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3

Sie stürzten durch die Tage wie durch eine Mühle. Vom »Aufstehn!« am Morgen bis zum »Licht aus!« am Abend fielen sie gleichsam von Sieb zu Sieb, geschüttelt, geschleudert, gereinigt, zubereitet. Der Krieg hatte keine Zeit. Er war weit fort und sein Antlitz war verborgen. Was in der Garnison sich von ihm darbot, in Heeresberichten, Fahnen, Trauerkleidern, Gesprächen, Beschränkungen, war ein Echo des Krieges. Aber in diesem Echo offenbarte sich seine Allgegenwart. Er war gleich dem leisen Dröhnen der Dreschmaschine, das in der Ferne über den geernteten Feldern stand und sein auf- und abschwellendes Sausen bis in die Straßen der Stadt, bis in ihre Keller dringen ließ. Man sah die Maschine nicht, nicht das Schwingen der Räder, nicht das Gleiten der Riemen, aber man wußte, daß sie Garben fraß.

Das Reserveregiment ging hinaus. Landwehrbataillone gingen hinaus. Und jede Woche wurde »Ersatz« angefordert. Die Lazarette waren überfüllt, und wenn die Kriegsfreiwilligen von ihren Übungsmärschen, vom Gefechtsschießen, von einer der Besichtigungen singend heimkehrten, standen die Leichtverwundeten am Gartenzaun des Lazaretts, in ihrer gestreiften Kleidung, auf Stöcke gestützt, und blickten mit einem kaum merklichen Lächeln auf die jungen Kolonnen. Es lag weder Frohsinn noch Bitterkeit in diesem Lächeln, auch keine Sicherheit des Geborgenseins oder der leise Spott der Erfahrenen, sondern es war vielmehr eine wissende Trauer, die sich des unverhüllten Ausdrucks schämte und sich hinter einem Lächeln verbarg.

Und es fiel wie eine Decke auf den Gesang. Man winkte einander zu, und Scherzworte flogen über den Zaun, aber hinter dem grauen Gebäude verstummte der Gesang, und das Lied wurde nicht zu Ende gesungen. Ein paar von den Jüngsten drehten sich um und blickten noch einmal zurück, wo die blassen Gesichter ihnen nachsahen, die einen so seltsamen Ausdruck bekommen hatten, als habe der Krieg eine neue Haut über ihr Gesicht gespannt, um Dinge zu verbergen, die weder zu erraten noch zu beschreiben waren, sondern die erfahren werden mußten. Es war, als habe eine unsichtbare Stimme sie einzeln in ein fremdartiges Haus gerufen und nun seien sie zurückgekommen, sehr still, und sehr still zur Seite getreten, um den andern Platz zu machen, und sähen ihnen nun mit einer unruhigen Neugier entgegen, ob ihnen dasselbe geschehen sei oder etwas anderes.

»Sie sehen wie Zeugen aus, die geschworen haben«, sagte Johannes nach einer Weile.

»Und sie wollten nicht«, setzte Oberüber hinzu. »Aber sie mußten.«

Und doch verlangte es sie alle, in das fremdartige Haus zu gehen, auch wenn es das Gesicht veränderte. Sie glaubten fertig zu sein, und es erregte ihnen Übelkeit, das Fertige immer wieder zu wiederholen. Sie erschienen sich wie Knöpfe, die man polierte, wie Objekte, die nur dazu da waren, die Zeit der Vorgesetzten auszufüllen. Am Sonntag hatten die Unteroffiziere von vier Uhr ab Urlaub. Und deshalb war von drei bis vier »Grüßen«. Sie standen lustlos und verdrießlich an der Längswand des Backsteinbaues, sahen den Altweibersommer über die Felder segeln und warteten, bis die Reihe an sie kam, bis sie mit sechs Schritt Abstand ihrem Vordermann folgten, »munter und zwanglos«, wie der Unteroffizier befahl, um plötzlich, wie von einem Schlage getroffen, den Kopf nach links fliegen zu lassen, dem Vorgesetzten fest und treu in die Augen zu sehen und drei Schritte hinter ihm wieder aus der Hochspannungsleitung herauszufallen.

