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10

Die Züge liegen stundenlang auf den Haltestellen, und mitunter gehen ein paar Matrosen an den Fenstern entlang und befehlen auszusteigen, da der Zug für Revolutionstransporte gebraucht werde. So dauert es lange Zeit, bis sie in der Hauptstadt ankommen. In einigen Winkeln wird noch gekämpft, und sie müssen Umwege machen, bis sie zu Percys Mutter kommen. »Allerhand Schnee in den Karpathen, Johannes«, sagt Oberüber und horcht nach den fernen Detonationen der Minenwerfer.

Das Mädchen führt sie hinein. Die Gräfin steht am Fenster und blickt hinaus, aufrecht, streng, wie sie sie von ihrem Besuch in der Kaserne in Erinnerung haben. Johannes hat das Gefühl, als habe sie vier Jahre so gestanden, ohne sich niederzulegen, und gewartet, daß es zu Ende sei.

Oberüber knallt die Absätze zusammen, und die Gräfin dreht sich um. Es sind Percys Augen, die aus dem grauen Licht eines trüben Himmels zurückkehren, und Percys Mund, der auch zum Tode nichts anderes zu sagen für nötig befindet, als »Zu Befehl!«. Keine Dankbarkeit leuchtet über das Gesicht, keine Erschütterung des Wiedersehens. Das Gesicht wartet, ohne Hast und Angst. Es hat vier Jahre gewartet, und auch diese Minuten werden es nicht verändern.

Johannes will etwas sagen, aber seine Lippen gehorchen ihm nicht. Oberüber steht kerzengerade und unbeweglich. Wenn er ein Gewehr hätte, würde er wahrscheinlich den Präsentiergriff machen.

Dann legt Johannes die Dinge auf den Tisch, die sie dem Toten abgenommen haben. Das dünne Papier öffnet sich, und nun blicken alle Augen auf den kärglichen Rest seines jungen Lebens: die Uhr, die Kreuze, das Zigarettenetui, die Erkennungsmarke, den Brustbeutel. Auf seinem schmutzigen Tuch liegen stumm ein paar rote Flecken.

Johannes greift in die Tasche und legt eine Skizze des Grabes dazu. »Wir haben ihn bis über den Rhein gebracht«, sagt er nun endlich. »Wir beide ,… in einem Sarg ,… er hatte es befohlen.«

Die Gräfin sieht ihn an. Sie hebt den Kopf mit derselben Bewegung wie Percy. Johannes erzählt es, und Oberüber nickt zu den einzelnen Tatsachen. Dann ist eine Pause, und dann setzt Johannes leise hinzu: »Niemals wird jemand so sein wie er ,…«

Die Gräfin tritt zu ihnen heran und sieht von Gesicht zu Gesicht. »Ihr beide?« fragt sie. »Ihr beide allein? Acht Tage und Nächte?«

»Ja, Frau Gräfin.«

Sie nimmt die Hände der beiden zusammen, nacheinander, Johannes' schmale und ringlose und Oberübers breite, von vielen schweren Dingen zerfurchte, mit dem Aluminiumring und dem Kupfereinsatz aus einem Führungsring. Sie hebt sie auf, so zart, wie man Blumen zu einer Schale aufhebt, und hält sie zwischen ihren weißen Fingern.

»Mit diesen Händen?« fragt sie.

»Ja, Frau Gräfin.«

Sie beugt sich nieder, um sie näher vor ihren Augen zu haben, und dann neigt sie die Stirne langsam, immer tiefer, bis ihre Hände sie empfangen. Sie können sich nicht wehren. Sie fühlen, wie kalt und schwer ihre Stirn ist und wie gut es ihr ist, in der Beugung ihres warmen Lebens auszuruhen. Sie blicken auf den dunklen Scheitel nieder und sehen die weißen Fäden aus ihm schimmern. Sie empfangen keine Träne in die Schale ihrer Hände, kein Wort, keine Zärtlichkeit, aber es ist ihnen beiden, als ob sie das Blut eines Menschen empfingen.

Und dann steht die Gräfin wieder am Fenster, und sie gehen beide hinaus.

Unten auf der Treppe, neben der Pförtnerloge, setzt Oberüber sich auf den roten Läufer der Stufen. »Laß mir ein bißchen sitzen, Johannes«, sagt er vor sich hin. Er stützt die Stirn in die Hände und starrt in das dämmerige Treppenhaus. Johannes steht am Geländer und wartet. Es ist ihm schwer ums Herz, wenn er an die Mütter denkt, zu denen niemand heimkehrt.

Die Portiersfrau kommt aus ihrer Kammer heraus, eine große, starke Frau in Trauer, und bleibt vor ihnen stehen.

»Vom jungen Grafen?«

»Ja.«

»Wie ist er gefallen?«

»Brustschuß ,… am Maschinengewehr.«

Sie lächelt. Ein hartes, furchtbares Lächeln. »Meiner ist ertrunken«, sagte sie langsam, »in der Latrine, in Rumänien. Er war gefangen und hatte Ruhr. Alle hatten sie Ruhr. Und er fiel von der Stange, nach rückwärts, und ertrank. Die Wachleute lachten. Einer, der geflohen ist, hat es erzählt. ›Gott mit uns‹ stand auf seinem Koppelschloß ,… ja ,… tanzen kann sie, mit seinem Brustschuß ,…«

»Komm!« sagt Oberüber und steht schnell auf.

Sie finden das Schloß nicht, und die Frau öffnet ihnen die Tür. »Tanzen kann sie ,…«, wiederholt sie abwesend.

Schnee fällt, als sie von ihrem Truppenteil entlassen werden. Sie sollen noch Fuhrparks bewachen, Kasernendienst tun, aber sie wollen nicht mehr. Ihr Krieg ist zu Ende, und man hält sie nicht. Es ist kurz vor Weihnachten, und sie bleiben vor den Schaufenstern stehen und blicken mit abwesenden Gedanken über die kärglichen Dinge der Freude, die der Krieg übriggelassen hat. Und hinter den schimmernden Dingen, deren Glanz falsch und nachgemacht ist, sehen sie ihre beiden Gestalten in der Spiegelscheibe. Sie haben lange keinen Spiegel gesehen, der sie zurückwirft, vom Kopf bis zu den Füßen, und sie blicken aufmerksam auf die beiden grauen Erscheinungen, die dort unbeweglich am Fenster stehen. Ein Hauch der Fremde und der Verwilderung umweht sie, die schmutzigen und zerrissenen Mäntel, bei denen mit dem Fehlen des Koppels und der Achselklappen auch ihr verborgener Sinn zu fehlen scheint, die gedrückten Mützen, die breiten, schweren Schuhe, gehärtet von Lehm und Kreide und Blut. Und aus dieser Heimatlosigkeit und gleichsam ausgestoßenen Verwilderung blicken die grauen, hageren Gesichter sie an, mit den bitteren Linien des Mundes und der erschöpften Fremdheit der Augen. »Was wollt ihr dort auf der Straße?« fragen die Augen. »Was wollt ihr dort im Fenster?« erwidern die andern Augenpaare. Sie empfinden einander nicht als Spiegelbilder, sie empfinden einander als eine Spaltung zerstörter Einheit. Sie werden nun immer jemanden haben, der fremd und doch unheimlich vertraut neben ihnen hergeht, der ihnen folgt aus dem Nebel der Vergangenheit, eine graue, allgemeine, namenlose Gestalt.

