und mußte oft zu Bett gehen, ohne etwas zu beißen als einige getrocknete Birnen und ein paar harte Nüsse. Im Winter fühlte er sich überdies sehr einsam, denn der Müller besuchte ihn nie.

›Es hat keinen Zweck, wenn ich den kleinen Hans besuche, solange der Schnee liegt‹, pflegte der Müller zu seiner Frau zu sagen. ›Denn wenn Leute Sorgen haben, muß man sie allein lassen und nicht durch Besuche stören. Das ist wenigstens meine Ansicht von Freundschaft, und ich bin überzeugt, daß ich recht habe. Ich will lieber warten, bis der Frühling kommt, und dann werde ich ihm einen Besuch machen, und dann wird er mir einen großen Korb mit Primeln schenken können, und das wird ihn gewiß riesig freuen.‹

›Du bist wirklich sehr rücksichtsvoll,‹ antwortete seine Frau, die in einem bequemen Armstuhl am großen Kaminfeuer saß, ›man kann gar nicht rücksichtsvoller sein. Es ist wirklich ein Genuß, dich über Freundschaft reden zu hören. Ich bin überzeugt, der Herr Pfarrer selbst kann nicht so schöne Dinge darüber sagen wie du, wenn er auch in einem dreistöckigen Hause lebt und einen goldenen Ring am kleinen Finger trägt.‹

›Aber könnten wir den kleinen Hans nicht zu uns einladen?‹ sagte der jüngste Sohn des Müllers. ›Wenn der arme Hans in Not ist, will ich ihm die Hälfte meiner Suppe geben und ihm meine weißen Kaninchen zeigen.‹

›Du dummer Bub,‹ schrie der Müller, ›ich weiß wirklich nicht, warum wir dich in die Schule schicken. Du scheinst dort gar nichts zu lernen. Siehst du, wenn der kleine Hans herkäme und unser warmes Feuer sähe und unser gutes Essen und unser großes Faß mit rotem Wein, so könnte er neidisch werden, und der Neid ist eine höchst schreckliche Sache, die leicht einen Charakter verdirbt. Ich möchte um keinen Preis schuld daran sein, daß Hansens Charakter Schaden litte. Ich bin sein bester Freund und werde immer über ihn wachen und Sorge tragen, daß er nicht in Versuchung komme. Überdies könnte Hans, wenn er herkäme, mich vielleicht um einiges Mehl auf Borg bitten, und das könnte ich nicht tun. Denn Mehl und Freundschaft sind zwei ganz verschiedene Dinge, und man soll sie nicht vermischen. Sieh, die Worte werden doch ganz verschieden geschrieben und bedeuten auch etwas ganz Verschiedenes. Das muß doch jeder einsehen.‹

›Wie ausgezeichnet du sprichst!‹ sagte die Müllerin und goß sich ein großes Glas warmes Bier ein. ›Ich bin schon ganz schläfrig, gerade als ob ich in der Kirche säße.‹

›Eine Menge Leute handeln gut, aber sehr wenige Leute sprechen gut, und das zeigt klar, daß Sprechen viel schwieriger ist, und es ist auch viel vornehmer.‹ Und er blickte strenge über den Tisch hinüber zu seinem kleinen Sohn, der sich so schämte, daß er den Kopf tief herabbeugte, ganz rot wurde und dicke Tränentropfen in seinen Tee fallen ließ. Er war aber so jung, daß ihr ihm deswegen nicht gram sein dürft.«

»Ist das das Ende der Geschichte?« fragte der Wasserratz.

