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Der Geburtstag der Infantin

Es war der Geburtstag der Infantin. Just zwölf Jahre war sie alt geworden, und die Sonne schien hell auf die Gärten des Palastes nieder. War sie auch eine wirkliche Prinzessin und Infantin von Spanien, so hatte sie alljährlich doch nur einen Geburtstag, ganz wie armer Leute Kinder. Deshalb war es denn auch für das ganze Land ein Ding von allerhöchster Wichtigkeit, daß ihr hierfür ein wirklich schöner Tag beschert werde. Und ein wirklich schöner Tag war es gewiß.

Die langen gestreiften Tulpen streckten sich kerzengerade auf ihren Stielen gleich dichten Reihen von Soldaten und blickten herausfordernd über das Gras hinweg auf die Rosen hin und sprachen: »Jetzt sind wir genau so prächtig wie ihr.« Die purpurfarbenen Schmetterlinge schwirrten umher auf goldgestaubten Flügeln und statteten den Blumen, einer nach der anderen, Besuche ab. Die kleinen Eidechsen krochen aus den Mauerritzen und lagen da, im weißen Sonnenglast sich badend; und die Granatäpfel brachen auf und barsten unter der Glut und wiesen ihre blutendroten Herzen. Selbst die blassen, gelben Zitronen, die in solcher Fülle vom morschen Spalier und längs dunkler Bogengänge hingen, schienen im herrlichen Sonnenscheine farbensatter, und die Magnolienbäume erschlossen ihre großen kugelrunden Blüten aus zartgespaltenem Elfenbein und erfüllten die Luft mit heißen, schweren Düften.

Das Prinzeßchen selbst ging mit seinen Gespielen die Terrasse auf und nieder und spielte Versteck hinter den runden Vasen aus Stein und den alten moosbewachsenen Statuen. An gewöhnlichen Tagen war ihr nur gestattet, mit Kindern ihres eigenen Ranges zu spielen, und sie mußte daher immer allein spielen. Ihr Geburtstag aber war eine Ausnahme, und der König hatte Befehl erteilt, daß sie alle jungen Freunde und Freundinnen, die sie wollte, zu sich bitten dürfe, um mit ihnen fröhlich zu sein. Es lag eine würdevolle Anmut über diesen schlanken spanischen Kindern, wie sie so umherhuschten, die Knaben mit ihren breitbefederten Hüten und kurzen flatternden Mänteln, die Mädchen mit langen Gewändern aus Brokat, deren Schleppe sie rafften, und riesigen Fächern aus Schwarz und Silber, mit denen sie die Augen vor der Sonne schützten. Doch die Anmutreichste von allen war die Infantin und sie war am geschmackvollsten gekleidet nach der etwas beschwerlichen Mode jener Zeit. Ihr Gewand war aus grauem Atlas. Der Rock und die weitgebauschten Ärmel waren mit schwerer Silberstickerei besetzt und das steife Mieder mit Reihen schöner Perlen. Zwei winzige Pantöffelchen mit großen, rosenfarbenen Rosetten guckten unter ihrem Kleide hervor, wenn sie schritt. Rosenfarbig und perlgrau war ihr mächtiger Gazefächer, und im Haare, das wie ein Glorienschein verblichenen Goldes steif rund um ihr blasses Gesichtchen stand, trug sie eine schöne weiße Rose.

Aus einem Fenster des Palastes sah der tieftraurige, melancholische König ihnen zu. Hinter ihm stand sein Bruder, Don Pedro von Aragonien, den er haßte, und sein Beichtvater, der Großinquisitor von Spanien, saß neben ihm. Trauriger noch als gewöhnlich war der König. Denn als er auf die Infantin niedersah, die sich bald mit kindlicher Ernsthaftigkeit vor den versammelten Höflingen verneigte, bald hinter ihrem Fächer über die grimmige Herzogin von Albuquerque lachte, von der sie stets begleitet ward, mußte er der jungen Königin gedenken, ihrer Mutter, die – wie es ihm schien – erst vor kurzer Zeit aus dem heiteren Frankreich gekommen und in der düsteren Pracht des spanischen Hofes hingewelkt war. Just sechs Monate nach der Geburt ihres Kindes war sie gestorben, noch ehe sie die Mandeln zum zweiten Male in den Gärten blühen sah oder des zweiten Jahres Frucht von dem alten, verkrüppelten Feigenbaume gepflückt hatte, der inmitten des jetzt grasüberwachsenen Hofes stand. So groß war seine Liebe zu ihr gewesen, daß er nicht litt, daß selbst das Grab sie ihm verberge. Sie war von einem maurischen Arzte einbalsamiert worden, dem man zum Lohn für diesen Dienst das Leben schenkte, das, wie die Leute sagten, wegen Ketzerei und Verdachtes schwerer Zauberkünste bereits dem Heiligen Amte verfallen gewesen. Und noch ruhte ihr Leichnam auf der stickereibedeckten Bahre, in der schwarzen Marmorkapelle, just so, wie ihn die Mönche hineingetragen hatten, an jenem windigen Märzentag vor schier zwölf Jahren. Einmal des Monats besuchte sie der König, in einen schwarzen Mantel gehüllt, eine verdunkelte Laterne in der Hand, kniete an ihrer Seite nieder und schluchzte: » Mi reina! Mi reina!« Und bisweilen durchbrach er den Zwang der strengen Form, die in Spanien jede einzelne Lebenshandlung beherrscht und selbst dem Grame eines Königs Schranken setzt. Dann umklammerte er in wilder Schmerzensraserei die blassen, juwelenbedeckten Hände und versuchte durch seine irren Küsse das kalte, bemalte Gesicht zum Leben zu erwecken.

Heute war ihm, als sähe er sie wieder, wie er sie zum erstenmal im Schloß zu Fontainebleau gesehen, damals, als er selbst erst fünfzehn Jahre alt und sie noch jünger war. Sie waren bei jener Gelegenheit durch den päpstlichen Nuntius in Gegenwart des französischen Königs und des ganzen Hofstaates feierlich verlobt worden, und er war in den Eskurial zurückgekehrt mit einer kleinen Locke gelben Haares und der Erinnerung an zwei kindliche Lippen, die sich niederbeugten, seine Hand zu küssen, als er in den Wagen stieg.

Späterhin war dann die Hochzeit erfolgt, die man hastig in Burgos, einer kleinen, zwischen den zwei Ländern gelegenen Grenzstadt, vollzogen, und der große, öffentliche feierliche Einzug in Madrid, mit der üblichen Abhaltung der Hofmesse in der Kirche La Atocha, und einem außergewöhnlich prächtigen Autodafé, zu welchem die Geistlichkeit an nahezu dreihundert Ketzer, unter denen sich auch viele Engländer befanden, der weltlichen Gerichtsamkeit zur Verbrennung ausgeliefert hatte.

