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9

Sie marschierten den ganzen Tag. Die Straße führte in einen leeren Raum. Ihnen entgegen strömte, was dem Raum Leben gegeben hatte: Kampftruppen, Kolonnen, Parks, Depots. Sie erfuhren, daß die Kompagnie vorne lag, am Kanal, und daß sie drei Tage dort liegen sollte, um den Rückzug zu verschleiern. Der dumpfe Ton der Sprengungen erschütterte die graue Luft. Ein Leuchtmunitionslager brannte viele Stunden als ein farbiges Feuerwerk über der Ebene. »Macht's gut, Kameraden!« rief man ihnen zu. Jedermann schien zu wissen, wohin sie gingen.

Von der Mittagszeit an sahen sie nur noch einzelne Pioniere, die gleich Maulwürfen irgendwo aus der Erde gekrochen kamen und hinter denen die Donner des Einsturzes rollten. Und dann war das Land tot. Der Regen hörte auf, und ein fahler, zerklüfteter Himmel stand kalt und drohend über der nassen Erde. Fesselballone krochen über den westlichen Horizont und hingen wie böse Geschwüre in der blassen Haut des Abendhimmels. Von dem schiefen Kreuz eines Grabes am Straßenrand flog stumm eine Krähe ab. Sie wandten alle das Gesicht und sahen ihr nach. Camarade verfolgte sie eine Strecke lang und kehrte dann zurück.

»Masse Raum hier, Korp'ral«, sagte Oberüber.

Johannes nickte. Sie wußten alle, was er meinte.

Gollimbek und Lehmann blieben zurück und hinkten. Johannes sah sich um und wartete. »Die Gruppe meldet sich geschlossen zurück«, sagte er finster. Aber sie zog sich wieder auseinander. Er schickte Oberüber zurück. »Olala!« hörte er seine helle Stimme rufen. Und dann waren sie wieder zusammen. Niemand achtete auf die Flüche der beiden. Ihre Gedanken waren vorne, in dem leeren Raum, durch den die Kompagnie sich wie ein Faden zog, bei den nächsten Stunden und Tagen und Nächten.

Ein zerrissenes Abendrot stand über dem Kanal, als sie sich bei Percy melden wollten. Er war noch in der Stellung, und sie warfen sich auf die nasse Erde, mit umgehängten Tornistern, und warteten. Das Laub der Pappeln, die die Ufer begleiteten, glühte noch im westlichen Licht, und wenn Johannes durch die Wimpern seiner halbgeschlossenen Lider blickte, konnte er glauben, daß es steile, unbewegte Opferflammen seien, die fremde Beter knieend dort entzündet hätten.

»Es sind Auferstehungsbäume, Heinrich«, sagte er leise.

»Kein anderer Baum ist so ,…«

»Bißchen Musik machen, Korp'ral«, erwiderte Oberüber.

»Bald genug dicke Luft sein ,…«

Und so stieg die zarte Melodie, dünn und zitternd, in den großen Raum des Abendhimmels hinauf, als Percy aus der Stellung kam. Er ging gebeugt, die Blicke an der Erde, und er schien ihnen alt und fast fremd geworden, seit sie ihn zuletzt gesehen hatten.

Er blieb stehen, als er die zarten Töne vernahm, und wich einen Schritt zurück, als habe sein Gesicht ein Spinngewebe berührt. Dann sah er auf, lauschend und leise erschreckt, und blieb so, bis die Melodie abgeklungen war und die Feder mit einem leisen Seufzer einsprang.

»Ihr Musikanten«, sagte er lächelnd, aber auch sein Lächeln war verändert, gleichsam von einem fernen Wissen erfüllt, das nur ihm allein zugehörte. »Es wird nicht leicht sein«, setzte er hinzu, auf die Spieluhr starrend, »aber sie verlassen sich auf uns ,… sie haben uns drei Maschinengewehre gelassen und irgendwo hinten eine Batterie ,… habt ihr sie getroffen?«

Nein, sie hatten nichts gesehen.

»Nun, gleichviel ,…« Er hob den Kopf mit jener scharfen Bewegung, die sie alle kannten und die Oberüber die Raubritterbewegung nannte. »Ihr werdet bis Mitternacht schlafen. Dann müssen wir alle da sein. Bis jetzt haben sie noch nichts gemerkt, aber es kann nicht mehr lange dauern.«

Er sah noch einmal die Pappelreihe entlang, bevor er die Stollentreppe hinunterstieg. »Komm mit«, sagte er zu Johannes, »und erzähle, wie es war.«

Sie saßen bei dem tropfenden Licht, tief unter der Erde. Die Luft war dumpf und grabesstill. Dann summte der Fernsprecher, und Percy sprach mit der Batterie. Er wollte wissen, wo sie stände, ganz genau. Nein, es sei alles ruhig, aber er glaube, daß es in der Nacht schon losgehen werde. Wie lange? Drei Tage natürlich, wie es befohlen sei. Ja, sie möchten einige Male die Stellung wechseln, um den Gegner zu täuschen.