»Gewiß nicht,« antwortete der Hänfling, »das ist erst der Anfang.«

»Dann sind Sie weit hinter Ihrer Zeit zurück«, sagte der Wasserratz. »Jeder gute Geschichtenerzähler von heute beginnt mit dem Ende, kommt dann auf den Anfang zu sprechen und endet mit der Mitte. Das ist die neue Methode. Unlängst ging ein Kritiker mit einem jungen Mann um den Teich herum, und da habe ich alles darüber erfahren. Er sprach über sein Thema mit großer Ausführlichkeit, und ich bin überzeugt, daß er vollkommen recht hat, denn er trug eine blaue Brille und einen kahlen Kopf, und so oft der junge Mann eine Bemerkung machte, antwortete er mit ›Bah‹! Aber bitte, fahren Sie in Ihrer Geschichte fort. Ich habe den Müller schon riesig gerne. Ich habe nämlich auch eine große Menge schöner Gefühle in mir, und so sympathisieren wir sehr.«

»Gut!« sagte der Hänfling und sprang von einem Fuß auf den andern. »Sobald der Winter vorüber war und die Primeln ihre bleichen gelben Sterne zu öffnen begannen, sagte der Müller zu seiner Frau, daß er nun hinuntergehen wolle, um den kleinen Hans zu besuchen.

›Was du doch für ein gutes Herz hast!‹ rief sein Weib. ›Du denkst wirklich immer an andere. Und vergiß nicht den großen Korb mitzunehmen für die Blumen.‹

So band denn der Müller die Flügel der Windmühle mit einer schweren Eisenkette zusammen und ging mit dem Korb am Arm den Hügel hinab. ›Guten Morgen, kleiner Hans‹, sagte der Müller.

›Guten Morgen‹, sagte Hans, an seinen Spaten gelehnt, und lächelte von einem Ohr zum andern.

›Und wie ist es dir den ganzen Winter gegangen?‹ sagte der Müller.

›Oh,‹ rief Hans, ›es ist wirklich sehr lieb von dir, daß du danach fragst. Ich habe eine recht harte Zeit hinter mir, aber nun ist ja der Frühling da, und ich bin ganz glücklich, denn allen meinen Blumen geht es gut.‹

›Wir haben oft von dir gesprochen, Hans,‹ sagte der Müller, ›und uns immer gefragt, wie es dir wohl ginge.‹

›Das war sehr lieb von euch,‹ sagte Hans, ›ich dachte beinahe, ihr hättet mich vergessen.‹

›Wie darfst du so was sagen, Hans,‹ rief der Müller, ›die Freundschaft vergißt niemals. Das ist ja das Wunderbare bei der Freundschaft. Aber ich glaube schier, daß du die Poesie des Lebens nicht verstehst. Übrigens stehen ja deine Primeln ganz herrlich!‹

›Ja, sie stehen gut,‹ sagte Hans, ›und es ist für mich ein großes Glück, daß ich ihrer so viele habe. Ich will sie nämlich auf den Markt bringen und sie der Tochter des Bürgermeisters verkaufen; und mit dem Geld will ich dann meinen Schubkarren zurückkaufen.‹

›Deinen Schubkarren zurückkaufen? Hast du ihn denn verkauft? Wie kann man so eine Dummheit machen?‹

›Weißt du,‹ sagte Hans, ›ich mußte es tun. Schau, der Winter war eine sehr böse Zeit für mich, und ich hatte wirklich kein Geld, mir Brot zu kaufen. So verkaufte ich zuerst die Silberknöpfe an meinem Sonntagsrock, dann meine silberne Kette, dann verkaufte ich meine große Pfeife, und dann endlich verkaufte ich meinen Schubkarren. Aber nun werde ich alles wieder zurückkaufen.‹

›Hans,‹ sagte der Müller, ›ich werde dir meinen Schubkarren schenken. Er ist nicht in sehr gutem Zustande. Die eine Seite fehlt, und etwas ist schlecht in den Speichen. Aber trotzdem will ich ihn dir schenken. Ich weiß, das ist sehr großmütig von mir, und eine Menge Leute werden mich für verrückt halten, daß ich ihn weggebe, aber ich bin nun einmal nicht so wie die andern. Ich glaube, daß Großmut das Wesen der Freundschaft ist, und überdies habe ich für mich einen neuen Schubkarren gekauft. Mach dir also keine weiteren Sorgen, ich gebe dir meinen Schubkarren.‹

›Das ist wirklich sehr großmütig von dir‹, sagte der kleine Hans, und sein drolliges, rundes Gesicht glühte über und über vor Freude. ›Ich kann ihn leicht ausbessern, denn ich habe ein Brett im Hause.‹