Auch der Unteroffizier war verdrießlich. Er wußte, daß diese »Kaffern« niemals militärisch grüßen würden, weil man eben nicht zwei Jahre Zeit hatte, ihnen das beizubringen, aber er wußte auch, daß ihr Gruß für diese Kriegszeiten genügte, wo Reservisten aller Dienstgrade herumliefen und so taten, als seien sie Soldaten. Und auch er sah viel zu oft auf die Felder hinaus, sah die Bilder seiner kleinen Wünsche und Sorgen vor seinen Augen und vergaß die vorüberdefilierende Reihe, die wie Marionetten ihre Arme und Beine warfen oder wie Rückenmarkkranke, die an einer Schnur durch den Raum gezogen wurden. Bis er dann erwachte und mit einem lästerlichen Fluch das Ganze zusammenriß, damit es einen Anschein von Zweck und Sinn bekomme. »Wenn ihr Heupferde eure Wasserköppe nach links werft, so muß in fünf Minuten der Rotz handhoch auf der Wand liegen, verstanden?« brüllte er. Aber es war kein Zorn. Es war eine unbewußte Gegenwehr gegen die Öde der Stunde, auf die das herbstliche Sonnenlicht nachsichtig leuchtete, gegen die gedankenlose Mißhandlung der Zeit, der Menschenkörper, ihres Geistes, ihrer Seelen, gegen die Uhr, deren Zeiger vorwärtsschlichen, und gegen das Unerbittliche dieser Tätigkeit, die Wochen, Monate, Jahre dauern würde. »Was lachen Sie, Karsten?« »schrie er. »Es war so anschaulich, was Herr Unteroffizier eben sagten.« »Ja, ihr mit eurer Anschauung«, knurrte er, nicht ohne heimlichen Stolz, »euch werden die Augen schon noch übergehen vor Anschauung!« Dann kam es endlich: »Stillgestanden! Weggetreten!« Und dann empfingen sie Kaffee und saßen in der »Etappe« und gähnten und rauchten und sprachen von der Front und fanden es seltsam, daß dies der Krieg war, das Ungeheure, Waffenklirrende, Garbenfressende, das in den Heeresberichten ein so ehernes Antlitz hatte und hier nur ein eintöniger Fall der Stunden war, ohne Heldentum, Ruhm und Vaterland.

Sie nahmen keinen Urlaub und wollten keine Besuche haben. Es schien ihnen besser, die Berührung mit dem Vergangenen zu vermeiden. Sie wollten nicht ans Ufer und von dort auf den Strom blicken, der sie getragen hatte. Sie hatten das leise Gefühl, daß es schwer sein könnte, zurückzukehren, und sie waren zu müde, Schweres herauszufordern. Gollimbek empfing jeden Sonntag den Besuch seiner Frau und seiner beiden Kinder. Sie trug eine Pelzboa und lächelte die Angehörigen der »besseren Kreise« an. Oberüber pfiff durch seine Zahnlücke, wenn er sie am Ende des Ganges auftauchen sah. »Täuberich, das Täubchen kommt«, sagte er grinsend. Sie saßen auf den Schemeln, und nachdem sie ausgepackt hatte, was sie an Eßvorräten mitgebracht hatte, schnell und so geschickt, daß niemand es sehen konnte, zog sie ein kleines Kontobuch aus ihrer glänzenden Handtasche und sie beugten sich beide tief über die Zahlen und flüsterten, wobei sie sich ab und zu umzudrehen pflegten wie eine Meise an einer Speckschwarte. Die beiden Knaben, die den Hasenkopf ihres Vaters hatten, krochen auf den Strohsäcken herum und sammelten Patronenstreifen, Bindfäden und Brotrinden, mit lautlosen, hastigen Bewegungen, gleich Ratten auf einem Abfallhaufen. Nach einer Stunde erschienen sie alle auf dem Hof, mit ernsten, aber nicht unzufriedenen Gesichtern, und gingen am Zaun entlang auf und ab, wobei sie ihm von Zeit zu Zeit die Halsbinde zurechtzog oder nach dem Sitz seiner Kokarde sah. »Sie müssen ihn ein bißchen beschützen, Herr Graf«, sagte sie lächelnd zu Percy. »Er ist ja pflichteifrig, aber ein bißchen schläfrig.« Gollimbek sah sorgenvoll einem sich nähernden Unteroffizier entgegen, tastete die Reihe seiner acht Knöpfe entlang und sagte leise: »Achtung!« Dann schlugen sie die Hacken zusammen, und die Frau lächelte ihr bereitwilliges, schiefes Ladenlächeln. »Wir werden ihn schon durchkriegen«, meinte Oberüber wohlwollend, »Leutnant muß er mindestens werden.« Sie sah ihn an, als ob er ein Viertelmeter Barchent verlangt hätte, und äußerte sich dann in ernsten Worten über die zunehmende Teuerung. Johannes saß auf dem Hügel, dessen Gras sich bräunlich färbte, und betrachtete, den Kopf in die Hände gestützt, die Tauben-Familie, den geschnürten Körper der Frau, ihre wachsamen Augen, ihr gemachtes Lächeln, und er bedachte mit einer quälenden Gegenständlichkeit, daß sie doch von diesem Mann ihre beiden Kinder empfangen hätte, wahrscheinlich so, als addiere man eine Zahlenreihe, korrekt, sorgfältig, mit Schlußstrichen und Übertrag; daß auch sie einer Hingabe fähig sei, eines Rausches, und daß sie nur ihr Kontobuch in der Handtasche aus imitiertem Schlangenleder trage und darnach trachte, Geschäft und Mann für den Krieg auszunutzen, daß das eine Geld einbringe und der andere Karriere mache. Daß es wahrscheinlich immer so sein werde im Leben, das Sichgewöhnen, Verbrauchtwerden, Altern, und daß Regine sich härmen und daß ein anderer ihre Unschuld verderben werde. Daß alles schwer und sinnlos sei, Krieg wie Friede, und daß morgen wieder ausgeschwärmt werde, »zehn Schritt Zwischenraum, Richtung der Kugelbaum auf Höhe 106«.

