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Der glückliche Prinz und andere Märchen

Übersetzt von Rudolph Lothar


Der glückliche Prinz

Hoch über der Stadt stand auf einer hohen Säule die Statue des glücklichen Prinzen. Sie war über und über mit dünnen Blättchen von feinem Golde vergoldet, zwei glänzende Saphire hatte sie als Augen, und ein großer, roter Rubin glühte am Schwertknauf.

Er wurde wirklich viel bewundert.

»Er ist so schön wie ein Wetterhahn«, bemerkte einer der Stadträte, dem viel daran lag, als geschmackvoll in Kunstdingen zu gelten. »Wenn auch nicht ganz so nützlich«, fügte er hinzu, aus Furcht, man könnte ihn für unpraktisch halten, was er wirklich und wahrhaftig nicht war.

»Warum nimmst du dir kein Beispiel an dem glücklichen Prinzen?« fragte eine verständige Mutter ihren kleinen Buben, der weinte, weil er den Mond nicht haben konnte. »Dem glücklichen Prinzen fällt es nicht ein, zu weinen, wenn er etwas nicht kriegen kann.«

»Ich bin froh, daß es jemanden in der Welt gibt, der ganz glücklich ist«, murmelte ein enttäuschter Mann, der die wundervolle Bildsäule betrachtete.

»Er sieht just aus wie ein Engel«, sagten die Waisenkinder, die in ihren hellroten Mänteln und den reinlichen weißen Lätzchen aus der Kathedrale kamen.

»Woher wißt ihr das,« sagte der Mathematikprofessor, »da ihr nie einen Engel gesehen habt?«

»O doch, in unseren Träumen«, antworteten die Kinder; und der Mathematikprofessor runzelte die Stirn und blickte finster drein, denn er hatte es nicht gern, wenn Kinder träumten.

Eines Nachts flog ein kleiner Schwälberich über die Stadt. Seine Freunde waren schon vor sechs Wochen nach Ägypten gezogen, aber er blieb zurück, denn er liebte das wunderschönste Rohr im Schilfe. Zeitlich im Frühjahr hatte er es erblickt, als er den Fluß hinunter flog, hinter einer dicken gelben Motte her, und die schlanke Taille des Rohrs hatte ihm so gefallen, daß er stehen blieb, um mit ihm zu plaudern.

»Soll ich dich lieben?« sagte der Schwälberich, der gerne geradeswegs auf sein Ziel losging, und das Rohr machte ihm eine tiefe Verbeugung. So flog er rund um das Rohr herum und berührte das Wasser mit seinen Flügeln und zeichnete silberne Kreise hinein. So machte er ihr den Hof, und das dauerte den ganzen Sommer.

»Es ist ein lächerliches Verhältnis!« zwitscherten die anderen Schwalben. »Das Rohr hat kein Geld und viel zu viel Verwandtschaft.«

Und in der Tat war der ganze Fluß voll Schilf. Und als dann der Herbst kam, flogen alle Schwalben davon.

Als sie fortgeflogen waren, fühlte sich das Schwälbchen sehr einsam und begann seinen Minnedienst etwas langweilig zu finden. »Es plaudert sich schlecht mit ihm, und ich fürchte sehr, daß es kokett ist, denn es flirtet immer mit dem Wind.« Tatsache war, daß das Rohr, so oft der Wind blies, die graziösesten Verbeugungen machte. »Ich gebe zu, daß es häuslich ist,« fuhr das Schwälbchen fort, »aber ich liebe das Reisen, und mein Weib muß also auch das Reisen ebenfalls gern haben.«

»Willst du mit mir kommen?« sagte das Schwälbchen endlich zu ihm; aber das Rohr schüttelte den Kopf, denn es hing zu sehr an seiner Heimat.

»Du hast deinen Scherz mit mir getrieben,« schrie das Schwälbchen, »ich reise zu den Pyramiden. Leb' wohl!« Und das Schwälbchen flog fort.

Den ganzen Tag flog es, und als die Nacht hereinbrach, kam es zur Stadt. »Wo soll ich absteigen?« sagte es. »Ich hoffe, die Stadt hat Empfangsvorbereitungen getroffen!«

Dann sah das Schwälbchen die Statue auf der hohen Säule.