Wahrlich, er hatte sie wild geliebt und, wie viele dachten, zum Verderben seines Landes, das damals mit England um den Besitz der Herrschaft über die neue Welt im Kriege lag. Kaum je hatte er ihr gestattet, sich aus seinen Augen zu entfernen. Ob ihres Liebreizes hatte er aller ernsten Staatsgeschäfte vergessen, scheinbar vergessen wenigstens. Und mit jener furchtbaren Blindheit, mit welcher Leidenschaft ihre Knechte schlägt, war es ihm entgangen, daß die auserlesenen Zeremonien, durch die er sie erheitern wollte, nur das seltsame Leid, an dem sie krankte, vertieften. Als sie starb, glich er eine Zeitlang einem, der der Vernunft beraubt ist. Auch unterliegt es keinem Zweifel, daß er öffentlich abgedankt und sich in das große Trappistenkloster Granadas, dessen Prior er dem Namen nach bereits war, zurückgezogen hätte, hätte er nicht gefürchtet, die kleine Infantin der Willkür seines Bruders zu überlassen, dessen Grausamkeit sogar in Spanien berüchtigt war, und den viele verdächtigten, den Tod der Königin mittels eines Paares vergifteter Handschuhe bewirkt zu haben, das er ihr überreichte, als sie zu Gast auf seinem Schloß in Aragonien weilte. Selbst nach Ablauf der drei Jahre öffentlicher Trauer, die er laut königlichen Erlasses dem ganzen Lande vorgeschrieben hatte, duldete er nie, daß seine Minister ihm von einem neuen Bunde sprachen. Und als der Kaiser selbst zu ihm sandte und ihm die Hand der lieblichen Herzogin von Böhmen, seiner Nichte, zum Ehebündnis anbot, hieß er die Gesandten ihrem Herrn melden, der König von Spanien sei bereits dem Leide angetraut. Und sei dieses auch nur eine unfruchtbare Braut, so liebe er es doch mehr als alle Schönheit. – Eine Antwort, die seiner Krone die reichen Provinzen der Niederlande kostete, die kurz darauf auf Anstiften des Kaisers sich unter der Führerschaft einiger Fanatiker der reformierten Kirche wider ihn empörten.

Sein ganzes Eheleben, mit all seiner wilden feuerfarbenen Wonne und der furchtbaren Qual seines jähen Endes, schien ihm an diesem Tage wiedergekehrt, da er dem Spiele der Infantin auf der Terrasse zusah. Ihr Wesen trug ganz den reizvollen Übermut zur Schau, der auch der Königin zu eigen gewesen. Das war die gleiche eigenwillige Art, den Kopf zu werfen, der gleiche stolz geschwungene wunderbare Mund, das gleiche hinreißende Lächeln – wahrlich ein vrai sourire de France –, wie sie so hin und wieder auf zum Fenster blickte oder ihre kleine Hand den stattlichen spanischen Granden zum Kusse hinhielt. Aber das gellende Lachen der Kinder tat seinen Ohren weh. Und das helle, schonungslose Sonnenlicht spottete seines Grames. Und ein dumpfer Geruch seltsamer Gewürze, wie man sie zum Einbalsamieren benutzt, schien ihm – oder war es nur Wahn? – die reine Morgenluft zu trüben. Er barg das Antlitz in den Händen, und als die Infantin wieder nach oben sah, waren die Fenster verhängt und der König hatte sich zurückgezogen.

Sie verzog enttäuscht das Mündchen und zuckte die Achseln. Er hätte an ihrem Geburtstage doch wahrlich bleiben können. Was lag auch an den dummen Staatsgeschäften? Oder war er am Ende in die düstere Kapelle gegangen, worin Tag und Nacht die Kerzen brannten, und die sie selber nie betreten durfte? Wie töricht von ihm! Wo doch die Sonne so strahlend schien und jedermann so glücklich war! Überdies würde er nun das Schein-Stiergefecht versäumen, zu dem schon die Trompete lud; von dem Puppenspiele und den anderen Herrlichkeiten gar nicht zu reden. Ihr Onkel und der Großinquisitor waren viel vernünftiger. Die waren auf die Terrasse herausgekommen und hatten ihr niedliche Schmeicheleien gesagt. Sie warf das holde Köpfchen in den Nacken, ergriff Don Pedro bei der Hand und schritt bedächtig die Stufen nieder, einem langgezogenen Pavillon aus Purpurseide zu, den man am Ende des Gartens errichtet hatte. Die andern Kinder folgten in strenger Rangordnung. Die die längsten Namen hatten, hatten auch den Vorrang.

*

Eine Reihe edler Knaben, phantastisch zu Toreadoren herausgeputzt, kam ihr entgegen, sie zu begrüßen. Und der junge Graf von Tierra-Nueva, ein wunderschöner Knabe von ungefähr vierzehn Jahren, der das Haupt mit der vollen Anmut eines geborenen Hidalgos und Granden Spaniens entblößte, führte sie feierlich hinan zu einem kleinen vergoldeten Stuhle aus Elfenbein, der auf einem erhöhten Platze über der Arena stand. Die Kinder scharten sich im Kreise. Die großen Fächer in ihren kleinen Händen flatterten auf und nieder. Sie flüsterten. Don Pedro aber und der Großinquisitor standen lachend am Eingange. Selbst die Herzogin – die Camereramajor nannte man sie –, eine dünne Dame mit harten Zügen und einer gelben Halskrause, sah nicht so übellaunig wie gewöhnlich aus, und etwas gleich einem frostigen Lächeln huschte über ihr runzeliges Gesicht und zuckte um ihre dünnen, blutleeren Lippen.