Dann legte er den Hörer hin. Die fremde Stimme erlosch. Sie waren allein. Johannes sah zur Decke empor und dachte, daß es neun Meter Erde seien, viermal soviel wie über einem Grabe.

»Theodor war da«, sagte Percy. »Er fragte nach dir, und sie hatten ihm Bescheid gegeben, bevor ich dazukam.«

Johannes fühlte eine leise Enttäuschung, daß es sich so natürlich erklärte, aber dann erzählte er alles.

»Auch Weishaupt ist in der Gegend«, fuhr Percy fort. »Er lag rechts von uns. Merkwürdig, wie sich alles zusammenschiebt ,…«

»Ich dachte, er sei tot«, erwiderte Johannes. »Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin ,… weshalb trifft es solche Menschen nicht?«

»Ich denke«, sagte Percy, »daß der Tod ein System hat. Er wählt aus ,…«

»Wen?«

»Das weiß ich noch nicht. Es ist eine Theorie, aber sie ist noch nicht genügend gestützt.«

Er nahm eine neue Zigarre und lächelte vor sich hin. Wieder war Johannes, als habe er nie zuvor auf diese Weise gelächelt. »Du weißt etwas, Percy«, sagte er leise.

Percy sah ihn an, mit seinen kühlen, grauen Augen. Sie waren wach wie immer, aber hinter ihrem Wachsein stand noch etwas anderes wie ein schweres Geheimnis, und aus der Ferne dieses Geheimnisses kam ein zweiter Blick, der durch Johannes hindurchging und auf der Wand des Stollens etwas Unsichtbares sah. »Weißt du noch, was du von der Furche sagtest, damals, als wir aus der Klasse gingen? Es fiel mir heute ein, als ich von Weishaupt hörte. Man muß jede Furche gerade pflügen ,… nun sind wir soweit.«

»Weißt du«, sagte Johannes nach einer Weile, »daß ich es geahnt habe, das mit Theodor? Lange vorher?«

Wieder sah Percy ihn an. »Damals mit der Hand, auf dem Bahnhof ,… du hast den zweiten Blick ,… manchmal kommt so etwas ,…« Und dann machte er eine waagerechte Bewegung mit der Hand, und Johannes wußte nun, daß es abgeschnitten war. Wieder war sein Herz ihm schwer und zwischen kalten Wänden eingepreßt. Er sah den leeren Raum, der sich hinter ihnen dehnte, fruchtlose Felder, deren Disteln im Nachtwind schwankten, verfallene Dörfer, Fensterhöhlen, hinter denen der Himmel stand. Und irgendwo in einem Tal, hinter Büschen, die lange Schatten warfen, stand schweigend die Batterie als das einzige Lebendige, vier erzene Münder, die auf Speise warteten. Und sonst war nichts als der Wind, hohe Wolken unter einem müden Mond und das Blut, das in der Erde schlief.

»Camarade!« sagte er laut und legte die Hände um den Kopf des Hundes.

Das Licht tropfte unter seiner rußenden Flamme, und ein ferner Einschlag, weit wie aus einem anderen Lande, stieß leise an die unbewegte Stille.

»Man müßte das alles verbieten«, sagte Percy, »Briefe, Frauen, Tiere, Musik ,…« Er schob die Spieluhr zur Seite, und ein ganz leiser, vielstimmiger Klang stieg zitternd aus dieser Bewegung empor. Sie lauschten ihm beide nach, noch lange, nachdem er verklungen war.

Dann kam der Melder von vorn. »Vor'm Feind nichts Neues, Herr Leutnant!«

Percy sah ihn nachdenklich an, ein junges, müdes Gesicht unter der harten Linie des Stahlhelms. »Ja ,… ich komme mit ,… schlafe ein paar Stunden, Johannes, hörst du?«

Sie standen auf und gingen hintereinander den Stollengang hinauf. Man hörte den Wind in den Pappeln rauschen und sah ihre blassen Türme in die Wolken heben. Leuchtkugeln stiegen, und das flammende Licht ihres Falles glitt in großen, weißen Flächen über das Feld.

Sie standen noch eine Weile und lauschten, bevor sie auseinandergingen.

Percy kehrte noch einmal um. »Ich möchte jenseits des Rheins begraben werden«, sagte er, das Gesicht nach der Front gewandt. »Wenn ihr das möglich machen könnt ,…«

Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten. »Vorsicht ,… Draht!« sagte die Stimme des Melders aus der Ferne.

Bald nach Mitternacht tastete der Gegner zum ersten Male vor. Die Maschinengewehre hämmerten Gurt auf Gurt hinaus, und die erste Lage der Batterien stand mit vier Feuerkratern am jenseitigen Ufer auf. Ein Boot schwamm auf dem Kanal, drehte sich langsam um sich selbst, wurde flacher und flacher und versank mit einem gurgelnden Ton. Es war nicht zu erkennen, ob es leer war oder bemannt.

Das Feuer pflanzte sich rechts und links am Ufer entlang, und sie lauschten, ob es in derselben Linie blieb oder zurückwich. Es klang wie ein gespannter Faden, und sie wußten, daß es darauf ankam, ob er riß oder hielt.