»Jedermann«, sagt Johannes und sieht sein Spiegelbild an. »Sie haben auch unsern Namen ausgelöscht, Heinrich ,… Komm weiter, daß ich mich nicht mehr sehe.«

»Kommt alles wieder zurecht, Johannes«, erwidert Oberüber, aber er schlägt den Kragen hoch und vergräbt die Hände in den Manteltaschen, als wollte er sich unkenntlich machen vor dem, der im Schaufenster mit ihm mitgeht.

Sie sind lange nicht in der Heimat gewesen, und es fällt ihnen auf, daß die Menschen müde und alt geworden sind. Sie sehen Kinder, bei deren Anblick sie stehen bleiben müssen, und Frauen, vor denen sie zur Seite sehen. Vor den Geschäften stehen sie in langen Reihen, schweigend, gebeugt, mit der Geduld von wartenden Tieren.

»Korn muß gesät werden, Heinrich«, sagt Johannes plötzlich, »viel Korn ,… und Blumen müssen gepflanzt werden, viele Blumen ,…«

Oberüber nickt. »Kommt alles zurecht, Johannes«, erwidert er, auf die Reihe der Hungernden blickend. »Masse zu tun auf der Welt.«

Sie beschließen, zu Fuß nach dem Karstenhof zu gehen. Sie haben einen Widerwillen vor der Bahn, vor der Nähe fremder Gesichter, Fragen und Urteile. Johannes macht einen Umweg, um nicht an der Gärtnerei, an Frau Lisas Fenster, an Luthers Haus vorbeizukommen. Es ist zu früh dazu. Er sieht nicht mehr in die Schaufenster hinein, aber er weiß, daß der andere mit ihm geht, der Graue, Hagere, Namenlose. Und eine leise Angst beginnt in ihm aufzusteigen, daß seine Mutter ihn nicht erkennen könnte.

Sie gehen denselben Weg, den Johannes in der Nacht gegangen ist, als Ginas Stimme ihn gerufen hat. Der Schnee fällt lautlos und dicht, ohne Wind, und begräbt die Straße, die Büsche, den Wald. Sie gehen nebeneinander, im gleichen, langsamen Schritt, und aus der Unzerstörtheit der Erde fließt langsam ein stiller Friede in sie hinein. Sie haben das lange nicht gesehen, eine lange, glatte, lautlose Straße, eine ungebrochene Wand von Bäumen, deren Wipfel schweigend den Schnee empfangen, Spuren des Wildes, die gleichmäßig neben dem Wege herziehen, Eindruck neben Eindruck. »Es ist noch etwas geblieben«, denkt Johannes, »was sich nicht verändert hat, seit ich ein Kind war. Die unterste Sprosse ist geblieben. Eine neue Leiter wollen wir bauen.«

Camarade steckt die Nase in jede Spur, verschwindet in den Büschen und taucht vorn auf der Straße wieder auf, nach ihnen zurückblickend, ob sie auch folgen. Sie sehen ihm beide zu, und obwohl in ihrer Erinnerung mit seinem Bild der Keller wieder aufsteht, die Höhlen und Krater, das Bild der regennassen Straßen, über die der Deckel des Sarges schwankt, empfinden sie es nicht als eine bedrückende Last, sondern als das einzig Lebendige, das sie aus dem Reich des Todes mitgebracht haben zu den Menschen des Friedens.

»Wir werden pflügen, Heinrich«, sagt Johannes und fängt die Schneeflocken in seiner hohlen Hand auf. »Wenn dieser Schnee geschmolzen ist, werden wir pflügen. Furche an Furche, vom Morgen bis zum Abend ,…«

»Ja, Johannes«, erwidert Oberüber und sieht ihn von der Seite an.

»Und abends werden wir zum Schwarzbart gehen, Heinrich, und vor seinem Ofenfeuer sitzen. Er wird rauchen wie ein Kohlenmeiler und furchtbare Geschichten aus dem Kriege erzählen. Und Tante Malle wird weinen ,… und alles wird sein wie früher ,…«

»Ja, Johannes.«

Johannes bleibt stehen und sieht ihn an. »Glaubst du es nicht, Heinrich? Glaubst du es nicht, daß wir noch einmal zurückfinden?«

»Alles läuft sich zurecht, Johannes, und fürs erste kann es ja so sein, wie du denkst. Aber du mußt nicht denken, Johannes, daß du ein Bauer bist. Für das Korn, da sind wir da, aber für das andere, da bist du da, Johannes. Die Menschen werden mehr brauchen als Brot, das glaub' mir man. Wenn ein Kind weint, dann kannst du ihm Zucker geben oder eine Semmel. Aber wenn die Großen geweint haben, vier Jahre, in jedem Dorf auf der Welt, dann reicht das nicht aus mit Semmel und Zucker. Oder glaubst du, Klaus braucht nicht mehr als eine Pfefferminzstange? Oder sie, am Fenster, mit Brustbeutel und Erkennungsmarke? Oder die mit ihrem Sohn in Rumänien? Laß dir man Zeit, Johannes. Sie werden dir noch brauchen, wie der Grafensohn dir gebraucht hat, zum Sterben wenigstens, und wie der kleine Klaus dir gebraucht hat, schon als er noch seine zwei Beine hatte ,…«

Dann gehen sie wieder durch den fallenden Schnee. Mitunter heben sie die Schultern, um gewiß zu sein, daß der Tornister nicht mehr da ist, und die Abwesenheit dieser harten, schweren Dinge ist ein Glück, das sie langsam zu erfüllen beginnt. Sie gehen nicht in ein Gefecht, eine Revierstube, ein Stacheldrahtdepot. Sie gehen ohne Auftrag und Befehl, einfach vor sich hin, ohne Uhr, ohne Ausweis. Sie gehen eben. Zu einem Herdfeuer, einem weißgedeckten Tisch, zu Händen, die nichts von Blut wissen.

Ein Schlitten mit Brennholz kommt ihnen entgegen. Der Fuhrmann sitzt auf den weißen Birkenkloben, die Mütze über die Ohren gezogen. Sie treten zur Seite, und Oberüber knallt die Absätze zusammen. »Ein Unteroffizier, ein Mann auf dem Wege vom Weltkrieg zum Frieden!« meldet er mit unbewegtem Gesicht.

