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Am Abend desselben Tages zwischen sechs und sieben, als Emanuel Thomsen seine Abschreibarbeit bei dem Hardesvogt beendet hatte, ging er den Prinzessinensteig entlang, auf den Friedhof hinaus.

Er begab sich in letzter Zeit häufig hierher, um nachzudenken. In einer Ecke nach dem Felde zu stand eine Bank, halb von Holunderbüschen verdeckt. Das war sein Brutplatz.

Gleich einem Holzsplitter, spitz und hart und mit scharfen, schneidenden Kanten, hatte sich des alten Menschen-Mortensen Rat, ein wenig bei Cornelius draußen auf dem Mühlenhof »herumzufingerieren«, in sein Gehirn gebohrt. Tag und Nacht quälte dieser Gedanke ihn und machte ihn zeitweise ganz unzurechnungsfähig. Er konnte vor Nervosität zittern, wenn er auf der Straße Menschen scherzen und lachen sah. Er empfand die größte Lust, sie mit seinen dicksohligen Stiefeln gegen die Schienbeine zu stoßen. Es war kein Sinn darin, daß sie dort umhergingen und sich amüsierten und guter Dinge waren, während er jede Minute am Tage vor Kummer und Elend hätte schreien und jammern können.

Zuweilen konnte er, während er ganz ruhig daheim in dem Zimmer hinter dem Laden saß, in eine solche Raserei geraten, daß er plötzlich Mutter Karen mit Schimpfworten und Vorwürfen überschüttete, weil sie zuviel verbrauchte und weil sie nicht Waren genug verkaufte und nicht genug nähte und nicht genug arbeitete und nicht genug Geld verdiente!

»Man selber läuft umher und rennt sich die Beine ab!« schrie er und schwenkte drohend den langen Arm. – »Aber du sitzest nur da und machst dich in deinem Stuhl breit und nickst zum Fenster hinaus wie eine Königin oder wie eine Etatsrätin!«

»Manuel! Manuel! Wie kannst du nur so zu deiner eigenen Mutter reden!«

»Ja – heulen – das verstehst du!«

Und brummend wie eine Hummel stürzte Thomsen zur Tür hinaus und die Treppe zu seinem Mansardenstübchen in die Höhe.

Vor ein paar Sonntagen war der Menschen-Mortensen wieder zu Besuch in der Stadt gewesen. Aber Rasmus Cornelius war von ihnen mit keiner Silbe erwähnt worden. Der Plan mit dem Mühlenhof hatte ihnen beiden auf der Zungenspitze geschwebt. Aber keiner von beiden hatte davon anfangen wollen.

Sie hatten nur jeder in seiner Ecke gesessen und sich gegenseitig finster angestarrt.

Und nachdem Mortensen ungefähr eine Viertelstunde drauflosgepafft und gehustet hatte, war er wieder weggehumpelt.

»Paff, paff! Ja, dann adieu. Manuel.«

»Adieu!«


Thomsen hatte, wie gesagt, heute abend Zuflucht auf seinem Brutplatz draußen auf dem Friedhof gesucht. Er hatte den Nacken gegen die Rücklehne der Wand gestützt. Die kleinen, dünnen Beine hingen schlaff herunter, ohne an die Erde zu kommen. Und seine Augen starrten voller Flehen und Verzweiflung zu dem blauen Himmel empor.

Er begriff nicht das geringste von der Weltordnung!

»Du lieber Gott, Vater da oben in deinem hohen Himmelreich,« murmelte er, »was hat man dir doch nur einmal getan, daß du einen nicht mit dem Wasser deiner Gnade begießen willst! Du fingst ja doch so schön an, lieber Herrgott, indem du einem Nachricht durch den seligen Vater zukommen ließest. Weshalb tatest du das, wenn du keinen Zweck damit verfolgtest? Ach Gott, ach Gott! Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unsern Schuldigern vergeben! Ich will dir in alle Ewigkeit keine Vorwürfe machen, lieber guter Herrgott, wenn du meine Nummer bald herauskommen läßt und meiner armen, alten Mutter die große Freude schenktest, am Abend ihres Lebens wieder in die Stuben einziehen zu können, wo man seine unschuldigen Kinderjahre verlebt und dich im Geist und in der Wahrheit angebetet hat! O du gnädiger Gott in der Höhe, dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden! Amen!«

Thomsen machte ein Zeichen des Kreuzes auf Brust und Stirn, wie er es Pastor Engelhardt vor dem Altar hatte tun sehen. Und seine kleinen, wasserblauen Augen füllten sich mit Tränen der Rührung über seine eigene fast übermenschliche Demut.

Und er fühlte sich gestärkt und getröstet. Gott konnte sich nicht weigern, einem Wesen zu helfen, das so schön verstand, seine Worte zu belegen und sein Herz unter dem unerforschlichen Willen des Höchsten zu beugen!