»Hier will ich absteigen!« rief es aus. »Das ist ein schönes Plätzchen, und frische Luft gibt es hier genug.« Und es ließ sich nieder, gerade zwischen den Füßen des glücklichen Prinzen.

»Ich habe ein goldenes Schlafzimmer«, sagte das Schwälbchen leise zu sich selbst, wie es sich umsah, und es bereitete sich zum Schlafen vor. Aber gerade wie es seinen Kopf unter die Flügel stecken wollte, fiel ein schwerer Wassertropfen nieder. »Wie seltsam!« rief das Schwälbchen aus. »Am Himmel steht keine einzige Wolke, die Sterne sind ganz hell und klar, und doch regnet es. Das Klima im nördlichen Europa ist wirklich schrecklich. Das Rohr liebte ja den Regen, aber das war nichts als Egoismus.«

Ein zweiter Tropfen fiel.

»Zu was ist die Bildsäule denn nütze, wenn sie nicht den Regen abhalten kann«, sagte es. »Ich schaue mich lieber nach einem guten Schornstein um!« Und das Schwälbchen beschloß fortzufliegen.

Aber bevor es seine Flügel geöffnet hatte, fiel ein dritter Tropfen, und es blickte empor und sah – ach, was sah es!

Die Augen des glücklichen Prinzen waren voll Tränen, und die Tränen rollten nieder an den goldenen Wangen. Und sein Gesicht war so schön im Mondlicht, daß das Schwälbchen tiefes Mitleid empfand.

»Wer bist du?« fragte es.

»Ich bin der glückliche Prinz.«

»Warum weinst du dann?« fragte das Schwälbchen. »Ich bin ganz durchnäßt.«

»Als ich noch lebte und ein menschliches Herz besaß,« antwortete die Statue, »wußte ich nicht, was Tränen sind, denn ich lebte im Palast Sanssouci, dessen Schwelle die Sorge nicht betreten darf. Tagsüber spielte ich mit meinen Genossen im Garten, und am Abend führte ich den Tanz an in der großen Halle. Rings um den Garten lief eine sehr hohe Mauer, aber ich kümmerte mich nicht darum, was hinter der Mauer lag, denn alles um mich her war eitel Schönheit. Meine Hofleute nannten mich den glücklichen Prinzen, und ich war wirklich glücklich, wenn Vergnügen Glück bedeutet. So lebte ich, und so starb ich. Und nun, da ich gestorben bin, haben sie mich hier so hoch heraufgestellt, daß ich alle Häßlichkeit und all das Elend meiner Stadt sehen kann, und obzwar mein Herz aus Blei ist, kann ich nichts anderes tun als weinen.«

»Schau, er ist nicht durch und durch aus Gold«, sprach das Schwälbchen zu sich selbst. Aber es war doch zu höflich, um laut irgendeine persönliche Bemerkung zu machen.

»Weit von hier,« fuhr die Bildsäule fort mit einer tiefen, klangvollen Stimme, »weit von hier steht ein armes Häuschen in einer kleinen Straße. Eines der Fenster ist offen und ich sehe eine Frau, die an einem Tische sitzt. Ihr Gesicht ist schmal und verhärmt, und sie hat rauhe, rote Hände, ganz zerstochen von der Nadel, denn sie ist eine Näherin. Sie stickt für die lieblichste von den Ehrendamen der Königin Passionsblumen auf ein Seidengewand, das sie auf dem nächsten Hofball tragen wird. In einem Bett in einer Ecke des Zimmers liegt ihr kleiner kranker Bub. Ihn schüttelt das Fieber, und er möchte Apfelsinen haben. Seine Mutter aber kann ihm nichts geben als Wasser aus dem Fluß, und so weint er. Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen, willst du ihr nicht den Rubin aus meinem Schwertgriff bringen? Meine Füße sind auf dem Piedestal festgemacht, und ich kann mich nicht bewegen.«

