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2

»Ich will es nun alles betrachten wie ein buntes Spiel«, dachte Johannes. »Nur wie ein Spiel.« Und er stieg auf die unterste Treppenstufe und blickte mit einer etwas erzwungenen Fröhlichkeit über die zweihundert Kriegsfreiwilligen, die zwischen zwei langen Schuppen des Kasernenhofes versammelt waren.

Das erste, was sich ihm darbot, waren die Hüte. Der würdige Ernst der Melonen, die heitere Sorglosigkeit der Strohhüte, die Verwegenheit der Ballonmützen. Er versuchte, eine Beziehung zu den Gesichtern herzustellen, eine Art von Gesetzmäßigkeit, die jede Erscheinung des Zufälligen entkleidete, aber es gelang ihm nicht. Er vertauschte die Gesichter und die Kopfbedeckungen, und nichts änderte sich. Er erkannte, daß es ein Massengesicht war, und in dieser Erkenntnis ging ihm unvermittelt der Sinn der Uniform auf, des Helmes, des Gleichschrittes. Er sah Percy an und Klaus und wußte, daß in wenigen Stunden eine schreckliche Veränderung über sie kommen würde wie über alle, ihn eingeschlossen, und daß es sich zunächst darum handeln müßte, aus dieser Veränderung mit einem neuen Gesicht wieder emporzutauchen wie aus einem zermahlenden Strudel. »Man muß das Gesicht aus der Uniform retten«, dachte er. »Das ist die erste Aufgabe. Das andere wird sich schon finden.« Und es erfüllte ihn mit einem leisen Trost, daß er auf etwas zu achten hätte, eine bestimmte Pflicht zu erfüllen wäre, daß man nicht unterzugehen brauchte in der Willenlosigkeit gänzlicher Unterordnung. »Sie sind alle froh«, dachte er noch, »ganz unbeschwert. Sie können noch ›außer sich‹ sein, das ist das Geheimnis ,… ich aber bin immer ›in mir‹, und ich muß lernen, mich zu verlassen, mein Haus abzuschließen und auf eine Reise zu gehen ,… Das ist die zweite Aufgabe ,…«

Dann kam der Feldwebel mit einem Buch zwischen den Knöpfen seines Waffenrockes und ein Schreiber mit Listen. Unteroffiziere umkreisten den einer Viehherde gleichenden ungeordneten Haufen. Die Zigaretten verschwanden, und als der Feldwebel seine kühlen, erstaunten Augen von einem Flügel zum andern gehen ließ und wieder zurück, wie über eine Schar von Kindern, die die Mäntel ihrer Eltern angezogen hatten und sich nun wie Erwachsene gebärdeten, verschwanden auch Gespräche, Lachen, Sorglosigkeit, und eine Art von Selbstbesinnung fiel gleichmachend über die nach einer Richtung gewendeten Gesichter.

Der Schreiber las die Namen vor, mit einer nüchternen, gänzlich unbeteiligten Stimme, wie man die Nummern einer Bauholzliste vorliest, und die Aufgerufenen schrien »hier!«, traten vor und wurden von den Unteroffizieren in Reih und Glied gestellt. Und auch hier schien es Johannes wie am vorigen Tage, daß alle Worte und Gebärden von einer leisen Verachtung durchtränkt waren, von dem Bewußtsein einer Unangemessenheit, mit der ein Meister die Arbeit eines Handlangers unternimmt.

Es gab eine Unterbrechung, als ein Mann namens Oberüber, mit einem heiter gefalteten Gesicht, dem das Fehlen zweier Vorderzähne etwas Respektloses und Unbeschwertes verlieh, austreten zu dürfen bat. Auf die sachlich gestellte Frage, ob er verrückt geworden sei, trat er lächelnd in die Menge zurück, stellte seinen Pappkarton sorgfältig auf die Erde und steckte beide Hände in einer Art von Notwehr in seine Hosentaschen. Es wurde gelacht, aber ein Unteroffizier erschien sofort am bedrohten Punkt, und der Schreiber, der mißbilligend die Vorlesung unterbrochen hatte, fuhr mit einer leisen Gekränktheit fort.

Als sie in vier Gliedern hintereinander standen, ein wenig befremdet von Ordnung, Gesetz und der merkwürdigen Nähe und Verbundenheit fremder Menschen, erfolgte die Verlesung der Kriegsartikel. Es schien ihnen allen, als sei in der Person des Feldwebels, der nun erst eigentlich in die Erscheinung getreten war, die Summe aller Drohung und Gewalttat vereinigt, vom strengen Arrest bis zum Tode, und die Verkündigung aller Sühne und Ahndung fegte wie ein Hagelwetter auf sie nieder, daß sie die Köpfe neigten und Klaus leise vor sich hin stöhnte.

Aber inmitten aller ehernen Feierlichkeit der Gesetzestafeln geschah das Unerhörte, daß der Mann ohne Vorderzähne einen Schritt aus dem Gliede trat und laut und unbefangen sagte, daß er jetzt austreten müsse, sonst platze ihm die Blase.