»Nanu?« fragt der Mann verblüfft und zieht die Leine an.

Aber Oberüber macht schon eine Kehrtwendung. »Halt dir tüchtig, Kamerad«, ruft er leutselig zurück.

Johannes lächelt, und dann ist wieder der Schnee und das Schweigen und Camarades brauner Körper, der hinter einer Meise her jagt.

Aber in der Siedlung, deren Straße sie überqueren müssen, kommt ihnen im Schneegestöber eine graue Gestalt entgegen, auf deren Mütze und Schultern der Schnee liegen geblieben ist wie auf einem wehrlosen Pfahl im Felde. Sie ist klein, und der Mantel hängt auf eine seltsame lose Art um die steifen Beine, die sich hart und hölzern vorwärtsbewegen wie auf einem Puppentheater. Aber das Schreckliche ist, daß die Schultern hochgeschoben sind von den beiden Krücken, auf denen die Gestalt geht, und der große Kopf eingezogen zwischen ihnen zu liegen scheint, als fürchte er sich vor einem Schlage. Ein leise knarrender Ton begleitet jeden Schritt, als sei ein geheimnisvoller Mechanismus in den Körper eingebaut.

Sie bleiben beide stehen, und auch die Gestalt bleibt stehen und blickt zurück. Camarade ist hinter ihr und bellt sie an, weil sie ihm fremd und unheimlich erscheint. Und dann schreit die Gestalt auf. Es ist ein hoher, kindlicher Schrei, und sie hebt beide Arme von den Griffen der Krücken, mit einer unvorsichtigen Bewegung, die das Gebundene des Zustands vergißt, so daß sie taumelt und fallen würde, wenn die beiden nicht zusprängen ,… »Jo ,… Johannes!« ruft die Gestalt.

Sie halten ihn, und sie streicheln ihn, ganz wie ein Kind. Der Schnee umhüllt sie wie eine Wolke und löscht alles andere aus: die Häuser, die Straßen, den Raum, die Zeit. Ganz allein stehen sie da, losgelöst von der Welt, und es ist ihnen, als begännen ihre Wunden wieder zu bluten, gemeinsam, wie in jenem verfallenen Graben, wo sie zum letzten Male beieinander waren.

»Ich soll gehen«, sagt Klaus zur Entschuldigung, »viel gehen, damit ich mich daran gewöhne ,… und wenn es so schneit, sind alle in ihren Häusern, da ist es leichter ,… nur der Hund, seht ihr, der hat es gemerkt, daß etwas nicht stimmt ,… ach, Johannes, Heinrich, hat es euch nicht behalten draußen?«

Sie gehen mit ihm in das Dienstzimmer der Station. Der alte Wirtulla fährt mit der Hand an den Knöpfen seiner Uniform entlang, als sie eintreten, und sie helfen Klaus in seinen Selbstfahrer, der neben dem Ofen steht, und breiten die Decke über die Knie, die nicht da sind. Der Telegraph tickt, und der gelbe Streifen raschelt auf dem großen Tisch. Der Bahnmeister ist noch kleiner und ängstlicher geworden, und wieder sieht er auf die Schuhe der beiden Heimgekehrten.

»Ja, nun ist es ja zu Ende ,…«, sagt er leise.

»Er wird fragen«, denkt Johannes, »gleich wird er fragen ,… er kann es ja noch nicht wissen ,…« Er sieht Oberüber an, und dieser erwidert den Blick. Auch er denkt dasselbe.

»Ja, nun ist es zu Ende ,…«, wiederholt Johannes. »Nun werden wir pflügen ,…« Er hält inne, weil ihm einfällt, daß Klaus nicht mehr pflügen kann.

»Zu Ostern gehe ich in die Werkstatt«, sagt Klaus. »Der Professor hat es für mich vermittelt.« Aber er sieht von einem zum andern, und sein großes, trauriges Gesicht verbirgt sich zwischen den Schultern, als erwarte er den Schlag, mit dem sie noch zurückhalten.

»Percy ,…«, sagt Johannes laut.

»Ja«, flüstert Klaus.

»Percy ist tot.«

Sie blicken zur Erde, und Oberüber erzählt, wie es gewesen ist. Auch von dem Besuch bei Percys Mutter. Nur von der Portiersfrau schweigt er. Klaus hat die Arme über die Stützen seiner Krücken gelegt und die Hände gefaltet. Er nickt mit seinem großen Kopf, und mitunter sieht er scheu von unten in Oberübers graues, zerknittertes Gesicht.

Dann hören sie, wie der schwere Schritt die Treppe herunterkommt, und wieder sieht Johannes die schwere Last auf den harten Schultern und die harte Hand, die sich zitternd am Geländer hält.

Sie stehen auf, als die Frau hereinkommt, und sagen »Guten Tag«. Aber sie nickt nur, und auch ihre Augen gehen gleich nach den schweren Schuhen der beiden, unter denen der Schnee schmilzt.

»Der Graf ist gefallen«, sagt ihr Mann. Es klingt wie eine Entschuldigung.

»Selig sind die Gefallenen«, erwidert sie laut. »Denn sie können an die Himmelstür gehen.«

»Und die andern werden für sie anklopfen«, sagt Oberüber vor sich hin.

Sie sieht ihn mit einem harten Blick an und geht aus dem Zimmer. Wieder hören sie den schweren Schritt die Treppe hinaufgehen. Eine Tür fällt zu, und dann ist wieder alles still.

»Das Mitleid ,…«, sagt Klaus nach einer Weile. »Ohne Mitleid ist alles leicht ,… der Hund, der mich angebellt hat, das ist viel natürlicher ,… Denkt immer ein bißchen daran ,…«

Dann verabreden sie, daß er zum Weihnachtsabend auf den Karstenhof kommen soll, und dann machen sie sich wieder auf den Weg. Klaus fährt mit ihnen bis an die Ecke des Stationsgebäudes. Sie haben die Schwellen im Hause beseitigt, damit sie seinen Wagen nicht behindern.

Bevor sie gehen, hebt Klaus sein Gesicht schnell und verstohlen zu Johannes empor. »Es hat aufgehört, Johannes«, sagt er leise, »das in der Nacht, weißt du ,… und nun tut es ihr noch mehr leid, das von früher ,…« Er lächelt, und es kommt Johannes vor, als mildere etwas Schalkhaftes die bitteren Falten um seinen Mund.

Auch Johannes lächelt zur Antwort. »Hinter dem Walde, kleiner Klaus«, sagt er, und eine glühende Überredung zittert in seiner Stimme, »wenn wir hinter dem Walde leben werden ,… dann wird dies alles gut sein.«

»Weißt du, Johannes«, sagt Oberüber nach einer Weile, »daß dies alles schwerer ist als der große Krieg?«

Sie wissen es beide.