Und dann versanken die Leuchtkugeln, das Feuer, die unsichtbare Bewegung, und nur das Rauschen der Pappeln blieb und erfüllte die Nacht mit dem leisen Beben seiner dunklen Unruhe.

Percy ging das Ufer entlang, hinauf und hinab, von Gruppe zu Gruppe, die ganze Nacht. Er sprach mit jedem seiner Leute, und aus seinen wenigen kühlen Worten baute er um jedermann einen Schild der Ruhe, der Selbstverständlichkeit, der nicht zu erschütternden Zuversicht. Manchmal sah er sich um und betrachtete die Erde, auf die der Herbsttau fiel, als suche er seinen Platz zum Schlafen. Aber dann ging er wieder weiter, und sein schmales Gesicht unter dem grauen Helm war so unbewegt wie das Metall über seiner Stirn.

Um die Mittagszeit des zweiten Tages wußte der Gegner, daß er vor einem leeren Raum stand. Das Land lag weit geöffnet unter der Herbstsonne, vor den Fesselballonen erschloß sich die Leere der Straßen, der Dörfer, der Stellungen, die Flieger kehrten zurück, unbeschossen, und glitten noch einmal, niedriger tauchend, das Ufer entlang, bevor sie am westlichen Horizont verschwanden.

Für eine Stunde noch schwieg das Land, eine letzte Stunde der Gnade. Sie nahmen die schweren Helme ab und empfingen noch einmal den wärmenden Schein der Sonne auf ihren schmerzenden Stirnen. Sie pflückten Brombeeren aus der Wildnis des Ufergebüsches und hörten die Elstern in dem bewaldeten Steilhang hinter sich lärmen. Aber niemand lachte. Sie waren gesammelt und ernst wie vor einer Kommunion.

Und dann, mit einem Schlage, begrub sie eine brüllende Wand aus Staub und Feuer und Qualm. Sie schoß unter ihren Füßen empor, als hätte sie zubereitet in der Erde gelegen und werde nun aufwärtsgeschleudert von unsichtbaren Gewalten der Tiefe. Der Donner der Eruption wälzte sich über ihre ertaubende und erblindende Linie, ordnete sich über ihnen zum Rhythmus des Todes und blieb über dem ausgewählten Räume wie das Dröhnen eines ungeheuren Dynamos.

Sie zerbrachen nicht. Sie wußten vom Kommenden und stürzten nicht aus einer Täuschung in die Verzweiflung. Sie wichen aus, jeder nach seinem Befehl, bis der Steilhang sie verbarg. Sie wußten den Namen jedes der Freiwilligen, die dort unten geblieben waren. Die Hand um die Leuchtpistole gepreßt, während alle Elemente auf sie niederbrachen.

Und von dieser Stunde an bis zur Mittagszeit des dritten Tages färbte das dunkle Wasser des Kanals sich rot, sobald hinter der Wand des Feuers oder Nebels Boot oder Brücke auftauchte, sich vorwärtsschiebend gegen die schwelenden Krater des Uferhanges.

Aber um diese Mittagszeit, als ein kalter Regen niederzufallen begann, hörten sie, daß rechts von ihnen das Feuer schwieg. Es war wie das Schweigen einer Maschine, und alle grauen Gesichter waren ihm zugewendet. In dem unaufhörlichen Brausen des Todes war dieses Schweigen mehr als der Tod, drohender, unabwendbarer, wie ein lautloser Spalt in dem Ragenden einer Mauer, wachsend, sich weiterfressend, von Fuge zu Fuge, von Träger zu Träger, der tastend auch nach ihrem Gewölbe griff, so daß sie das Sandkorn unter ihren Füßen rieseln hörten.

Und um dieselbe Stunde bat Percy, daß Johannes bei ihm bleiben möchte. Er fügte keine Erklärung hinzu, und auch in seinen Augen war nicht zu lesen, weshalb seine Seele ihm dieses zu bitten erlaubte oder befahl.

Sie nahmen ein Maschinengewehr und die Gruppe Karsten und gingen am Kanal hinauf, in der Richtung, in der das drohende Schweigen über der Erde lag. Hier endete der Steilhang des Ufers in einer Hügelzunge, von der man auf das Schachbrett des Todes hinuntersehen konnte. Aber die Felder waren leer. Ein Maschinengewehr lag verlassen auf der Höhe, zwischen den tropfenden Büschen, inmitten eines Berges leerer Hülsen, aber von seiner Bedienung war nichts zu sehen.