Zuerst glaubte Johannes, daß alle Unteroffiziere einschließlich des Schreibers sich auf ihn stürzen würden, um ihn zu töten. Aber sie hielten an sich, und alle Augen waren nicht etwa auf den Missetäter gerichtet, sondern auf den Feldwebel. Sie waren wie auf Gott gerichtet, in der Hoffnung und Furcht, es werde ein eifriger und zorniger Gott sein. Aber der Feldwebel fragte nur, wie er heiße, beugte sich zum Schreiber, und alle sahen, daß in den Listen etwas vermerkt wurde. Dann sagte der Feldwebel ohne besonderen Stimmaufwand, daß er sich zum Teufel scheren solle. Der Mann ohne Vorderzähne stellte mit einem glücklichen Gesicht seinen Pappkarton vor seine Füße und machte sich nach dem Ende der Schuppen davon, während ein Unteroffizier ihm in abgemessenem Abstand folgte. Der Pappkarton stand einsam vor der Front, und so sehr Johannes sich bemühte, den Sinn der Kriegsartikel zu erfassen, so vermochte er seine Augen nicht von dem gelben Viereck abzuwenden. Es stand so harmlos und unbeteiligt in der flimmernden Sonne, und in dem gleichsam luftleeren Raum, der sich zwischen die Gestalt des Feldwebels und die vier Glieder der Freiwilligen spannte und den nur die drohenden Worte des Gesetzes wie nicht endende Donner übersprangen, war es anzusehen wie ein schlafendes Tierlein, um das der Schauplatz sich schrecklich verändert hatte, ohne daß es in der Seligkeit seines Schlafes dessen gewahr geworden war. Und plötzlich, losgelöst von aller Bedrückung des Gegenwärtigen, begann Johannes leise in sich hineinzulachen, das glückliche, sorglose Lachen eines Zuschauers, eines Künstlers, das ihn überfällt, wenn das Leben in den ernsten Raum menschlicher Absicht eine Torheit stellt, einen Spaß, der ohne Beziehung sein eigenes, ungebundenes Dasein unbefangen äußert und rechtfertigt, wie ein Tropfen an der Nase eines feierlichen Redners oder ein Hemdzipfel, der sich aus der Hose eines Propheten stiehlt. Zum erstenmal in der Woge der Vielheit und des Neuen, die ihn überstürzte, empfand er das unverlierbare Glück der stillen Betrachtung, der eigenen Seele, die auf- und abgewirbelt wurde wie ein schwimmendes Holz, aber die nicht verlorengehen konnte. Und als der Mann ohne Vorderzähne wiederkam, gelassen, mit einer kindlichen Heiterkeit auf seinem gefalteten Gesicht, als er sich niederbeugte, sorgsam sein schlafendes Eigentum aufhob und mit freundlich gespielter Treuherzigkeit »Ich danke schön, Herr Feldwebel!« sagte, mußte Johannes das Taschentuch an seinen Mund drücken, damit nicht einer der Kriegsartikel sofort in Anwendung gegen ihn trete.

Selbst Percy lächelte, und bevor sie in Gruppen geteilt wurden, fand er Zeit, mit dem Missetäter ein paar Worte zu wechseln und es einzurichten, daß er in ihre Gruppe kam. »Wir haben zwei Traurige bei uns, Kamerad«, sagte er in seiner ruhigen, selbstverständlichen Art, »und sie können dich gut gebrauchen. Außerdem bin ich Graf Pfeil, und da wirst du es nicht allzu schlecht bei uns haben.« Oberüber pfiff ein wenig durch seine Zahnlücke, meinte freundlich, daß sich noch nie in seinem Leben ein Graf um ihn bemüht habe, also doch etwas an ihm dran sein müsse, und ordnete sich ohne weiteres in ihre Gruppe ein. »Stell dir man hinter mich«, sagte er väterlich zu Klaus, nachdem er sie alle prüfend betrachtet hatte. »An uns beiden werden sie mit Vorliebe riechen, und es ist gut, wenn sie zuerst bei mir anklopfen.«

Nach dieser Probe seiner Menschenkenntnis erörterte er die Frage, ob eine Musikkapelle sie begleiten würde. Ob sie denn nicht hier in der Kaserne blieben? Ausgeschlossen. Die Kaserne sei für Soldaten, nicht für Freiwillige, und sie kämen nach einem Wagenhaus vor der Stadt, mit Stacheldraht rum und einem einzigen Raum für alle zweihundert. Wie in einer Sardinenkiste, jawoll, und für das Öl würden die Kommißhengste schon sorgen.

Es geschah, wie er vorausgesehen hatte. Von ein paar Unteroffizieren begleitet, marschierten sie durch die Stadt. Es gab keine Musik, und die Leute in den Straßen sahen ihnen ein wenig mitleidig nach, wie sie in einer Staubwolke dahinschritten, zusammengewürfelt nach Alter, Kleidung und Herkunft, weil bei ihnen willkürlich, komisch und leise beschämend aussah, was erst durch das Gleichmaß der Uniform Würde und Daseinsberechtigung gewinnen konnte.