Es war auch wahrhaftig ein ganz wunderbares Stiergefecht, viel schöner, fand die Infantin, als das ernsthafte Stiergefecht, zu dem man sie einmal in Sevilla gelegentlich eines Besuches geführt, den der Herzog von Parma ihrem Vater abgestattet hatte. Einige der Knaben sprengten auf reich behängten Steckenpferden umher und schleuderten lange Wurfspieße, daran lustige Streifen heller Bänder flatterten. Andere waren zu Fuße und schwangen ihre scharlachenen Mäntel ihrem Stier entgegen und setzten behende über die Schranken, wenn er auf sie losging. Auch der Stier gebärdete sich ganz wie ein ernsthafter Stier, obgleich er nur aus Weidengeflecht und gespannter Haut bestand, und bisweilen hartnäckig auf seinen Hinterbeinen die Runde um die Arena machte, was sich ein lebender Stier auch nicht im Traum einfallen läßt. Er lieferte ein prächtiges Gefecht und die Kinder wurden so aufgeregt, daß sie auf die Bänke sprangen, mit Spitzentaschentüchern winkten und »Bravo, Toro! Bravo, Toro!« just so verständnisvoll riefen, als wären sie erwachsene Leute. Schließlich aber, nach einem langen Kampfe, währenddessen einige der Steckenpferde durch und durch durchbohrt und ihre Reiter abgeschleudert wurden, zwang der junge Graf von Tierra Nueva den Stier nieder auf die Knie und tauchte – nachdem er von der Infantin Erlaubnis erhalten hatte, ihm den coup de grâce zu geben – sein Holzschwert so heftig in den Hals des Tieres, daß er den Kopf vom Rumpfe trennte und das lachende Gesichtchen des kleinen Monsieur de Lorraine sichtbar wurde, dessen Vater Frankreichs Gesandter in Madrid war.

Dann wurde die Arena unter großem Beifallslärmen geräumt, und die toten Steckenpferde von zwei maurischen Pagen in gelben und schwarzen Livreen weggeschleppt. Und nach einer kurzen Pause, über deren Dauer ein französischer Seiltänzer auf dem straffen Seil weghalf, traten italienische Drahtpuppen auf in der halbklassischen Tragödie »Sophonisbe«, auf der Bühne eines kleinen Theaters, das man zu diesem Zwecke aufgeschlagen hatte. Sie spielten so gut und ihre Gebärden waren so überaus natürlich, daß am Schluß der Vorstellung die Augen der Infantin feucht von Tränen waren. Einige der Kinder weinten heftig und mußten mit Süßigkeiten getröstet werden. Ja, der Großinquisitor selbst fühlte sich so ergriffen, daß er Don Pedro gegenüber die Bemerkung nicht unterdrücken konnte, es erschiene ihm höchst unstatthaft, daß solche Geschöpfchen aus Holz und farbigem Wachse, die man doch rein mechanisch an Drähten zog, so unglücklich sein und von so fürchterlichem Mißgeschick betroffen werden dürften.

Ein afrikanischer Gaukler folgte. Er trug einen großen, flachen Korb herein, der mit einem roten Tuche überdeckt war, stellte ihn inmitten der Arena nieder und zog aus seinem Turban eine seltsame Flöte aus Rohr, auf der er blies.

Da begann sich das Tuch nach wenigen Augenblicken zu regen. Und als die Flöte schriller und schriller rief, streckten zwei grüngüldenschimmernde Schlangen die wunderlichen flachgedrückten Köpfe hervor, richteten sich langsam auf und wiegten sich hin und wieder nach den Klängen der Musik, wie sich Pflanzen auf den Wassern wiegen. Den Kindern aber machten die fleckigen Hauben und schnellzüngelnden Zungen Angst. Und sie waren es gar wohl zufrieden, als der Gaukler jene entfernte und dann einen winzigen Orangenbaum aus dem Sande hervorwachsen ließ, der hübsche weiße Blüten trug und daneben Büschel wirklicher Früchte. Und als er den Fächer der kleinen Tochter des Marquis de La Torres nahm und ihn in ein Blau-Vögelchen verwandelte, das den Pavillon zwitschernd umkreiste, kannten ihre Wonne und ihr Erstaunen keine Grenzen mehr.

Auch das feierliche Menuett, das Tänzerknaben der Kirche von Nuestra-Senora-del-Pilar tanzten, war entzückend. Die Infantin hatte nie vorher diese wunderbare Zeremonie gesehen, die alljährlich einmal zur Maienzeit vor dem Hochaltar der Jungfrau und ihr zu Ehren stattfindet. Hatte doch überhaupt kein Mitglied der königlichen Familie Spaniens je die große Kathedrale zu Saragossa betreten, seit dereinst ein wahnsinniger Priester, von dem viele sagten, er habe im Solde Elisabeths von England gestanden, versucht hatte, dem Prinzen von Asturien eine vergiftete Hostie zu reichen. Nur vom Hörensagen kannte sie den Tanz Unserer Lieben Frauen, wie man ihn nannte. Und es war wirklich ein herrliches Schauspiel. Die Knaben trugen altmodische Hofgewänder aus weißem Sammet und ihre merkwürdigen dreispitzigen Hüte waren silbergefranst und von riesigen Straußenfederwedeln überschattet. Wie sie sich so im Sonnenlichte hin und her bewegten, trat die blendende Weiße ihrer Gewandung durch den Gegensatz zu ihren schwarzbraunen Gesichtern und ihren langen schwarzen Haaren nur noch mehr hervor. Da war auch nicht einer, den nicht der würdevolle Ernst, mit dem sie durch die verschlungenen Figuren des Tanzes glitten, und die auserlesene Anmut ihrer langsamen Gebärden und stolzen Verbeugungen bezaubert hätte. Und als sie die Vorstellung beendet und ihre großen Federhüte tief vor der Infantin gesenkt hatten, nahm diese ihre Huldigung mit viel Höflichkeit entgegen und tat ein Gelübde, daß sie unserer Lieben-Frau-vom-Pfeiler zum Dank für das Vergnügen, das sie ihr gewährt, eine mächtige Wachskerze stiften wolle.

Eine Schar hübscher Ägypter, wie man in jenen Zeiten die Zigeuner nannte, betrat nach jenen die Arena. Sie ließen sich mit gekreuzten Beinen in der Runde nieder und begannen gedämpft die Zither zu schlagen. Ihre Körper folgten wiegend den Melodien, und sie sangen schier unhörbar ein leises, träumerisches Lied. Als sie Don Pedros gewahr wurden, furchten sie finster die Stirne und auf den Gesichtern etlicher malten sich Abscheu und Entsetzen: hatte er doch vor wenigen Wochen erst zwei ihres Stammes wegen Hexerei auf dem Marktplatz von Sevilla hängen lassen! Die süße Infantin aber entzückte sie, wie sie sich so rückwärts lehnte und mit ihren großen blauen Augen über den Fächer hinweg sah; und es war ihnen, als könne eine, die so lieblich sei, niemals gegen eine Menschenseele grausam sein. So spielten sie ganz leise immer zu, die Saiten ihrer Zithern mit den langen spitzen Nägeln kaum berührend, und ihre Köpfe nickten langsam, als wollten sie in Schlaf versinken. Da plötzlich aber sprangen sie mit einem Schrei – der so wild klang, daß alle Kinder erschraken, und Don Pedros Hand nach dem Achatknopf seines Dolches fuhr – auf die Füße, wirbelten in tollem Kreistanz rund um die Arena, schlugen das Tamburin und sangen in ihrer seltsamen, gutturalen Sprache irgendein wildes Liebeslied. Auf ein zweites Zeichen warfen sie sich dann wiederum zu Boden und lagen reglos stille da, während nichts das Schweigen brach als der dumpfe Zitherlaut. Nachdem sie dies mehrmals wiederholt hatten, verschwanden sie für einen Augenblick und kehrten mit einem braunen, zottigen Bären an einer Kette zurück und trugen auf ihren Schultern ein paar kleine Berberaffen. Der Bär stand mit tiefem Ernste auf dem Kopfe, und die Äffchen mit den runzligen Gesichtern führten allerlei lustige Streiche mit zwei Zigeunerkindern auf, die ihre Herren zu sein schienen. Sie fochten mit winzigen Schwertern, feuerten Gewehre ab und machten dann eine regelrechte Soldatenübung durch, just wie des Königs höchsteigene Leibgarde. Die Zigeuner waren wirklich ein großer Erfolg!