»Man erwartet mich in Ägypten«, sagte das Schwälbchen. »Meine Freunde fliegen den Nil auf und ab und sprechen mit den großen Lotosblumen. Bald werden sie schlafen gehen im Grabe des großen Königs. Der König liegt selbst dort in einer gemalten Truhe. Er ist in gelbes Linnen gehüllt und einbalsamiert mit Gewürzen. Um seinen Hals liegt eine Kette von blassem, grünem Nephrit, und seine Hände gleichen verwelkten Blättern.«

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen,« sagte der Prinz, »willst du nicht eine Nacht bei mir bleiben und mein Bote sein? Der Knabe hat so großen Durst, und die Mutter ist so traurig.«

»Weißt du, ich liebe Buben nicht«, antwortete das Schwälbchen. »Als ich im letzten Sommer am Flusse wohnte, waren zwei rohe Buben dort, die Söhne des Müllers, und sie warfen immer Steine nach mir. Natürlich trafen sie mich nicht. Wir Schwalben fliegen viel zu schnell, und überdies stamme ich aus einer Familie, die wegen ihrer Flinkheit berühmt ist. Trotzdem war es ein Zeichen mangelnden Respekts.«

Aber der glückliche Prinz blickte so traurig drein, daß das Schwälbchen betrübt wurde. »Es ist zwar kalt hier,« sagte es, »aber ich will eine Nacht bei dir bleiben und dein Bote sein.«

»Ich danke dir, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz.

Und die Schwalbe pickte den großen Rubin aus dem Schwert des Prinzen und nahm den Stein in ihren Schnabel und flog damit über die Dächer der Stadt.

Sie flog am Turm der Kathedrale vorbei, wo die weißen Marmorengel stehen, sie flog vorbei am Palast und hörte Tanz und Musik. Ein schönes Mädchen kam mit dem Geliebten auf den Balkon. »Wie wundervoll die Sterne sind,« sagte er zu ihr, »und wie wundervoll ist die Macht der Liebe!«

»Ich hoffe, mein Kleid wird für den Hofball rechtzeitig fertig sein«, antwortete sie. »Ich habe Passionsblumen darein sticken lassen, aber die Schneiderinnen sind so faul.«

Sie flog über den Fluß und sah die Laternen an den Masten der Schiffe hängen. Sie flog über das Ghetto und sah die alten Juden miteinander handeln und sah, wie sie Geld in kupfernen Schalen wogen. Dann kam sie zu dem armen Häuschen und schaute hinein. Der Knabe hustete fieberisch in seinem Bett, und die Mutter war vor Müdigkeit eingeschlafen. Sie hüpfte ins Zimmer und legte den großen Rubin auf den Tisch just neben den Fingerhut der Frau. Dann flog sie mit leichtem Flügelschlag um das Bett herum, und ihre Flügel fächelten die Stirne des Knaben. »Ach, die Kühle,« sagte das Kind, »jetzt wird mir gewiß besser.« Und der Knabe sank in einen süßen Schlaf.

Dann flog das Schwälbchen zurück zum glücklichen Prinzen und erzählte ihm, was es getan hatte. »Es ist seltsam,« fügte es hinzu, »aber nun ist mir ganz warm, trotzdem es so kalt ist.«

»Das kommt daher, weil du eine gute Tat getan hast«, sagte der Prinz. Und das kleine Schwälbchen begann nachzudenken, und dann schlief es ein. Denken machte es immer schläfrig.

Als der Tag anbrach, flog es zum Flusse und nahm ein Bad. »Welch ein seltsames Phänomen«, sagte der Professor der Ornithologie, der gerade über die Brücke ging. »Eine Schwalbe im Winter!« Und er schrieb darüber einen langen Brief an das Lokalblatt. Jedermann sprach davon, aber der Brief war so voll Gelehrsamkeit, daß niemand ihn recht verstand.

»Heute nacht gehe ich nach Ägypten«, sagte das Schwälbchen, und es war höchst vergnügt bei dieser Aussicht. Es besuchte alle öffentlichen Monumente und saß lange Zeit auf der Spitze des Kirchturms. Wohin es kam, zwitscherten die Sperlinge und sagten zueinander: »Welch ein vornehmer Fremdling!« Das freute das Schwälbchen sehr.