›Ein Brett,‹ sagte der Müller, ›das ist just, was ich für das Dach meiner Scheune brauche. Das Dach hat nämlich ein großes Loch, und das Korn wird naß werden, wenn ich es nicht verstopfe. Wie gut, daß du mich erinnert hast! Es ist doch merkwürdig, wie eine gute Handlung immer eine andere nach sich zieht. Ich habe dir meinen Schubkarren gegeben, und du gibst mir nun dein Brett. Natürlich ist der Schubkarren viel mehr wert als dein Brett, aber treue Freundschaft kümmert sich um solche Dinge nicht. Geh, hole das Brett gleich, und ich werde sofort meine Scheune reparieren.‹

›Gewiß‹, rief der kleine Hans, und er lief in die Hütte und zog das Brett heraus.

›Es ist kein sehr großes Brett,‹ sagte der Müller, indem er es beschaute, ›und ich fürchte sehr, daß, wenn ich damit mein Dach ausgebessert haben werde, nichts für dich übrig bleiben wird, um den Schubkarren auszubessern. Aber das ist natürlich nicht meine Schuld. Und nun, da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, wirst du gewiß mir gern einige Blumen schenken. Hier ist der Korb, und nun, bitte, fülle ihn mir ordentlich.‹

›Ich soll ihn füllen?‹ sagte der kleine Hans und sah sorgenvoll drein, denn er wußte, daß ihm für den Markt keine Blume übrig bleiben könnte, wenn er den Korb gefüllt haben würde; und er hätte doch gerne seine Silberknöpfe zurück gehabt!

›Na, hörst du,‹ antwortete der Müller, ›da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, so ist es doch gewiß nicht viel verlangt, wenn ich dich um ein paar Blumen bitte. Vielleicht habe ich unrecht, aber ich sollte doch glauben, daß Freundschaft, wahre Freundschaft ganz frei von jedem Eigennutz ist.‹

›Mein teurer Freund, mein bester Freund,‹ rief der kleine Hans, ›ich gebe dir gern alle Blumen in meinem Garten. Mir liegt an deiner Meinung tausendmal mehr als an allen silbernen Knöpfen der Welt.‹

Und er lief und pflückte alle seine schönen Primeln und füllte den Korb des Müllers damit.

›Leb wohl, kleiner Hans‹, sagte der Müller und stieg den Hügel hinauf, mit dem Brett auf der Schulter und dem gefüllten Korb in der Hand.

›Leb' wohl‹, sagte der kleine Hans, und er begann höchst vergnügt weiter zu graben, denn er freute sich sehr über seinen Schubkarren. Nächsten Tag befestigte er just ein Geißblatt am Eingang, als er hörte, wie der Müller ihn von der Straße aus rief. So sprang er denn von der Leiter und lief hinunter in den Garten und blickte über die Mauer.

Da stand der Müller mit einem großen Mehlsack auf der Schulter.

›Lieber, kleiner Hans,‹ sagte der Müller, ›möchtest du nicht diesen Mehlsack für mich zum Markt bringen?‹

›Oh, es tut mir furchtbar leid,‹ sagte Hans, ›aber heute habe ich wirklich sehr viel zu tun. Ich muß alle meine Schlingpflanzen befestigen, meine Blumen begießen und mein Gras schneiden.‹

›Na, hör einmal,‹ sagte der Müller, ›in Anbetracht der Tatsache, daß ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, ist es nicht gerade sehr freundlich von dir, mir meine Bitte abzuschlagen.‹

›Das darfst du nicht sagen,‹ rief der kleine Hans, ›ich möchte um alles in der Welt nicht meine Freundespflicht vernachlässigen!‹ Und er lief, holte seinen Mantel und trabte davon, mit dem schweren Sack auf den Schultern.

Es war ein sehr heißer Tag, und die Straße war schrecklich staubig, und bevor Hans den sechsten Meilenstein erreicht hatte, war er so müde, daß er sich sehr gerne niedergesetzt hätte, um auszuruhen. Aber er ging tapfer weiter, und endlich erreichte er den Markt. Nachdem er eine Zeitlang gewartet hatte, verkaufte er den Sack Mehl um einen sehr guten Preis, und dann kehrte er sofort nach Hause zurück, denn er fürchtete sich, länger zu verweilen, da er sonst beim Heimweg leicht Räubern hätte begegnen können.