Vor der Stadt begannen sie zu singen. Auf den Feldern wurde geerntet, mit einer stillen Hast, als könnte der Krieg auch dieses Gesetz der Erde zerbrechen. Aber obwohl die Arbeitenden mit ernsten Gesichtern auf die Vorbeimarschierenden blickten, als seien sie wissender als die in den Städten, brach der Gesang doch nicht ab, und in den Augen, die über die Felder gingen, schien die Froheit des Raumes zu stehen, der einmal kommen würde, nach Kaserne, Drill und Unterordnung, die Größe des Schlachtfeldes, wo in freiem Spiel der Wert der Jugend sich zeigen würde, daß sie ebensoviel zu gelten habe wie jeder Meister.

Ihre neue Heimat war ein roter, viereckiger Backsteinkasten mit flachem Dach, von einem Hof umgeben, um den ein hoher Stacheldrahtzaun lief. Der Bau lag gleichsam ursachlos zwischen braunen, unabsehbaren Feldern, zu denen er keine Beziehung hatte, so daß es schien, als sei er hier irrtümlich errichtet oder aus dem Verband eines großen Zweckes verloren worden, und auch die Marschkolonne, die nun in das Tor einbog, sah irrtümlich und verloren aus. Der Gesang war langsam erloschen wie in einer Gruppe nach Gruppe durchdringenden Erkenntnis, und in allen Augen erwachte plötzlich ein leises Mißtrauen, das den Hof wie das Haus umfing, den Posten am Tor wie die flachen Felder, die wartend dazuliegen schienen. »Masse Gegend«, bemerkte Oberüber und pfiff durch seine Zahnlücke.

Sie wurden erwartet, und auch hier lag der leise abweisende Zug um alle Gesichter. Nur der Hauptmann, mit Brille und Spitzbart, sah wohlwollend und leicht gerührt aus, wie ein Lehrer, der einen jungen Jahrgang in Empfang nimmt. Er nickte, als die zweihundert ihm gemeldet wurden, faßte mit der rotbehandschuhten Rechten an seinen Kragen, als wollte er sich seines bürgerlichen Schlipses vergewissern, und hielt eine kleine Ansprache über Haus und Hof und Vaterland ,… Begeisterung der Jugend ,… dulce et decorum est ,… und schloß etwas unerwartet mit einem Hurra auf den obersten Kriegsherrn. Es wurde sehr laut geschrien, und Percy drehte sich mit einem gutmütig fragenden Lächeln zu Johannes um. »Amtsrichter oder Pauker«, sagte dieser, und Percy nickte. »Mit dem Alten geht das, Kinder«, meinte Oberüber, »aber mit den andern ist das Schiet. Sehen verdammt hungrig aus. Sehen, daß wir zusammenbleiben.«

Um die Mittagszeit waren sie mit der Schreibstube fertig und wurden eingeteilt. Der Feldwebel, lang, blond, rasch, schob sie durcheinander wie Holzfiguren, der Größe nach. Es war, als seien die Menschen nur durch ihre Länge verschieden, und die Nichtbeachtung alles andern erzeugte ein Gefühl ohnmächtiger Leere, als könnte man vertauscht werden, einer anderen Familie, ja einem anderen Volke zugeschoben werden, wenn die Körperlänge es erforderte. Oberüber, gleichsam krampfhaft an seinen Karton geklammert, entschwand aus seiner Gruppe, rückte hinauf, hinunter, aus dem ersten ins zweite Glied, wieder nach vorn, unter leise beschwörenden Protesten, die der Feldwebel mit ironischem Lächeln erwiderte. Bis er stand. Aber sobald die ordnende Gewalt sich von ihm abwandte, stellte er sorgsam seinen Karton vor das erste Glied und ging zum Hauptmann, der aus einigem Abstand die Entwirrung beobachtete. »Wollen Sie sich ins Glied scheren!« brüllte der Feldwebel. Aber Oberüber, die Hände an seinen gekrümmten Beinen, stand in gewaltsamer Ehrfurcht vor dem Hauptmann und »bat, etwas sagen zu dürfen«. Der Hauptmann lächelte, und Oberüber, nicht achtend des Zornes, den er hinter sich gefährlich kochen fühlte, erklärte laut und ohne Scheu, daß er bäte, ihn nicht aus der Gruppe zu nehmen, in der zwei Traurige seien, und daß der Graf ihn darum gebeten habe, und daß ihn noch niemals ein Graf um etwas gebeten habe, und der Herr Hauptmann möchte doch so freundlich sein.

Der Hauptmann, ein wenig verlegen vor dem Zorn des Feldwebels, kam mit dem Bittsteller zu der zerstörten Gruppe, fragte die anderen nach Namen und Stand, fragte aber nicht nach den beiden Traurigen, sagte entschuldigend zu dem Feldwebel, daß es schön sei, wenn Rang und Stand auf diese schöne Weise »angesichts der Not des Vaterlandes« verschwänden, daß das mit der Größe ja nicht so schlimm sei, und stellte Oberüber auf seinen alten Platz. Er empfing eine nachträgliche Mahnung, nicht ungerufen aus dem Gliede zu treten, holte mit Sorgsamkeit seinen Karton, nickte Klaus tröstend zu und schloß die Episode mit dem Satz: »Sie haben mir gefressen, aber mit dem Grafen als Kompott werden sie mir schon verdauen.«