Um die Dämmerung sehen sie das Haus zwischen den Ahornwipfeln. In der Scheune geht die Häckselmaschine, und sie hören jeden Schnitt der Messer durch das Stroh. Die tiefen Dächer sind weiß, und die kleinen Tannen im Garten, tief verschneit, sehen wie verkleidete Kinder aus, die unter die Fenster treten wollen, um den Stern der drei Könige hochzuheben. Es ist, als werde eine andere Erde vor ihren Augen wieder lebendig, die in der Verzauberung geblieben ist, während sie draußen in den Bergwerken des Todes begraben lagen. Sie sehen einander nicht an, und sie sehen an ihren Gestalten nicht hinunter, aber sie fühlen vor dem weißen Abend das Wilde und von vier Jahren Beladene ihrer Erscheinung.

»Wie die Knechte des Herodes ,…«, sagt Johannes.

Oberüber versteht es gleich. »Keiner ist schuld, Johannes«, sagt er mit Entschiedenheit. »Alle Menschen waren im Krieg ,… meinst du, daß sie uns nicht aufmachen werden?«

»Diese Tür ist nie verschlossen, Heinrich. Auch in der Nacht nicht. Gott könnte hineingehen wollen oder ein Sterbender. So hat meine Großmutter gesagt. Nun komm.«

Das Haus ist still, nur über der Treppe aus einem der Bodenzimmer kommt ein leiser Gesang, von zitternden Akkorden begleitet. Es klingt traurig und verloren in dem großen Hause. Es ist eine Männerstimme, aber nur der Tiefe nach. Alles andere an ihr ist gleich der Stimme eines erwachsenen Kindes: der Klang, die Zartheit, die Versunkenheit. Die Akkorde sind metallen und verwehen schnell. Es könnte eine Zither sein, über die eine müde Hand sich verloren legt.

Es ist Johannes, als habe er die Stimme gehört, lange Jahre vorher, aber er kann sich nicht erinnern, und eine leise Unruhe fällt über ihn, als sei ein fremder Ton im Hause, ein fremdes Holz im dunklen Dachgestühl.

Er kennt die Melodie nicht, aber je länger sie lauschen, desto mehr ist ihm, als gehe sie Schritt für Schritt in sie hinein, als sei es eine Jedermann-Melodie, die überall zu Hause sein könnte, wo die Höhlen unter den Stacheldrähten liegen, eine Melodie der grauen Kolonnen aller Länder, und er sieht ohne Übergang das mondbeglänzte Moor und hört den Gesang der Feinde aus den fremden Gräben. Er weiß nun, daß es ein Soldat ist, der dort oben singt, und vielleicht ist es einer der russischen Gefangenen, die auf dem Hofe gearbeitet haben und noch nicht heimgekehrt sind in ihr Land.

Er weiß, daß nur zwei Wände ihn von seiner Mutter trennen, aber immer noch stehen sie und lauschen. Es ist wie ein erster Gruß des Hauses. Niemand weiß es noch, daß er da ist, aber das Haus weiß es, das alle Töne seiner Flöte still bewahrt hat, alle Lieder seiner Kindheit, und das ihn nun leise empfängt. Camarade hebt den Kopf zu ihm auf, und er legt die Hand auf sein feuchtes Haar. Ledo ist tot, aber alles Tote ist lebendig im Lande Ohneangst. Das Tier ist da, die Melodie ist da, und das leise Leben des Holzes im Balkenwerk über dem Flur, das schon da gewesen ist, als er noch ein Kind war und in der Dämmerung auf der untersten Treppenstufe gesessen hat, um zu lauschen, wie das große Haus »schlafen ging«.

Als der Gesang aufhört, unvermutet und scheinbar ursachlos, wie ein Wind im Walde aufhört, gehen sie leise durch den Nebenraum nach des Großvaters Stube, und Johannes öffnet die Tür. Er weiß, daß man sie lautlos öffnen kann.

Gina hat gerade die Lampe angezündet, und ihre linke Hand liegt noch auf der weißen Glocke. Sie hat es vergessen, denn ihr Gesicht hat keinen Anteil an ihrer Beschäftigung. Es ist abgewendet und einem fremden, unsichtbaren Bild hingegeben. Die leisen Akkorde klingen wieder durch die Stille, und sie lauscht ihnen, still versunken, aber nicht ohne Sorge, wie man dem Atem eines kranken Kindes lauscht, und das Schmerzliche der Klänge zittert wie ein feiner Hauch über ihre gesenkten Augenlider. Sie hat die Flamme noch nicht hochgeschraubt, und das milde Licht umgibt ihre zarte, fast kränkliche Gestalt, die noch rührender erscheint durch das schwarze Tuch um ihre Schultern. Die Dinge des Raumes sind noch da, unverändert in ihrer Schwere und ihrem Alter von Jahrhunderten, aber die Gestalt der Frau sieht fremd in ihnen aus, kindlich, wehrlos, und es ist, als sei sie nicht in ihnen zu Hause, sondern nur in dem matten Licht und den verwehenden Klängen.

Und während Johannes von der Schwelle dies alles umfaßt, fühlt er mit einer schmerzenden Deutlichkeit, daß sie ja noch gar nicht gelebt hat, noch gar nicht begonnen hat zu leben, obwohl sich graues Haar durch ihren dunklen Scheitel zieht. Daß alle diese Dinge um sie viel zu schwer und drohend für sie sind, wie die ganzen Jahre es gewesen sind, und daß die Dinge ihres Lebens so zart und verwehend sein müßten wie die Klänge, die durch die weiße Balkendecke herunterdringen. »Ich habe ihr Blut getrunken«, denkt er, »alle die langen Jahre ,… und als ich mein Blut draußen vergoß, habe ich mich am Leben erhalten, weil ich das ihre getrunken habe ,…« Und in demselben Augenblick, als diese Gewißheit ihn erfüllt, weiß er, wer dort oben sitzt und spielt, sieht jede Linie des vergessenen Gesichtes, jede demütige Gebärde der schmalen Hände, jede Falte der Mißhandlung, die sich in den langen Jahren in die klare Stirn gegraben hat. Weiß, weshalb seine Mutter noch immer die Hand auf der Lampenglocke hält, verloren in den Klang, der hinter der trennenden Decke einsam in sich steigt und fällt wie in einem anderen Hause.

»Mutter«, sagt er schnell, »nun hast du genug gewacht ,…«

Die Glocke klirrt ein wenig, und die Hand fällt auf die Tischplatte herab. Es ist die schwere, todmüde Bewegung eines Armes, der ein Licht gehalten hat und nicht zittern durfte, lange Zeit, und der nun in die Erlösung fällt, die schon jenseits seiner Hoffnung gewesen ist. Auch ihre Augen kehren wieder aus dem fremden Land und erfüllen sich langsam mit dem Bild des Heimgekehrten, der wartend auf der Schwelle steht, als wolle er ihr Zeit lassen, sich wieder zurückzuwenden zu einem fremd gewordenen Kind.