›Ei, das war ein schwerer Tag‹, sagte der kleine Hans, als er zu Bett ging. ›Aber ich bin froh, daß ich dem Müller seine Bitte nicht abgeschlagen habe, denn er ist mein bester Freund, und überdies schenkt er mir seinen Schubkarren.‹

Früh am nächsten Morgen kam der Müller herunter, um sich sein Geld für den Sack Mehl zu holen, aber der kleine Hans war so müde, daß er noch im Bette lag.

›Das nenne ich aber faul!‹ sagte der Müller. ›In Anbetracht, daß ich dir meinen Schubkarren schenken will, könntest du wohl etwas fleißiger sein. Faulheit ist eine große Sünde, und ich habe es nicht gern, wenn meine Freunde faul und träge sind. Du darfst nicht böse sein, wenn ich so offen zu dir rede. Natürlich bin ich nur zu meinen Freunden so aufrichtig. Aber ist es nicht gerade das Schönste in der Freundschaft, daß man immer sagen kann, was man denkt? Ein jeder kann liebenswürdige Sachen sagen, kann schmeicheln und dem andern nach dem Munde reden. Aber ein wahrer Freund sagt immer unangenehme Dinge und scheut sich nicht, dem andern weh zu tun. Ja, noch mehr. Ja, der wahre Freund tut dies mit Vorliebe, denn er weiß, daß er damit eine gute Tat begeht.‹

›Sei nicht bös‹, sagte der kleine Hans und rieb seine Augen und warf die Nachtmütze in die Ecke. ›Aber ich war so müde, daß ich noch ein bißchen im Bett bleiben wollte, um den Vögeln zuzuhören. Weißt du, ich arbeite immer besser, wenn ich ein bißchen dem Gesang der Vögel gelauscht habe.‹

›Das freut mich zu hören‹, sagte der Müller und klopfte Hans auf den Rücken. ›Denn du mußt gleich, sobald du angezogen bist, auf die Mühle kommen und mein Scheunendach für mich ausbessern.‹

Der kleine Hans brannte schon darauf, an seine Gartenarbeit zu gehen, denn er hatte seine Blumen seit zwei Tagen nicht begossen. Aber er wollte dem Müller doch nichts abschlagen, weil er ein gar so guter Freund war.

›Du, höre einmal, wäre es sehr unfreundlich von mir, wenn ich dir sagte, daß ich zu tun habe?‹ fragte er sehr scheu und schüchtern.

›Na, hörst du,‹ sagte der Müller, »ich verlange doch bei Gott nicht viel von dir, in Anbetracht des Umstandes, daß ich dir meinen Schubkarren schenke; aber natürlich, wenn du nicht willst, dann gehe ich und mache es selbst.‹

›Was fällt dir ein‹, rief der kleine Hans und sprang aus dem Bett, zog sich an und ging hinauf zur Scheune.

Dort arbeitete er den ganzen Tag bis Sonnenuntergang. Und bei Sonnenuntergang kam der Müller, um nachzuschauen, wie weit er halte.

›Hast du schon das Loch im Dache ausgebessert, kleiner Hans?‹ rief fröhlich der Müller.

›Es ist ganz ausgebessert‹, antwortete der kleine Hans und kam die Leiter herab.

›Ach,‹ sagte der Müller, ›es gibt nichts Wundervolleres als die Arbeit, die einer für den andern tut.‹

›Es ist gewiß ein großer Genuß, dich reden zu hören‹, antwortete der kleine Hans und setzte sich nieder und wischte sich die Stirne. ›Ein sehr großer Genuß. Aber ich glaube, daß ich niemals so schöne Gedanken haben werde wie du.‹

›Oh, das kommt alles mit der Zeit,‹ sagte der Müller, ›du mußt dich nur recht zusammennehmen. Einstweilen hast du nur die Praxis der Freundschaft, eines Tages wirst du auch die Theorie begreifen.‹

›Glaubst du wirklich?‹ sagte der kleine Hans.