Aber den lustigsten Teil der ganzen Morgenunterhaltung bildete zweifellos der Tanz des kleinen Zwerges; wie er so, auf krummen Beinchen wackelnd, in die Arena stolperte und seinen schweren ungestalten Kopf von einer Seite zur andern warf, brachen die Kinder in einen lauten Schrei des Entzückens aus, und die Infantin selber lachte so laut, daß die Camerera sich verpflichtet fühlte, sie daran zu mahnen, daß es in Spanien wohl schon manche Fälle gegeben habe, wo eines Königs Tochter vor ihresgleichen in Tränen ausgebrochen sei, aber nie noch einen, daß eine Prinzessin von königlichem Geblüte so tolle Lustbarkeit bezeigt habe vor solchen, die niedriger geboren seien als sie. Der Zwerg selbst aber war einfach ganz unwiderstehlich. Und selbst am spanischen Hofe – der stets wegen seiner ausgebildeten Leidenschaft für das Grauenvolle bekannt war – hatte man nie ein so phantastisch-scheußliches kleines Ungeheuer gesehen. Zudem war es sein Debut. Er war am vorhergehenden Tage erst entdeckt worden. Zwei Granden, die in einem entlegenen Teile des dichten Korkeichenwaldes jagten, der die Stadt umgab, hatten ihn durch Zufall aufgestöbert, als er wild im Walde umhertollte. Und diese hatten ihn als Überraschung für die Infantin in den Palast gebracht. War doch sein Vater, ein armer Kohlenbrenner, herzlich froh, eines so häßlichen und nutzlosen Kindes ledig zu werden! Das Belustigendste an ihm war wohl die völlige Ahnungslosigkeit, die er seiner eigenen Lächerlichkeit gegenüber an den Tag legte! Ja, noch mehr, er schien ganz glücklich und voll der besten Laune zu sein. Wenn die Kinder lachten, lachte er mit, frei und fröhlich wie irgendeins von ihnen und nach jedem Tanze machte er vor jedem eine höchst possierliche Verbeugung, lächelte und nickte ihnen zu, ganz als wäre er ihresgleichen und nicht ein kleines mißgestaltetes Geschöpf, das die Natur in einer tollen Laune zum Gespött der anderen geformt hatte. Vollends bezauberte die Infantin ihn. Er konnte die Augen nicht von ihr wenden und schien nur für sie zu tanzen. Und als sie zum Schluß der Vorstellung die schöne weiße Rose aus ihrem Haare löste – sich erinnernd, daß sie gesehen hatte, daß die großen Damen des Hofes es also mit dem berühmten italienischen Tenore Caffarelli machten, den der Papst aus seiner eigenen Kapelle nach Madrid gesandt, daß er die Schwermut des Königs durch die Süße seiner Stimme heile – und ihm dieselbe über die Arena hin mit ihrem lieblichsten Lächeln zuwarf, teils zum Scherze und teils um die Camerera zu ärgern, faßte er die ganze Sache sehr ernsthaft auf, drückte die Blume an seine braunroten, schwulstigen Lippen, legte die Hände aufs Herz und beugte das Knie vor ihr, wobei er von einem Ohr zum andern grinste und ihr freudefunkelnde Blicke aus den kleinen Äuglein zuwarf.

Dies erschütterte die Ernsthaftigkeit der Infantin so sehr, daß sie hellauf lachte und immer noch lachte, als der kleine Zwerg schon längst aus der Arena hinausgelaufen war. Auch drückte sie ihrem Onkel den Wunsch aus, man möge den Tanz doch auf der Stelle wiederholen lassen. Die Camerera jedoch entschied, unter dem Vorwande, die Sonne sei zu heiß, daß es für Ihre Hoheit besser sei, unverzüglich in den Palast zurückzukehren, wo man bereits ein wundervolles Fest für sie bereitet habe, bei dem auch ein wirklicher Geburtstagskuchen nicht fehle, der mit ihren Initialen und farbigem Zucker überzogen sei und über dem eine hübsche kleine Silberflagge wehe. Dementsprechend erhob sich die Infantin mit großer Würde und ging in ihre Gemächer zurück, nachdem sie den Befehl erteilt, daß nach der Siestastunde der kleine Zwerg von neuem vor ihr tanzen sollte und dem jungen Grafen von Tierra-Nueva ihren Dank für den reizenden Empfang übermittelt hatte. Die Kinder folgten ihr, in derselben Reihenfolge, in der sie gekommen waren.

Als nun der kleine Zwerg hörte, daß er ein zweites Mal vor der Infantin, noch dazu auf ihren eigenen ausdrücklichen Befehl, tanzen solle, war er so über alle Maßen stolz, daß er in den Garten hinauslief, die weiße Rose in überströmender Freude wieder und wieder küßte und die ungeschlachtesten und linkischsten Gebärden des Entzückens machte.

Die Blumen waren höchst entrüstet, daß er wagte, sich in ihr schönes Heim zu drängen. Und wie sie ihn so auf den Wegen hin und her springen und in so lächerlicher Weise die Arme über dem Kopfe schwingen sahen, vermochten sie nicht länger, ihren Gefühlen Zwang anzutun.

»Er ist meiner Treu doch allzu häßlich, als daß er da spielen dürfte, wo wir sind!« riefen die Tulpen.

»Er sollte Mohnsaft trinken und sich zu tausendjährigem Schlafe legen«, sprachen die großen Scharlachlilien und ereiferten und erhitzten sich nicht wenig darob.