Hier fingen sie Umgehung und Rückenstoß auf, der dem Durchbruch folgte, und hier empfing Percy, am Maschinengewehr liegend, den Schuß durch die Brust, den gewußten Schuß, auf den er drei Tage gewartet hatte. Er ließ sich zur Seite gleiten, um Oberüber Platz zu machen, und seine Augen suchten Johannes. Blutstropfen erschienen auf seinen Lippen und die scharfe graue Falte zwischen Nase und Mund, von der sie wußten, daß die Hand des Todes sie zeichne. Aber in seinen Augen war weder Hoffnung noch Furcht. Unter dem donnernden Lauf des Maschinengewehres hindurch preßte sein Blick sich in die Ebene hinaus, in die die tödliche Garbe schlug, umfaßte dort noch einmal Erscheinung, Plan und Drohung, wurde kürzer und kürzer, bis er mühsam zurückkehrte in sich, suchte Johannes' sich über ihn beugendes, ihm schon sich verdunkelndes Gesicht, begleitete sein letztes geflüstertes Wort: »Bis ,… zum ,… Abend ,…«, und entspannte sich dann erst, in den grauen Himmel sich wendend, mit dem letzten Licht sich erfüllend, bescheiden und genügsam, ausruhend wie der Blick eines treuen Arbeiters am kargen Feierabend.

Er hielt Johannes' Hand in seinen kühlen Fingern, und Johannes, über ihn gebeugt, wagte nicht, sich zwischen den ausruhenden Blick und den grauen Himmel zu drängen, um das Letzte des erlöschenden Lebens zu empfangen. Es verlangte ihn nach einer letzten Güte der noch im Tode kühlen grauen Augen, nach einem letzten Bunde, den er mit ihnen schließen könnte, aber er umklammerte nur die erkaltende Hand und ließ die Ruhe des grauen Himmels hineinfallen in die sich verdunkelnden Brunnen, bis der Vorhang des Todes sich über ihnen schloß.

Er legte sich neben Oberüber und löste dessen Hände von den Griffen des Maschinengewehres. »Geh hinunter«, sagte er, »zu den andern und sage, daß er tot ist und befohlen hat: ›Bis zum Abend!‹«

Von Trichter zu Trichter sprang Oberüber am Kanal. »Der Leutnant ist tot«, schrie er, »und hat befohlen: ›Bis zum Abend!‹« Er hörte seine heisere Stimme nicht und sah nicht die grauen Gesichter, die an seinen Lippen hingen. Er sah das schweigende Gesicht, das Grafengesicht, das ihn, vor so vielen Jahren, in die Gruppe geholt hatte, und ein Brudergesicht geworden war. »Der Leutnant ist befohlen ,…«, murmelte er am linken Flügel, »tot bis zum Abend ,…« Und sie mußten ihn schütteln und anschreien, bis er wieder zu sich kam und den Befehl wiederholte.

Sie schleppten die Schwerverwundeten zum Eingang des Stollens und banden eine Rotkreuzflagge an eine Telephonstange. Um die Dämmerung erstarb das Feuer. Sie legten Percy auf die einzige nicht zerschossene Bahre, deckten ihn mit einer Zeltbahn zu, hoben die Maschinengewehre von den Schlitten, wichen ein Stück nach Süden aus und ordneten dann ihren zerschossenen, stolpernden und schweigenden Zug. Zuerst kamen die Sicherungen, vorne in der linken Flanke, dann eine Gruppe mit einem Maschinengewehr, dann kam die Bahre mit Percy, die sie abwechselnd trugen, und die Verwundeten, die sich noch mitschleppen konnten. Dann kam die Nachhut, Johannes' Gruppe, mit dem zweiten Gewehr.

Leuchtkugeln hingen über dem Kanal. Die dunklen Pfeiler der Pappeln standen drohend vor dem weißen Himmelsgewölbe, aber zu ihnen tastete das Licht nur als ein ersterbender Schein, und sie sahen den blassen Schatten ihres Zuges über das feuchte Gras sich werfen und weit hinausweisen in den leeren Raum, der sie nun umfing und schweigend in sich begrub.

Der Hund hielt sich an Johannes' Füßen. Regen tropfte von seinem Behang, und von Zeit zu Zeit hob er den treuen und traurigen Blick zu Johannes empor, dessen Augen vorne im Dunkeln die Gruppe suchten, in der man die Bahre trug. Und jedesmal, wenn er in einen der Trichter trat oder über einen der Drähte stolperte, kam aus seinem Tornister ein leiser, zitternder, verwehender Klang, der Klang der Spieluhr, der sich gleich einem silbernen Gespinst im Rauschen des Regens verlor.

»Korp'ral«, sagte Oberüber leise und legte das Maschinengewehr auf die andere Schulter, »wenn da oben einer is und sich das ansieht ,… das muß ihm komisch vorkommen, von wegen seinem siebenten Tag, Korp'ral, was?«

»Jonathan!« schrie Johannes plötzlich. »Mein Bruder Jonathan!« Er hob die Arme, und es sah aus, als wollte er davonstürzen in die Nacht hinaus, in einen Abgrund, in etwas, das ihn bedeckte, verbarg, verlöschte. Aber Oberüber warf das Maschinengewehr zur Erde und hielt ihn fest. Er tat ihm weh, aber er lockerte seinen Griff nicht. »Nee, Korp'ral ,…«, sagte er ruhig, »das mußt du nicht tun, Korp'ral ,… Siehst du, der Grafensohn, der hätte stillgeschwiegen, bis an den Rhein ,… Er war immer für Stille, der Grafensohn, nich wahr?«

Und dann lud er das schwere Gewehr wieder auf und sah sich einmal um, denn sie waren nun die Letzten des Zuges, und hinter ihnen rauschte nur mit vielstimmigen, geheimnisvollen Lauten der fallende Regen.

