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7

Ob Johannes nicht seine alten Freunde besuchen wolle, fragte der Großvater. Den Wassermann, den Schwarzbart, den Professor? Nein, Johannes wollte das nicht. Er wollte auf den Feldern sitzen, an dem Steinhügel, an dem der Großvater mit Zerrgiebel gesprochen hatte, und nach dem Hof hinüber sehen, über dem die Lerchen hingen. Er wollte auf der Ofenbank sitzen und die Schätze seiner Kindheit ohne Trauer vor sich ausbreiten. Er wollte am Zaun lehnen, wenn seine Mutter mit ihren schönen, ringlosen Händen die jungen Pflanzen in die dunkle Erde senkte, ihr zusehen, ihr die Samenpäckchen reichen und dabei sein, wenn die Erde wieder geglättet wurde über den glänzenden Körnern. Er wollte am Ackerrain sitzen, wenn die Gespanne die Pflüge durch die Scholle zogen, wendeten und wieder rauschend dahinglitten, mit dem ruhigen Gleichmaß eines ewigen Werdens.

Er wollte sich erfüllen wie ein entleertes Gefäß. Mit Frieden und dem Wissen um Verheißung, mit dem Anblick des Unwandelbaren. Er erfüllte sich ohne Klage und Jubel, ohne sein Zutun, wie die Bäume um ihn sich erfüllten. Er zählte die Tage und Nächte nicht. Er richtete sich auf wie in einem warmen Regen.

Aber eines Tages, am Ende der zweiten Woche, klopfte es an die Wohnstubentür. Gina war allein im Raum, in dem es schon leise dämmerte.

In der Tür stand Schwester Agnete, im schwarzen Kleid, die Binde des Roten Kreuzes auf dem linken Arm. Es war zu sehen, daß sie sich fürchtete, und ihre Augen suchten in den Winkeln der großen Stube, ob noch jemand da sei.

»Ich bin allein«, sagte Gina mit ihrer ruhigen, dunklen Stimme.

»Sie sind seine Mutter?« fragte Agnete. Sie errötete nun bis unter ihr helles Haar. »Ich ,… ich habe ihn gepflegt ,…«

Gina schloß die Tür hinter ihr und führte sie zur Ofenbank. »Willst du ihn holen?« fragte sie leise. »Nein.«

Gina saß neben ihr, die spielenden Hände im Schoß gefaltet, und sah auf die weißen Dielen vor ihren Füßen. »Du hast Großes an ihm getan«, sagte sie nach einer Weile. »Aber wir machen es kleiner, wenn wir ein Recht ableiten daraus.«

Agnete hob abwehrend die Hände, auf deren Haut ein Schimmer der Watte zu liegen schien, die sie ein Jahr lang zugereicht hatte. »Kein Recht«, sagte sie erschreckt, »o nein ,… kein Recht ,… ich liebe ihn ja ,…«

Über diese Begründung mußte Gina ein wenig lächeln, ein wissendes und wehmütiges Lächeln, und sie hob die Hand des Mädchens an ihre Augen, betrachtete die Zartheit und legte sie leise wieder zurück. »Du willst geliebt werden?« fragte sie.

»Ich will, daß er es noch einmal gut habe, bevor er wieder hinausgeht«, erwiderte Agnete. Aber sie errötete bei ihren Worten, und Gina sah, daß sie die Finger gequält ineinanderschlang. »Erzähle alles«, sagte sie sanft. »Denn er gehört mir und ,… will mir gehören.«

Die junge Schwester lehnte den Kopf an die kühlen Kacheln und sah an Gina vorbei durch das Fenster. »Es ist wohl alles anders bei uns«, sagte sie dann, »weil so viele unter unseren Händen aufhören ,… und wir sind doch zu jung dazu ,… ich ,… möchte sein Kind unter dem Herzen tragen, bevor er geht ,… und ich bin gekommen, ihn darum zu bitten.«

»Du weißt wohl«, sagte Gina langsam, »daß es seltsam ist, einen Mann um ein Kind zu bitten?«

»Ich will ihn an Gottes Füße binden«, erwiderte Agnete, »damit er nicht stirbt ,… Man kann es nur mit einem Kind, sonst nicht. Nicht mit der Liebe. Er will nicht leben, es ist ihm alles gleich, auch meine Liebe ist ihm gleich. Aber das Kind wird ihn binden, damit er nicht aus dem Leben herausfällt ,…«

»Du meinst, daß meine Hände ihn nicht halten können?«

Nun war es das Mädchen, das Ginas Hand in die seine nahm und vor seine Augen hob. »Ihr habt keine Hände zum Halten«, sagte sie still. »Keiner von euch.«

Als es dunkel war, stand Gina auf. »Ich lege keine Sünde auf dich«, sagte sie. »Ich habe ohne Liebe empfangen, wenn auch unter dem Gesetz. Aber die Liebe ist mehr als das Gesetz. Geh hinter das Haus. Er sitzt auf der Bank unter dem Ahorn.«

Dann ging sie in ihr Zimmer hinauf und saß dort in ihrem Stuhl am Fenster mit gefalteten Händen. »Noch ist er in mir«, dachte sie. »Aber wenn das nächste Geschlecht beginnt, ist er außer mir.« Und sie tastete im Dunkeln mit der Hand nach dem Erntekranz, der an der Wand hing. Von diesen Ähren hatten sie das Abendmahl gegessen, als er in den Krieg ging. Sie hielt den Kranz im Schoß, und ihre Hände spielten mit der kühlen Fremdheit der geflochtenen Frucht, in die der ganze Sinn ihres Lebens eingeflochten war.

