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Madam Fredriksen hatte sich die Südstraße hinabgekämpft, in der der Südweststurm mit ganzer Gewalt zauste und an ihrer Bekleidung riß und zerrte und durch dieselbe hindurchwehte, so daß sie den kalten Atem des Windes an ihrem nackten Hebammenkörper fühlen konnte.

»Ein solches Unwetter ist mir denn doch noch nicht vorgekommen«, sagte sie und klammerte sich mit ihren behandschuhten Fingern an Konditor Lams Mauer fest, um daran entlang um die Ecke in die Pfaffengasse zu gelangen, in der sie wohnte.

Endlich siegte sie und befand sich nun abermals in ruhigem Fahrwasser. Aber sie mußte sich gegen die Mauer lehnen, um sich zu verschnaufen und ihren Anzug ein wenig zu ordnen. Das Kleid und die Röcke hatten eine halbe Wendung nach links gemacht.

Ein Dachstein stürzte prasselnd hinter ihr nieder. Und in einem etwas weiterhin gelegenen Hause hörte man eine Tür unaufhaltsam auf und zu schlagen.

Die Madam lachte. Sie fand, daß dies Toben anfing, humoristisch zu werden.

Auf dem Trottoir kam ihr eine lange, gebeugte männliche Gestalt entgegen. Sie war in Tücher und Schals gewickelt und hatte eine Pelzmütze tief über die Ohren gezogen.

»Guten Abend, Herr Doktor!«

»Wer ist das?« fragte eine mürrische Stimme hinter der Vermummung.

»Hebamme Fredriksen!«

»Hm! Wollen Sie auf Praxis aus?«

»Nein, bin ausgewesen. Und der Herr Doktor?«

»Ich muß verdammt, verflucht bis hinter die Eisenbahn!«

Ein dichter Nebel entstieg dem Mund des Doktors. Er trug immer eine brennende Pfeife unter den Schals.

»Ist es etwas Gefährliches?« fragte die Madam.

»Gefährlich, ei was! Ein verfüllter Finger! – Sie kommen ja angelaufen und klingeln einen heraus, damit man ihre Leichdorne beschneidet. – Weht es arg in der Südstraße?«

»Ob es weht?« lachte die Madam. »Es stürmt! Ich war kurz davor, mit meinem Beutel und dem ganzen Kram gen Himmel zu fahren.«

»Verdammtes Klima!« brummte er aus den Schals heraus. »Hätte in Grönland bleiben sollen. Da ging man nur im Sommer auf Praxis.«

»Aber mein Gott, was machten denn die armen Menschen im Winter?«

»Sie starben natürlich.«

Der Kreisarzt hatte zehn Jahre in Grönland gelebt. Und er sah auf diesen Zeitraum wie auf ein Goldenes Zeitalter zurück. Er hegte und pflegte seine arktischen Erinnerungen; in seiner Wohnung lief ein Blaufuchs herum und an seinem Geburtstag aß er Seehundssteak.

»Sie sollten sich einen Assistenten nehmen. Herr Doktor,« sagte die Madam, »für die Nachtbesuche!«

»So einen von diesen modernen Windbeuteln, hm!« murmelte er aus den Schals heraus. »Die bilden sich ein, alle Weisheit der Welt mit Löffeln gegessen zu haben, und dabei haben sie nie ein paar Kranke gesehen!«

Dann standen sie einige Sekunden schweigend da. Über ihren Köpfen brüllte der Sturm.

»Es ist auch wirklich ein Hundewetter«, sagte die Madam endlich.

»Um sich aufzuhängen!« murmelte der Distriktsarzt »hm! Dann muß ich wohl weiter.«

»Gute Nacht, Herr Doktor!«

»Gute Nacht!«

Als Madam Fredriksen zu Hause angelangt war und in ihrer offenen Haustür stand, hörte sie den Doktor an Konditor Lams Ecke fluchen und schimpfen. Wie Jakob ehedem mit dem Engel, so kämpfte er jetzt mit dem Sturm, der um die Ecke der Pfaffenstraße dahergefahren kam und sich gegen seine Brust stemmte und ihn umzuwerfen drohte. Sie hörte ihn alle unterirdischen Mächte mit Namen anrufen, von Sr. Majestät dem Satan bis hinab zu dem allergeringsten grönländischen Teufel, wobei er auf das Pflaster stampfte und schnob wie ein von einer Bremse gestochener Brauergaul.

Und nun zum drittenmal an diesem Abend verzog unsere Madam die Lippen höhnisch mitleidig und murmelte: »O diese Männer!«

Und dann schloß sie ihre Tür und drehte den Schlüssel herum.

Als sie aber auf ihrem einsamen Lager lag, entfuhr ihr doch ein Seufzer.

Denn sie war erst fünfunddreißig Jahre alt.

Und Witwe.



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