Um Mitternacht, als sie vor Erschöpfung in einer Dorfstraße niederfielen, rauchte er eine nasse Zigarette, die er in der hohlen Hand vor dem Regen zu schützen suchte, bat Johannes um eine Taschenlampe und verschwand dann zwischen den Resten der Häuser. Als er wiederkam, zog er einen Handwagen hinter sich her, und während die anderen schliefen, arbeitete er unter leisen Selbstgesprächen an seinem Gefährt, schmierte die dünnen Achsen mit dem Rest seiner Marmelade, sammelte die Wischstricke aus den Brotbeuteln der Schlafenden, legte alles zurecht, was man brauchen würde, um die Bahre auf dem Wagen zu befestigen, und schlich sich dann leise zu der zerbröckelten Mauer, an deren Fuß sie die Bahre hingestellt hatten. Dort kniete er auf der nassen Erde, schlug die Zeltbahn behutsam zurück und blickte dann regungslos auf den matten Schein des Gesichtes, aus dem sich langsam das Erkennbare heraushob: die Wölbung der Stirn, die Schatten der Augen, und die streng geschlossene Linie des Mundes. Er kauerte stumm davor, wie ein dumpfes Tier über der Leiche seines Kindes. Er hatte niemals sein Herz vor diesem Toten geöffnet, der aus einer fremden, stolzen Welt hinübergekommen war zu seiner eigenen Armut und Bedürftigkeit, aber er hatte seine Seele und was ihm aus der Kinderzeit verblieben war, an diesen Toten gehängt, wie man einen dürftigen Kranz in die Äste eines stolzen Baumes hängt. Die anderen waren Kinder gewesen und er hatte ihnen helfen müssen mit allem erfahrenen und erworbenen Gut seiner Landstraßen und seiner Knechtsgestalt. Aber der Tote war nie ein Kind gewesen und niemals einer Hilfe bedürftig, und in den grauen Strudeln am Rande des Todes war sein stilles Gesicht das einzige gewesen, zu dem sie alle die Augen aufgehoben hatten. Und nun hatten sie ihn erschlagen, und die Tage des Lebens würden wieder Mühe und Arbeit sein, Hunger und Not, ohne das stille Lächeln dieses Mundes, das jedesmal erschienen war, wenn Heinrich Oberüber seine Absätze zusammengeschlagen und »Zu Befehl, Herr Jraf!« geschrien hatte.

Er deckte die Zeltbahn wieder behutsam über das weiße Gesicht und stand auf. Er trat auf die Dorfstraße hinaus und lauschte nach der Front zurück. Die Zeiger seiner Uhr mahnten ihn, daß es Zeit sei, aber er blieb noch eine Weile stehen, in Gedanken verloren, indes der Regen von seinem Helmrand tropfte und an seiner Haut herunterlief. »Und das Dreckzeug bleibt leben«, murmelte er, kehrte sich mit einem Fluch um und weckte die Schlafenden, wobei er Gollimbek und Lehmann ohne Bedenklichkeit in die Seite trat.

Sie fanden das Bataillon am dritten Tage, fanden Verwirrung, Auflösung, eine rote Fahne an einer Fuhrpark-Kolonne, Waffenstillstandsparolen, Fieber, Verzweiflung, Rausch, das Ende. Es betäubte sie ein wenig nach dem stummen, zu Tode erschöpfenden Marsch, und sie drängten sich in einen verlassenen Hof, damit die Bahre in der Stille bleibe. Johannes ließ sich beim Kommandeur melden. Der Bursche machte eine vertrauliche Handbewegung nach der Stirn, als er die Tür öffnete. Der Hauptmann saß hinter einem mit Karten, Befehlen und Flaschen bedeckten Tisch, den Kopf an die Rückenlehne gelehnt, und rauchte. Der Kragen seines Waffenrockes war geöffnet, und die Züge seines Gesichtes waren erschöpft, aufgelöst, verwildert. Aber er war nicht betrunken. Er befand sich in einem schweigenden, erbitterten Kampfe gegen die Trunkenheit, als sehne er sich nach ihr als nach dem Zustand des Vergessens, des Nichtwissens, des erlösenden Dunkels, aber als bewahre die Uniform ihn davor, das umgeschnallte Koppel, die Achselstücke, die Orden.

