Christoph Martin Wieland
Betrachtungen über J. J. Rousseau's ursprünglichen Zustand des Menschen
Christoph Martin Wieland

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1.

Die Aufschrift über der Pforte des delphinischen Tempels:

»Lerne dich selbst kennen!«

enthielt ohne Zweifel ein wichtiges und in der That nicht leichtes Gebot.

Aber daß es, wie Rousseau versichert, »wichtiger und schwerer sey, als Alles, was die großen dicken Bücher der Moralisten enthalten,« – ist (mit seiner Erlaubniß) nichts gesagt.

Diese Moralisten, von denen Rousseau so wenig zu halten scheint, konnten doch wohl keinen andern Zweck haben, als in ihren großen dicken Büchern den Inhalt dieses nämlichen γνωϑι σεαυτον zu entwickeln. – Und daß unter so vielen, welche von Hermes Trismegistus Zeiten bis auf diesen Tag an der Auflösung dieses Räthsels gearbeitet haben, auch nicht einer es errathen haben sollte – wahrlich, das würde den Moralisten wenig Ehre machen!

Doch, gesetzt auch, sie hätten sammt und sonders, den guten Plutarch mit eingerechnet, ihre Mühe dabei verloren: so begreife ich doch nicht, wie wir weniger aus ihren Büchern lernen könnten, als – was uns die delphische Pforte lehrt, nämlich – »daß es dem Menschen gut sey, sich selbst zu kennen.« – Und was haben wir da gelernt?

Der große Punkt ist, – wie wir es anzufangen haben, um zu dieser Erkenntniß zu gelangen? – und hierüber macht 164 uns diese Pforte nicht klüger, als der elendeste Commentar, der jemals über die Ethik des Aristoteles geschrieben worden ist.

Der obige Ausspruch unsers Freundes Jean Jaques ist also, wie viel er auch beim ersten Anblick zu sagen scheint, um nichts weiser, als wenn Jemand sagte: der erste Vers des ersten Buchs Mose enthalte unendliche Mal mehr Wahrheit, als die sämmtlichen Werke aller Naturforscher, weil am Ende doch Alles, was uns diese Biedermänner von Himmel und Erde lehren, nur ein sehr kleiner Theil von dem ist. was Himmel und Erde in sich fassen, und (wie Shakespeare's Hamlet sagt) noch gar viel in beiden ist, wovon sich unsre Philosophen (selbst den neuesten, dem so viel davon träumt, nicht ausgenommen) wenig träumen lassen.



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