Aber dann versetzte Frau Gollimbek ihrem Jüngsten eine gutsitzende Ohrfeige, weil er sich am Stacheldraht ein Dreieck in seinen Bleyleanzug gerissen hatte, und ihr Mann, in einem dumpfen Streben nach Herstellung des Gleichgewichts in Autorität und Erziehung, tat dasselbe bei seinem Ältesten, obwohl dieser bewegungslos auf Oberübers Zahnlücke starrte, durch die er einen Parademarsch pfiff. Und dann lächelte Johannes und blickte der Familiengruppe nach, die dem Tore zuwanderte, weil es Zeit für die Frau war, heimzukehren und Gollimbek noch zwei Stunden im Exerzier-Reglement lesen wollte, damit er schneller Karriere mache und nicht wieder vom Feldwebel »angekotzt« wurde, weil er beim Aufmarsch in Zugkolonne seinen Platz nicht fand und wie ein aufgescheuchter Hase wild und verstört durch die Welt jagte.

Und dann kam Klaus zurück, der als einziger zu Hause gewesen war, zwar mit »Fressalien«, wie sie es nannten, aber so, daß es war, als sei er nun erst richtig zu Hause. »Etappe ist Etappe, Johannes«, sagte er und ließ sich müde auf den Grashügel sinken. »Da draußen ist Front, und ich gehe nicht mehr fort am Sonntag.«

»War sie wieder schwierig?«

»Sie sah nach den Hemden. Das war das erste. Und ,…« Er errötete und sah an ihnen vorbei auf das Feld. Sie wußten alle, daß Frau Wirtulla keinen Respekt vor der Uniform hatte und ihr Handgelenk noch immer so lose war wie in früheren Zeiten. Und deshalb sahen sie ebenfalls auf das Feld hinaus und erzählten, daß Gollimbek wieder über dem Exerzier-Reglement sitze.

Aber Klaus hörte nicht. Auf seinem großen, traurigen Kopf saß die Mütze wie ein Zerevis, und immer, selbst in seiner Sonntagsuniform, sah es aus, als habe man ihn eben aus einem der Kästen herausgenommen, in denen sie verstaubt, verdrückt, vergessen nebeneinander lagen: die Kasperle, die Teufel, die Nachtwächter, die Prinzessinnen. Und als hätte man sie liegen lassen sollen, im Dunklen, im Frieden, weil das Lächeln sie schmerzte um ihre kranken Lippen.

»Und hier, auf dem Bahnhof«, fuhr er fort, »als ich zurückkam, war ein Leutnant. Er war nicht älter als ich, aber mein Grüßen gefiel ihm nicht. Er war wohl schlechter Laune. Und ich mußte dreimal bis zum Briefkasten laufen und zurück. Über den ganzen Bahnsteig. Aber die Leute lachten nicht. Das war sehr merkwürdig. Sonst lachen sie doch über alles ,…«

Johannes sah ihn von der Seite an. »Ich werde für zwei Krieg führen«, dachte er, und es lag etwas Tröstendes in dieser Vorstellung von einer verstärkten Last.