Und dann brachten sie den ersten Tag zu Ende, oder vielmehr sie standen ihn zu Ende. Sie »empfingen«. Klaus, gleich einem ins Wasser Gestürzten, tauchte nur immer für Minuten aus seiner Verwunderung empor, daß man so viel »empfangen« könne: Eßschalen, Strohsäcke, Decken, Kochgeschirre, Kaffee, Koppel, Seitengewehre, Drillichzeug, Uniformen, Kommißbrot ,… und wenn man das letzte gerade eingeordnet hatte in das Bewußtsein des Besitzes, kam das nächste, verlangte Aufmerksamkeit, Platz, Umsicht, Teilnahme, so daß alles doch wieder dem vorüberkommenden Zuge glich, dessen Türgriffe nie zu fassen waren und aus dessen Fenstern sich lächelnde Gesichter neigten.

Die Strohsäcke lagen in vier Reihen in dem riesigen Bodenraum, so daß zwei lange Gänge zwischen ihnen blieben. Am hinteren Ende, hinter einem Vorhang aus Sackleinwand, war ein Raum für sechs Unteroffiziere abgeteilt. Über dem Kopfende jedes Strohsacks waren ein paar Nägel eingeschlagen, am Fußende stand der Schemel, darunter die Waschschüssel. Über den Tischen in den Gängen hingen an Drähten Petroleumlampen. »Bei den Preußen ist alles rechtwinklig«, stellte Oberüber fest. »Das müßt ihr zuerst lernen, versteht ihr? Winkelmaß im Auge, das ist die Sache.«

Während der »Empfänge« lernten sie einander in der Gruppe kennen. Mit Christoph Schröder, Gespannführer, der Freiwilliger geworden war, weil man ihm wegen Widersetzlichkeit gekündigt hatte, gab es schon bei den Strohsäcken Streit, weil er mit Klaus in einer Art von Zwangsverfahren »tauschen« wollte. Er hatte hämische Augen unter einer niedrigen Stirn, und seine Worte und Gebärden griffen mit einer dreisten Selbstverständlichkeit nach Menschen und Dingen, als greife er nach den Zügeln seines Gespannes. Oberüber mußte eingreifen, weil ihm von der ersten Stunde an ein natürliches Richteramt zufiel zwischen den verschiedenen Welten, die einander in dieser Gemeinschaft berührten. »Du mußt dir nicht aufpusten, Kamerad«, sagte er freundlich, »sie werden dir schon Luft genug ablassen.« Und er legte die Strohsäcke wieder zurecht, wie es sich gehörte. Schröder sah sich nach Beistand um, aber er hatte nur Lorenz auf seiner Seite, einen jungen Knecht aus seiner Gegend, der schlecht roch und mit dumpfem Instinkt nach allem griff, was Nahrung, Raum und mit niemandem zu teilendes Behagen versprach. »Von wegen«, sagte Schröder noch großartig, aber er gab weitere Auseinandersetzungen auf, und von seiner niedrigen Stirn war abzulesen, daß er sich auf später vertröstete.

Sie hatten drei »Traurige« in der Gruppe, denn am linken Flügel im zweiten Gliede stand Josef Megaï. Jude mit wechselnden Berufen, Cafémusiker, Naturheilkundiger, Wahrsager, Tanzlehrer, Filmoperateur, Vorstadtreporter, der es zu nichts gebracht hatte, weil man ihn schon in der Kindheit irgendwie zerbrochen hatte, der höflich und hilfsbereit war, aber ungefragt nie ein Wort sprach, sondern mit sanften, abgesonderten Augen in einen unsichtbaren Becher zu blicken schien, der mit einer Verheißung gefüllt sein mußte und mit einer schweren Weissagung, die vor der Verheißung stand. Es war wie die Erfüllung eines Gesetzes, daß er die schlechteste Uniform bekam, daß er mit seinem Eßgeschirr stolperte und die Hälfte des Inhalts verschüttete, daß am Abend schon seine Drillichhose gestohlen war, daß seine linke Schulter höher war als die rechte und daß Schröder und Lorenz ihm von beiden Seiten etwas ins Ohr flüstern wollten und in seinen demütig geneigten Gehorsam plötzlich »hepp, hepp!« schrien.

Er schwebte zwischen der Welt der Körperlichkeit, in der es nach Lorenz roch, und der Welt des Geistes, in der die »Studenten« lebten. Er war keine Brücke wie Oberüber, aber er war klarer in seiner einsamen Abgrenzung als der letzte Mann der Gruppe, als Gollimbek, Manufakturbranche, der einen Hasenkopf hatte, einen Cut getragen hatte, bevor er die Uniform anzog, und der mit geschäftiger Beflissenheit alle Dienstobliegenheiten versah, als seien die Unteroffiziere Kunden, die man höflich zu bedienen habe, und der in den Gesprächen mit den »Studenten« Bemerkungen über sein Geschäft, seinen Umgang, seine Verantwortungen mit höflichem Selbstbewußtsein einflocht, um die Ähnlichkeit, wenn nicht Gleichheit ihrer gesellschaftlichen Stellung unauffällig in die Erscheinung treten zu lassen. Er wäre nicht eingetreten, nein, das hätte er des Geschäftes wegen nicht verantworten können, aber seine Frau sei eine große Patriotin und ein bißchen ,… ja, ein bißchen ehrgeizig, sozusagen, und er wolle Karriere machen, durchaus. Ob sein Name ihm wohl hinderlich sein werde? Ausgeschlossen, meinte Percy, es gäbe Generäle, die Meier hießen. Ja, es sei ja auch nur wegen des polnischen Klanges. Gollimbek heiße eigentlich das »Täubchen«, und das sei doch eigentlich nicht anstößig. Nein, Tauben seien nicht anstößig, meinte auch Johannes. Und Gollimbek sah ihn dankbar mit seinen törichten Hasenaugen an und machte sich dann wieder über die Knöpfe seines Waffenrockes her, denen er einen unwahrscheinlichen Glanz verlieh.