›Ich zweifle nicht daran‹, sagte der Müller. ›Da du aber jetzt mein Dach ausgebessert hast, rate ich dir, nach Hause zu gehen und dich auszuruhen. Denn morgen brauche ich dich. Du mußt meine Schafe auf den Berg treiben.‹

Der arme kleine Hans traute sich kein Wort zu sagen, und früh am nächsten Morgen brachte der Müller seine Schafe zur Hütte, und Hans ging mit ihnen auf den Berg. Er brauchte den ganzen Tag zum Hin- und Rückweg. Und als er nach Hause kam, war er so müde, daß er in seinem Stuhle einschlief und vor hellem Tage nicht erwachte.

›Wie schön ich es heute in meinem Garten haben werde!‹ sagte er sich und ging sofort an die Arbeit.

Aber er kam nie dazu, nach seinen Blumen zu sehen, denn sein Freund, der Müller, kam jeden Augenblick und schickte ihn auf lange Wege oder brauchte ihn zur Aushilfe in der Mühle.

Zuweilen war der kleine Hans sehr traurig, denn er fürchtete, seine Blumen könnten glauben, daß er sie ganz vergessen hätte. Aber er tröstete sich immer mit dem Gedanken, daß der Müller doch sein bester Freund sei. ›Überdies‹, sagte er sich, ›schenkt er mir doch seinen Schubkarren, und das ist doch gewiß sehr großmütig von ihm.‹

So arbeitete der kleine Hans weiter für den Müller, und der Müller sprach immer eine Menge schöner Sachen über die Freundschaft, und Hans trug alles in ein Notizbuch ein. Und abends pflegte er in diesem Notizbuch zu lesen, denn er lernte sehr leicht.

Nun geschah es, daß er eines Abends vor seinem Kamin saß, als ein heftiger Schlag gegen die Türe dröhnte. Es war eine sehr stürmische Nacht, und der Wind brüllte und brauste so heftig um das Haus, daß Hans zuerst glaubte, es sei das Unwetter, das so an die Türe rüttle. Aber ein zweiter Schlag folgte dem ersten und dann ein dritter, noch heftiger als die früheren.

›Es ist irgendein armer Reisender‹, sagte der kleine Hans und lief zur Türe.

Draußen stand der Müller mit der Laterne in der einen und einem dicken Stock in der anderen Hand.

›Lieber kleiner Hans,‹ schrie der Müller, ›ich bin in großer Verzweiflung. Mein kleiner Bub ist von der Leiter gefallen und hat sich verletzt, und ich muß den Doktor holen. Aber er wohnt so weit, und die Nacht ist so bös, daß es mir einfiel, ob es nicht viel besser wäre, wenn du statt meiner gingest. Du weißt, daß ich dir meinen Schubkarren schenke, und so ist es nur ganz in der Ordnung, daß du mir auch etwas zu Gefallen tust?‹

›Gewiß,‹ rief der kleine Hans, ›ich danke dir, daß du an mich gedacht hast, und ich werde mich gleich auf den Weg machen. Aber du mußt mir deine Laterne borgen, denn die Nacht ist stockfinster und ich könnte leicht in den Graben fallen.‹

›Es tut mir sehr leid,‹ sagte der Müller, ›aber es ist meine neue Laterne und es könnte ihr was passieren. Und das wäre für mich ein großer Schaden.‹

›Ach, laß nur, ich gehe auch ohne Laterne!‹ rief der kleine Hans und er nahm seinen Pelzrock vom Nagel und seine warme scharlachene Mütze, wand sich ein Tuch um den Hals und machte sich auf die Strümpfe.

Das Unwetter war gar schrecklich. Die Nacht war so schwarz, daß Hans nicht die Hand vor den Augen sehen konnte, und der Sturm war so heftig, daß er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.

Aber er ging tapfer vorwärts und nach drei Stunden Marsch kam er zum Hause des Doktors und klopfte an die Türe.

›Wer ist da?‹ rief der Doktor und steckte den Kopf aus dem Schlafzimmerfenster.