Als der Mond aufstieg, flog es zurück zum glücklichen Prinzen. »Hast du was zu bestellen in Ägypten?« schrie es ihm zu. »Ich reise!«

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen,« sagte der Prinz, »willst du nicht noch eine Nacht bei mir bleiben?«

»Man erwartet mich in Ägypten«, antwortete das Schwälbchen. »Morgen werden meine Freunde bis zum zweiten Katarakt fliegen. Dort liegt das Nilpferd im hohen Ried, und auf einem großen granitnen Thron sitzt der Gott Memnon. Die ganze Nacht blickt er zu den Sternen, und wenn der Morgenstern scheint, so stößt er einen Freudenschrei aus, und dann ist er stumm. Und zu Mittag kommen die gelben Löwen ans Wasser. Sie haben Augen wie grüne Berylle, und ihr Brüllen ist lauter als das Brüllen des Katarakts.«

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen«, sagte der Prinz. »Weit, weit am andern Ende der Stadt sehe ich einen jungen Mann in einer Dachstube. Er sitzt an einem Schreibtisch, der über und über mit Papieren bedeckt ist, und in einem Glase neben ihm steckt ein Strauß verwelkter Veilchen. Sein Haar ist braun und lockig, und seine Lippen sind rot wie ein Granatapfel, und er hat große, verträumte Augen. Er versucht an einem Stücke für den Theaterdirektor zu arbeiten, aber er kann vor Kälte nicht schreiben. Im Kamin ist kein Feuer mehr, und der Hunger hat ihn schwach gemacht.«

»Ich will noch eine Nacht bei dir bleiben,« sagte das Schwälbchen, das wirklich ein gutes Herz hatte, »soll ich ihm auch einen Rubin bringen?«

»Ach, ich habe keinen Rubin mehr,« sagte der Prinz, »meine Augen sind alles, was ich noch habe. Sie sind gemacht aus kostbaren Saphiren, die man vor vielen tausend Jahren aus Indien gebracht hat. Picke eines meiner Augen aus und bringe es ihm. Er wird es zu einem Juwelier tragen und sich Nahrung und Holz dafür kaufen und sein Stück vollenden.«

»Teurer Prinz,« sagte das Schwälbchen, »das kann ich nicht tun!« Und es begann zu weinen.

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen,« sagte der Prinz, »tue wie ich dir befehle.«

So pickte das Schwälbchen dem Prinzen das Auge aus und flog damit zur Dachkammer des Studenten. Es war leicht hineinzukommen, denn im Dache war ein Loch. Durch dieses Loch schoß es herein und kam so ins Zimmer. Der junge Mann hatte seinen Kopf in den Händen vergraben, und so hörte er nicht das Flattern der Flügel, und als er aufsah, fand er den schönen Saphir auf den verwelkten Veilchen.

»Man beginnt mich zu schätzen«, rief er aus. »Dieser Stein kommt von irgendeinem meiner Bewunderer. Nun kann ich mein Stück vollenden!« Und er blickte ganz glücklich drein.

Am nächsten Tage flog das Schwälbchen zum Hafen hinunter, setzte sich auf den Mast eines großen Schiffes und sah zu, wie die Matrosen große Kisten an Seilen aus dem Schiffsraum hervorholten. »Ahoi!« schrien sie, so oft eine Kiste hervorkam. »Ich reise nach Ägypten«, rief das Schwälbchen, aber niemand kümmerte sich darum, und als der Mond aufstieg, flog es zurück zu dem glücklichen Prinzen.

»Ich komme, um dir Lebewohl zu sagen«, rief es ihm zu.

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen, willst du nicht noch eine Nacht bei mir bleiben?«

»Es ist Winter,« antwortete das Schwälbchen, »und der frostige Schnee wird bald da sein. In Ägypten ist die Sonne warm und die Palmbäume sind grün, und die Krokodile liegen im Schlamm und blicken faul um sich. Meine Genossen bauen sich ein Nest im Tempel von Baalbek, und rote und weiße Tauben schauen zu und gurren. Mein teurer Prinz, ich muß dich verlassen, aber ich werde dich nie vergessen, und im nächsten Frühjahr bringe ich dir zwei schöne Juwelen mit an Stelle derer, die du weggegeben hast. Der Rubin wird röter sein als eine rote Rose, und der Saphir wird so blau sein wie das weite Meer.«