»Die Disziplin ist der Grundpfeiler der Armee«, sagte Percy. »So steht es in der Felddienstordnung, und er hatte sie wahrscheinlich auswendig gelernt. Aber ich glaube, der Krieg wird so lange dauern, daß seine Söhne auch noch Kriegsfreiwillige sein werden. Dann kannst du es ebenso machen oder besser. Wahrscheinlich werden wir dann schon Obersten sein.«

»Ja, aber kannst du dir das überhaupt vorstellen?« fragte Klaus grübelnd. »Da ist ein fremder Mensch, du weißt seinen Namen nicht, worüber er sich freut und worüber er traurig ist, und du hältst ihn einfach an und sagst: ›Zum Briefkasten, marsch, marsch! Zurück, marsch, marsch!‹ Ein fremder Mensch ,… kannst du dir das vorstellen? Und er gehorcht. Er läuft, schnell, treu, gehorsam, wie ein Hund. Und sieht dich an, ob du noch mehr zu befehlen hast. Ich verstehe das nicht.«

»Und er sagt: ›In den Tod, marsch, marsch!‹ Und du läufst. Das ist das Geheimnis, siehst du. Nicht zu ergründen. Nur auszuführen. Es wird nur schwer, wenn du denkst, es sei ein Mensch, ein fremder Mensch. Du mußt immer denken, es sei ein Mittler, unmenschlich, außermenschlich, ein Mittler des Vaterlandes. Wenn du sie als Menschen betrachtest, hört es auf. Dann hört alles auf.«

»Ich glaube, es hat schon alles aufgehört«, erwidert Klaus müde. »Auf einmal heißt es Infantrie«, pfeift Oberüber durch seine Zahnlücke.

Dann kommt Megaï um die Eskaladierwand herum. Seine linke Schulter ist noch höher als sonst, seine Kokarde sitzt schief, und ab und zu tastet er mit seinen schmalen Geigenhänden vor sich in die Luft, als gehe er bei Nacht eine Treppe hinunter, von der er wisse, daß sie irgendwo über einem Abgrund endige. Er kommt gerade auf sie zu, bleibt vor ihnen stehen und sieht mit seinen sanften Augen über sie hinweg. »Es ist Ersatz angefordert«, sagt er leise.

Sie springen auf und drängen mit Fragen auf ihn ein, von einer wilden Erregung befallen. Nur sein Gesicht bleibt sanft, von einer leisen Trauer ergebungsvoll beschattet. Als Oberüber ihn an den Schultern schüttelt, lächelt er sogar. »Der Hauptmann war in der Schreibstube«, sagt er. »Ich stand in einer Ecke, um mein Koppelschloß aufzuzeigen. Da hab' ich es gehört. Hundert Mann ,… sie sollen ausgesucht werden. Nachher schrie der Feldwebel, ich solle mich zum Teufel scheren.«

»Junge, Junge ,…«, sagt Oberüber und sieht nachdenklich die Eskaladierwand in die Höhe.

Johannes geht ein paar Schritte zur Seite, wo der Zaun den Krieg vom Leben scheidet, und lehnt die Stirn gegen den kühlen Draht. »Morgen ist die Zukunft«, denkt er, und er erinnert sich der kleinen Oberstube im Siedlungshaus, in der er das schon einmal gesagt hat. Und plötzlich erscheint es alles wie im Licht eines Scheinwerfers, der Ofen und das kleine Bauernhaus, das der Großvater ihm geschnitzt hat, die Flöte und Ledos traurige Tieraugen, die Lampe und seiner Mutter schönes und stilles Gesicht. Und er hört die Fichten hinter dem Hause rauschen und den Schritt eines Wanderers auf der Dorfstraße ,… »Alles war«, denkt er. »Und als es war, war auch dieses schon bestimmt. Und einmal wird auch dieses gewesen sein ,… nun werden wir in den Krieg ziehen und töten, Klaus, und Megaï und alle andern ,… nur die Mädchen bleiben zurück und alles, was getan werden sollte ,… das Recht, das Bessermachen, die Gedichte ,… hundert Mann Ersatz, das ist nun die Wirklichkeit ,… alles andere wird nun ein Traum ,…«