Als sie aufstand, schimmerten die Sterne schon über dem Garten. Sie öffnete den Deckel ihrer Truhe und legte den Kranz hinein. Dann ging sie, um die Kammer neben Johannes für die Fremde zurecht zu machen.

Am nächsten Morgen, als sie Malvensamen am Gartenzaun säte, kam Johannes vom Hause her über die taufeuchten Gänge und blieb hinter ihr stehen. Sie beugte sich tief über ihre Hände, ohne aufzusehen.

»Ich will nichts hinter mir haben, Mutter«, sagte er nach einer Weile. »Du sollst nicht enterbt werden ,…«

Sie strich die Erde über der flachen Furche glatt und gab sich Mühe, daß die Hände so ruhig dabei blieben wie vorher. »Glaubst du, daß der Frühling den Herbst enterbt?« fragte sie und zog eine neue Furche in die schwarze Erde.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte er. »Aber es ist mir, als sei es grausam, einem Wanderer, der am Abend einen Hügel erreicht hat, von dort aus einen neuen Hügel zu zeigen ,… und ich erinnere mich, daß einmal jemand von uns fortging, der gern geblieben wäre ,… er mußte meinetwillen gehen.«

»Es war nicht Zeit«, sagte Gina leise.

»Auch hier ist es nicht Zeit ,… wenn alles zu Ende ist, dann wird es vielleicht Zeit sein.«

Sie beugte sich plötzlich vornüber und lehnte die Stirn an das Holz des Zaunes. »Ich habe es nie begriffen«, sagte sie, »daß er seinen Sohn schlachten wollte, im Alten Testament, auch wenn Gott es befahl ,… ich würde eher Gott geschlachtet haben ,…«

»Das ist es, was wir jetzt tun«, erwiderte er, »und das ist es, weshalb keine Kinder geboren werden dürfen ,… komm, wir wollen noch mehr Malven säen.«

Agnete blieb als leiser Gast. Sie lächelte, wenn jemand sie ansah, aber im Hintergrund ihrer Augen hingen die unsichtbaren Tränen, bereit, hervorzustürzen, sobald ein gütiges Wort sie berührte. Dietrich Karsten nahm sich ihrer an. Er nannte sie »kleine Schwester«, und nahm sie zum Pflügen mit auf das Feld. Er hatte nichts gefragt, aber es schien, als sähen seine Augen allein in ihr das Gefäß der Zukunft und eine Erbschaft, von der die andern nichts wissen wollten. »Sie sind keine Bauern, kleine Schwester«, sagte er einmal. »Sie denken an die Furche, aber nicht an die Frucht. Sie verbrauchen ihre Kraft mit sich selbst. Ich aber bin ein Bauer und denke an das Erbe.«

Und dann gingen sie weiter hinter dem Pfluge her, ohne zu wissen, für wen die Scholle brach.

»Wo wirst du sein, wenn das alles vorüber ist?« fragte Johannes in der vorletzten Nacht.

Ihre Wange lag auf seiner Schulter, und er fühlte das Beben einer Hoffnung in ihr, das er nicht gewollt hatte. »Wir haben ein Haus«, sagte sie, und das Glück ihrer Stimme schien das Dunkel des Raumes zu bewegen. »Mutter hat ein Haus, an einem Waldrand, mit Malven am Gartenzaun. Es sieht wunderschön aus, und die großen Bäume rauschen Tag und Nacht über seinem Dach. Mutter fürchtet sich nicht vor dem Walde. Sie fürchtet sich nur vor den Menschen, und das ganze Haus ist voller sanfter Tiere. Da kann ich immer sein, wenn ich nicht in der Welt sein will. Manchmal kommt der Briefträger, und wir können ihn von weitem sehen, wenn er von der Straße abbiegt und den Steig heraufkommt. Und manchmal kommt der Förster und bringt Mutter Kräuter für ihre Schmerzen. Aber sonst kommen nur die Krähen am Abend zu ihren Schlafbäumen, und manchmal denke ich, daß Moos auf unseren Fenstern wachsen wird vom Abend bis zum Morgen ,…«

»Da bist du so sanft und klein geworden, kleine Agnete ,…«

Sie schmiegte sich dichter an ihn und fuhr fort zu sprechen, wie ein Kind, das einem der Großen ein Märchen erzählt. Aber als sie von den zahmen Meisen sprach, die so zahm waren, daß sie in der Stube umherflogen wie in einem entlaubten Baum, sagte Johannes plötzlich: »Da könnte ich also sein, wenn ich nicht mehr ,… zurückgehen wollte?«

Er fühlte, wie sie erstarrte, die Gedanken ihrer kindlichen Erinnerungen, ihr Körper, das ganze Wachstum gleichsam ihres Lebens. Dann warf sie sich über ihn und versuchte, im Dunkeln sein Gesicht zu erkennen. »Johannes«, flüsterte sie, »dort könntest du bis an das Ende deiner Tage sein ,… niemand würde dich finden ,… wie ein Falter unter der Baumrinde würdest du sein, mitten im tiefen Wald ,…«

»Aber ein Deserteur würde ich sein«, sagte er laut.