›Der kleine Hans, Herr Doktor.‹

›Und was willst du, kleiner Hans?‹

›Der Sohn des Müllers ist von der Leiter gefallen und hat sich verletzt, und der Müller bittet Euch, gleich zu ihm zu kommen.‹

›Gut‹, sagte der Doktor, ließ sich ein Pferd aus dem Stalle holen, zog sich die hohen Stiefel an, nahm seine Laterne, kam die Stiegen herab und ritt davon in der Richtung der Mühle und der kleine Hans schleppte sich hinterdrein.

Aber der Sturm wurde heftiger und immer heftiger, und der kleine Hans wußte nicht mehr, wo er ging, und konnte mit dem Pferd nicht mehr Schritt halten. Schließlich verlor er seinen Weg, irrte im Moor herum, wo es sehr gefährlich war, denn es waren hier viele tiefe Löcher, und hier ertrank denn der arme kleine Hans. Am nächsten Tag wurde seine Leiche in einem großen Wassertümpel von einigen Ziegenhirten gefunden, und sie brachten sie zur Hütte.

Alle Leute gingen zum Leichenbegängnis des kleinen Hans, denn man liebte ihn allgemein. Der Hauptleidtragende war der Müller.

›Da ich sein bester Freund war,‹ sagte der Müller, ›schickt es sich, daß ich an erster Stelle gehe.‹ So ging er denn an der Spitze des Zuges in einem langen schwarzen Rock, und dann und wann wischte er sich die Augen mit einem großen Taschentuch.

›Der kleine Hans ist gewiß ein großer Verlust für uns‹, sagte der Schmied, als das Leichenbegängnis vorüber war und sie alle behaglich im Wirtshaus saßen und Würzwein tranken und süße Kuchen verzehrten.

›Oh, für mich ist es ein besonders großer Verlust!‹ sagte der Müller. ›Ich hatte ihm meinen Schubkarren so gut wie geschenkt, und nun weiß ich wirklich nicht, was ich damit machen soll. Er steht mir im Hause sehr im Wege und er ist in so schlechtem Zustande, daß ich gar nichts dafür kriegen würde, wenn ich ihn verkaufen wollte. Ich werde in Zukunft gewiß nichts mehr verschenken. Man hat nur Schaden davon, wenn man großmütig ist.‹«

»Und dann?« sagte der Wasserratz nach einer langen Pause.

»Das ist das Ende meiner Geschichte«, sagte der Hänfling.

»Und was wurde aus dem Müller?« fragte der Wasserratz.

»Ich weiß wirklich nicht,« sagte der Hänfling, »und es ist mir auch höchst gleichgültig.«

»Da sieht man, daß Ihr keine liebevolle Natur seid«, sagte der Wasserratz.

»Ich glaube beinahe, Ihr versteht die Moral der Geschichte nicht«, sagte der Hänfling.

»Die was?« schrie der Wasserratz.

»Die Moral.«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Geschichte eine Moral hat?«

»Gewiß!« sagte der Hänfling.

»So?« sagte der Wasserratz sehr ärgerlich, »das hätten Sie auch gleich sagen können, ehe Sie zu erzählen anfingen, dann hätte ich gewiß nicht zugehört, sondern ›Bah!‹ gesagt wie der Kritiker. Übrigens, das kann ich noch tun.«

So sagte er denn »Bah!« mit voller Stimme, schlug mit dem Schweif und ging in sein Loch zurück.

»Was sagst du zum Wasserratz?« sagte die Ente, die einige Minuten später herangepaddelt kam, zum Hänfling. »Er hat eine ganze Menge guter Eigenschaften, aber ich habe nun einmal die Gefühle einer Mutter, und ich kann keinen verstockten Junggesellen sehen, ohne daß mir die Tränen in die Augen steigen.«

»Ich glaube, daß ich den Wasserratz geärgert habe«, sagte der Hänfling. »Ich habe ihm eine Geschichte mit einer Moral erzählt.«

»Oh, das ist immer eine gefährliche Sache«, sagte die Ente.

Und da bin ich ganz ihrer Meinung.


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