Christoph Martin Wieland
Betrachtungen über J. J. Rousseau's ursprünglichen Zustand des Menschen
Christoph Martin Wieland

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9.

Doch, was würden alle unsere Einwendungen helfen, »wenn (wie Rousseau sehr wahrscheinlich findet) es wirklich eine Art von Menschen gäbe, welche, von Alters her in die Wälder zerstreut, keine Gelegenheit, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, gehabt, keinen Grad von Vollkommenheit erworben hätten und sich, mit einem Worte, noch dermalen in dem ersten Stande der Natur befänden?

Wo er wohl diese für ihn so merkwürdigen Menschen aufgetrieben haben kann? – Wo anders als in den Wäldern 182 von Majomba in der africanischen Provinz Loango und im Königreiche Kongo, welches, nach DappersDapper, Arzt zu Amsterdam (gest. 1690), gab besonders über die entfernteren Welttheile mehrere geographische Compilationen heraus, die nicht eben ihrer kritischen Sorgfalt wegen berühmt und daher nur mit Behutsamkeit zu gebrauchen sind. Bericht, voll von Waldmenschen ist, – die allem Ansehen nach die nämliche Art von Geschöpfen sind, welche in Africa überhaupt Pongo's oder Quojas-Morro's und in Ostindien Orang-Utang genannt werden.

Diese Geschöpfe sind, wie man uns berichtet, von der gewöhnlichen Größe eines Menschen, aber viel dicker und so stark, »daß zehen Neger nicht genug wären, um einen davon lebendig zu fangen.« Sie gehen auf zwei Beinen, bedienen sich der Hände wie wir, sind proportionirlich gestaltet, vorn am Leibe glatt, aber hinten mit schwarzen Haaren bedeckt. Ihre Gesichtsbildung ist von der Neger ihrer nicht gar sehr verschieden, außer »daß ihnen die Augen tief im Kopfe liegen, und daß ihre Miene etwas Wildes und Gräßliches hat.« Ihre Weibchen haben eine volle Brust, wiewohl nicht völlig so gewölbt – und vermuthlich auch nicht völlig so weiß, als die schönen Ober-Walliserinnen, deren unschuldige Dienstfertigkeit dem Philosophen St. PreuxNouv. Heloise Tom. I. pag. 71. so beschwerlich war.

Diese Thiere sind sehr böse, wenn man ihnen zu nahe kommt, und so launisch, daß sie nicht einmal leiden können, wenn man ihnen ins Gesicht sieht. Indessen sind sie doch große Liebhaber von den Weibern und Töchtern der Neger, – (ein Umstand, aus welchem Rousseau hätte folgern können, daß sie eine natürliche Empfindung für die Schönheit haben; denn gegen ihre eigenen Weibchen muß doch wohl jede Negerin eine Venus seyn) – und die besagten Schwarzen erzählen fürchterliche Dinge über diesen Artikel von ihnen. Man sieht sie truppenweise in den Wäldern ziehen, und dann sind die reisenden Schwarzen des Lebens nicht vor ihnen sicher, 183 ob sie gleich keine andre Waffen führen als ihre Fäuste oder einen Prügel. – Sie fressen kein Fleisch, sondern nähren sich (wie alle andre Affen) blos von Früchten und wilden Nüssen. Sie pflegen sich um die Feuer, welche die Neger, wenn sie durch die Wälder reisen, die Nacht über anzünden und unterhalten, zu versammeln und gehen nicht eher vom Platze, bis das Feuer erloschen ist, »ohne den Verstand zu haben (sagt BattelBattel, Andrew, von 1589–1607 in Süd-Guinea, in seiner Beschreibung von Loango u. s. w. Allgemeine Beschreibung der Reisen u. s. w. im 3ten Theile S. 264, 280, 320 u. fg.), Holz oder Reiser herbei zu tragen, um es zu unterhalten.«