Ihr Korporalschaftsführer war Unteroffizier Hasenbein. In dem Namen lag eine Gefahr, und in der Erkenntnis dieser Gefahr war Hasenbein immer ein wenig mißtrauisch, lauschend, spähend, und ein wenig »strammer«, als nötig gewesen wäre. Er war Volksschullehrer in einem Walddorf, kam aus einem unterdrückten, kleinen, subalternen Leben und übernahm sich infolgedessen ein wenig an der Macht, die ihm nun zugeteilt war. Er nahm sich vor, besonders die »Akademiker hochzunehmen«, und jedesmal, wenn er mit seinem kurzen, strammen Schritt den Gang entlang nach seiner abgeteilten Behausung federte, mußte derjenige aus seiner Gruppe, der ihn zuerst erblickte, »Aufstehen!« rufen. Dann flogen sie alle acht von ihren Strohsäcken und Schemeln in die Höhe, schlugen die Absätze zusammen und starrten Hasenbein in die unbewegte Würde seines breiten Gesichts, bis er drei Strohsäcke weiter war. Dann fielen sie langsam, entspannt, in ihre Beschäftigung zurück. Klaus war jedesmal noch lange nachher aufgeregt, wie ein Wasser, in das der Blitz eingeschlagen hatte. »Johannes«, sagte er mit ratlosen Augen, »niemals werde ich das können ,… so entlanggehen und keine Miene verziehen, wenn acht Mann sich umbringen ,…« Johannes lächelte, und seine rechte Hand machte unbewußte Bewegungen, als führe sie einen Bleistift und versuche, das Vorüberfedern des kleinen Generals auf einem Papier festzuhalten. »Der Kapitän hüpfte von Mast zu Mast«, meinte Oberüber, ihm gedankenvoll nachblickend, »und sagte nachher, er sei es nicht gewesen.«

Am Abend, nach dem ersten Befehlsempfang, gingen sie müde, verwirrt, zerschlagen, aber doch mit einer gleichsam körperlichen Fröhlichkeit, noch ein wenig auf den Hof. Nur Schröder und Lorenz lagen auf ihren Strohsäcken und aßen von den mitgebrachten Vorräten. Sie waren wie Mühlen, in die immer etwas hineingeschüttet werden mußte, damit sie den Ausdruck des Lebendigen behielten. Megaï stand am Zaun, die Hände auf den Stacheldraht gelegt, und sah über die abendlichen Felder nach der Stadt, die mit Bäumen, Giebeln und Türmen im Abendrot stand. Die Kokarde seiner Mütze saß über dem linken Ohr, und seine Halsbinde war über den Kragen in sein schwarzes Haar gerutscht. Er stand regungslos, wie in einer traurigen Verkleidung, für eine Arena zubereitet, in die er auf sein Stichwort hinabsteigen würde, um von Hohn und Gelächter empfangen zu werden.

Die andern schlenderten einmal um den Hof und folgten dann Johannes nach einer Ecke der Umzäunung, die ein wenig verborgen lag, weil die Eskaladierwand sie gegen das Gebäude abschloß. Ein grasbewachsener Hügel lag hier als die einzige Oase im Sande, vielleicht ein ehemaliger Kugelfang, und auf seiner Spitze wuchs eine niedrige, verkümmerte Birke, deren Blätter sich, viel zu früh, schon zu färben begannen. Man sah von hier eine Flucht des Zaunes entlang, braune Felder, den roten Abendhimmel und dahinter eine Ecke der Stadt. Aber wenn man sich dicht an die Eskaladierwand setzte, sah man nichts vom Hause und konnte glauben, daß man in der Freiheit sei, weil die lockere Mauer des Zaunes etwas Aufgelöstes hatte und Sicht und Atem nicht verwehrte. Johannes hatte den Winkel beim ersten Rundgang entdeckt. Sie nannten ihn die »Etappe«.