»Mein Leben«, sagt sie leise, und dann weiß er, daß ihr Herz ihn wiederempfängt, daß er aus dem Dunkel der Ferne, des Krieges und der blutigen Jahre wieder in das Licht ihrer Augen, in die Wärme ihrer geöffneten Hände tritt, als habe sie ihn von neuem geboren und lege sich nun still zurück, um ihres Werkes froh zu werden und des Lohnes ihrer Schmerzen.

»Meine Mutter«, sagt er noch einmal, die Hände um ihr Haar gelegt. »So lange hat es gedauert ,…« Wieder sieht er das Beben ihrer Augenlider, und er weiß, daß sie den Doppelsinn seiner Worte versteht, die auch den umfassen, der oben über seinen Klängen sitzt. Keine Fremde ist zwischen ihnen, und wie früher verstehen sie das leiseste Wort, das über die Schwelle ihrer Gedanken geht.

»Und dies ist Heinrich«, fährt er mit heller, veränderter Stimme fort. »Der nun bei uns bleiben wird, weil er kein Zuhause hat und weil ich ohne ihn nicht hier stehen würde.«

Oberüber knallt die Absätze zusammen und ordnet die Falten in seinem Gesicht. »Das ist alles Unsinn, Johannes«, murmelt er, »alles Unsinn ,… und wenn die Frau mir ein bißchen Zeit lassen möchte ,… zum Verruhen bloß ,… und dies ist der Dritte, den wir mitgebracht haben ,… Camarade heißt er, ein französischer Hund und eine treue Seele, vom Kanal bis hier ,… hat auch nichts für den Krieg gekonnt und für alles andere ,…«

Die Stube ist plötzlich hell, warm, geborgen. Die Wände stehen fest, die Decke bebt nicht, das Licht flackert nicht. Der Schnee rieselt an den Fensterscheiben, und die schweren Schränke stehen mit ihren Rücken gegen das Draußen und die Welt, hundert Jahre schon, Bürgen der Ewigkeit, die keine Zeit zerbricht.

Johannes, noch im Mantel, sitzt auf der Ofenbank und lehnt den Kopf an die warmen Kacheln. Er ist müde, hilfsbedürftig, von den Bildern der Jahre erfüllt, bedrängt und gebeugt, wie das Kind von den Bildern des langen, hellen, rauschenden Tages. Er ist still wie nach einem Abendmahl und bebend wie nach einem kindlichen Lauf über nächtliche Felder. Aber in dem nachzitternden Raum seiner Seele stehen fest und tröstend die Gewißheiten: das Licht der Lampe, das Gesicht der Mutter, das Schweigen des großen Hauses.

Er sieht Oberüber an. Nur er kann wissen, wie ihm zumute ist. Er steht am Tisch, noch immer etwas betäubt und verlegen, auf seinen gekrümmten Beinen, über die sie am Anfang immer gelächelt haben, und seine Augen wandern unruhig von Gina zu der Lampe, zu den Schränken, zu den Fenstern, hinter denen die lange Nacht steht. Er steht da wie in einem unbekannten Graben und als habe er die Parole vergessen, und bevor er auf Ginas Aufforderung den Mantel auszieht, greifen seine Hände nach hinten, um die Riemen des Tornisters aufzuhaken, der gar nicht da ist.

»Der Friede, Heinrich«, sagt Johannes.

»Befehl, Johannes«, erwidert er. »Frieden zur Stelle ,… komisch, Johannes ,…«

Der Großvater kommt. Margret kommt. Beide haben weißes Haar, und Johannes sieht immer wieder verstohlen in ihre Gesichter. Sie sind älter geworden, langsam und von innen heraus wie ein Baum. Und in dieser gehorsamen Erfüllung eines Gesetzes liegt das Fremde für Johannes. Er grübelt über diese Gesichter, sieht seine Mutter an und findet nichts Fremdes an ihr. »Es wird der Tod sein«, denkt er endlich. »Sie sind nicht im Tode gewesen. Sie sind in Sorgen gewesen, in Angst, im Leid, aber nicht im Tode. Nur meine Mutter ist im Tode gewesen wie wir ,… von neuem spaltet sich die Welt, auch im Frieden, auch zu Hause ,… ja, viel hat man mit uns getan, dort draußen, und wir müssen zusehen, daß wir unsere Fäden wieder anknüpfen können, an etwas, das geblieben ist, oder das sich verändert hat gleich uns ,…«

Er wird still. Der Boden schwankt noch immer unter seinen Füßen. Seine Gedanken gehen zurück, immer wieder zurück, zu Percy, Klaus, zur Kompagnie, zur Gemeinschaft der Namenlosen. Gina steht hinter ihm und legt ihre Hand auf sein Haar. Sie weiß alles, sie allein. »So ist es gut«, sagt er, »so wird es wieder zurechtkommen ,…«

Ein Schritt geht oben über der Decke hin und her, ein ruheloser und geduldiger Schritt ,… »Er war gefangen«, sagt Gina leise, »in Sibirien ,… sie haben ihn ausgetauscht.« Sie will noch weiter sprechen, aber sie verstummt, und Johannes fühlt das leise Zittern ihrer Hand auf seinem Haar. »Ja, Mutter, ich will hinaufgehen.«

Es ist die Kammer neben Ginas Kammer, Johannes steht eine Weile im Dunkeln. Es ist ihm, als habe kein Raum des Hauses so getreulich die Jahre für ihn bewahrt wie dieser Raum unter dem hohen Dach, wo es nach Äpfeln roch, nach Korn und dem Dunkel der Räucherkammer. »Wenn ich alt bin«, denkt er, »werde ich zurückkommen. Ich werde nicht in einem Mietshause sterben.«

Hinter der Tür geht Bonekamp auf und ab, sein Lehrer Bonekamp mit den zarten Geigenhänden, die er unter dem Pult zu falten pflegte, wenn seine Seele mißhandelt wurde von den Augen der Kinder und von Knurrhahns alttestamentlicher Autorität. Bonekamp, der die Geige mitbrachte und über den Kellern des Siedlungshauses spielte, in denen all das Schreckliche geschehen war. Bonekamp, der weinend in das Grenzdorf ging und dem er das hölzerne Tier beim Abschied schenkte, das der Großvater ihm geschnitzt hatte. Der Zarte und Scheue, der zu Gina aufsah wie zu einem Altarschrein, dessen Türen sich niemals öffneten, weil sie Johannes zu behüten hatten, nichts als Johannes. Ein heißes Mitleid erfüllt ihn, und schnell, ohne anzuklopfen, öffnet er die Tür.