BarbotBarbot, Jakob, Buchhalter, schrieb über Kongo und Kabinda. Einen Auszug davon liefert die allg. Hist. d. Reisen, Bd. 4. S. 629 fg., welcher in seiner Beschreibung von Guinea dieser Geschöpfe nicht vergißt, thut von einer ähnlichen Art Meldung, die in Sierra Leona den Namen Barry's führen. Die Barry's lernen, wenn sie jung gefangen werden, auf zwei Beinen gehen und werden gebraucht, Korn zu stampfen, Wasser zu tragen und den Bratspieß zu wenden. Die Neger lassen sich nicht ausreden, daß diese Paviane so gut reden könnten als sie selbst, wenn sie nur wollten; aber sie wollen nicht, sagen sie, aus Furcht, man möchte sie mit noch mehr Arbeiten beladen.

Ich sehe nicht, warum Rousseau, der so eifrig ist, die Grenzen der Menschheit bis auf die ungeselligen Pongo's auszudehnen, diese ehrlichen Barry's vorbei geht, welche doch in Ansehung ihrer Gelehrigkeit und zahmen Sinnesart einen merklichen Vorzug vor jenen zu haben scheinen. – Aber ist es etwa gerade diese störrische Ungeselligkeit der Pongo's – wodurch sie so gut in seine Hypothese passen – was ihn zu dieser parteilichen Vorliebe verleitet hat?

Was hindert uns übrigens, aus ähnlichen Gründen auch die großen Affen an der Sanaga, von denen Le Maire in seiner Reise nach den canarischen Inseln spricht, den Rousseauischen Menschen beizugesellen? Sie thun sich truppenweise 184 zusammen, wenn sie auf die Nahrung ausgehen, und unterdessen, daß die übrigen Beute machen, steht einer auf einem hohen Baume Schildwache. Ihre Weibchen tragen ihre Jungen auf die nämliche Weise auf dem Rücken, wie die Negerweiber die ihrigen, und bezeigen eine Zärtlichkeit für sie, die ihnen Ehre macht. Sie heilen ihre Verwundeten mit gewissen Kräutern, welche sie erst kauen und dann auf die Wunde legen.

Wer weiß, wie viel andere Züge von Witz, Empfindung, Geselligkeit und Vervollkommlichkeit an diesen Geschöpfen noch zu entdecken wären, wenn sie – von Leuten, welche Alles sehen, was sie sehen wollen – von Philosophen beobachtet würden!

Doch Rousseau scheint sich zu begnügen, einen neuen Zweig des menschlichen Stammes in dem Orang-Utang oder Pongo entdeckt zu haben.

Indessen können wir nicht bergen, daß die Gründe, um deren willen er uns diese Ehre erweiset, Vieles (wo nicht das Ganze) von ihrer Stärke verlieren, sobald man das Interesse nicht dabei hat, das den Erfinder einer neuen Hypothese begierig macht, Erscheinungen zu Bestätigung derselben aufzutreiben.

»Die Nachrichten (spricht er), welche Battel, PurchaßPurchaß gab eine Sammlung von Reisebeschreibungen heraus unter dem Titel Pilgrimes Lond. 16225, 1626, 4 Bde Fol., und einen Folioband unter dem Titel: Pilgrimage, der auch als 5ter Band der Pilgrimes angeführt wird. und Dapper von ihnen geben, beweisen, daß diese Herren keine gute Beobachter waren; sie machen falsche Schlüsse; man merkt, daß ihnen gar nicht in den Sinn gekommen ist, daß diese edeln Geschöpfe etwas Besseres als Affen seyn könnten.«

Alles wahr; aber was gewinnen die Pongo's dabei?