»Er ist einfach ein Scheusal!« schrie der Kaktus. »Sehet nur, wie verkümmert und verstümmelt er ist! In welchem Mißverhältnisse sein Kopf zu seinen Füßen steht! Weiß Gott, mir wird ganz stachelig zumute. Kommt er mir nahe, will ich ihn tüchtig mit meinen Dornen stechen.«

»Und dabei hat er sich wahrhaftig eine meiner schönsten Blüten angeeignet!« rief der weiße Rosenbusch. »Ich habe sie selber der Infantin als Geburtstagsgeschenk gegeben. Er hat sie ihr gestohlen.« Und sie schrie, so laut sie nur konnte: »Dieb! Dieb! Dieb!«

Selbst die roten Geranien, die für gewöhnlich gar nicht stolz taten und von denen man wußte, daß sie eine Menge armer Verwandter hatten, zogen sich voll Abscheu zurück, als sie ihn erblickten. Und als die Veilchen in aller Bescheidenheit bemerkten, daß er wohl furchtbar häßlich, daran aber doch unschuldig sei, betonten sie mit viel Vernunft, daß ja eben gerade dies sein Hauptfehler sei und daß kein Grund vorliege, jemanden zu bewundern, bloß weil er unverbesserlich sei. Und wirklich kam es selbst einigen der Veilchen zum Bewußtsein, daß die Häßlichkeit des kleinen Zwerges recht aufdringlich war und daß es weit besseren Geschmack gezeigt hätte, wenn er Trauer oder mindestens Nachdenklichkeit zur Schau getragen hätte, anstatt so lustig herumzuhüpfen und sich in solche absonderlichen und albernen Stellungen zu gefallen.

Die alte Sonnenuhr jedoch, die eine sehr hervorragende Persönlichkeit war und einst die Stunde des Tages keinem geringeren als Kaiser Karl V. höchstselbst angezeigt hatte, war über das Aussehen des kleinen Zwerges so entsetzt, daß sie beinahe vergessen hätte, zwei volle Minuten mit ihren langen Schattenfingern anzuzeigen und sich dem großen, milchweißen Pfauen gegenüber, der sich auf der Balustrade sonnte, nicht der Bemerkung enthalten konnte, es wisse doch jeder, daß die Kinder eines Königs Könige wären und daß die Kinder eines Kohlenbrenners eben Kohlenbrenner seien. Und es sei töricht, zu behaupten, dem sei nicht so. Eine Feststellung, welcher der Pfau seine volle Zustimmung gab und der gegenüber er sein »Gewiß! Gewiß!« so laut und schrill hervorstieß, daß die Goldfische, die im Becken der kühlplätschernden Fontäne wohnten, die Köpfe aus dem Wasser reckten und die großen, steinernen Tritonen fragten, was in aller Welt es denn da gäbe.

Doch die Vögel liebten ihn nun einmal. Sie hatten ihn oft im Wald gesehen, wie er wie ein Elf dem wirbelnden Blattwerk nachhuschte, oder auch sich in die Höhlung eines alten Eichenbaumes verkroch und seine Nüsse mit den Eichhörnchen teilte.

Sie nahmen ihm seine Häßlichkeit nicht im geringsten übel. War doch selbst die Nachtigall, die in den Orangenhainen so süß flötete, daß sich der Mond bisweilen niederbeugte, um zu lauschen, schließlich nur ein unansehnliches Persönchen! Auch war er stets gütig gegen sie gewesen; und während jenes fürchterlich grimmen Winters, als es gar keine Beeren mehr auf den Bäumen gab und der Boden stahlhart war und die Wölfe bis vor die Stadtmauern kamen, um Nahrung zu suchen, hatte er ihrer nicht ein einziges Mal vergessen, sondern ihnen stets die Krumen seiner kleinen schwarzen Brotrinde gegeben und immer mit ihnen geteilt, wie ärmlich auch sein Frühstück war.

Drum flogen sie in der Runde um ihn her, streiften im Flug ganz leise seine Wangen mit den Flügeln und schwätzten miteinander. Und der kleine Zwerg war so froh, daß er sich nicht enthalten konnte, ihnen die schöne weiße Rose zu zeigen und ihnen zu erzählen, daß ihm die Infantin selber sie geschenkt, weil sie ihn liebe!

Sie verstanden kein Sterbenswort von dem, was er sagte. Aber das tat nichts, denn sie legten die Köpfchen schief und setzten verständnisvolle Mienen auf, was ganz denselben Zweck erfüllt wie wirkliches Verstehen und viel leichter ist.

Auch die Eidechsen faßten eine große Vorliebe für ihn. Und als er des Laufens müde war und sich ins Gras warf, um zu ruhen, spielten und krochen sie alle auf ihm herum und versuchten, ihn nach bestem Wissen zu unterhalten. »Es kann nicht jeder so schön wie eine Eidechse sein!« riefen sie. »Das wäre zu viel verlangt. Und, mag es auch töricht klingen, so über die Maßen häßlich ist er gar nicht. Natürlich muß man die Augen schließen und darf ihn nicht anschauen.« Die Eidechsen waren geborene Philosophen und hockten oft stundenlang beisammen über einem Gedanken, wenn sonst nichts zu tun war, oder wenn ihnen das Wetter zu regnerisch schien, um auszugehen.

Die Blumen jedoch waren sehr verstimmt über ihr Benehmen und das Benehmen der Vögel.

»Dies zeigt nun wieder,« sagten sie, »welche verpöbelnde Wirkung dieses unaufhörliche Umherfliegen und Herumlaufen hat. Wohlerzogene Leute halten sich stets still an ihrem Platz, wie wir. Uns hat noch niemand die Wege auf- und niederhüpfen oder wie toll im Grase hinter den Wasserjungfrauen herjagen gesehen. Tut uns Luftveränderung not, so senden wir nach dem Gärtner, und er trägt uns auf ein anderes Beet. So ist es geziemend, und so sollte es sein. Aber Vögel und Eidechsen haben für Ruhe kein Verständnis. Die Vögel haben ja nicht einmal eine ständige Adresse. Sie sind die reinsten Vagabunden, wie Zigeuner, und man sollte sie danach behandeln.«

So streckten sie die Nase in die Luft und blickten sehr hochmütig drein und waren sehr erfreut, als sie nach einiger Zeit sahen, wie sich der kleine Zwerg vom Gras aufraffte und über die Terrasse weg dem Palast zuschritt.

»Man sollte ihn wahrhaftig hinter Schloß und Riegel halten, solange er lebt«, sprachen sie. »Schaut doch nur diesen Höcker und die krummen Beinchen an!« Und sie kicherten alle zusammen.