Bonekamp steht am Fenster und sieht hinaus. Das Zimmer ist dunkel, nur vom Schneelicht erhellt, und gleich einer Zelle scheint es Johannes erfüllt von dem Nachhall der auf und ab wandernden Füße, von dem lautlosen Kreisen gefangener Gedanken. Eine bittere Trostlosigkeit steht im Raum, und er bleibt an der Tür stehen, als müsse erst der Klang seiner Stimme einen Weg bereiten für seinen Schritt. »Ich bin es«, sagt er leise, »Johannes«.

Bonekamp erschrickt, aber dann kommt er näher, in das Dunkel hinein, und reicht ihm die Hand. »Der kleine Johannes ,…«, sagt er, »bist du das, kleiner Johannes?«

Auch seine Stimme scheint aus der Ferne zu kommen wie seine Gestalt. Es ist, als kämen sie aus einem Totenzimmer, erfüllt von dem Bilde einer anderen Welt, und sprächen mühsam in der Sprache der Lebendigen, aber den Türgriff noch in der Hand, um gleich wieder zurückzukehren in die Räume des Schweigens.

»Ich möchte Sie sehen«, sagt Johannes. »Ich möchte Licht machen ,… ich habe Sie so lange nicht gesehen.«

Bonekamp greift schnell nach seiner Hand mit der Streichholzschachtel, um sie festzuhalten, aber dann läßt er sie los, ohne etwas zu sagen.

Als Johannes die Glocke auf die kleine Lampe gesetzt hat, richtet er sich auf und sieht seinen Lehrer an. Bonekamp steht aufrecht da, mitten im Zimmer, wie ein Soldat, und erwartet seinen Blick. Aber sein Gesicht ist so zerstört wie ein Kindergesicht, das einen Schlag erwartet. Johannes hebt die Hände, weil ihm ist, als müsse er etwas Zerbrechendes auffangen, aber mitten in der Bewegung sieht er es: den leeren Ärmel, der an der linken Seite herabhängt, leer von der Schulter abwärts, unbeweglich wie ein aufgehängtes Kleidungsstück.

»Andreas ,…«, flüstert er. Er hat den Namen vergessen gehabt, zehn Jahre und länger, und jetzt ist er da, als sei er aus dem leeren Kleid herabgefallen und liege vor seinen Füßen.

Nun lächelt Bonekamp. Sein Gesicht entspannt sich, taucht Zug für Zug aus der Angst und Qual empor, und wird das Gesicht von ehemals, das mißhandelte Kindergesicht, über das doch ein Glanz einer fernen Verheißung verbreitet ist, das Gesicht des »vergessenen Jüngers Christi«. »Du wußtest es nicht?« fragte er. »Haben sie es dir nicht gesagt?«

Eine Fliege kriecht über die Saiten der Zither auf den Tisch und ein ganz leiser, fast unwirklicher Ton steht plötzlich im Zimmer auf. Sie sehen beide auf die schimmernden Saiten, und nun begreift Johannes auch dieses. Bonekamp wird nie mehr Geige spielen. Sie haben ihm den Arm genommen und seinen Körper entstellt. Das ist ein schweres Schicksal, obwohl er noch Blumen pflücken und ein Kind streicheln kann. Aber sie haben ihm die Geige genommen. Sie haben seine Seele der Sprache beraubt, und er wird stammeln können mit den Worten des Alltags, die auf allen Gassen liegen. Seine Seele aber wird stumm bleiben, mit Grabtüchern umwunden, und keine ihrer Mißhandlungen wird sich mehr verwandeln können in das leise Beben der Klänge, die über seinem Berge Nebo standen.

»Ja, du kannst nun gehen«, sagt Bonekamp bitter. »Ich bin ein Almosenempfänger. Ich habe den leeren Ärmel in die Tasche gesteckt, weil mir ist, als wollten sie immer etwas hineinschütten, Trost oder Mitleid, oder Takt, oder auch ein Geldstück. Sie grauen sich vor mir, weil ich ein Krüppel bin. Jeder Gesunde graut sich vor einem Krüppel ,…«

»Weshalb sprechen Sie so von ihr?« fragt Johannes traurig.

»Die Heiligen«, flüstert Bonekamp, »haben sich immer erbarmt, auch der Aussätzigen, aber um Gottes willen, nicht um der Aussätzigen willen ,…«

»Und ist es Ihnen so schwer, daß man sich des Gottes in Ihnen erbarmt?«

»Des Gottes ,… wie sagst du? Des Gottes in mir? Ist denn ein Gott in mir, Johannes?«

»Weshalb hab' ich Sie denn geliebt?« fragt Johannes einfach. »Gibt es denn eine andere Liebe?«

Dann gehen sie zusammen die Treppe hinunter. »Warte noch, Johannes«, sagt Bonekamp im Flur. »Du bist wie ein Bote mit einer großen Botschaft, und man muß aufstehen und mitgehen mit dir, mitten in der Nacht, ohne ein Kleid anzulegen ,… des Gottes in mir, sagtest du ,… dann meinst du, daß man weiter leben kann? Meinst du das? Auf der Brücke des Erbarmens sitzen und die Hand aufhalten?«

»Ja, und die gefüllte Hand umdrehen und sie ausschütten in den Strom unter der Brücke, an dem die Bettler sitzen, die keine Füße haben wie Klaus.«

»Ach, Johannes, was sagst du wieder ,… ein Licht zündest du an über meiner Nacht ,… immer war ich dein Schüler, Johannes, weißt du noch?«

Johannes öffnet die Tür. »Wir fangen alle wieder von vorn an«, erwidert er. »Nach dem Haß fangen wir wieder mit der Liebe an ,… es gibt keine Lehrer und Schüler mehr.«

Er spricht nicht mehr viel an diesem Heimkehrabend. Er muß zu den Gesichtern zurückfinden, die ihn umgeben, zu dem Haus, der Wärme, dem Schweigen. Er sieht zu, wie seine Mutter das Essen für Bonekamp zurechtschneidet und ein Stück Brot auf ihren Teller legt, bevor sie das übrige auf seinen Platz schiebt. Sie fühlt, daß er zusieht, denn sie wendet die Augen zu ihm hinüber und nickt. Ein schweres, schmerzliches Glück erfüllt Johannes, als er sie erröten sieht, und er erinnert sich der Abendstunde, als Bonekamp sie »Frau Karsten« nannte. Niemals seither hat er sie erröten gesehen. Er nickt ihr zu, ganz leise und ernst, und es ist ihm, als säßen sie beide ganz allein an dem langen, schweren Tisch. Agnetens Gesicht ist plötzlich da, das blasse, hingegebene und durstige Gesicht, das sich erfüllen lassen wollte von ihm wie von einer Schöpferhand.