»Unten auf dem Platze«, sagte der glückliche Prinz, »steht ein kleines Zündholzmädchen. Sie hat ihre Zündhölzchen in die Gosse fallen lassen, nun sind sie alle hin. Ihr Vater wird sie schlagen, wenn sie kein Geld nach Haus bringt, und sie weint. Sie hat nicht Schuhe noch Strümpfe, und ihr kleiner Kopf ist bloß. Picke mein anderes Auge aus und gib es ihr, und ihr Vater wird sie nicht schlagen.«

»Ich will bei dir noch eine Nacht bleiben,« sagte das Schwälbchen, »aber ich kann dein anderes Auge nicht auspicken. Dann wärest du ja ganz blind.«

»Schwälbchen, Schwälbchen, liebes Schwälbchen,« sagte der Prinz, »tue, was ich dir befehle.«

So pickte das Schwälbchen dem Prinzen das andere Auge aus und flog damit nieder. Es schoß an dem Zündholzmädchen vorbei und ließ das Juwel in ihre Hand fallen. »Welch ein entzückendes Stückchen Glas!« rief das kleine Mädchen und lief lachend nach Haus.

Dann kam das Schwälbchen zurück zum Prinzen. »Nun bist du blind,« sagte es, »und ich werde immer bei dir bleiben.«

»Nein, kleines Schwälbchen,« sagte der Prinz, »du mußt fort nach Ägypten.«

»Ich will immer bei dir bleiben«, sagte das Schwälbchen und schlief zu des Prinzen Füßen.

Den ganzen nächsten Tag saß es auf des Prinzen Schulter und erzählte ihm Geschichten von all den fremden Ländern, die es gesehen hatte. Es erzählte ihm von den roten Ibissen, die in langen Reihen an den Ufern des Niles stehen und Goldfische mit ihren Schnäbeln fangen; von der Sphinx, die so alt ist wie die Welt und in der Wüste lebt und alles weiß; von den Kaufleuten, die langsam neben den Kamelen einhergehen und Ambrakügelchen durch die Finger gleiten lassen; vom König der Mondberge, der so schwarz ist wie Ebenholz und einen großen Kristall anbetet; von der großen grünen Schlange, die in einem Palmbaum schläft und zwanzig Priester hat, die sie mit Honigkuchen füttern; und von den Pygmäen, die auf breiten flachen Blättern über einen großen See segeln und immer mit den Schmetterlingen Krieg führen.

»Liebes, kleines Schwälbchen,« sagte der Prinz, »du erzählst mir von wunderbaren Dingen, aber wunderbarer als alles ist das Leid der Männer und Frauen. Das Mysterium des Elends ist das größte von allen. Fliege über meine Stadt, kleines Schwälbchen, und erzähle mir, was du da siehst.«

So flog denn das Schwälbchen über die große Stadt und sah, wie die Reichen glücklich waren in den schönen Häusern, indes die Bettler vor den Toren saßen. Es flog in dunkle Gäßchen und sah die bleichen Gesichter hungernder Kinder, die mit verlorenem Blick die schwarze Straße hinabschauten. Unter dem Brückenbogen lagen zwei kleine Knaben, einer in des andern Arm, und versuchten sich zu wärmen. »Wir haben solchen Hunger«, sagten sie. »Ihr dürft hier nicht liegen!« schrie der Wächter, und sie wanderten in den Regen hinaus.

Da flog das Schwälbchen zurück und erzählte dem Prinzen, was es gesehen hatte.

»Ich bin bedeckt mit feinem Gold,« sagte der Prinz, »das mußt du ablösen, Blättchen für Blättchen. Dann gib es meinen Armen. Die Lebenden glauben immer, daß Gold sie glücklich machen kann.«

Das Schwälbchen pickte Blättchen für Blättchen des feinen Goldes fort, bis der glückliche Prinz ganz stumpf und grau aussah. Und Blättchen für Blättchen des feinen Goldes brachte das Schwälbchen den Armen, und die Gesichter der Kindlein wurden rosig, und sie lachten und spielten in den Straßen und riefen: »Nun haben wir Brot!«

Dann kam der Schnee, und nach dem Schnee kam der Frost. Die Straßen sahen aus, als wären sie von Silber gemacht, sie glänzten und glitzerten; lange Eiszapfen hingen gleich kristallenen Dolchen von den Dachraufen der Häuser, und die kleinen Buben trugen scharlachrote Mäntel und liefen Schlittschuh auf dem Eise. Dem armen kleinen Schwälbchen wurde kälter und kälter, aber es wollte den Prinzen nicht verlassen, es liebte ihn zu sehr. Es pickte Brotkrumen vor des Bäckers Tür auf, wenn der Bäcker just nicht hinsah, und versuchte sich zu erwärmen, indem es mit den Flügeln schlug.