Der kleine Zwerg aber wußte von alldem nichts. Er hatte die Vögel und Eidechsen unendlich gern und fand, daß die Blumen die herrlichsten Geschöpfe der Welt seien. Natürlich die Infantin ausgenommen. Doch die hatte ihm ja die schöne weiße Rose geschenkt. Die liebte ihn! Und das machte einen großen Unterschied. Wie er doch wünschte, er wäre ihr gefolgt! Sie hätte ihn zu ihrer Rechten gesetzt und ihn angelächelt, und er wäre nie von ihrer Seite gewichen, sondern ihr Genosse geworden und hätte sie allerlei holde Spiele gelehrt. Denn wenn er auch noch nie zuvor in einem Palaste gewesen, so wußte er doch eine Menge gar wunderbarer Dinge. Er konnte aus Binsen kleine Käfige bauen, in denen die Grashüpfer singen, aus langstieligem Rohr die Flöte schneiden, die Pan zu hören liebt. Er kannte jedes Vogels Schrei und konnte den Star vom Baumwipfel locken oder den Reiher aus dem Sumpf. Er verstand die Spur jedes Tieres und ersah aus den leichten Fußstapfen den Lauf des Hasen und aus den zertretenen Blättern den Weg des Ebers. Alle Tänze des Windes kannte er – den tollen Tanz im roten Gewande mit dem Herbste, den leichten Tanz in blauen Sandalen hin über das Korn, den Tanz mit weißen Schneekränzen im Winter und den Blütentanz durch die Gärten im Lenze. Er wußte, wo die Waldhauben ihr Nest bauen; und einst, als ein Vogelsteller die älteren Vögel weggefangen, hatte er die Jungen selbst aufgezogen und ihnen in der Höhlung einer zerspaltenen Ulme einen kleinen Schlag gebaut. Sie waren ganz zahm und gewohnt, ihm jeden Morgen aus der Hand zu fressen. Die würden ihr gefallen und auch die Kaninchen, die in dem hohen Farnkraut umherliefen, und die Holzhäher mit ihren stahlfarbenen Federn und schwarzen Schnäbeln, und die Igel, die sich in Stachelballen aufrollen konnten, und die großen klugen Schildkröten, die langsam herumkrochen, die Köpfe schüttelten und an den jungen Blättern nagten. Ja, gewiß, in den Wald mußte sie kommen und dort mit ihm spielen. Dort wollte er ihr sein eigen Bettlein geben und bis zum Morgengrauen Wache vor dem Fenster halten, daß das wilde Hornvieh ihr nicht Schaden tat und auch die hageren Wölfe der Hütte nicht zu nahe kamen.

Beim Morgengrauen aber würde er dann an die Läden klopfen und sie wecken, und sie würden hinausziehen und miteinander tanzen, solange der Tag schien. Es war im Walde wirklich gar nicht einsam. Bisweilen ritt ein Bischof durch auf seinem weißen Maultier und las in einem schöngemalten Buche. Bisweilen zogen auch in ihren grünen Samtmützen und ihren Wamsen aus gegerbtem Hirschleder die Falkeniere vorbei, mit gekappten Falken auf der Faust. Zur Winzerzeit kamen die Traubentreter mit purpurroten Händen und Füßen und trugen Kränze von glattem Efeu und tropfende Schläuche voll Wein. Und die Köhler saßen nachts rings um ihre riesigen Feuerpfannen und sahen die trockenen Klötze langsam im Feuer zu Asche verkohlen, in der sie Kastanien brieten. Und die Räuber kamen aus ihren Höhlen und trieben Kurzweil mit ihnen. Einmal hatte er auch eine schöne Prozession gesehen, die sich den langen staubigen Weg gen Toledo aufwärts wand. Die Mönche schritten unter lieblichem Gesange voran und trugen helle Fahnen und Kreuze aus Gold. Ihnen folgten in silberner Rüstung mit Luntenschloß und Pike Krieger. Und in deren Mitte schritten drei barfüßige Männer in wunderlichen, gelben Gewändern, die allüber mit seltsamen Zeichen bemalt waren, und sie trugen brennende Kerzen in den Händen. Gewiß, es gab gar viel zu schauen hier im Walde. Und war sie müde, so wollte er schon eine weiche Moosbank für sie finden oder sie auf seinen Armen dahin tragen. Denn er war sehr stark, wenngleich er wußte, daß er nicht groß war. Er würde ihr ein Halsgeschmeide von roten Zaunbeeren machen, das gerade so hübsch sein würde, wie die weißen Beeren, mit denen ihr Kleid bestickt war, und wenn sie deren müde war, brauchte sie sie nur wegzuwerfen je nach Lust, er würde ihr schon andere suchen. Eichelschalen würde er bringen und taubetropfte Anemonen und winzige Glühwürmchen als Sterne in das bleiche Gold ihres Haares.

*

Wo aber war sie? Er fragte die weiße Rose, und sie gab ihm nicht Bescheid. Der ganze Palast schien schlafumfangen. Selbst da, wo die Läden nicht geschlossen waren, hatte man die Fenster mit schweren Vorhängen verhängt, um dem Sonnenglast den Eingang zu wehren. Er wanderte auf und nieder, nach einer Stelle spähend, wo er sich Einlaß erzwingen könnte, und erblickte endlich eine kleine, verborgene Türe, die offen stand. Er schlüpfte durch und fand sich in einer farbenprächtigen Halle, viel farbenprächtiger, fürchtete er, als selbst der Wald. – Sah er doch Gold, wohin er blickte! Auch der Boden war aus großen bunten Steinen gebildet, die sich zu regelmäßigem Linienspiele fügten. Aber die kleine Infantin sah er nicht, nur ein paar wunderschöne, weiße Statuen, die von ihren Jaspispiedestalen auf ihn niedersahen, mit traurigen leeren Augen und seltsam lächelnden Blicken.

Am Ausgange des Saales hing ein reichgestickter Vorhang aus schwarzem Samt, der mit Sonnen und Sternen, den Lieblingsblumen des Königs, übersät und auf der Farbe gestickt war, die er vor allem liebte. Vielleicht verbarg sie sich dahinter. Er wollte es jedenfalls versuchen.

So stahl er sich leise hin und zog ihn beiseite. Nein, es war nur ein anderes Zimmer; ein hübscheres freilich, dachte er, als das, was er eben verlassen. Die Wände waren mit handgefertigter Arrasstickerei behängt, die in vielen Gestalten eine Jagd darstellte und das Werk eines spanischen Künstlers war, der mehr als sieben Jahre daran geschaffen hatte. Sie hing einst im Gemache von Jean Le Fou, wie man ihn nannte, jenes wahnsinnigen Königs, der die Jagd so leidenschaftlich liebte, daß er oft in seinem Wahn versucht hatte, die sich bäumenden Riesenpferde an der Wand zu besteigen und den Hirsch niederzuzwingen, auf den die großen Jagdhunde sprangen; der ins Jagdhorn stieß und mit seinem Dolche nach der bleichen fliehenden Hindin stach. Jetzt wurde es als Ratssaal benutzt, und auf dem Tische, der in der Mitte stand, lagen die roten Mappen der Minister, die mit den goldenen Tulpen Spaniens gestempelt waren und mit den Wappen und Emblemen des Hauses Habsburg.