Die Felder waren nun ganz dunkel geworden, und nur über der Stadt stand ein rötlicher Schein. Leise begann es zu regnen, aus unsichtbaren Wolken, die ihre Last nicht mehr tragen konnten. Und plötzlich sah Johannes Tausende, Hunderttausende schlafender Gestalten, in Mäntel, in Decken gehüllt, und ihre müden Gesichter mit den geschlossenen Augen empfingen bewegungslos den tropfenden Regen, der auf ihre Stirnen fiel, auf ihre Augenlider, auf ihre Lippen, und an ihnen herabrieselte wie von Sternen, in das Moos, in die Gräser, in den langsam sich feuchtenden Sand. Es war ein lautloser Vorgang, ohne Widerstand, ohne Schmerz, ja ohne Teilnahme, und in der Anschauung dieses Vorgangs, dieser schweigenden, wehrlosen Ergebenheit war für Johannes in dieser Stunde das Bild des Krieges beschlossen, der nun nach ihm rief, damit er sich einordne in die hunderttausend, in eine Decke hülle, der Erde sich anvertraue und bewegungslos empfange, was aus unsichtbarer Wolke auf ihn niederfalle. »So wird es sein«, sagte er laut, nahm die Mütze ab und hob das Gesicht in den dunklen Himmel, aus dem es lautlos, kühl und unaufhaltsam auf ihn niederrieselte.

»Na also«, sagte Oberüber, und dann gingen sie hinein.

Irgendwie war es bekanntgeworden. Man stand in Gruppen zusammen, und zwischen aller lauten Fröhlichkeit gab es plötzlich Pausen des Schweigens, in denen ein letztes prahlendes Wort gleichsam entkleidet dastand und sich verlegen nach dem zurückweichenden Schutz des Lärmes umzusehen schien. Es war noch Besuch da. Ein Kind weinte in einer Ecke, und auf einem der Schemel unter einer Lampe saß eine junge Frau und sah mit abwesenden Augen die Reihe der Strohsäcke entlang, während ihr Mann in seinem Tornister herumkramte, als müsse er schon packen und in einer Stunde hinausziehen in das dunkle Land, über das der Regen fiel. »Wird schon alles werden, junge Frau«, sagte eine fröhliche Stimme aus dem halbdunklen Raum. Die Frau sah auf, aber ihre Augen fanden nicht bis zu der Stimme hin und verloren sich unterwegs in dem Anblick eines schimmernden Koppelschlosses, eines Patronenrahmens, eines nicht geleerten Kochgeschirrs. Und auch ihr Lächeln verlor sich auf halbem Wege und wurde zu einer starren Gebärde einer zwecklosen Mühe.

Lorenz und Schröder hockten auf ihren Strohsäcken und aßen. Etwas später kam Hasenbein herein, der Unteroffizier vom Dienst war, und gab bekannt, daß der Dienst für den nächsten Tag geändert sei. Es werde morgen die letzte Bedingung geschossen, die noch nachzuholen sei, fünf Schuß, vierhundert Meter, liegend, freihändig. Sie lächelten mitleidig, fast ein wenig verächtlich über diesen Schießstandzinnober, bei dem es wieder Gewehrstrecken geben würde und Nachexerzieren, und in acht Tagen würde kein Schwein mehr nach Bedingungen fragen. In einer Ecke sangen sie »Gaudeamus igitur« und schlugen mit ihren Seitengewehren den Takt auf den Tischen. »Ach, diese Herren ,…«, sagte Oberüber nachdenklich.

Die Sonne schien auf das Oktoberlaub, als sie ihre letzte Bedingung schossen. Es roch nach welken Blättern, nach Pilzen und Pulverrauch, und der Wald an den Schießständen war freundlich geöffnet wie ein Haus, das auf Kinder wartete. Sie gingen ein wenig hinein, bis die harten Schläge der Schüsse etwas gedämpfter klangen, raschelten mit ihren schweren Stiefeln im trocknen Laube und blieben dann stehen, an einer Lichtung, auf der die hohen Gräser sich leise im Winde bewegten und hinter der ein Eichhörnchen durch die Nußsträucher kletterte.

»Weißt du, was ich möchte, Percy?« fragte Johannes.