»Nein«, flüsterte sie, zitternd vor Leidenschaft, »Johannes würdest du sein, der Heilige Johannes würdest du sein, der aus der Welt geht, um Gott zu schauen. Deine Verse würdest du schreiben, und die Rehe würden in deiner Spur gehen. Der Krieg ist nicht für die Dichter, Johannes, und nicht für die Mütter. Nicht für die, die ihre Frucht unter dem Herzen tragen ,… ach, Johannes, es wird eine andere Gerechtigkeit geben ,… tue es, Johannes, ach, tue es, ehe sie deine Verse begraben dort draußen!«

Sie sah seine aufgeschlagenen Augen, aber sein Blick ruhte nicht in ihr. Er hing für eine Weile an ihrer Hoffnung und verließ sie dann, um weiterzugehen in Räume, zu denen sie ihm nicht folgen konnte. »Niemals wird es so sein«, dachte sie voller Verzweiflung. Seine Hand glitt über ihr Haar, zärtlich, aber achtlos, wie über den Kopf eines Tieres, indes seine Seele sich löste von den Bildern ihrer Hoffnung und in eine fremde Zukunft ging.

»Schlafe nun, kleine Agnete«, sagte er, »und träume von deinem stillen Haus.«

Am nächsten Tage brachte Dietrich Karsten sie zur Bahn. Johannes hatte es gewollt. »Ich werde zurückkommen«, sagte er, neben dem Wagen stehend, »und dann wirst du denken, alles sei gut. Aber nichts wird gut sein. Wir werden es beendet haben, aber wir werden es nicht überwunden haben ,… Und pflege sie langsam, denn sie haben alle Angst vor dem Gesundwerden.«

Und nun blieb nur noch der letzte Tag.

Er ging umher, ruhelos, von Feld zu Feld, von Stube zu Stube, in einer wachsenden, kalten, formlosen Angst. »Es ist nicht der Tod«, dachte er. »Ich weiß, daß es nicht der Tod ist. Es ist all das andere. Die Straßen im Regen, die kalte Erde unter dem Kopf, der eiserne Vorhang. Daß die Hände Eisen greifen, die Gedanken, das Blut. Das Namenlose, das zu einer Masse geknetet und verkauft wird. Wo der Tod hungert, da werden wir verkauft, wie Brot, das er zu Kot verdaut ,… Wenn wir unseren eigenen Tod hätten, jeder von uns, einen einzelnen Tod hinter einem einzelnen Schild ,… aber es gibt nur einen Massentod, wie für die Fliegen ,… wenn ich von hier fort gehe, höre ich auf zu sein. In meiner Mutter Augen bin ich da, ihr Kind, einmal und nie wieder auf der Welt. In Agnetens Armen war ich da, ihr Geliebter, so und nicht anders. Aber nun höre ich auf. Die Kompagnie beginnt, das Bataillon, das Regiment. ›Kriegsfreiwilliger Karsten vom Urlaub zurück!‹ Niemand lächelt, nicht einmal der Tod ,…«

In der letzten Nacht tritt Johannes in seiner Mutter Zimmer. Es geht schon gegen den Morgen, und er drückt die Klinke lautlos herunter, um ihren Schlaf nicht zu erschrecken. Und bleibt in der Schwelle stehen. Denn Gina hat sich nicht niedergelegt, sie sitzt in ihrem Stuhl am Fenster. Das Licht brennt auf dem kleinen Tisch, und darunter liegt die Bibel aufgeschlagen, in der das Leben des kleinen Johannes verzeichnet steht. Gina hat die Hände gefaltet und wendet langsam, ohne Überraschung, ihr Gesicht zur Tür. Es ist ein wenig übermüdet, aber sanft und von der leise sich verlierenden Hingabe, die es immer hat, wenn es sich auf Johannes, auf eine Blume, auf ein krankes Tier richtet.

»Du mußt es selbst schreiben, Johannes«, sagt sie ruhig. »Ich habe es versucht, die ganze Nacht, aber ich kann es doch nicht.«

Er schließt die Tür und tritt langsam zu ihrem Stuhl. Er hat es sich alles anders gedacht. Vor allem hat er es sich im Dunkeln gedacht, und das Unerwartete verwirrt ihn nun, entzieht ihm gleichsam den Boden unter den Füßen, und setzt alles ins Unrecht, was vorher Recht gewesen ist. »Was soll ich schreiben?« fragt er und blickt von der Seite auf die aufgeschlagenen Blätter.

»Ja, siehst du, das ist es eben«, erwidert sie nachdenklich und blickt gleich ihm auf das vergilbte Papier, das ruhig wartend unter dem Kerzenlicht liegt. »Geht in den Krieg« steht dort in geraden, tapferen Buchstaben. Die Tinte ist schon etwas verblaßt, und wenn die Jahreszahl nicht drüberstände, würde man denken, daß es eine Chronik verschollener Zeiten sei. »Was soll man nun schreiben?« fährt sie mit ihrer ruhigen Stimme fort ,… ›Verläßt die Fahne ,…‹ das kann man doch nicht gut sagen ,… ›Geht nicht mehr zurück ,…‹, das klingt alles wie ein Tadel, und es soll doch nur eine Tatsache erwähnt werden. Geboren, gestorben, das sind Tatsachen, ohne unser Zutun ,… Aber dies ist doch anders, und deshalb wollte ich dich bitten, daß du selbst es schreibst, so wie es dir richtig erscheint ,…«

»Mutter!« flüsterte er. Sein Gesicht ist erstarrt vor Entsetzen, aber sie sieht es nicht. »So wie es dir richtig erscheint ,…«, wiederholt sie, als lese sie es aus den vergilbten Blättern ab.