Rechts von der breiten Mittelallee und gerade vor der Eingangstür der Kapelle lag die Grabstätte des Luxusbauchs. Das Grab war am Nachmittag zugeschaufelt, und die gelbe Lehmerde grinste zwischen den Blumen und Kränzen hervor, die zusammengehäuft darüber lagen.

Emanuel stand da, die Hände tief in den Hosentaschen und betrachtete die heilige Stätte.

Da lag nun Rentier Eriksen und sollte wieder zu Erde werden, davon er genommen war! Man erzählte sich in der Stadt, er sei so entsetzlich aufgeschwollen, daß die Familie befürchtet habe, er würde platzen, ehe sie ihn in die Erde bringen konnten. Das war die Strafe für das unmäßige Essen und Trinken, womit er sich bei Lebzeiten vollgepfropft hatte! Die Rache ist mein, spricht der Herr. Und Gott dem Allmächtigen sei Lob und Dank, daß man so genügsam und anständig – –

Die Gitterpforte drüben am Prinzessinnensteig knarrte in ihren Hängen. Und Manuel eilte schnell einen Seitengang hinab und verbarg sich hinter ein paar Büschen.

Es war das alte Fräulein Olivia Rejersen, das angetrippelt kam, klein und geschwind, einen Regenschirm in der Hand, während ihr das Waldhorn aus der Kleidertasche hervorguckte.

Als sie an der Grabstelle des Luxusbauchs angelangt war, blieb sie stehen und späht vorsichtig nach allen Seiten, wie ein Huhn in einem Erbsenbeet.

Thomsen richtete sich auf den Zehenspitzen auf und steckte das Gesicht zwischen den Büschen heraus. Das Göttliche war ganz von ihm abgestreift. Er war jetzt ganz Mensch.

Olivia beugte sich über das Grab nieder, schnappte mit ein paar schnellen Griffen drei oder vier der schönsten Blumen weg und verschwand damit hinter der Kapelle.

Emanuels sämtliche Glieder wurden steif wie ein Stahlwurm:

»Des Bürgermeisters leibliche Schwester!« murmelte er. – »Des Bürgermeisters leibliche Schwester!«

Dann schlüpfte er aus seinem Versteck hervor und schlich hinter ihr drein. Als er die Kapelle erreicht hatte, nahm er den Hut ab und schlich sich bis an eine der Ecken.

Die Waldhornistin stand gerade vor Schmiedemeister Sörensens Familienbegräbnis. Sie beugte sich über das Gitterwerk und schnitt mit einem kleinen Messer eine Menge Knospen und halb erschlossener Blüten von den Rosensträuchen da drinnen ab.

Aber als sie sich umwandte, hatte sie doch keine einzige Blume in den Händen.

Dann schwankte sie auf eine neue Grabstätte zu, spähte und schnitt drauflos. Und von einem Grab zum andern lief sie und schnappte hier eine Blume, dort eine Knospe weg. Aber wo in aller Welt blieb sie denn damit?

Thomsen zitterte vor Erregung. Und als die alte Dame sich nun auch der Stätte näherte, wo sein Vater und sein Großvater begraben lagen, konnte er sich nicht länger beherrschen. Er sprang aus seinem Versteck hervor, fuhr auf sie ein und packte sie beim Arm, als sie gerade im Begriff war, eine große, dunkelrote Rose abzuschneiden.

»Aber meine Dame!« schrie er, und seine Stimme bebte. – »Fräulein! Was machen Sie da?«

Olivia stieß einen Schrei aus und ließ das Messer fallen. Als sie aber sah, wer der Angreifer war, ermannte sie sich augenblicklich, richtete ihre kleine Gestalt auf, warf den Kopf stolz in den Nacken und sagte äußerst indigniert:

»Aber Mensch!«

»Was machen Sie da?« wiederholte Emanuel und packte sie fester beim Arm.

»Lassen Sie mich los, verrückte Mannsperson!« sagte sie.

Thomsen ließ aber nicht los.

»Wo haben Sie die Blumen gelassen?« fragte er.

»Lassen Sie mich los, sage ich Ihnen!«

»Ich lasse Sie nicht los! (Manuel war leichenblaß vor Erregung.) Was haben Sie mit den Blumen angefangen?«

»Was sagen Sie? Ich kann nicht hören, das wissen Sie ja!«

»Unsinn!« sagte Thomsen brutal. Und plötzlich riß er ihr den Regenschirm aus der Hand. Er hatte ein grünes Blatt entdeckt, das daraus hervorguckte.

»Aber da sind sie ja!« sagte er.

Die Waldhornistin kreischte.

»Unverschämter Kerl!«

Manuel aber spannte resolut den Regenschirm auf; und die Blumen regneten rings um ihn her auf die Erde.