»Nun?«

»Ich möchte in diesem Wald Räuber und Soldat spielen.«

»Johannes!«

»Ja, das möchte ich. Siehst du, ich glaube, wir sind zu jung für den Krieg. Ich kann mir nicht helfen. Wir sind noch zum Spielen da. Ich weiß nicht, ob wir schon zum Töten da sind. Die Haselnüsse sind schon reif, und das Laub ist so schön. Es wartet alles ,… daß man ein Gedicht schreibt, daß man einem Mädchen eine Ranke ins Haar flicht, daß man ein wenig mit der Schönheit der Erde spielt ,… ich kann mir nicht helfen ,…«

»Meinst du, daß ein Referendar oder ein Amtsrichter mit Nüssen spielen darf, Johannes?«

»Ja, das meine ich ganz gewiß. Vormittags soll er meinetwegen Urteile machen, aber am Nachmittag darf er das.«

Percy lächelte. »Wollen zurückgehen«, sagte er. »Es ist außerdem Zeit, daß wir hinauskommen. Da kannst du spielen. An die Einsätze werden wir uns schon gewöhnen.«

Die Schüsse knallten von allen Ständen. Der Pulverdampf hing bläulich in der stillen Luft, und Megaï stand ein paar Schritte hinter der Pritsche, das Gewehr in beiden Händen, und »pumpte«, weil er die Bedingung nicht erfüllt hatte. Sein Oberkörper war erschöpft zurückgebogen, und seine verschleierten Augen blickten mit einer abwesenden Trauer in das Laub der Birken, gehorsam der Macht, die hinter ihm stand, aber ihr auch gleichsam entrückt, als habe sie nur Gewalt über seinen Körper, und seine Gedanken könnten ungehindert fortgehen, den Leidensweg seines Volkes, bis zu den Psalmen Davids oder den Verheißungen der Propheten.

Die andern bemühten sich, es nicht zu sehen, aber ein finsterer Zorn stand in ihren Augen. Nur Schröder und Lorenz grinsten in gemeinsamer Schadenfreude. »Hör doch auf, Mensch!« flüsterte Oberüber erbittert. Aber Megaï fuhr fort, die Arme anzuziehen und zu strecken. Das Gewehr zitterte und schwankte, aber Megaï lächelte. Ein starres, hypnotisiertes Lächeln, das wie ein fremder Schleier über der Blöße seiner Marter hing. Und in demselben Augenblick, als der Hauptmann, unerwartet, von dem Anmarschweg den Schießstand betrat, sank Megaï, immer noch mit gestrecktem Gewehr, in sich zusammen, wie ein Haus in sich zusammenfällt, zuerst auf die Knie, und dann vornüber auf die Stirne, bis alle Glieder sich aus ihrem Krampf lösten und er ohnmächtig auf die Seite fiel.

Sie sprangen zu, öffneten die Knöpfe seiner Uniform und gossen ihm Wasser aus ihren Feldflaschen ins Gesicht. Der Hauptmann, blaß, Widerwillen im Gesicht, ließ sich von Hasenbein die Vorgänge berichten und fragte, wie lange er das Gewehrstrecken befohlen habe. Keine besondere Zahl, er habe gerade aufhören lassen wollen. Ob niemand aus der Gruppe wisse, wie oft der Freiwillige es getan habe?« »Einhundertsechsundsiebenzigmal!« sagte Oberüber und knallte die Absätze zusammen. Der Hauptmann brüllte, daß er Hasenbein vor das Kriegsgericht stellen werde, schämte sich dann ein wenig seiner Heftigkeit, zog die Handschuhe ab, als seien sie der Situation nicht angemessen und beugte sich über Megaï, der gerade die Augen aufschlug. »Ist es schon besser, mein Sohn?« fragte er und errötete bei der Frage, weil es ihm in den Sinn kam, daß der Ausdruck vielleicht nicht ganz passend sei und er einen solchen Sohn doch eigentlich nicht haben möchte.

»Es ist alles gut, Herr Hauptmann«, erwiderte Megaï, »alles gut ,…« Er lächelte wie ein krankes Kind.

»Nun, es wird schon werden«, sagte der Hauptmann, sich verlegen aufrichtend. »Wird schon werden ,… nicht vergessen, daß es fürs Vaterland ist ,…«

Und er zog die Handschuhe wieder an und wandte sich zum nächsten Schießstand. »Ihr werdet ein bißchen für ihn sorgen«, sagte er noch, »sein Gewehr tragen ,… nicht wahr?«

»Befehl, Herr Hauptmann!« schrie Oberüber.