»Mutter!« schreit er an ihren Knien.

Sie sieht immer noch nicht auf. Sie legt ihre Hand auf sein Haar, und er fühlt, daß ihre Fingerspitzen sich um die Narbe über seiner Schläfe legen, als wollten sie die dünne Stelle seines Lebens vor ihren Worten schützen.

»Ja, kleiner Johannes«, sagt sie, »so alt ist deine Mutter geworden, daß sie das nicht schreiben kann ,…«

Er fühlt nur ihre Fingerspitzen um die Narbe an seiner Schläfe. Er denkt nichts, er kämpft und entscheidet nicht mehr. Alles das ist von ihm abgefallen, lautlos und ganz unwichtig. Ihre kühle Hand baut einen Schild um sein Leben, einen Schild gegen alle Feinde und gegen den Tod. Die Angst fällt von ihm ab, die Scham fließt an seinen Knien hernieder, und nichts bleibt als die tiefe Herrlichkeit ihrer Liebe.

»Ich habe gewartet«, fährt sie eintönig fort, »den ganzen Tag und den ganzen Abend. Daß du packen würdest. Und da wußte ich, daß du nicht mehr zurückgehen wolltest ,… Du wolltest ohne Kind bleiben, und wolltest auch ohne Mutter bleiben. Du glaubst es nicht mehr, daß ich stärker bin als der Tod. Da hätte ich es nun schreiben müssen, aber ich konnte es nicht ,…«

»Du hast mich verachtet, Mutter?« fragt er an ihren Knien.

Aber sie lächelt. »Kennst du meine Sprache nicht mehr, Johannes? Was für fremde Worte ,… verachten ,… aber eines, ja, eines mußt du noch wissen, Johannes: es war schwerer, dich zu empfangen als dich fortzugeben, Johannes, verstehst du? Ich will dich verbergen, wenn du es willst, ich will deine Hand abschlagen, wenn du es willst. Aber einmal würdest du mir fluchen, Johannes, weil du sehen würdest, daß du zu teuer bezahlt hast, oder daß ich ein ungerechter Wechsler gewesen bin.«

»Es ist alles gut«, sagt er an ihren Knien, »alles gut ,… nichts rührt mich mehr an ,…« Und er nimmt ihre Hand und legt sie auf seine Narbe, und der Schild steht wieder da, aufgerichtet bis zu den Sternen, unzerbrechlich und unbefleckt.

Sie blättert mit der anderen Hand in der Bibel, und die großen Blätter schlagen sich mit einem leisen Rauschen um, als bedeckten sie alles für die Ewigkeit, die Schande und die Schwachheit, die Angst dieser Stunde und aller kommenden Stunden. »Du willst ein wenig schlafen«, liest Gina, »und ein wenig schlummern, und ein wenig die Hände zusammentun, daß du ruhest; aber es wird dir deine Armut kommen wie ein Wanderer und dein Mangel wie ein gewappneter Mann ,… die Sprüche Salomonis im einundzwanzigsten Kapitel ,… Siehst du, Johannes, so würde es sein ,… ein falscher Wechsler wollte deine Mutter sein. Vergib ihr, denn sie ist alt geworden ,… Du willst ein wenig schlafen ,… ja, das ist es ,… Und nun wollen wir deinen Tornister packen, kleiner Johannes, wie damals, als du zu Knurrhahn in die Schule mußtest.«

Er duldete nicht, daß sie ihn weiter begleitete als bis zu dem Stein, an dem sie auf ihn gewartet hatte. Dort setzte er den Helm auf und nahm Abschied von ihr. Er wußte, daß nichts bei ihm bleiben würde als ihr Gesicht, und er nahm es mit sich, so sehr, daß ihm schien, als bleibe nur eine tote Hülle auf dem grauen Stein zurück. »Hinter einem kleinen Walde, Johannes ,…«, sagte sie leise. Er nickte und ging davon. Das Schanzzeug klirrte leise. Und sie sah ihm nach, wie vor Zeiten an der Gartentür, als der kleine Tornister seine schmalen Kinderschultern zur Erde zu ziehen schien. Wieder war es ihr, als drehe sich ein Rad und dieselbe Speiche tauche wieder aus dem Staube herauf, unverlierbar um die rollende Achse blitzend.

Auf der schwarzen Tafel stand mit Kreide angeschrieben, daß der Zug eine Stunde Verspätung habe, und Johannes ging in das Dienstzimmer der Station. Der alte Wirtulla saß am Telegraphen und wandte den Kopf nach der aufgehenden Tür. »Johannes!« sagte er verwirrt.

»Er sieht auf meine Beine«, dachte Johannes. »Natürlich, das ist sein erster Blick ,…«

Aber dann saß er wie in der Kinderzeit an dem langen, schmalen Tisch, und das schmale Papierband lief unaufhörlich aus dem Munde des Telegraphen, mit seltsamen Zeichen bedeckt, die aus dem Äther zu kommen schienen. Der Stationsvorsteher sah noch immer so aus, als habe man ihn soeben von einer Hintertür fortgewiesen, und die Zeichen des schmalen Streifens schienen auch über sein Gesicht zu laufen, unleserlich und von einer unsichtbaren inneren Hand geschrieben.

