Christoph Martin Wieland
Betrachtungen über J. J. Rousseau's ursprünglichen Zustand des Menschen
Christoph Martin Wieland

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4.

169 Dieses vorausgesetzt, scheint es einigermaßen begreiflich zu werden, wie Rousseau auf den Einfall habe kommen können, sich den ursprünglichen Stand der Menschheit als einen solchen zu denken, worin der Mensch von dem übrigen Vieh, außer einer vortheilhaftern Bildung, durch nichts – »als die unselige Möglichkeit, aus demselben herauszugehen« – unterschieden gewesen sey.

»Betracht' ich, spricht er, den Menschen, wie er aus den Händen der Natur kam, so sehe ich ein Thier, das zwar nicht so stark als einige, nicht so behend als andere, aber, Alles zusammengenommen, doch unter allen am vortheilhaftesten organisirt ist; ich sehe es sein Futter unter einer Eiche suchen, aus dem ersten besten Bache seinen Durst löschen, sein Lager unter dem nämlichen Baume nehmen, der ihm zu fressen gegeben hat: und so sind seine Bedürfnisse befriediget.« –

Doch nicht gar alle! – Es gibt Augenblicke, – welche ich nicht so natürlich beschreiben möchte, als es der eleganteste Schriftsteller aus dem politen Zeitalter Augusts gethan hat, und die man sogar in London (wo so viel erlaubt ist, was man anderswo für unzulässig halten würde) nicht auf öffentlicher Schaubühne vorzustellen wagt, wie es Aristophanes zu Athen, dem Sitz der griechischen Urbanität, wagen durfte – Augenblicke – doch wir wollen unsern Schriftsteller selbst davon reden lassen.

»Zu fressen haben (fährt Rousseau fort), schlafen und – sein Weibchen belegen, sind die einzigen Glückseligkeiten, von denen er einen Begriff hat.«

Und damit wir uns nicht etwa einbilden, er lebe mit seinem Weibchen und mit seinen Jungen in einer Art von 170 Familiengesellschaft, wovon wir sogar bei einigen thierischen Gattungen Beispiele sehen; setzt er – nicht ohne den Grotiussen und PuffendorfenHobbes (geb. zu Malmesbury 1588), Hugo de Groot, gewöhnlich Grotius genannt (geb. zu Delft 1583), und Samuel Puffendorf, nachmals Freiherr (geb. 1631 auf einem Dorfe bei Chemnitz im sächsischen Erzgebirge), als ein Engländer, ein Holländer und ein Teutscher, waren im 17ten Jahrhundert die Begründer des Naturrechts (das also ein Bedürfniß geworden seyn mußte) und eines darauf begründeten Staats- und Völker-, Friedens- und Kriegsrechtes. Alle drei mußten auf die wichtige Frage kommen: worin überhaupt das Recht (und also auch die Pflicht) ihren Grund habe? und bei der Beantwortung dieser Frage kamen alle drei auf die Idee eines Naturstandes (und zwar um so mehr, da sie den einzig richtigen Gesichtspunkt, die Anlagen der Menschheit, nicht im Auge hielten), den sich aber Jeder anders ausbildete. Mit Hobbes konnte Rousseau keinen Streit bekommen, denn er erklärte den Satz, der Mensch sey als ein zur Gesellschaft fähiges Thier geboren, für falsch. Groot und Puffendorf hingegen, die hier für einen Mann stehen, nahmen in dem Menschen einen Trieb zur Geselligkeit an und sammelten auch alle Zeugnisse der Alten hierüber, die freilich nichts beweisen konnten. einen verächtlichen Seitenblick zu geben – hinzu:

»Sich die ersten Menschen in eine Familie vereinigt vorstellen, das hieße den Fehler derjenigen begehen, die, wenn sie über den Stand der Natur raisonniren, die Ideen mit hineinbringen, welche sie aus der Gesellschaft entlehnt haben: da doch in diesem primitiven Stande, wo die Menschen weder Häuser, noch Hütten, noch Eigenthum von irgend einer Gattung hatten, ein Jeder sich lagerte, wo ihn der Zufall hinführte, und oft nur für eine einzige Nacht; wo die Männchen und Weibchen eben so zufälliger Weise, wie sie einander ungefähr begegneten, und Gelegenheit oder Trieb es mit sich brachte, sich zusammenthaten, ohne daß die Sprache ein sehr nothwendiger Dolmetscher der Dinge war, die sie einander zu sagen hatten, und sich mit eben so wenig Umständen wieder von einander verliefen.«

Man kann sich leicht einbilden, daß Leute, die so wenig Umstände mit einander machen und der süßen Werke der goldnen Venus auf eine so thierische Art pflegen, nicht sehr zärtliche Eltern seyn werden. Auch bekümmert sich, nach Rousseau's Versicherung, der Vater um seine Kinder nichts. Und wie sollte er? da er sie nicht kennt, und vielleicht Jahrtausende vorbeigehen, bis endlich einer von diesen maschinenmäßigen Vätern den Verstand hat, beim Anblick solcher kleinen Geschöpfe die tiefsinnige Betrachtung anzustellen, – »daß er vielleicht durch eine gewisse Operation, ohne es selbst zu wissen, zu ihrem Daseyn Gelegenheit gegeben habe.«