»Ja, nun ist man Soldat«, sagte Gollimbek nach einer Weile des Schweigens, »und wird für das Vaterland kämpfen ,…«

Die andern erwiderten nichts, empfanden diese Worte als überflüssig und theatralisch und fühlten alle, daß es näherliegende Formeln geben mußte, um die Zukunft zu bezeichnen. Sie dachten an das letzte Bett, das sie gehabt hatten, an eine letzte ganz törichte Äußerung ihrer Freiheit, wie sie die Tür ihres Zimmers geöffnet hatten und der Friede ihrer Wände hatte sie empfangen, oder wie sie jemanden auf der Straße begrüßt und zwanglos neben ihm gestanden hatten, von keiner Sorge um den Sitz ihrer Kokarde belastet, oder um ihre acht Uniformknöpfe, oder um die richtige Stellung ihres Schemels vor dem Fußende ihres Bettes. Sie empfanden die Veränderung ihres Lebens, eine plötzliche und tief einschneidende Veränderung, und es war ihnen unbewußt, als sei der Begriff des Vaterlandes nicht nähergekommen, nicht herzlicher gleichsam, sondern weit fort in einen stumpfen Nebel gerückt, auf die dunkelnden Felder etwa, oder in die Giebelfenster der Stadt, in denen die ersten Lichter erschienen, oder an die Grenzen des Landes, wo Schüsse die Dämmerung zerschlugen und verlorene Schreie in ihr ertranken.

»Das hat noch lange Weile, bis du Soldat bist, Kamerad«, sagte Oberüber endlich, sog an seiner Pfeife und spuckte ärgerlich zur Seite aus, weil er Tabaksaft in den Mund bekommen hatte. »Bis dahin werden sie noch eine Masse Schlitten mit dir fahren, bis du nicht weißt, ob du Männchen oder Weibchen bist. Dann halt dir man fest am Vaterland, daß es dir nicht verlorengeht:«

»Glaubst du nicht ans Vaterland?« fragte Klaus mit verstörten Augen.

Oberüber lächelte milde. »Mein Sohn«, sagte er, »zuerst hast du an Hasenbein zu glauben und an den Feldwebel, verstehst du? Und wenn du dann meinst, daß noch etwas vom lieben Gott übriggeblieben ist, dann kannst du ja ans Vaterland glauben. Aber morgen wird Hasenbein dein Vaterland sein, da verlaß dich drauf.«

»Er ist so schrecklich rasch!« sagte Klaus sorgenvoll. »Sie werden bald heraushaben, daß ich zu früh geboren bin ,…«

Johannes lächelte. »Knurrhahn ist vorübergegangen, Klaus. Der Rochen ist vorübergegangen. Auch Hasenbein wird vorübergehen. Und draußen ist nachher alles anders.«

»Ja, draußen, Johannes ,…«

Sie sahen nun alle nicht mehr den Zaun oder die Stadt. Sie sahen ein dunkelndes Feld, von Leuchtkugeln überstrahlt, einen Waldrand mit flüsternden Bäumen, dunkle, schleichende Gestalten, ein Unbestimmtes an Drohung, Kampf und Ruhm. Und Johannes sah den Frieden, Teppiche, die aus Fenstern hingen, Blumen, die herniederfielen, sein Zimmer über dem leise ziehenden Strom und Regines schmale Glieder, die in seinen Armen zitterten.

»Man muß mit dem Denken aufhören«, sagt Percy. »Das ist vorbei für eine Weile. Man muß Griffe kloppen, daß Hasenbein denkt, der Teufel sei in uns gefahren. Eins nach dem andern. Bis zum ersten Gefecht. Und dann bis zum nächsten. Wie beim Schwimmen. Wer denkt, ertrinkt.«

»Richtig«, sagt Oberüber. »Hört auf den Grafen und quasselt nicht.«

Dann gingen sie in ihren Schlafraum. Klaus kam erst nach einer Weile nach, und Johannes sah an seinen unglücklichen Augen, wovor er sich fürchtete. Einzelne Lampen brannten noch. Die Luft war schwer und roch nach Staub, Stroh und ermüdeten Körpern. Die strenge Regelmäßigkeit der schlafenden Reihen war nun noch bedrückender als am Tage. »Dat is' beinah Asyl«, sagte Oberüber nachdenklich. »Fix in die Klappe und Augen zu! Dann merkt man es nicht so.«

Von allen Dingen des Tages war dies für Johannes das Schwerste. Er zog ein Nachthemd aus seinem Rucksack und legte es wieder zurück. »Nicht denken!« sagte Percy leise. »Alles klar?« fragte Oberüber und warf von dem Schemel, auf den er gestiegen war, noch einen prüfenden Blick auf seine Gruppe. Seine gekrümmten nackten Beine warfen einen grotesken Schatten über ihre Decken, und sie lächelten ihm dankbar zu. Er schien ihnen allen wie ein Geländer über einen schwindelnden Abgrund. »Nicht wahr«, sagte Klaus und faßte im Dunkeln nach seinem Lager, »du bleibst hier? Du gehst nicht fort in der Nacht?«

»Nischt zu machen«, erwiderte Oberüber. »Mir verlangt nach Hasenbein am Morgen.«

Die Lampen waren nun alle gelöscht, nur aus dem Verschlag der Unteroffiziere drang ein heller Schein. Gespräche flackerten verstohlen aus dem Dunkel, ein Scherzwort, Seufzer, ein unterdrücktes Lachen. Johannes hatte die Augen aufgeschlagen und sah in die Zukunft. Die Balken hinter den Tischen traten langsam aus dem Wesenlosen in ein mattes Licht. Er hörte Klaus und Percy neben sich atmen, und eine große Liebe überkam ihn zu ihrer Gegenwart, ihrem Dasein, daß sie ihn nicht allein gelassen hatten vor dem Kommenden. Und das Kommende war nicht die Gefahr, die Schlacht, der Tod. Das Kommende war Hasenbein, die Stellung des Schemels, das Hineingehämmertsein in eine Eisenplatte, das Gleichmaß, die Vielheit, die aus Gruppen bestand, nicht aus einzelnen, die Nummern auf den Schultern tragen würden statt der Namen. »Der Tod ist viel früher als beim Sterben«, dachte er.