Eine Zeitlang sitzt er wie über einer leeren Erde, müßig, planlos, werklos. Die Leere des Friedens überfällt ihn fröstelnd. König David strickt mit zitternden Greisenhänden an seinem Strumpf. »Sie haben dir nich zum General gemacht, Johannes«, sagt er grübelnd. »Denn sonst hätten wir den Krieg gewonnen ,…«

Oberüber hat die Spieluhr ausgepackt und heimlich den Hebel bewegt. Das silberne Geriesel der Töne erfüllt den schweigenden Raum. Die dünne Wehmut der Melodie fällt aus dem zitternden Gehäuse wie Perlen aus einer alten Hand. Eine verschollene Zeit schlägt die Augen auf, eine Zeit der Liebe, der Unschuld, der sanften Zärtlichkeit. Sie wissen alle, daß sie niemals wiederkehrt, aber es ist ihnen schön, im Vergangenen etwas zu besitzen, ein tönendes Erbe gleichsam. Daß der Krieg nicht die Zertrümmerung gewesen ist, die Auslöschung aller Zeiten, sondern daß der dünne Faden noch zwischen ihren Händen liegt, der alle Zeitalter verknüpft.

»Korn wird wieder wachsen«, sagt der Großvater, als die Töne verklungen sind.

Johannes sitzt noch eine kurze Zeit bei Gina in ihrer Kammer. Er sitzt wie als Kind zu ihren Füßen, den Kopf an ihre Knie gelehnt, und ihre Hand gleitet leise durch sein Haar, über die Narbe seiner Wunde und wieder zurück. Sie sprechen nicht. Sie sehen nach der schmalen Tür, hinter der Bonekamp noch leise auf und ab geht, und sie denken beide an sein mißhandeltes Leben, das in einem fremden Hause sich verbirgt wie ein gejagter Vogel.

»Dies ist mein Sohn«, denkt Gina. »Er ist groß und erwachsen, und seine Augen sehen alles ,… was hilft es, daß ich mich vor ihm verberge in meiner Liebe zu Andreas?«

»Dies ist meine Mutter«, denkt Johannes. »Sie hat mich geboren, aber sie ist ein Mädchen, mehr als Agnete ,… sie ist tausendmal gestorben in ihrer Sehnsucht um meinetwillen ,…«

Er steht auf und tritt an das Fenster. Die Bibel liegt auf dem kleinen Tisch. »Kam aus dem Kriege heim« steht dort geschrieben. Die Schrift ist dunkel und neu, und alles Vorhergehende scheint schon vergilbt wie ein Testament. Er liest es noch einmal, der Reihe nach. Diese wortkarge Chronik seines Lebens, die mehr seiner Mutter Chronik ist als seine eigene. Auf einer halben Seite ist es alles versammelt, was ihrer beider Leben ausgefüllt hat, aber zwischen den einzelnen Buchstaben liegen die weiten Felder ihrer Leidensäcker, ungeschrieben, unbezeichnet, ohne Wegweiser.

Er bückt sich und nimmt den Federhalter. Es ist ihm, als ob Gina abwehrend ihre Hände hebe, aber er schüttelt stumm den Kopf. »Und gab seiner Mutter ihr Leben zurück« steht nun da.

Dann küßt er sie zum Abschied. »Man muß helfen«, sagt er, dicht über ihre Augen gebeugt. »Man muß nun die Wunden heilen, mit aller Kraft ,…«

Er nimmt die Kissen und Decken aus seinem Zimmer und geht zu Oberüber. »Man kann nicht allein schlafen, Heinrich«, sagt er lächelnd. »Man muß es erst wieder lernen.«

»Befehl, Korp'ral«, sagt Oberüber vergnügt. Er steht vor seinem Bett und betrachtet die weißen Bezüge. »Wenn man wenigstens General gewesen wäre, Korp'ral«, meint er grübelnd, »aber so ,… als Frontschwein ,… schwierige Affäre ,…«

Und dann rauchen sie im Dunkeln und sprechen leise von ihrer Gruppe.

Zwei Tage später feiern sie Weihnachten. Am Morgen fährt der Großvater mit dem großen Schlitten fort. Er kommt erst in der Dämmerung wieder. Klaus wird ausgepackt, Tante Malle, die schon beim Aussteigen weint, der Schwarzbart, dessen Gesicht ganz zugewachsen ist, Luther, alt, verhungert, zerfurcht, wie ein Raubvogel. Der Krieg hat sie versengt, aber als sie in der großen Stube stehen, dreht die Zeit sich zurück, bis sie wieder an die Vergangenheit stößt. Percy ist nicht da, der Wassermann ist tot. Aber das Leben ist nicht tot, auch wenn Klaus die Decke über seinem zerstörten Körper hat und Bonekamps Ärmel leer in der linken Tasche steckt.

»Nichts ist verloren«, sagt Johannes laut. »Weine nicht, Tante Malle, nichts ist verloren. Der Wald wächst, und das Korn wächst, und unsere Herzen sind umgepflügt.«

»Ja, Johannes«, sagt der Schwarzbart, »jetzt wird es erst losgehen mit dir. Habe ich nicht gesagt, daß du ein Dichter wirst? Nun haben sie dich umgepflügt, und jetzt wird es rauskommen aus dir wie Hafer.« Hinter den Wolken seiner Pfeife weiß man immer noch nicht, ob die Sorgenfalten seines zugewachsenen Gesichtes echt sind oder nicht.

Johannes lächelt über den Hafer, aber seine Augen folgen Gina, die langsam aus dem Zimmer geht. Er hat sie ein wenig vergessen über allem Wiedersehen mit den andern. Er hört sie die Treppe hinaufgehen, und der Schritt ihrer Füße ist schwerer, als er an diesem Abend sein sollte.

Als er bei ihr eintritt, sitzt sie in ihrem Stuhl am Fenster, die Hände im Schoß gefaltet und sieht hinaus über die sich verdunkelnden Felder. Sie wendet sich nicht um, sie nickt nur, um ihm zu zeigen, daß sie seine Nähe weiß. Er steht an ihrem Stuhl und legt den Arm um ihre Schultern. Die Bewegung ist nicht anders als sonst, eine schweigende, innerliche, sanfte Gebärde, aber Gina erzittert unter ihr, und dieses Zittern bleibt. Es läuft in Schauern über ihren Körper, mit regelmäßigen Abständen, wie über den Körper eines frierenden Tieres, es häuft sich wie die Last über einem bebenden Baum, und plötzlich sinkt ihre ganze Gestalt, immer tiefer sich beugend, aus seiner Umarmung heraus, bis sie zu seinen Füßen kniet, die Stirn zur Erde gebeugt.

»Johannes«, sagt sie, »ich kann dort unten nicht sein ,… ich habe gesündigt, Johannes ,… ich ,… ich habe mich verschenkt an ihn ,… siebzehn Jahre hat er auf mich gewartet ,… ohne Arm und Geige muß er leben ,…«

»Ich danke dir«, erwidert er laut.