Schlagfertig sagte das Fräulein:

»Ich habe Erlaubnis von den Familien bekommen!«

»Hatten Sie vielleicht auch Erlaubnis, von unsern Gräbern zu stehlen?«

Olivia entriß ihm gewandt den Schirm und wollte gehen.

»Sie bleiben hier!« sagte er und vertrat ihr den Weg. – »Wir bleiben, beide hier, bis jemand kommt. Auf einem Friedhof zu stehlen

Die alte Dame konnte nicht hören, was er sagte, aber aus dem Ausdruck seines Gesichts ersah sie, daß die Situation ernsthaft war. Und sie steckte das Waldhorn ins Ohr und fragte:

»Was wollen Sie eigentlich von mir, Mensch!«

»Ich will Sie der Polizei ausliefern!« trompetete Thomsen wild vor Pflichteifer.

»Der Polizei?«

»Ja! Auf einem Friedhof zu stehlen!«

» Stehlen! – Die paar Blumen!«

»Man darf den Toten nichts wegnehmen!«

»Lassen Sie mich jetzt gehen!«

»Nein!«

»Was sagen Sie?«

»Nein!«

»Ja, aber ich kann das lange Stehen nicht aushalten«, sagte das Fräulein. »Ich habe Nierensteine!«

»Dann setzen wir uns auf eine Bank.«

»Was sagen Sie?«

»Dann setzen wir uns auf eine Bank.«

»Ja, was wollen Sie denn nur, Mensch?«

»Ich will Zeugen haben!«

»Zeugen?«

»Ja, die ganze Stadt soll erfahren, daß Sie hierhergehen und stehlen.«

»Ach, lassen Sie mich, bitte, los!« sagte das Fräulein ganz sanft.

»Nein! Jetzt rufe ich den Totengräber!«

»Um Gottes willen. Mensch!«

Emanuel beugte sich ganz tief über das Waldhorn und fragte hastig:

»Was wollen Sie mir geben?«

»Geben?«

»Ja, wenn ich Sie loslasse?«

»Wollen Sie Geld haben?«

»Ja! Dann will ich nichts sagen. – Beeilen Sie sich, da kommt jemand!«

Manuels Augen sprühten Funken, und er glich in diesem Augenblick einem fetten Fuchs, der auf Raub ausgeht.

»Beeilen Sie sich! Beeilen Sie sich!«

»Ja, aber ich habe doch –«

»Jetzt ist es zu spät!« sagte Thomsen und packte sie wieder beim Arm. – »Da ist er!«

Auf dem Kieswege hinter der Kapelle wurden schwere, knirschende Schritte hörbar, und der Totengräber kam um die Ecke.

»Es soll jetzt geschlossen werden«, sagte er. »Darf ich Sie ersuchen, den Friedhof zu verlassen?«

Fräulein Rejersen wand sich, um loszukommen. Manuel aber hielt sie fest.

Der Totengräber trat näher heran.

»Was geht hier vor sich?« fragte er. Und als er die beiden erkannt hatte, fuhr er fort: »Aber sind Sie denn von Sinnen, Thomsen?«

»Das Fräulein hat alle diese Rosen gestohlen!«

»Sind Sie verrückt, Thomsen? Lassen Sie sie los!« Manuel gab seine Beute frei, und die Waldhornistin verschwand im selben Augenblick zwischen den Gräbern.

»Sehen Sie, alle diese Rosen!«

»Ja, ja!« sagte der alte Totengräber und schüttelte den Kopf. Er war weißhaarig und weißbärtig und kannte die Welt.

»Hat sie Erlaubnis dazu?«

»Bewahre hat sie Erlaubnis dazu, bewahre –«

»Das ist eine Grabschändung!«

»Ja, das ist es! Das ist es!«

»Und darauf steht Strafe!«

»Freilich, ja, es steht Strafe darauf! – Gehen Sie aber jetzt, lieber Thomsen! Es soll geschlossen werden!«

Manuel starrte den Totengräber wie eine Erscheinung an.

»Dürfen die denn hier drinnen stehlen?« fragte er.

»Nein, bewahre! Natürlich dürfen sie das nicht!« sagte der Alte und schüttelte von neuem den Kopf. – »Bewahre dürfen sie das! Aber (hier beugte er sich zu dem pflichteifrigen Manuel herab, und seine Stimme ward flüsternd vertraulich) aber sie tun es ja alle zusammen, lieber Thomsen: alle Damen, namentlich die alten Fräulein. Daher nützt es auch nicht, so eine Sache aufzuwühlen. – Helfen Sie mit jetzt die Blumen aufsammeln und nehmen Sie Ihrer Mutter eine Handvoll davon mit. Dann nehme ich den Rest für meine Frau mit, und damit hat die Sache ein Ende!«

Und Manuel krümmte seinen Rücken, sammelte sich eine Handvoll Rosen auf, barg sie an seiner Brust, knöpfte den Rock sorgfältig darüber zu und entfernte sich.



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