»Kleiner Unteroffizier«, sagte er mit stolpernder Stimme, »wo habt ihr ihn begraben?«

»Der Herr Leutnant Graf Pfeil haben befohlen, ihn jenseits des Rheines zu begraben.«

»Jenseits ,… jenseits ,… siehst du, das ist nun sein Jenseits, das Jenseits eines königlich preußischen Offiziers ,… aber er wußte noch nichts von der roten Fahne, sonst würde er befohlen haben, daß man ihn in einem französischen Misthaufen verscharre ,…«

»Wir haben den Toten bei uns«, fuhr Johannes fort, »und wir wollten Herrn Hauptmann bitten, uns einen Wagen zu geben, damit wir den Befehl ausführen können.«

Der Hauptmann starrte auf einen Punkt an der Tapete, als habe er nichts gehört. »Kleiner Unteroffizier«, sagte er nach einer Weile grübelnd, »erstens heißt das ›den Herrn Toten‹, und zweitens geht das natürlich nicht. Siehst du, in drei Tagen sind wir in der Etappe und deine Herren Kameraden werden den Herrn Grafen vom Wagen werfen und Proviant aufladen, den sie aus den Depots stehlen werden. Und das möchtest du doch nicht. Begrabt ihn hier. Hier ist ein schöner Heldenfriedhof, mit Monument, Bibelwort und so, weißt du. Eine dekorative Angelegenheit für die Herren Toten. Da wird er ›mit seinem Ruhme‹ schlafen ,… Kennst du das Gedicht? Es ist ein englisches Gedicht auf irgendeinen General ,… ja ,…«

Er goß Kognak in ein Wasserglas, verschüttete die Hälfte auf das Tuch, trank und vergaß dann, daß jemand im Zimmer war.

Johannes ging leise hinaus. Er ging durch die Stadt, aus der die letzten Kolonnen hastig aufbrachen. Alles sprach vom Waffenstillstand und daß alles gefangengenommen würde, was nicht rechtzeitig hinter den Rhein komme. Aber es war keine Freude in diesen Gesprächen, nur ein stumpfes Ausruhen, wie nach einer Folter. Die Bewohner standen finster vor ihren Häusern, und nur in den Augen der Frauen war Schadenfreude und Hohn zu lesen.

Am Bahnhof wurden die Reste eines Feldlazaretts in den letzten Zug geladen, und eine Gruppe von Offizieren saß und lag auf ihren Tragbahren und blickte feindselig auf die Güterwagen, die noch flüchtig mit Stroh ausgelegt wurden, um sie aufzunehmen.

Johannes stand an dem hohen Drahtzaun, hörte auf die Flüche der Sanitäter und überlegte müde, ob er zum Transportführer gehen und um einen Platz für Percy bitten sollte.

»Unteroffizier!« rief eine heisere Stimme von der Tragbahre. »Er wird es nicht tun«, dachte Johannes, »und wenn er es tut, wird er uns nicht mitnehmen und sie werden ihn irgendwo begraben, wo sie den Zug auflösen, und niemand wird seine Stätte kennen ,…«

»Der Unteroffizier!« rief die heisere Stimme. »Am Zaun ,… herkommen!«

Johannes drehte sich um und ging langsam, noch ungewiß, auf die Bahre zu. »Der Rochen«, dachte er und hielt den Atem an. »Das war Weishaupts Stimme ,…«

Sein Ordinarius lag auf einer der Bahren, beide Beine verbunden und zu einer unförmlichen weißen Masse verwandelt, und sah ihm entgegen. »Schwerhörig wie auf der Schule«, sagte er langsam, mit einer heiseren, leisen Stimme, die aus einer zerschossenen Brust heraufzukommen schien, und seine grünlichen Augen umfaßten voller Freude die Verwirrung seines Schülers. »Welch ein unvermutetes Wiedersehen, nicht wahr, Zerrgiebel?«

»Ich heiße Karsten, Herr Oberleutnant.«

»Richtig, richtig ,… da war ja die Affäre mit Ihrem Vater, ja ,… Aber bauen Sie sich etwas vorschriftsmäßiger auf, Unteroffizier Karsten ,… das Kinn mehr an die Binde ,… ja ,… wir haben nämlich noch Krieg, mein Lieber ,…«

»Wenn er doch stürbe!« dachte Johannes. »Diesen Augenblick!« »Ich habe keine Zeit«, sagte er und blickte voller Ekel über den Liegenden hinweg. »Graf Pfeil ist gefallen ,…«

»Das macht nichts«, erwiderte Weishaupt lächelnd, »drücken Sie die Knie ruhig etwas mehr durch. Man muß nicht nur seine Furche gerade pflügen, sondern auch seine Beine gerade biegen, nicht wahr? Und wie steht es mit der Sechs? Kann man sie nun richtig schreiben?«

Johannes drehte sich um und ging fort. Das Grauen der Kinderzeit war wieder da, und er sah sich um, ob nicht Theodor hinter ihm herkomme. »Der Unteroffizier!« rief die heisere Stimme ,… »Haltet ihn! Vor das Kriegsgericht mit dem Lümmel!«

Aber ein Pfiff durchschnitt die Luft, ein böser, unheilverkündender Pfiff, wie er in jenen Tagen mitunter aus Kolonnen, Transportzügen und vor den Proviantdepots zu ertönen pflegte, und die Stimme schwieg.