Aber gerade als es ihn wieder überwältigen wollte, das Dunkel, der Geruch, die Gefangenschaft, blies in einer entfernten Ecke plötzlich eine Mundharmonika, eine kurze, heitere, gleichsam unverschämte Folge von Tönen, die wie der Pfiff eines Gassenjungen respektlos in den Raum fuhr und dann davonzulaufen schien in die Sicherheit des Dunkels. Johannes hob den Kopf und lächelte. »Ruhe!« rief eine scharfe Stimme aus der Kammer der Unteroffiziere.

Es war so still, daß man das Stroh leise rascheln hörte, von dem alle Köpfe sich hoben. »Lütütü ,…«, machte die Harmonika nach einer Weile. Der ganze Raum wurde wach, erklang von unterdrücktem Gelächter und schien sich zu spannen in atemloser Erwartung. »Ruhe!« brüllte dieselbe Stimme. Ganz leise, wie aus einem tiefen Walde, begann ein kleiner Hund zu bellen, aufgeregt und ängstlich, und verstummte mit einem Klagelaut. »O Gott«, flüsterte Klaus, »was tun sie bloß!« Johannes konnte nicht antworten. Er trocknete die Tränen von seinen Augen und drückte die Hände gegen seinen Leib, um nicht zu schreien vor Lachen. »Lütütü«, machte die Harmonika.

Die Sackleinwand flog zur Seite, ein paar Taschenlampen stürzten sich gleichsam in das Dunkel, und eine solche Flut unmenschlicher Drohungen und Schmähungen brach über die Liegenden hernieder, daß alle Fröhlichkeit in ihnen erlosch wie ein Licht in einem Wolkenbruch. »Noch einmal«, brüllte die Stimme, »und die ganze Stube steht eine Stunde im Hemd vor ihren Strohsäcken! Mit euch Lausebengels werden wir abfahren, daß euch das Wasser im Hintern kocht!«

Johannes zog die Decken über sein Gesicht, weil die Plastik der sprachlichen Bilder ihn überwältigte. Als er wieder auftauchte, war es totenstill. »Junge, Junge«, sagte Oberüber leise, »morgen gibt es nischt zu lachen.« »Es ist ungehörig«, flüsterte Gollimbek. »Sehr unkameradschaftlich. Man müßte solche Leute melden ,…« »Kuhkopp!« sagte Oberüber nach einer langen Weile. Es war nicht ganz klar, wen er meinte.

Als Johannes aus den wirren Bildern des Tages in eine dumpfe Tiefe zu fallen begann, glaubte er noch einmal aus dem weiten, dichten Walde die unterdrückte und aufgeregte Stimme des kleinen Hundes zu vernehmen, und er lächelte im beginnenden Traum. »So heiter ist alles«, dachte er noch, »so wundervoll heiter ,…«

Es mußte tief in der Nacht sein, als er erwachte. Es war ein schweres Erwachen, und er saß sofort aufrecht auf seinem Lager, in einem dumpfen Gefühl der Gefahr. Hinter den erblindeten Fenstern mußte irgendwo der Mond stehen, denn ein bleicher Glanz schwebte im Raum und erhellte die Tische, die Balken, die Schemel. Er hatte etwas Verstohlenes an sich, etwas fremd in sich Abgeschlossenes, wie die Laterne eines unsichtbaren Trägers, der heimlich über wehrlose Gesichter leuchtete. Auch war es schwer, dem Schlaf der zweihundert nur ganz allein zu lauschen, aus dem es klagend sprach und stöhnte.

Und dann sah Johannes, daß Megaï angekleidet auf seinem Lager kniete, in seinem dunklen Tanzlehreranzug, den er vor der Einkleidung getragen hatte, und in den schlafenden Raum lauschte. Seine Haltung war gebeugt und traurig wie die eines Tieres in einem Käfig, das sich aus seiner Ecke erhoben hatte, um den Kopf an die Gitterstäbe zu legen, und von dem langsam alles Planende und Hoffende einer Flucht abgleitet, weil aus dem kühlen Eisen eine kalte Erkenntnis in seinen Körper hinüberrieselt und die Größe der Nacht und des Schweigens unüberwindlich scheint.