Der kleine Zwerg blickte verwundert um sich und wagte kaum, weiterzugehen. Die seltsam schweigsamen Reiter, die so behende und lautlos durch das Dickicht jagten, schienen ihm gleich jenen furchtbaren Phantomen, von denen er die Köhler hatte reden hören, den Komprachos, die nur des Nachts jagen und menschliche Wesen, die sie treffen, in Hindinnen verwandeln und verfolgen. Dann aber dachte er an die hübsche Infantin und faßte Mut. Er wollte sie allein antreffen und ihr sagen, daß auch er sie liebe. Vielleicht war sie im Gemache nebenan. Er lief über die weichen, maurischen Teppiche und öffnete die Türe. Doch auch hier war sie nicht. Das Gemach war ganz leer.

Es war ein Throngemach, das zum Empfang fremder Gesandter diente, wenn der König, was in letzter Zeit allerdings nur selten geschah, sie selbst zu empfangen geruhte. Dasselbe Gemach, in welchem vor vielen Jahren Botschafter Englands erschienen waren, um ein Ehebündnis zwischen ihrer Königin, damals einer der katholischen Herrscherinnen Europas, mit dem ältesten Sohne des Kaisers einzuleiten. Die Tapeten waren aus vergoldetem Kordovaleder, und ein schwervergoldeter Kronleuchter mit Armen, die dreihundert Wachslichter zu tragen vermochten, hing von der schwarz und weißen Decke herab. Unter einem großen Thronhimmel aus Goldstoff, auf dem die Löwen und Türme Kastiliens, Perle an Perle, eingestickt waren, stand der Thron selbst, mit einem reichen Tuch aus schwarzem Samt verhangen, das mit Silbertulpen besetzt und mit Silber und Perlen gar reich umsäumet war. Auf der zweiten Stufe des Thrones stand der Knieschemel der Infantin mit seinen Kissen aus silbergewebtem Tuch. Und tiefer noch und außerhalb des Bereichs des Thronhimmels, stand der Stuhl des päpstlichen Nuntius, der allein das Recht besaß, in des Königs Gegenwart zu sitzen, wenn eine der öffentlichen Feierlichkeiten vor sich ging, und dessen Kardinalshut mit seinen verschlungenen scharlachroten Troddeln auf einem purpurroten Taburette davor lag. An der Wand, dem Throne gegenüber, hing ein lebensgroßes Bildnis Karls V. im Jagdgewande mit einer großen Dogge ihm zur Seite; und ein Bild Philipps II., wie er die Huldigung der Niederlande entgegennimmt, deckte die Mitte der anderen Wand. Zwischen den Fenstern stand ein Schrank aus schwarzem Ebenholze, mit Elfenbeinplatten eingelegt, worein die Gestalten aus Holbeins Totentanz geschnitten waren – von jenem großen Künstler selbst – wie viele wissen wollten.

Dem kleinen Zwerge aber galt all diese Pracht nichts. Für alle Perlen auf dem Baldachine hätte er seine weiße Rose nicht hingegeben. Nicht ein weißes Blütenblatt seiner Rose, nicht um den Thron selbst damit zu erkaufen. Sein Sinnen galt nur einem, die Infantin zu sehen, ehe sie in das Zelt hinabging, und sie zu bitten, mit ihm fortzugehen, sobald er seinen Tanz beendet hätte. Hier im Palaste war die Luft dumpf und stickig, doch im Walde blies der Wind frei und schob der Sonnenschein mit ewig regen Händen von Gold die zitternden Blätter beiseite. Auch Blumen gab es ja im Walde, Blumen, die vielleicht weniger prunkvoll als die im Garten waren, die dafür aber um so lieblicher dufteten. Im Frühling Hyazinthen, die mit wogendem Purpur die kühlen Täler und grasreichen Hügel überdeckten; gelbe Primeln, die in kleinen Büscheln rund um die knorrigen Wurzeln der Eichen nisteten, helles Schellkraut und blauen Ehrenpreis und gold- und fliederfarbene Schwertlilien. Graue Kätzchen hingen an den Haselstauden und der Fingerhut trug schwer an dem Gewichte seiner gesprenkelten, bienenbelebten Kämmerchen. Die Kastanie wiegte Türme weißer Sterne und der Hagedorn seine bleichen Schönheitsmonde. Ja, kein Zweifel: sie würde mit ihm kommen, wenn er sie nur finden könnte! Sie würde mit ihm ziehen in den schönen Wald und den ganzen lieben Tag lang würde er zu ihrem Vergnügen tanzen.

Ein Lächeln leuchtete bei dem Gedanken in seinen Augen auf. Und er betrat das nächste Gemach.

Von allen Gemächern war dies das hellste und schönste. Die Wände waren mit rosageblümtem Luccadamast bekleidet, auf dem sich Vögelmuster reihten, und mit kleinen Silberblüten bestreut. Die Einrichtung war aus schwerem Silber, mit blühenden Kränzen behangen und schwebenden Liebesgöttern. Vor den beiden Kaminen standen mächtige Schirme, papageien- und pfauenüberstickt. Und der Fußboden aus grünem Onyx schien sich in weite Fernen hinzudehnen.

Auch war er nicht allein. Unter dem Schatten der Türe, am äußersten Ende des Raumes, erblickte er eine schmächtige Gestalt, die ihn ansah. Sein Herz erbebte. Ein Freudenschrei rang sich von seinen Lippen, und er trat ins helle Sonnenlicht hinaus. Nun, da er schritt, schritt auch die Figur. Und nun sah er sie genau.

Die Infantin, ja! Ein Scheusal war es, das widerlichste Scheusal, das er je erblickt hatte. Nicht geradegewachsen wie alle anderen Leute, nein! höckerig und krummbeinig, mit großem wackelnden Kopfe und einer Mähne von schwarzen Haaren. Der kleine Zwerg blickte finster, und auch das Scheusal blickte finster. Er lachte, und es lachte mit ihm und stemmte die Hände in die Hüften, just wie er selber tat.