Aber endlich wußte das Schwälbchen, daß es sterben müsse. Es hatte gerade noch so viel Kraft, um noch einmal auf die Schulter des Prinzen zu flattern. »Lebe wohl, teurer Prinz!« murmelte es, »willst du mich deine Hand küssen lassen?«

»Ich bin froh, daß du endlich nach Ägypten gehst, kleines Schwälbchen!« sagte der Prinz. »Du bist zu lange hier geblieben. Aber du mußt mich auf die Lippen küssen, denn ich liebe dich!«

»Ich gehe nicht nach Ägypten«, sagte das Schwälbchen. »Ich gehe zum Hause des Todes. Der Tod ist der Bruder des Schlafes, nicht wahr?« Und das Schwälbchen küßte den glücklichen Prinzen auf die Lippen und fiel tot nieder zu seinen Füßen.

In diesem Augenblicke ertönte ein merkwürdiges Knacken in der Bildsäule, als ob etwas gebrochen sei. Tatsächlich war das bleierne Herz ganz entzwei gesprungen. Der Frost war wirklich furchtbar strenge.

Früh am nächsten Morgen spazierte der Bürgermeister unten auf dem Platz in Gesellschaft der Stadträte. Als sie an der Säule vorüberkamen, sah er an der Statue hinauf.

»O du meine Güte,« sagte er, »wie schäbig der glückliche Prinz ausschaut!«

»Schrecklich schäbig!« riefen die Stadträte, die immer mit dem Bürgermeister einer Meinung waren; und sie gingen hinauf, um die Sache näher in Augenschein zu nehmen.

»Der Rubin ist aus dem Schwertgriff herausgefallen, seine Augen sind fort, und die Vergoldung ist weg«, sagte der Bürgermeister. »Er sieht wirklich aus wie ein Bettler.«

»Ganz wie ein Bettler«, sagten die Stadträte.

»Und da liegt noch ein toter Vogel zu seinen Füßen«, fuhr der Bürgermeister fort. »Wir müssen wirklich einen Erlaß herausgeben, daß Vögel hier nicht sterben dürfen.« Und der Stadtschreiber notierte sich die Anregung.

Und so wurde die Statue des glücklichen Prinzen von ihrer Säule heruntergenommen.

»Da sie nicht mehr schön ist, hat sie weiter keinen Zweck mehr«, sagte der Professor der Kunstgeschichte an der Universität.

Dann wurde die Statue in einem Ofen geschmolzen, und der Bürgermeister rief eine Ratssitzung ein, um zu entscheiden, was mit dem Metall zu geschehen habe. »Wir müssen natürlich eine andere Statue haben,« sagte er, »und das soll mein Bildnis sein.«

»Mein Bildnis!« sagte jeder der Stadträte, und sie gerieten in Streit. Als ich zuletzt von ihnen hörte, stritten sie noch immer.

»Wie merkwürdig«, sagte der Aufseher der Arbeiter beim Schmelzofen. »Dieses gebrochene Herz will im Ofen nicht schmelzen. Wir müssen es wegwerfen.« So warfen sie es auf einen Misthaufen, wo das tote Schwälbchen auch schon lag.

»Bringe mir die beiden kostbarsten Dinge aus der Stadt«, sagte Gott zu einem seiner Engel. Und der Engel brachte ihm das bleierne Herz und den toten Vogel.

»Du hast gut gewählt«, sagte Gott. »Denn im Garten des Paradieses wird dieser kleine Vogel immerdar singen, und in meiner goldenen Stadt wird der glückliche Prinz mich preisen.«


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