»Ja, Johannes«, sagte er, »es tickt noch immer ,… und er soll ja jetzt die Prothesen bekommen ,…« Seine Bettleraugen blieben wieder an Johannes' Stiefeln haften und irrten dann wieder zur Tür. Er lauschte wie jemand, der einen Brief erwartet. »Es ist jetzt schwer mit ihr umzugehen«, setzte er nach einer Weile hinzu. »Du kennst sie ja ,… sie verflucht nun alles, den Kaiser ,…, den Krieg, die Franzosen ,… aber in der Nacht weint sie, und das ist schlimmer als alles andere ,…«

»Wir waren dabei«, sagte Johannes. »Wir haben ihn verbunden ,… Es wird viele geben, die ihn beneiden.«

»So ,… ja ,… es sind ja auch nur die Beine ,…«

Und plötzlich begannen die Tränen aus seinen Bettleraugen zu fließen, kümmerliche und demütige Tränen gleichsam, aber er hielt den Blick fest auf Johannes gerichtet, als seien die Tränen gar nicht da oder als bäte er zum mindesten, sie nicht zu sehen. »Er hat doch nichts Böses getan, Johannes«, sagte er leise. »Du weißt es doch auch ,… Auch dem Kaiser nicht und auch nicht jener Granate. Weshalb muß es denn sein? Wie ein Hase, der sich in die Büsche schleppt ,… Wißt ihr was davon, Johannes?«

»Niemand weiß etwas«, erwiderte Johannes finster. »Oberüber sagt, daß es besser ist, nicht darüber zu grübeln, und er weiß mehr als wir alle.«

»Es macht gar nichts aus, sagte er, der Kasperle hat auch keine Beine, und doch freuen sich die Kinder, wenn er da ist. Und er wird in einem Wagen fahren sein ganzes Leben, sagte er, mit Gummirädern, und der Kaiser wird allen Soldaten befehlen, daß sie Front machen vor solchem Wagen, und die Posten müssen präsentieren.«

Johannes preßte die Hände um sein Gewehr, das er zwischen den Knien hielt, und nickte. »Er hat die Quelle des Trostes in sich«, sagte er mühsam, »und es ist besser als das andere. Viele solche Quellen hat man aufgegraben draußen.«

»Und er wird eine Ehrenpension bekommen, sagt er, und eine Extrauniform und das Eiserne Kreuz. Und wird in seinem Wagen wie in einem kleinen Museum sein. Beide Beine hat er für das Vaterland gegeben, werden die Leute leise sagen, damit das Vaterland gehen konnte. Denn es waren viele Feinde und sie wollten, daß es stürze. Aber Klaus Wirtulla, der Kriegsfreiwillige, hat seine beiden Beine gegeben, und da konnte es über die Feinde hinwegschreiten. So spricht er, wenn ich da bin und lächelt, und alle haben ihn lieb ,… Nur sie, weißt du, sie ist noch nicht dagewesen. Jeden Nachmittag zieht sie sich an und macht sich fertig und ich schreibe ihr den Fahrschein aus. Und wenn der Zug kommt, geht sie die Treppe wieder hinauf und zieht die Sachen aus und bindet sich die Schürze wieder um.«

»Mein Gott ,…«

»Ja, siehst du, sie denkt an den Riemen und daß sie ihn ja nicht selten über das Knie gelegt hat. Er bittet sie, zu kommen, jedes Mal, aber wenn ich es ihr ausrichte, fährt sie los ,… du kennst sie ja ,… ob die Wirtschaft zugrunde gehen soll und daß es jetzt keine Zeit sei, mit dem Zug spazieren zu fahren ,… still ,… hörst du, da kommt sie ,… laß dir nichts merken, Johannes ,…«

Er nahm aus einem der Bücher einen ausgeschriebenen Fahrschein heraus und legte ihn vor sich neben den Telegraphen. Dann glitt seine Hand gedankenlos die Knopfreihe seines Uniformrockes herunter, als erwarte er den Eintritt eines Vorgesetzten.

Johannes sah es, wie er es als Kind gesehen hatte, aber seine Gedanken waren bei dem schweren Schritt, der sich draußen näherte. Es mußte der Schritt eines Mannes sein, der einen schweren Sack auf seinen Schultern trug, und es erschreckte ihn mehr als alles andere, daß aus dem immer eilenden, gleichsam drohend beflügelten Schritt dieser Frau diese schwere, schleppende Bewegung geworden war, als ob sie sich dem Schicksal ihres Sohnes wenigstens mit ihren Füßen angleichen wollte, als ob sie gelähmt erscheinen wollte, seit er keine Beine mehr hatte. Und er sah das Gesicht auf dem Stein über dem Felde, das leblose Gesicht, das sich ebenso angeglichen hatte an das Schicksal des Sohnes.