»Unsere Reisebeschreiber (fährt Rousseau sinnreich fort) haben sich in den Kopf gesetzt, diese Geschöpfe, welche von den Alten unter dem Namen der Satyrn und Faunen für 185 Götter gehalten wurden, zu Thieren herab zu würdigen; nach besserer Untersuchung wird man vielleicht finden, daß sie Menschen sind: – »denn gemeiniglich liegt die Wahrheit zwischen beiden Enden in der Mitte.«

Es gebe ein gutes Mittel, meint er, wodurch auch die dümmsten Beobachter sich bis zur völligen Gewißheit überzeugen könnten, ob der Orang-Utang und seine Brüder zur menschlichen Gattung gehörten oder nicht.

Was für ein Mittel mag das seyn? – Seine Sittsamkeit hat ihm nicht erlaubt, sich hierüber deutlich zu erklären; – eine Bedenklichkeit, die an einen Cyniker, der von natürlichen Dingen handelt, ein wenig übertrieben scheinen möchte; – indessen gibt er doch hinlänglich zu verstehen, daß man eine kleine Colonie aus jungen Pongo's und jungen Negermädchen anlegen müßte, um zu sehen, was daraus würde.

Der Gedanke ist der einfachste von der Welt, und wir bedauern nur, daß er (wie Rousseau selbst bemerkt) nicht ausführbar ist; – wo nicht eben um des abermaligen Scrupels willen, der unserm Philosophen hier aufstößt, doch gewiß des höchst beschwerlichen Umstands wegen, weil diese Pongo's, seine Schutzverwandten, die brutalste Art von Liebhabern sind, die man sich einbilden kann. Nach den Erzählungen der Neger hätte sich der Fall, den Rousseau andeutet, schon oft zutragen sollen. Aber unglücklicher Weise ist noch keine einzige Negerin, die in ihre Hände fiel, mit dem Leben davon gekommen. – Und so dürfte freilich der Vorschlag einer Colonie nicht ins Werk zu setzen seyn.

Inzwischen, und bis man durch genauere Beobachtungen im Stande seyn werde, den Pavianen in Loango, Kongo, Borneo und Java Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, glaubt Rousseau wenigstens eben so viel Grund zu haben, sich über 186 diesen Artikel an den Capuziner MerollaMerolla, Verfasser einer Beschreibung von Kongo, in Churchill's Coll. I. 650, und im Auszug bei der deutschen Uebersetzung von des Abbé Projart Geschichte von Loango, Kakongo u. s. w. Leipzig 1777. Allg. Historie der Reisen, Bd. 4, 5., »einen gelehrten Religiosen, welcher in dieser Sache ein Augenzeuge und bei aller seiner Natureinfalt dennoch ein Mann von feinem Verstande gewesen sey« – zu halten, als an den Kaufmann Battel, an Dapper, Purchaß und andere Zusammenstoppler.

Und was sagt denn Pater Merolla, auf dessen Zeugniß nun die ganze Sache beruhet?

Merolla sagt: die Schwarzen fingen zuweilen auf ihren Jagden wilde Männer und Weiber.

Das ist Alles, was ihn Rousseau sagen läßt, und das ist wenig. Er hätte hinzusetzen können: Merolla erzähle, er habe von einem gewissen Leonard gehört, ein gewisser Capuziner habe ihm einen jungen Pongo verehrt, mit welchem er, Leonard, dem portugiesischen Statthalter zu Loanda ein Geschenk gemacht habe; – und das ist auch nicht viel mehr als nichts. Alles, was wir zur Sache Dienliches daraus nehmen können, ist: »daß die Einwohner zu Borneo und die Neger eine gewisse Art von Affen wilde Männer nennen;« – und dieß sagen zehn andere Reisebeschreiber (Batteln, Dapper und Purchassen mit eingerechnet) auch.