Johannes fand den Hof wieder. Oberüber hatte einen Sarg aufgetrieben – »einen Rittersarg, Johannes«, sagte er –, saß neben dem Deckel auf einer leeren Tonne und rauchte. »Nischt?« fragte er gutmütig.

Johannes schüttelte den Kopf. »Der Hauptmann trinkt Kognak, und auf dem Bahnhof habe ich Weishaupt gesehen, meinen alten Klassenlehrer. Er ließ mich strammstehen.«

Oberüber spuckte aus. »Es wird die Zeit kommen«, sagte er nachdenklich, »wo man einigen wieder in die Fresse geben kann ,… noch ist es zu früh ,… Soldat ist Soldat ,… Türmen sie?«

»Ja.«

»All right. Du bleibst jetzt hier, Korp'ral, und ich werde mich etwas an die Depots schlängeln. Brauchen Proviant. Wird dich keiner holen. Sonst machst du dich dünn, verstanden? In der Nacht marschieren wir. Hinter uns is nischt. Befehl is Befehl, Korp'ral, was?«

»Ja, Heinrich.«

»All right.«

Er kam erst in der Dämmerung wieder, unter einer gefüllten Zeltbahn stöhnend. »Alles getürmt, Korp'ral«, sagte er. »Und zum Schluß hat Heinrich Oberüber noch eine Kontrahage bezogen. Da staunste, wat? Aber so sagen die Akademiker dazu, det hab ich nu gelernt von all die feinen Pinkels. Also ich beschäftige mir so ein bißchen mit die Rindfleischdosen, weißt du. War allerhand los im Depot, das kann ich dir flüstern. Ein paar von die Küchenbullens wurden verrollt, und was eine Charge hatte, das machte sich mächtig dünne. Schön ist anders, aber Revolution kommt immer aus dem Magen ,… siehst du ,… Na, und da kam das Täubchen an. Hatte einen gekümmelt, denke ich, und war verdammt schneidig. Drei Leibbinden, schätze ich. Rollte mit seinen Hasenaugen und hatte eine rote Binde um den Ärmel, jawoll. ›Strammstehen, du Schwein!‹ sagt er zu mir und macht Männchen. ›Ich bin ,… bin Solda ,… datenrat, verstanden?!‹ ›All right‹, sage ich, verstanden, Herr Soldatenrat!‹ lege meine Konserven hin und plätte ihm eine, an der ich ein halbes Jahr gespart habe, Korp'ral. Und entweder war er wacklig auf die Beene, oder ich hatte eine glückliche Hand, aber er segelte in einen Marmeladenberg, Korp'ral. Es waren da ein Dutzend Eimer geplatzt. Mit der Fresse zuerst und dann eine Kehrtwendung, und dann sah er so aus, als bewegte sich die Marmelade, verstehst du? Er brüllte was vom Soldatengericht, und da habe ich ihm schwere Säbel angeboten, vor seiner Ladentür, und seine Olle soll mit der Waschschüssel dabeistehen, von wegen die Blutsuppe. Tjawoll, eine feine Marke is Oberüber noch geworden zum Schluß, mit schwere Säbel und alle Finessen ,… und nu sind sie fort, und auch für uns wird das so langsam Zeit, sonst schnappt uns der Tommy. Komm anfassen, Korp'ral!« Sie hoben die Leiche in den Sarg, nahmen die Zeltbahn ab, beugten sich noch einmal über das weiße Gesicht, das ihnen hart und befehlend entgegenblickte, und schlössen dann den Deckel.

Als alles fertig war, blieben sie noch eine Weile sitzen, jeder den Kopf an ein Rad gelehnt. Die Sterne standen über dem Hof, und ein nächtliches Tier bewegte das trockene Laub an der Gartenmauer. Camarade hob den Kopf und lauschte nach dem leisen Geräusch. Sie wußten nun, daß es zu Ende war. Es war anders, als sie manchmal geträumt hatten, aber sie empfanden keine Enttäuschung. Das Rad des großen Schicksals rollte und ließ sie ein wenig zur Seite, mit ihrem dumpfen, erschöpften Leben und dem schweigenden Sarg auf dem kleinen Gefährt. Sie hatten keine andere Zukunft, als diesen Sarg in die Erde zu senken und ein Kreuz über seiner Stätte zu richten. Sie wußten nicht, was dahinter sein würde. Sie glaubten, daß nur Schlaf kommen würde, ein tiefer, unendlicher Schlaf, aber sie wußten nicht, ob dahinter ein neuer Morgen kommen würde, ein neues Leben, ein neues Werk. Sie dachten nicht an das Vaterland. Das Vaterland lag hinter ihnen, zu Atomen zerbröckelt, zu Skeletten gebleicht, zu Kreuzen erstarrt. Vielleicht würde ein neues Vaterland erstehen, vielleicht würde man ohne Vaterland auskommen. Sie wußten es nicht und wollten es nicht wissen. Sie wollten den Weg zu dem großen Strome wissen, und ob es ihnen gelingen würde, den Befehl des Toten auszuführen. Das war das Testament des Krieges, das für sie geschrieben war. Sie hatten keinen Waffenstillstand und keinen Frieden. Sie hatten nichts als einen Befehl, und der Befehl war mehr als Krieg oder Frieden. »So, Korp'ral«, sagte Oberüber, »nun wollen wir man losziehen.«