Am nächsten Morgen, nach dem Gewehrappell, ließ der Hauptmann die zweihundert im offenen Viereck zusammentreten und nach einer Ansprache die hundert Namen verlesen. Die Gruppe Hasenbein, einschließlich ihres Führers, war geschlossen unter den Verlesenen.

Während die andern aufgeregt durcheinandersprachen, gingen sie mit stillen Gesichtern die Treppe hinauf. Sie freuten sich alle, und als sie den Raum wieder betraten, in dem die Schonungskranken die Dielen fegten und die Spucknäpfe säuberten, als sie die schnurgeraden Reihen der Strohsäcke und der Schemel entlangblickten, schien ihnen das »Feld«, die »Front« als eine herrliche Aufhebung aller Ordnung, alles Rechtwinkligen, als eine wundervoll hingestreute Buntheit des Spiels und der Aufgelöstheit, als ein verschwimmendes Bild bunter Wälder und leuchtender Ebenen, durch die man marschieren würde, von Dorf zu Dorf, durch ein wenig Gefahr und eine Unendlichkeit an Raum, Freiheit und Leben. »Jetzt geht's los mit Mutters Sohn!« sagte Oberüber und gab dem ersten Schemel einen Tritt, daß er über zwei Strohsäcke flog. Sie empfanden das als in der Ordnung, und als Klaus, noch ein wenig verstört, fragte, ob sie auch im selben Abteil fahren würden, hoben sie ihn auf die Schultern und trugen ihn den Gang entlang, wobei sie Oberübers Triumphmarsch sangen: »Wir wollen uns nun bald verrollen ,… weil wir uns nun verrollen müssen.«

Nur Gollimbek saß sorgenvoll auf seinem Schemel, ein Notizbuch in der Hand, und fragte, ob die Herren meinten, daß man ein oder zwei Leibbinden mitnehmen solle. »Ein Zudeck, Mensch!« sagte Oberüber. »Und zwei Gurte zum Umschnallen, damit wir auf deinem Bauch Skat spielen können.« Das Täubchen sah ihn mißbilligend an. »Die Herren sind so leichtfertig«, sagte er mit sanftem Tadel ,…

»Und doch kann von solchen Kleinigkeiten viel abhängen.«

Sie »empfingen« den ganzen Tag, aber sie sahen es nun mit anderen Augen an, und jedes Stück schien ihnen wertvoll und ausgewählt, als gingen sie auf eine lange Reise und hätten nur das Notwendigste mitgenommen, das Einmalige, das nie zu ersetzen sein würde. Nur als sie die Erkennungsmarke um ihren Hals hängten, sahen sie einander an, in dem gleichen Gefühl, und blickten dann etwas verlegen zur Seite.

Am nächsten Vormittag wurden sie, etwas hastig, zur Kirche geführt, um vereidigt zu werden. Sie waren nun alle in Feldgrau, von einer schweren Gleichförmigkeit des Aussehens, und es fiel ihnen auf, daß die Leute in der Stadt nun mit anderen Augen auf sie blickten als an jenem Tage, da sie mit ihren Pappkartons zum Wagenhaus marschiert waren. Es waren viele junge Gesichter unter ihnen, schon gebräunt und ein wenig gehärtet von den letzten Wochen ihres Lebens, aber doch von jener erwartenden Kindlichkeit, die ernst und fromm, aber doch eben kindlich und nicht ohne Eitelkeit zur Konfirmation geführt wird. Und da die meisten seit jenem Ereignis kaum eine Kirche betreten hatten, war es natürlich, daß ihre Gedanken zu jenem Tage zurückglitten, und daß in diesem Vergleichen sich ihnen mehr als in aller anderen Veränderung die große Wandlung des Lebens offenbarte, unter die sie nun getreten waren.

Als sie vor dem Portal warten mußten und die ersten Orgelklänge aus dem Unsichtbaren zu ihnen herausdrangen, fühlten sie das Symbolhafte dieser Stunde und ihrer äußerlichen Zeichen, und obwohl sie es mit ihrem Verstand als ein Symbol sahen und gleichsam durchschauten, erbebten sie doch leise unter den Klängen, und als Klaus als der einem Gefühl am meisten Nachgebende seufzte, nickten sie ihm zu, als habe er es für sie alle getan.

In der Kirche, unter den Worten des Militärpfarrers, wurde dann alles wieder fremder und kühler, weil es sich zum allgemeinen herkömmlichen Begriffe verflüchtigte, und auch als er die Finger auf den Degen legte und den Eid sprach, schien es Johannes wie die ausführliche und verstimmende Wiederholung selbstverständlicher Dinge, gleich der Rede eines Lehrers, der eine große Pflicht durch viele kleine Worte kleiner macht.