Frau Wirtulla sagte nichts. Sie blieb in der Tür stehen, und auch ihre Blicke gingen zu seinen Stiefeln und blieben dort. Johannes stand auf und nahm ihre Hand. Es war eine Hand von Holz, und auch das strenge, in aller Zerstörtheit noch drohende Gesicht war von Holz. »Sie schlachtet nun keine Tauben mehr«, dachte Johannes, »sie sieht sie an, und im selben Augenblick fallen sie tot vom Dach.« »Ich werde ihn besuchen«, sagte er ohne weitere Begrüßung, »er wird sich freuen ,… es traf uns fast zur gleichen Zeit ,…«

»Ach, Johannes, du warst ja auch verwundet ,…«, sagte der Stationsvorsteher verlegen. »Entschuldige, daß wir gar nicht davon gesprochen haben.«

Seine Frau deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür, und er ging gehorsam hinaus. Johannes sah die hellgescheuerten Nähte auf dem Rücken seiner Uniform, die Beugung der Schultern, die die gleiche war wie bei Klaus, und plötzlich schien es ihm, als sei der Krieg gar nicht dort draußen, in den fremden, weiten Ländern, sondern als sei dies Erstarrte hier, das Schleppende, Lastentragende, Wartende und in den Nächten lautlos Weinende der Krieg, der Schacht des Krieges, in dem gestöhnt und nach Blut gegraben wurde, indes sie selbst im Feueratem der Essen dahinschmolzen, glücklich zu preisen gegen die dumpfe Erstickung, die hier unter der Erde lautlos geschah.

»Sage ihm, daß ich morgen komme«, sagte Frau Wirtulla und sah durch Johannes auf die Wand des Dienstraumes. »Ich wäre heute gefahren, aber nun fährst du und das geht nicht. Und sage dort, daß die Ärzte alles fertig machen sollen. Mir hat heute geträumt, daß sie meine Beine abnahmen und ihm ansetzten. Zuerst wollten sie nicht halten, aber dann banden sie den Riemen um ,… du weißt schon, welchen ,…, und da hielten sie und er konnte gehen ,… Einer hat einmal erzählt, daß man ›überpflanzen‹ kann. Was, habe ich vergessen. Vielleicht geht es, hörst du?«

Johannes nickte. Seine Lippen waren erstarrt.

Sie öffnete die große Handtasche. Johannes sah, daß ein Schaf in grünen Perlen hineingestickt war und ein Baum, der wie ein Feigenbaum des Evangeliums aussah. Sie zog den zusammengerollten Riemen heraus und betrachtete ihn grübelnd. »Seit du bei mir warst«, fuhr sie fort, ohne ihn anzusehen, »habe ich ihn nicht mehr benutzt ,… aber der Traum sagt die Wahrheit ,… alles wird vergolten ,… dann wird er den Riemen haben und ich keine Beine ,…«

»Er war der einzige von uns«, sagte Johannes leise, »der das Abendmahl nahm ,… damals sagten wir, er habe es für uns alle genommen ,…«

»Ja«, erwiderte sie mit eisigem Lächeln, »eine schöne Vorratskammer kann Gott sich anlegen aus seinen Abendmählern ,… Was meinst du, wieviel Beine sie schon abgeschnitten haben? Auch die Beine sind doch unsterblich, nicht? Jeden Abend stehen vielleicht tausend vor der Himmelstür und warten. ›Zu Befehl!‹ sagen sie. ›Von Klaus Wirtulla, der das Abendmahl genommen hat ,… zur Stelle!‹«

Ihr Lächeln glitt aus dem kalten Hohn unmerklich in das Aufgelöste des Wahnsinns, und ihre Augen bohrten sich in Johannes' Gesicht, als sei er Gott, von dem sie Rechenschaft verlange. »Auch Gott würde sich fürchten vor ihr«, dachte Johannes.

Und plötzlich, wie es aufgeflammt war, erlosch das Gesicht, wurde starr und kalt, wandte sich nach innen und ging davon.

»Morgen ,…«, sagte sie tonlos, kehrte sich um und schritt die Treppe wieder in die Höhe, mit dem schweren Schritt eines Menschen, der eine Last auf einen verlassenen Boden trägt, indes seine rechte Hand sich mühsam am Geländer hält.

Dann tickte der Telegraph wieder durch das Schweigen, und der Papierstreifen kroch unaufhörlich unter ihm hervor, von keiner Hand gelenkt, wie die gespenstische Botschaft eines fernen Schicksals, das unermüdlich seine Urteile in den Äther schrieb.

Johannes hatte drei Stunden Zeit für das Lazarett. Eine Schwester führte ihn in den Garten und zeigte mit der Hand nach einer Bank hinter einer weiten, runden Rasenfläche. Es war schon spät am Nachmittag, und die Sonne legte breite, glühende Balken von dem aufgelockerten Gewölk auf die grüne Erde. Alle Wipfel waren rötlich bestrahlt, alle Amseln sangen, und Johannes, nach dem Lärm der Bahnfahrt und der Straßen in Verwirrung stehenbleibend, schien es, als würde man auf diesen geneigten Balken des Lichtes geradeswegs in den Abendhimmel aufsteigen können, wenn man dieser Welt müde sei, getragen von dem Lied der Vögel und sich bereitend auf Gottes Tür. Aber dann sah er das kalte, verstörte Gesicht der Frau vor sich und die Bilder ihres Hohnes, und er sah die abgerissenen Beine über die Lichtbrücke aufwärts steigen und sich zur Stelle melden an der Himmelstür.