Johannes nahm den Gurt um seine Schulter, und Oberüber legte die Hände auf das hintere Ende des Sarges. Sie hatten jeder eine Pistole in der Tasche. Alles andere lag auf dem Wagen. Camarade stand auf und trat neben Johannes. Und dann fuhren sie auf die stille, dunkle Straße hinaus. Sie sahen beide noch einmal nach rechts, wo die erstorbene Front sich dehnen mußte, und wandten sich dann nach Osten. Ihre genagelten Schuhe klangen hart auf dem Stein der Straße, und die Räder rollten dumpf unter dem Haus des Todes, das sie trugen.

Sie wandten sich nach Süden, der Eifel zu, um das belgische Land zu vermeiden. Niemand kam ihnen entgegen, niemand überholte sie. Sie waren die letzten der großen Armee. Regen fiel auf die ausgefahrenen Straßen, und Nebel hing über der Zerstörung der Dörfer und Wälder. Sie schliefen in verlassenen Baracken, unter tropfenden Bäumen, in den verfallenden Höhlen der Erde. Sie schliefen wenig, denn auch in ihrem Schlaf hörten sie den Befehl: »Jenseits des Rheins ,…« Es kam vor, daß eine Dorfstraße sich füllte, daß man finster in ihrem Wege stand, die Hände drohend in den Taschen. Dann richtete sich Johannes auf aus seinem gebückten Schreiten und sah mit seinen traurigen Augen von Gesicht zu Gesicht. » Notre lieutenant! ,…« sagte er leise. Immer traten sie zur Seite, mitunter nahmen sie die Mütze ab. » Laissez passer!« sagte eine ernste Stimme. Sie brauchten ihre Waffen nicht.

Als sie die Grenze überschritten hatten, beschleunigten sie ihren Marsch. Es kam vor, daß ein Bauernfuhrwerk sie eine Strecke lang mitnahm, ein Lastkraftwagen. Oberüber erzählte ihre Geschichte. Johannes saß schweigend nach rückwärts gewandt, und blickte auf den Sarg, der dunkel und schmutzbedeckt hinter ihnen herschwankte. Täglich zogen sie die Schrauben des Deckels an, aber kurz vor dem großen Strom konnten sie es sich nicht verbergen, daß ein leiser und schwerer Duft mit ihnen ging, vom Winde vertrieben, aber immer wiederkehrend, und daß es Zeit für sie war, die Stätte der Ruhe zu finden.

Bei Nacht zogen sie über die Brücke. »Unser Kamerad«, sagte Oberüber kurz. Dann mühten sie sich einen Tag lang die Uferberge hinauf, in die nebligen Wälder hinein, bis sie eine Lichtung auf der Höhe fanden, unweit eines Forsthauses, von der man nach Osten über das Land blicken konnte. Oberüber ging zur Förstersfrau. Der Mann marschierte noch irgendwo auf der Straße des Rückzuges. Er kam mit zwei Spaten wieder, und unter einer dunklen Fichte gruben sie das Grab. Die Frauen halfen den Sarg hinunterlassen, und dann schütteten sie den Hügel auf.

Die Dämmerung fiel schon über den Wald. Sie sprachen kein Gebet. Sie saßen unter dem dunklen Baum, den Kopf an die feuchte Rinde gelehnt, die erschöpften Hände auf der nassen Erde, und sahen über den Hügel hinaus auf die Wipfel des Waldes, der die östlichen Hänge hinunterstieg. Das Testament war vollstreckt, der Krieg war zu Ende.

»Ich möchte, daß du mit mir kommst auf den Hof«, sagte Johannes. »Oder hast du ein Zuhause?«

»Oberüber und Zuhause? Nee, Korp'ral, Oberüber hat kein Zuhause ,…«

»Wir müssen noch ein bißchen zusammenbleiben, damit ich in den Frieden finde, Heinrich.«

»Befehl, Korp'ral! Kommt alles wieder zurecht, Korp'ral, das mit dem Krieg und hier mit dem Grab ,… und wahrscheinlich auch das mit dem Frieden.«

Es war ganz dunkel, als sie aufstanden. Es tropfte von den Bäumen, durch den ganzen Wald, wie an jenem Tage, als sie zum ersten Male ins Gefecht gegangen waren.

Johannes blieb stehen und wandte sich noch einmal um. Die Pyramide des Baumes stand nun drohend vor dem nächtlichen Himmel.

»Was bleibt? Was bleibt, Heinrich?« fragte er verzweifelt.

Aber Oberüber legte leise den Arm um seine bebenden Schultern. »Laß man sein, Korp'ral«, sagte er still, wie an Hasenbeins Leiche. »Der Regen bleibt, und im Frühjahr kommen ja wohl die Blumen und die Vögel wieder ,… ein bißchen bleibt immer ,… auch für uns ,… laß man sein, Korp'ral.«


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