Was die Mutter betrifft, so ist es freilich ihre Schuld nicht, daß sie sich gezwungen sieht, sich eine Zeit lang mit 171 ihrem Kinde abzugeben. – »Sie säugt es anfangs ihres eigenen Bedürfnisses wegen (spricht Rousseau), hernach, da die Gewohnheit es ihr lieb gemacht hat, wegen des Bedürfnisses des Kindes selbst. Aber, sobald die Kinder groß genug sind, sich ihr Futter selbst zu suchen, so verlaufen sie sich von der Mutter, und so kommt es bald dahin, daß sie einander nicht mehr kennen.«

Eh' es dahin kommt, hat also die Mutter, man weiß nicht recht warum, die Gütigkeit, ihre Jungen mit sich herumzuschleppen. – »Wahr ist's (sagt unser Philosoph), wenn die Mutter umkommt, so läuft das Kind Gefahr, mit ihr umzukommen; aber (setzt er tröstlich hinzu) diese Gefahr ist hundert andern Gattungen von Thieren gemein, deren Junge in langer Zeit unvermögend sind, ihre Nahrung selbst zu suchen.«

Der natürliche Mensch des Philosophen Jean Jaques ist also (die verwünschte Vervollkommlichkeit ausgenommen) weder mehr noch weniger als ein anderes Thier auch; und es ist pure Höflichkeit, daß er ihm die langen krummen Klauen des AristotelesDaß dieser philosophische Naturforscher dem Menschen irgendwo lange krumme Klauen zugesprochen hätte, ist mir völlig unbekannt, vielmehr sagt er überall das Gegentheil, besonders in den zwei Hauptstellen, wo er die Unterschiede zwischen dem Menschen und Affen (Hist. animal. 2, 8) und den übrigen Thieren (de part. anim. 2, 10) angibt und sich ausführlich über den Bau der menschlichen Hand erklärt. Was daher Wieland hier eigentlich gemeint hat, weiß ich nicht. und den Schwanz, welchen die Reisebeschreiber Gemelli CarreriGemelli Carreri, ein Neapolitaner, der die Rechte studirt hatte, machte im Jahr 1693 eine Reise nach den drei außereuropäischen Welttheilen, von welcher er 1699 zurückkam. Sein Giro del Mondo (Venedig 1709) findet sich im Auszug im 12. Bande der allgemeinen Historie der Reisen. und Johann StruysStruys, Jan Jansson (öfters unter dem Namen Strauß angeführt), gestorben in Dithmarsen 1694, machte Reisen von 1647 bis 1673 durch Europa und Asien und gab nach der Rückkehr von seiner dritten Reise die Beschreibung derselben heraus, die ins Deutsche übersetzt wurde (Amst. 1678). Es heißt daselbst S. 32. »Ein Formosaner von der Südseite mit einem Schwanz, einen guten Fuß lang und rauch mit Haaren besetzt.« Vergl. Blumenbach de generis hum. var. nat. §. 76. einigen Einwohnern der Insel Mindero und Formosa zulegen, erlassen hat.

Der Rousseauische Mensch ist es, dem der Name eines Wilden – den die Spanier den Amerikanern zu Beschönigung ihrer widerrechtlichen Gewaltthätigkeiten gegeben haben – im eigentlichen Verstande zukommt. Er überläßt sich, ohne mindeste Ahnung der Zukunft, dem Gefühl des gegenwärtigen Augenblicks; seine Begierden gehen nicht über seine körperlichen Bedürfnisse hinaus; das große Schauspiel der Natur ist unvermögend, ihn aus seiner schlafsüchtigen 172 Dummheit aufzuwecken; in seinem ganzen Leben fällt ihm nicht ein, zu fragen, wer bin ich? wo bin ich? warum bin ich? –

Doch das Letztere könnten wir ihm zu gut halten. Es gehört in der That beinahe eben so viel dazu, diese Fragen aus sich selbst zu thun, als sie recht zu beantworten. Aber, was Rousseau in der menschlichen Natur entdeckt haben könne, das ihm Ursache gegeben, nichts natürlicher zu finden, als die Ungeselligkeit, welche die Grundlage seines Systems über den ursprünglichen Stand ausmacht, – kann ich nicht errathen.

Seinem Vorgeben nach hat die Natur »sehr wenig dafür gesorgt, die Menschen durch gegenseitige Bedürfnisse einander näher zu bringen, und so wenig als möglich zu den Verbindungen beigetragen, welche sie zum Untergang ihrer Freiheit und Glückseligkeit unter einander getroffen haben.«

Was für wunderliche Dinge Witz und Galle einen Philosophen sagen machen können!



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