Es fror ihn, und er ging mit einer scheuen Angst um den Rasenplatz herum, nach der Bank, auf der eine Frau saß.

Die Frau war Klaus. Er hatte eine Decke um die Verstümmelung seines Körpers, und Johannes sah, daß sie von den Stümpfen der Oberschenkel in leeren, wesenlosen, erschreckenden Falten niederfiel. Sie war nicht zur Wärmung da, sondern zur Verhüllung.

Es war nicht zu verkennen, daß Klaus aufspringen wollte, und er mußte mit der Hand schnell nach der Lehne der Bank greifen, um nicht vornüber zu fallen. Er erkannte den Irrtum und lächelte, und dieses Lächeln, das somit gleichzeitig ein Lächeln der Begrüßung wurde, schnitt sich mit einer schrecklichen Schärfe in sein großes Gesicht, in dem nun so viel Platz zu sein schien für solche Bewegungen. Es war wie eine leere Bühne, auf der das Geringste Bedeutung gewinnt, das Wehen eines Vorhanges, ein vergessenes Gerät, eine nicht verlöschte Lampe. Ja, es schien, als sei mit dem Verlust eines lebendigen Teiles seines Körpers auch in seinem Gesicht ein Verlust entstanden, als sei in ihm die geistige Kammer seiner verlorenen Glieder zusammengefallen und ein leerer, hilfloser Raum entstanden, der nie mehr ausgefüllt werden könnte. Es war ein gleichsam amputiertes Gesicht.

»Jo ,… Johannes«, sagte Klaus. Er stotterte wie als Kind, wenn etwas ihn überwältigte. Und er fuhr fort zu lächeln, mit einem kindlichen Lächeln in seinem alten Gesicht, in das die Schmerzen und die Verstümmelung graue Furchen gegraben hatten.

Johannes konnte nichts sagen, und um ihm zu helfen, nahm Klaus ihm das Gepäck ab, den Tornister, das Koppel, das Gewehr, den Helm. Er legte alles auf die Bank, und seine Augen und Hände gingen mit scheuen, aber fast zärtlichen Bewegungen über alle diese harten, zweckmäßigen Dinge. Den Helm behielt er in seinem Schoß und legte die Hände darüber.

»Kleiner Klaus«, sagte Johannes endlich und strich mit der Hand über die Decke, »es hättest nicht du zu sein brauchen ,…« Plötzlich wurde das zerstörte Gesicht alt und ernst. »Es ist so gut, Johannes«, erwiderte er, »daß du gleich davon sprichst. Die anderen, siehst du, die tun, als sei es gar nicht wahr, als hätte ich sie noch und könnte gleich über den Rasen laufen. Sie sehen überall hin, nur nicht auf diese Decke. Sie erzählen lange Geschichten, von einem Hund, der neulich überfahren wurde, und wieviel Rotwein der Stabsarzt trinkt. Und dann, mitten in ihre Geschichte, muß ich endlich sagen: ›Ich habe nämlich keine Beine mehr.‹ Und dann fangen sie erst an, ehrlich zu werden, mitleidig oder verzweifelt oder was sie sonst davon denken. Und die ganze schreckliche Einleitung war umsonst. Ich werde mir ein Schild machen lassen und es um den Hals hängen: ›Beine unter den Hüften abgenommen.‹«

»Klaus!«

»Nein, siehst du, damit keine Verwechslungen vorkommen. Neben mir liegt ein Artillerist, der hat keine Arme mehr, und er läßt sich die Decke bis ans Kinn heraufziehen, damit es niemand sieht. Und neulich kam eine Dame, eine sehr feine, weißt du, die Schokolade und Blumen auf die Decken legen, damit man das andere nicht sieht, und sie reichte ihm einen Fliederstrauß, nein, ein Fliederbukett muß man sagen, aus dem Treibhaus natürlich. Ein Artillerist ohne Arme und ein Fliederbukett, verstehst du? Ja ,… die Schwester war einen Augenblick fort und alle sahen zur Seite. Niemand wollte es sagen, auch ich nicht. Und sie steht da mit dem Flieder und wartet, daß er ihn nimmt. Ein Kanonier aus Oberschlesien mit dem schönen Namen Polixa. ›Lieben Sie keine Blumen?‹ flötet sie. Man muß es so nennen, Johannes, sie flötete wie eine von diesen Amseln. ›Lieben Sie keine Blumen?‹ Polixa sieht sie an, mit Augen, die sterben wollen. Die Fliege war zu hören, die unter der Decke an die Lampenglocke stieß. Und dann, endlich, sagte einer: ›Er hat nämlich keine Arme ,…‹ Sie ist dann fortgegangen, gleich, und in der Tür hat die Schwester sie stützen müssen. Der Flieder lag auf der Erde. Sie warfen ihn nachher aus dem Fenster. Siehst du, so ist es ,… Auch der Vater war zuerst so, nun weiß er schon, wo man hinsehen und wie man sprechen muß.«

»Morgen kommt deine Mutter.« Und Johannes erzählte von ihr und ihrem Traum.

