Christoph Martin Wieland
Betrachtungen über J. J. Rousseau's ursprünglichen Zustand des Menschen
Christoph Martin Wieland

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3.

Ein Schauspiel, das die Menschlichkeit empört, wenn man es von der häßlichen Seite ansieht, – der Anblick der ausschweifendsten Ueppigkeit und zügellosesten Verderbniß der Sitten in einer von den Hauptstädten Europens, in diesem modernen Babylon, – welchem ein Philosoph im siebenten Stockwerke, um seiner liebenswürdigen Narrheiten, um seiner artigen Talente und auf den äußersten Grad verfeinten Künste willen, seine Laster nicht so leicht verzeihen kann, als der Philosoph zu FerneyDer Philosoph von Ferney ist Voltaire, der in der Schweiz das Schloß Ferney besaß, wo er in glücklicher Unabhängigkeit lebte, während Rousseau in Paris – der Philosoph im siebenten Stockwerke – bei Notenschreiben darbte., wenn er das Glück gehabt hat, wohl zu verdauen, aus seinem kleinen bezauberten Schlosse; – der Anblick des Uebermuths, mit welchem die verächtliche Classe der PoppäenPoppäa, die verschwenderische und zügellose Gemahlin Nero's. und TrimalcioneTrimalcion, ein ganz dem Wohlleben hingegebener Greis bei Petron, dessen Name den dreifachen Weichling bedeutet.

Daß wir bei diesen an die Maitressen und Roués vor der Revolution zu denken veranlaßt werden sollen, bedarf keiner Erinnerung. Wären diese nicht gewesen, und hätten nicht Deputirte, die sich über ungerechte Auflage beschwerten, Antwort erhalten, wie sie der Abt Terray gab: wann er denn versprochen habe, daß seine Auflagen von der Gerechtigkeit dictirt seyn sollten? – schwerlich hätte dann R. seine Schriften nur gedacht. Aber er hätte sie auch schreiben können, und es würde keine Revolution erfolgt seyn. Was soll man nun von den Leuten denken, welche auch nach der französischen Revolution fortfahren zu behaupten, R's Schriften hätten dieselbe mit herbeigeführt? Man würde sehr unredlich handeln, wenn man diesem nicht widersprechen wollte. Nicht R's Schriften und nicht tausend Schriften hätten dieß vermocht; dazu waren ganz allein die vereinigten Umstände stark genug, welche Rousseau zwangen, solche Schriften zu denken.

Man vergesse nicht, daß Wieland diese Stelle an zwanzig Jahre vor der französischen Revolution schrieb, zu einer Zeit also, wo man diese Ideen R's nur noch für müßige Träumereien hielt; in späterer Zeit würde er zu seiner Schilderung wohl andere Farben gewählt haben.

des öffentlichen Elends, dessen Werkzeuge sie sind, spotten; – der traurig machende Anblick eines unterdrückten Volks unter dem besten der Könige: – solche Ansichten – aus einem Dachstübchen betrachtet – sind sehr geschickt, den Betrachtungen eines philosophischen Zuschauers über unsre Verfassungen, Künste und Wissenschaften eine solche Stärke zu geben und ein so schwermüthiges Helldunkel über sie auszubreiten, daß man nichts Anderes nöthig hat, um zu begreifen, wie dieser Philosoph mit einer schwärmerischen Einbildungskraft, einem warmen Herzen und etwas galliger Reizbarkeit auf den Einfall kommen 168 konnte: »Es würde diesem Volke besser seyn, gar keine Gesetze, Künste und Wissenschaften zu haben.«

Laßt in diesem Augenblick eine Akademie die Frage aufwerfen: »ob Wissenschaft und Kunst dem menschlichen Geschlechte mehr Schaden oder Nutzen gebracht habe?« – wird er wohl in einer solchen Gemüthsstimmung Bedenken tragen, Wissenschaften und Künste, die er als Sklavinnen des Glücks und der Ueppigkeit, als Quellen der sittlichen Verderbniß und Beförderinnen der Unterdrückung ansieht, für die wahre Ursache alles menschlichen Elends zu erklären?

Und, noch voll von den lebhaften Gemälden, in welchen ihm seine Phantasie die Evidenz dieser vermeinten Wahrheit anzuschauen gibt, – wird er nicht, wenn eine andere Akademie seine Galle durch die Frage herausfordert: »welches der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen sey, und inwiefern selbige durch das natürliche Gesetz berechtigt werde oder nicht?« – die Auflösung dieses Problems schon gefunden zu haben glauben und uns mit dem zuversichtlichsten Tone der Ueberzeugung überreden wollen: daß alles Uebel, wovon das menschliche Geschlecht gedrückt wird, blos aus dieser Ungleichheit, als der wahren Büchse der Pandora, hervorgegangen sey, und daß es kein gewisseres Mittel, davon befreit zu werden, gebe, als alle Gewänder und Ausschmückungen der Natur, alle unsre Wissenschaften, Künste, Polizei, Bequemlichkeiten, Wollüste und Bedürfnisse von uns zu werfen und nackend – gleich dem jungen Hottentotten auf dem Titelkupferstiche seines Buches – zu unsrer ursprünglichen Gesellschaft, den Vierfüßigen, in den Wald zurückzukehren?

Sollte dieß nicht die geheime Geschichte des Rousseauischen Systems gewesen seyn?



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