Ich würde mich bei dieser Kleinigkeit nicht aufhalten, wenn ich ein stärkeres Beispiel wüßte, »was für Wunder die Liebe zu einer Hypothese thun kann.«

Rousseau glaubt den P. Merolla zu einem Zeugen für die Existenz seines wilden Menschen gebrauchen zu können. Auf einmal geht in seiner Einbildungskraft eine Verwandlung vor, welche alle Ovidischen weit hinter sich zurückläßt und beinahe noch wunderbarer ist, als die Erhebung eines Affen in den Menschenstand. Merolla, der abergläubigste und einfältigste Mann, der vielleicht jemals einen spitzigen Capuz getragen hat, wird auf einmal ein gelehrter Mann und – 187 fidem vostram, Quirites! – ein homme d'esprit. Ein sehr entscheidendes Beispiel wird diejenigen, welche sich überwinden können, die nachstehende Erzählung zu lesen, benachrrichtigen, was für eine Art von homme d'esprit der ehrliche Merolla war.

Ein gewisser sogenannter Graf von Songo, ein eifriger Anhänger der Missionarien in dem africanischen Königreiche Kongo, hatte nach dem Absterben des Königs Don Alvarez einen von den Thronprätendenten, Namens Simantamba, unter betrüglichem Versprechen, ihm seine Schwester zur Ehe zu geben und ihm zur Krone zu verhelfen, in einem Hinterhalt mit dem größten Theile seines Gefolges ermorden lassen. Des Ermordeten Bruder fiel, die That zu rächen, in des Grafen Länder ein. Dieser brachte gleichfalls ein großes Heer auf (sagt Merolla, der damals in Kongo war) und ging gerade auf seines Gegners Hauptstadt los. Er fand sie leer; alle Einwohner waren davon gelaufen. Seinen Soldaten blieb also kein anderes Mittel übrig, den Feinden Abbruch zu thun, als Alles aufzuessen, was sie zurück gelassen hatten. Unter Anderm bemächtigten sie sich auch eines ungewöhnlich großen Hahns, der einen starken eisernen Ring um den einen Fuß hatte. Dieser Ring kam einem von den Klügsten (sagt der ehrwürdige Pater) verdächtig vor. Er versicherte seine Cameraden, der Hahn sey bezaubert, und warnte sie, ja nichts mit ihm zu thun zu haben. Allein diese rohen Leute versicherten ihn, daß sie den Hahn essen würden, und wenn er den Teufel zehnmal im Leibe hätte. Der Hahn wurde also erwürgt, zerstückt und in einem großen Topfe so lange gekocht, bis er fast sehr zersotten war. Hierauf schütteten sie ihn in eine Schüssel, sprachen ihr Tischgebet (denn es waren so gute Christen, als es die neu bekehrten Neger gewöhnlich 188 zu seyn pflegen) und setzten sich heißhungrig um den Tisch herum. Aber da sie nun in die Schüssel greifen wollten, siehe, da fingen die gesottenen Stücke des Hahns an, eines nach dem andern, aus der Schüssel herauszusteigen und sich wieder so gut zusammenzufügen, als ob sie nie getrennt gewesen wären. Kurz, der Hahn stand in wenig Augenblicken wieder frisch und gesund auf seinen Füßen, ging etliche Mal im Zimmer herum, bekam neue Federn, flog auf den nächsten Baum, schlug dreimal mit den Flügeln, machte ein entsetzliches Getöse – und verschwand. – Ob mit Hinterlassung des gewöhnlichen Wahrzeichens, hat der ehrwürdige Capuziner vergessen zu berichten. – »Jedermann (setzt er, nachdem er diese Geschichte mit aller möglichen Einfalt und Ernsthaftigkeit erzählt hat, hinzu) kann sich leicht einbilden, was für ein Schrecken die Anwesenden bei diesem Anblick überfallen mußte, welche unter tausend Ave Maria vom Platze liefen und den meisten Umständen dieser schrecklichen Begebenheit nur von ferne zusahen. Sie schrieben ihre Erhaltung lediglich dem Gebete zu, das sie vor Tische gesprochen hatten, sonst wären sie gewiß Alle umgekommen oder vom Teufel besessen worden.« So viel der P. Merolla. – Das nenn' ich einen Augenzeugen! einen Gelehrten! einen homme d'esprit!



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