»Das ist schlimm«, erwiderte Klaus nach einer Weile. »Und das ist überhaupt das Schlimmste, weißt du, nicht der Krieg und nicht die Beine. Aber das Wiedersehen. Sie wissen ja von nichts. Wir waren so weit fort, mit unserer Seele, und sind jetzt noch ebenso weit fort. Für sie ist nur die Frage, ob man dort weiterleben wird, wo man aufgehört hat, als es losging. Sie wissen nicht, daß unser Leben einen neuen Anfang hat und nie mehr zurückkehrt. Und deshalb erzähle ich von dem Krankenwagen und den Soldaten, die Front machen, und all dem andern Unsinn. Weißt du, daß ich Goldschmied werden will, Johannes? Ja, das will ich werden und dann hinter einem Tisch sitzen, dessen Decke bis auf den Boden reicht, damit sie es nicht sehen und sich fürchten. Die Mädchen nämlich. Und für sie will ich all das Schöne machen, das sie so lieben. Ketten und Spangen und Ringe für ihr Glück. Denn ich selbst, Johannes ,… ja ,… ich werde das ja nun niemals kennenlernen ,… Sie werden sich grauen, nicht wahr? Die Stümpfe, siehst du, die sehen ja nicht schön aus ,… und ich habe mich so sehr gesehnt danach ,… und nun werde ich ihnen wenigstens die Freude machen können ,… es ist besser als die Arme, Johannes, viel besser. Gehen können ,… ja ,… aber die Seele ist nicht in den Beinen, sie ist doch in den Händen, nicht?«

Johannes nickte und sah auf die blassen Hände über seinem Stahlhelm. Er sah die grauen Finger wieder vor sich, die über die blutige Erde tasteten, um nach den Handschuhen zu suchen, die gar nicht da waren, und der Mund war ihm bitter wie von all dem Blut, das zum Opfer geflossen war. »Ich habe nicht geschrien, Johannes, nicht?« fragte er nach einer Weile. »Siehst du, ihr konntet euch auf mich verlassen ,… das Täubchen ,… wie es abflog und schrie ,… weißt du etwas von ihm?«

Johannes wußte nichts. Er erzählte von dem Brief an Schwester Agnete und daß er das Kreuz bekommen habe.

Klaus lächelte nur.

Die Sonne funkelte nun in den Fenstern des Lazaretts, und es war, als sehe man durch die Öffnungen der Fenster das brennende Blut aller Leidensräume. Auf den Gängen schlichen und humpelten sie nun in das Haus zurück. Noch immer überfluteten die Amseln den Park mit ihren glühenden Tönen.

»Nun kommt er mich bald holen«, sagte Klaus. »Auch ein Artillerist, der wie ein Bär aussieht. Bloß der Unterkiefer fehlt ihm, und du mußt nicht erschrecken, wenn er lächelt. Es sieht ein bißchen merkwürdig aus ,… es war ihnen zu mühsam, immer mit der Bahre zu kommen, und da macht es der Bär. Er liegt neben mir und kann mich gut leiden.«

Sie sprachen nicht mehr von zu Hause und dem verloschenen Leben der Vergangenheit. Sie sprachen nur von der Gruppe und wie es Johannes antreffen würde. »Ich habe geträumt, daß du zurückkommst, Johannes«, sagte Klaus sehr ernst. »Mit einem Friedenskranz um deine Stirn. Nun habe ich keine Angst mehr um dich, gar keine. Die Beine, siehst du, das ist nicht so schlimm, aber du, wenn du nicht wärest ,…« Und er streichelte mit seinen schmal gewordenen Händen über das graue Eisen des Stahlhelms.

Dann kam der Bär. Er hatte einen Teil seines Gesichts verloren, und man mußte sehr aufmerksam sein, um zu verstehen, was er sprach. Aber das Verlorene hatte sich in seine Augen geflüchtet, und seine Bewegungen waren so sanft wie die einer Mutter, als er Klaus aus seiner Decke wickelte. »Wir vertragen uns gut, Kamerad«, sagte er, Johannes zunickend, »er ist wie mein Kind, und für ihn bin ich schön genug.«

»Sieh ein wenig zur Seite, Johannes«, bat Klaus.

Johannes hängte sein Gepäck um, und als er fertig war, sagte Klaus, daß sie nun gehen könnten. Seine Stimme kam aus der Höhe, und als Johannes sich umdrehte, sah er, daß der Bär ihn auf den Schultern trug. Es war wie ein Kinderspiel, aber das Kind auf den Schultern hörte plötzlich auf, und als die leeren Falten der Beinkleider bei den ersten Schritten zu schwanken und zu taumeln begannen, zog Johannes den Stahlhelm über die Stirn und blieb ein wenig zurück, als gehe er hinter einem hohen Sarge her. Er begleitete sie bis in den Korridor. Dort nahm er Abschied. Klaus beugte sich nieder und legte die Hände um seine Wangen. Er lächelte, aber die Lippen bildeten nur unhörbare Worte.

»Mach's gut, Kamerad«, sagte der Bär.

Dann gingen sie über das spiegelnde Linoleum den Gang hinunter. Niemand sah sich nach ihnen um, aber ihr Spiegelbild ging unter ihnen mit, und am Ende des Ganges, im Dämmerlicht, sah es aus, als kehre ein Zentaurenpaar aus der Schlacht in seine Wälder zurück, ein hoher und sieggekrönter und in seinem Schatten ein mühsamer und geschlagener.

Dann, von einer Türschwelle, winkte Klaus noch einmal zurück. Es war wie das Winken einer Puppenfigur aus der Kulisse einer kleinen Bühne.

Und dann kehrte Johannes in den Krieg zurück.


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