Sie hebt das Gesicht, fassungslos, verstört.

»Ich danke dir«, wiederholt er. »Für deine Sünde danke ich dir.« Er hebt sie auf und hält sie an seiner Brust. Sie ist kleiner als er, und er fühlt, daß sie zusammenbrechen würde, wenn er sie nicht hielte. »Nun ist sie mein Kind«, denkt er. »Nun hat sie den Stab des Geschlechtes in meine Hand gegeben ,…« »Ja, ich danke dir«, wiederholt er noch einmal. »Du hast mich genährt bis heute, und heute hast du mich aus meiner Sünde entlassen, denn bis heute habe ich dein Blut getrunken. Du hast gewartet, bis ich aus dem Kriege kam, und dann hast du erlöst, dich, ihn und mich. Du hast den Anfang gemacht mit dem, was nun vor uns liegt ,… die Tränen zu trocknen. Noch in dieser ›Sünde‹ hast du mir den Weg gewiesen. Er war dunkel vor mir, und nun ist er hell ,…«

»Johannes«, flüstert sie, »du wendest es um, bis die Sünde weiß wird ,…«

»Meine Mutter«, sagt er, und beugt sein Gesicht dicht über das ihrige. »Weißt du mir eine Mutter, die das ihrem Sohn gesagt hätte?« Und dann beginnt Gina zu weinen, mit trockenen Augen, wie sie als Kind geweint hat. Er hält ihren Kopf in seiner linken Hand, und mit der rechten streicht er leise über den schmalen Raum zwischen ihren Augenbrauen. Die Zeit geht zurück, langsam, immer langsamer, steht still und kehrt sich dann um. Das Gegenwärtige ist Vergangenheit, das Vergangene ist Gegenwart. Die Schwelle der Generationen ist überschritten. Er hält ein Kind in seinen Armen. Er ist hinübergewandert in die Gestalt der Mutter, die die Stirn des Kindes streichelt, damit nichts Böses Macht über sie gewinne und sie sich forme nach dem Willen ihrer Liebe.

Gina zündet die Kerzen am Baum an. Johannes will nicht, daß ein anderer ihr dabei helfe. Es ist ihr Evangelium, das das Haus erfüllen soll. Nur ihre Hände sind rein genug zum Evangelium. Und dann fallen die Stunden still in die Nacht hinein, sich sammelnd, erfüllend und lautlos stürzend.

Luther hält keine Rede. Aber er hebt sein Glas leise an Johannes' Glas, daß der tiefe Ton feierlich über ihre Hände schwingt. »Johannes, du Furchtloser!« sagt er leise ,… »Gesegnet sei die Zeit, an der so viel zu tun ist!«

Und dann, spät in der Nacht, winkt Klaus heimlich von der Ofenbank zu Johannes hinüber. »Ich ,… du darfst nicht lachen, Johannes«, flüstert er. »Ich muß einmal fort ,… ich habe vergessen, daß man mir helfen muß und ich will sie nicht umschnallen, nicht heute abend.«

»Kleiner Klaus«, erwidert Johannes ganz behutsam, »weißt du nicht, daß die Gruppe da ist?«

»Die Gruppe ,… ja, richtig, siehst du, alles bringst du in Ordnung, Johannes ,… und es ist ja wohl dumm, daß ich mich schäme, nicht?«

»Sehr dumm. Ich glaube, daß auch die Engel es tun müssen.«

Oberüber versteht sofort, was sie wollen. Sie heben ihn auf ihre verschränkten Hände, und er will, daß sie ihn zu seinem Wagen bringen, der im Flur steht. »Nee, kleiner Klaus«, sagt Oberüber, »solange wir da sind, brauchst du deine Droschke nich. Du sollst dir nich quälen.«

Sie tragen ihn hinaus. Er ist leicht wie ein Kind, und wie ein Kind hat er die Arme um sie gelegt. Es hat aufgehört zu schneien, und die Wölbung der Sterne steht schweigend und großartig über dem Hof und den mondhellen Feldern.

Sie tragen ihn hinter die Scheune, und er bittet sie, ihn auf den niedrigen Bretterstapel zu setzen, der dort liegt, und dann etwas zur Seite zu gehen. »Quatsch nich, kleiner Klaus«, erwidert Oberüber gutmütig. »Kannst du mir nich Weihnachten auch was tun lassen für dich? Wenn sie hier mit Einundzwanzigern schmeißen würden, würdest du dann auch Töne reden von wegen zur Seite gehen? Und mit uns wird das nun immer so sein, als ob sie mit Einundzwanzigern schmeißen.«

Johannes sieht zum Orion empor, der über dem kleinen Walde steht. Er vergißt die leichte Last des Körpers auf seiner mit Oberübers Hand verschränkten Hand. Er vergißt die kleinen Räume des Hauses, des Hofes, seines Lebens. Er weiß, daß man lächeln könnte über diese Szene, aber für ihn ist sie gleich einem Tor, das sich in die Sterne öffnet. Christus würde nicht lächeln, die Hirten auf den Feldern würden nicht lächeln, Gina würde nicht lächeln. Sie alle tragen den Mantel der Barmherzigkeit, sie alle würden das Leid bedecken mit seinen Falten, die Verstümmelung, die Mißhandlung, und auch die Blöße des kleinen Bahnmeistersohnes, der das Abendmahl für sie alle empfangen hat.

Auf dem Hof bleiben sie noch einmal stehen, weil eine Sternschnuppe vor ihnen durch das hohe Gewölbe schießt. Ein leuchtender Weg flammt noch in ihren Augen nach, als er schon lange erloschen ist.

»Jetzt haben wir alle einen Wunsch gehabt«, sagt Klaus leise. »Aber wir wollen einander nicht fragen.«

Vor der Treppe treten sie in das Mondlicht, das als ein weißes Band von der Stallecke zum Hause läuft. Ihre Schatten liegen ausgebreitet vor ihren stockenden Füßen, weit herauslaufend über den glatten Schnee des Gartens. Der mittlere ist verkürzt, und es sieht aus, als wachse er mit zwei Wurzeln aus den beiden anderen empor.

»Was ist das?« fragt Klaus, wie ein Kind, das ein Rätsel aufgibt.

»Gruppe Karsten drei Mann!« erwidert Oberüber, als melde er sie dem Mondlicht.

Sie fühlen, daß er die Arme fester um ihre Schultern legt.

Im Flur steht Gina, das schwarze Tuch um die Schultern, ein Licht in der Hand. »Es ist so leer ohne euch, Johannes ,…«

Klaus beugt sich lächelnd zu ihr herunter. Alle Falten vertiefen sich unter dem Kerzenschein in seinem alten Gesicht.

»Wir kehren heim, Frau Gina«, sagt er. »Gruppe Johannes ,… zweieinhalb Mann ,…«

 


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