Er verneigte sich höhnisch, und es machte ihm eine tiefe Verbeugung zurück. Er ging darauf zu und es kam ihm entgegen, jeden Schritt nachahmend, den er schritt; innehaltend, wenn er selber innehielt. Er schrie vor Entzücken laut auf und lief vorwärts und streckte die Hand aus, und die Hand des Scheusals berührte die seine, und sie war kalt wie Eis. Ihn lähmte Angst, und er hob die Hand, und die Hand des Scheusals folgte schnell der seinen. Er versuchte weiterzugehen; aber etwas Glattes und Hartes tat ihm Einhalt. Das Gesicht des Scheusals war nun dicht vor seinem eigenen und Entsetzen stand darauf geschrieben. Er strich sich das Haar aus der Stirn. Es ahmte ihm nach. Er schlug danach, und es gab Schlag für Schlag zurück. Er zeigte ihm seinen Abscheu, und es schnitt ihm scheußliche Fratzen. Er fuhr zurück, und es entfernte sich.

Was war das? Einen Augenblick besann er sich, dann blickte er rings im Gemache herum. Seltsam! Alles schien sein Doppelbild in dieser unsichtbaren Mauer durchsichtigen Wassers zu besitzen. Ja, Bild für Bild wiederholte sich und Sofa für Sofa. Der schlafende Faun, der im Alkoven neben der Türe lag, hatte seinen Zwillingsbruder, der schlummerte; und die silberne Venus, die im Sonnenlichte stand, streckte die Arme nach einer Venus aus, die gleich hold anzusehen war wie sie.

Trieb das Echo hier sein Spiel? Er hatte ihm einst im Tale zugerufen und es hatte ihm Wort für Wort zurückgeschleudert. War's möglich, daß es das Auge höhnte, wie es die Stimme verspottete? War's möglich, daß es eine Scheinwelt herzauberte, die der wirklichen so völlig glich? War's möglich, daß die Schatten der Dinge Farbe und Leben besitzen und Bewegung? War's möglich, daß –? Er zuckte zusammen, dann nahm er die liebliche, weiße Rose von der Brust, wandte sich um und küßte sie. Das Scheusal hatte auch eine Rose, Blatt für Blatt der seinen gleich! Es küßte sie mit gleichen Küssen und preßte sie mit schrecklichen Gebärden an das Herz.

Als die Wahrheit ihm endlich aufdämmerte, stieß er einen wilden Schrei der Verzweiflung aus und warf sich schluchzend auf den Fußboden. Er also war es, der mißgeformt, ein Krüppel war, häßlich anzusehen, eine Zwerggestalt! Er selber war das Scheusal! Und über ihn hatten die Kinder alle so laut gelacht. Und auch die kleine Prinzessin, von der er geglaubt hatte, sie liebe ihn, – auch sie hatte nur seine Häßlichkeit verhöhnt und sich über seine krummen Glieder lustig gemacht.

Warum hatte man ihn nicht im Walde gelassen, wo es keinen Spiegel gab, der ihm sagen konnte, wie abscheulich er war? Warum hatte ihn sein Vater nicht lieber getötet, als ihn seiner Schande verkauft! Heiße Tränen rannen über seine Wangen, und er riß die weiße Rose in Fetzen. Das kriechende Scheusal tat dasselbe und streute die bleichen Blütenblätter in die Luft. Es wälzte sich am Boden, und wenn er danach blickte, spähte es mit schmerzverzerrtem Antlitz nach ihm hin.

Er kroch fort, um es nicht mehr zu sehen, und bedeckte sich die Augen mit den Händen. Wie ein verwundetes Tier schleppte er sich in den Schatten und blieb dort stöhnend liegen.

In diesem Augenblicke aber kam die Infantin selbst mit ihren Gespielen durch die offene Flügeltür herein. Und da sie den häßlichen kleinen Zwerg am Boden liegen sahen, sahen, wie er mit geballten Fäustchen in höchst phantastischer und übertriebener Weise um sich schlug, brachen sie in helles, kindlichfrohes Lachen aus und umringten ihn alle und sahen ihm zu.

»Sein Tanzen war unterhaltend,« sagte die Infantin, »aber sein Spiel ist noch viel unterhaltender. Er spielt beinahe so gut wie die Drahtpuppen. Nur selbstverständlich nicht ganz so natürlich.« Und sie fächelte ihren großen Fächer und klatschte Beifall.

Der kleine Zwerg aber blickte kein einzig Mal auf, und seine Seufzer wurden leiser und leiser und plötzlich entrang sich ein seltsamer Laut seiner Kehle. Er grub sich die Nägel in das Fleisch. Dann fiel er wiederum zurück und lag ganz unbeweglich.

»Das war großartig«, sagte die Infantin nach einer Pause. »Aber jetzt mußt du mir etwas vortanzen!«

Da riefen alle Kinder im Chor: »Ja, du mußt aufstehen und tanzen, denn du bist nicht minder geschickt als die Berberaffen und viel, viel komischer.«

Der kleine Zwerg aber antwortete nicht.

Und die Infantin stampfte mit dem Füßchen auf und rief ihren Onkel herbei, der mit dem Kanzler auf der Terrasse promenierte und einige Depeschen las, die soeben aus Mexiko eingelangt waren, wo man kürzlich das Heilige Amt eingerichtet hatte.

»Mein lustiger kleiner Zwerg schmollt!« rief sie. »Weck' ihn mir auf und sag' ihm, daß er für mich tanzen solle.«

Die Kinder lächelten einander zu und schlenderten herein, und Don Pedro beugte sich nieder und schlug den Zwerg mit seinem gestickten Handschuh auf die Backe. »Du sollst tanzen,« sprach er, » petit monstre. Tanzen sollst du. Die Infantin des spanischen Königreiches und der beiden Indien will unterhalten sein.« Aber der kleine Zwerg regte sich nicht.

»Man sollte nach einem Peitschenmeister senden«, sprach Don Pedro müde und ging wieder auf die Terrasse hinaus. Der Kanzler aber blickte ernst und kniete neben dem kleinen Zwerge nieder und legte die Hand auf dessen Herz. Und nach Ablauf einer Sekunde zuckte er die Achseln, stand auf, verneigte sich tief vor der Infantin und sprach: » Mia bella princessa! Ihr lustiger kleiner Zwerg wird nie mehr tanzen. Es ist schade, ist er doch so häßlich, daß er selbst dem Könige ein Lächeln hatte entlocken können.«

»Und warum wird er nie mehr tanzen?« fragte lächelnd die Infantin.

»Weil ihm das Herz gebrochen ist«, erwiderte der Kanzler.

Da runzelte die Infantin die Stirn, und ihre niedlichen Rosenlippen kräuselten sich in hübscher Verachtung.

»In Zukunft lassen Sie die, die mit mir zu spielen wünschen, kein Herz haben!« rief sie und lief in den Garten hinaus.


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