Johannes hüllte sich in seine Decke und schlich den Gang entlang zu dem Knienden, bei dem er sich niederkauerte. »Was willst du tun?« flüsterte er. Die traurigen Augen kehrten aus ihrer Fremde zurück und kehrten bei seinem Gesicht ein, abwesend trotz ihrer körperlichen Gegenwart. »Ich will fort«, erwiderte er leise. »Ich kann hier nicht sein.« »Das darfst du nicht tun, Kamerad«, sagte Johannes voller Angst. »Das darfst du nicht tun, hörst du? Sie bekommen dich wieder, morgen schon, und dann ist es zu Ende. Sieh, ich selbst ,… auch uns ist es nicht leicht, aber wir werden dir helfen, es ist nur der Anfang, und du tatest es freiwillig, weißt du nicht mehr? So schnell darf man es nicht vergessen ,… leg dich jetzt hin, ja?«

Er legte die Hand auf seine Schulter, als wollte er ihm den Rock ausziehen, und dabei lauschte er nach dem Schlaf der andern, daß niemand dies sehe, das verächtlich erscheinen und nicht auszulöschen sein würde.

»Ja«, sagte Megaï leise, »ja ,…« Aber er blieb in seiner knienden Stellung, und seine Augen gingen wieder in den dunklen Raum, der von den Geräuschen des Schlafes unheimlich erfüllt war, und verloren sich dort wie in einer hoffnungslosen Zukunft.

»Kamerad!« flüsterte Johannes beschwörend.

»Ja«, erwiderte Megaï gehorsam, »ja ,…«

Er ließ sich den Rock ausziehen und den Kragen abnehmen und sich wieder auf sein Lager zurücklegen, aber seine Augen blieben geöffnet und in den Raum gerichtet, wie die eines Fieberkranken, vor dem das Unsichtbare Gestalt gewinnt.

»Du wirst es nicht tun, Kamerad?«

»Nein ,… Du siehst ja, daß ich es nicht kann ,… sie lassen uns nun nicht mehr los ,…«

Erst im Morgengrauen schlief Johannes wieder ein, und im Traum ging er hinter einer Gestalt her, die sich fliehend umwandte und die er nicht einholen konnte. Und die Gestalt trug einen weißen Gummikragen mit Gefreitenknöpfen, und Johannes fühlte, daß das nicht sein durfte.

Er erwachte von einer schrecklichen Stimme, die »Aufstehen!« schrie. Es war, als reiße man einen farbigen, blühenden Stoff mit einem einzigen Griff auseinander, so daß alle keusche Nacktheit sich dahinter enthüllte, jählings in eine schmerzende Scham gestürzt. Es war ein Wort, das sich in eine Silbe zusammendrängte, ein Wort, vor dem es so wenig Widerstand gab wie vor dem Messer einer Maschine und das die Schläfer aufriß wie mit dem Schlag einer Peitsche. Der kleine Hund bellte erschreckt, ganz, ganz weit in der Ferne, und Oberüber stand mit einem Sprung auf seinen gekrümmten Beinen und sah vergnügt auf seine Gruppe herunter. »Kameraden«, sagte er, und sein gefaltetes Clowngesicht leuchtete wie vor einer Manege, »das Vaterland ruft!«

Der Unteroffizier vom Dienst riß ein paar Decken von Körpern, die ihm zu saumselig schienen und erbot sich fröhlich, einige Waschschüsseln zur Ermunterung zu leeren. Die Sonne baute glänzende Staubwände von den Fenstern in den Raum hinein, alles war Bewegung, Wirrheit, Lärm, Gelächter, und wieder dachte Johannes: »So heiter ist alles ,…« Gollimbek fragte, ob »die Herren« es für praktisch hielten, ein Unterhemd anzuziehen. Lorenz, in Unterhosen, schnitt ein Stück von seinem Schwarzbrot ab, und vor den gegenüberliegenden Strohsäcken ging jemand auf den Händen den Gang entlang.

»Johannes«, flüsterte Klaus.

»Ja?« Johannes sah, daß ein Unglück geschehen war, aber er lächelte, als ob kein Unglück sie anrühren könnte.

»Es ist wieder ,… alles naß«, flüsterte Klaus und blickte verzweifelt auf seinen Strohsack.

»Still, es wird alles gehen. Ich stoße nachher an deine Waschschüssel, und dann hängen wir ihn eine Stunde in die Sonne ,… und außerdem wirst du einmal zum Arzt gehen.«

»Es riecht so komisch«, bemerkte das Täubchen und sah sich mit seinen kummervollen Hasenaugen unruhig um.

»Ja, wie bei deiner Ollen kann's hier doch nicht riechen«, erwiderte Oberüber und steckte den Kopf in seine Waschschüssel.

»Kaffeeholer raus!« brüllte eine Stimme vom Eingang, und Percy, die große, weiße Kanne in der Hand, ging so ruhig und aufrecht durch den Lärm und die hastende Bewegtheit des Raumes, als sei er heimlich ausgesandt, um eine Krone auf einem seidenen Kissen zurückzubringen.

Dann fegten schon die harten Besen den Gang entlang. »Aufstehn!« schrie Klaus, obwohl niemand von ihnen saß, und Hasenbein federte zwischen knallenden Absätzen an ihnen vorbei, den unbewegten Blick geradeaus gerichtet, die rechte Hand nachlässig an die Mütze hebend, wie der stählerne Bug eines Bootes, vor dem die Wasser sich rauschend teilen und schließen.

»Der Gott des Krieges«, sagte Johannes lächelnd.

Und dann kam Percy mit dem Kaffee.


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