Sie blieben noch sitzen, weil Klaus und Gollimbek das Abendmahl nahmen. Sie sahen, daß seine Frau dazukam und neben ihm niederkniete, aber es schien ihnen, als seien sie beide nicht verwandelt, sondern mit ihren kleinen Sorgen um ihre kleine Zukunft erfüllt, und als die Frau ihr Taschentuch aus der Handtasche zog, fürchtete Johannes, daß sie das Kontobuch mit herausziehen könnte und daß es mit einem harten Geräusch auf die Fliesen fallen würde.

Doch kehrte Klaus mit einem verwandelten Gesicht zurück, in das sie mit heimlicher Ergriffenheit blickten, weil es nun ohne die sonstige Angst und Verstörtheit war, und weil es ihnen wieder als das Kindergesicht erschien, das sie aus Schul- und Ferientagen kannten.

»Sie haben alles wieder fortgenommen«, sagte er mit einem stillen Lächeln, als er zurückkam, »was inzwischen gewesen ist ,… es ist nun alles wieder neu ,… wie bei der Konfirmation.«

»Konfirmanden des Todes«, sagte Johannes.

Am Nachmittag kam der Transportbefehl. Sie rollten noch einmal Decken und Mäntel, wobei Hasenbein, der an »Strammheit« etwas verloren hatte, ihnen half, und schrieben dann ein paar kurze Briefe. Sie waren übereingekommen, niemanden zum Abschied zu bestellen. Das Täubchen saß mit seiner Frau abseits und schien zu rechnen. Megaï lag auf seinem Strohsack, die Hände unter dem Kopf gefaltet, und sah zur Decke empor. Er war glücklich, daß er mit ihnen hinausgehen konnte.

Vor der Dämmerung, als sie noch etwas in die »Etappe« gehen wollten, kam eine große, sehr schlanke, schwarzgekleidete Frau den Gang hinauf, sah mit ruhigen grauen Augen in jedes Gesicht und legte dann Percy, der noch über seinen Patronentaschen kniete, die Hand auf die Schulter. »Ich komme nur für eine Minute, Percy«, sagte sie, »ich weiß, daß es euch nicht sehr angenehm ist, wenn Frauen sich in den Krieg mischen.«

Es war seine Mutter. Er küßte ihr die Hand, und sie bat, daß er seine Kameraden vorstelle. Sie standen alle unbeholfen und höflich vor ihren prüfenden Augen, obwohl sie gütig, ein wenig abwesend, lächelte und jedem ein paar ernste Worte sagte. Dann wollte sie den Korporalschaftsführer sehen. Percy lächelte und sagte, das ginge doch wohl nicht gut. Sie sah erstaunt aus und meinte, er sei doch ihr Führer? Eine Art von Kapitän, der mit Schiffsjungen zum erstenmal hinausgehe? Oder ob er eine Monstranz sei?

Bei dieser Vorstellung mußten sie lächeln, und Johannes sagte, daß die Monstranz Hasenbein heiße. »Nun also«, erwiderte die Gräfin beruhigt.

»Wir werden ihn holen«, sagte Oberüber ruhig.

Hasenbein erschien ohne Widerstand, obwohl etwas unsicher, ob hier nicht eine Disziplinwidrigkeit vorliege, wurde prüfend betrachtet wie auf einer »Besichtigung« und empfing etwas zögernd die Hand der Gräfin. »Sie gehen mit acht Leuten hinaus«, sagte sie zu ihm. »Es wird von Ihnen nicht verlangt, daß Sie alle wiederbringen, aber es wird von Ihnen verlangt, daß sie alle ohne Makel bleiben, nicht wahr? Ohne Makel und Mißhandlung. Versprechen Sie mir das?«

»Jawohl, Frau Gräfin«, sagte Hasenbein verwirrt.

»Dann ist es gut. Es gehen nämlich mit ihnen nicht nur acht Soldaten hinaus, sondern auch acht Seelen. Und ich habe noch niemanden in meinem Leben gesehen, der acht Seelen zu tragen hatte, deshalb wollte ich Sie sehen.«

Dann küßte sie Percy auf die Stirn, gab allen die Hand und ging den Gang nach der Tür zurück, wobei sie mit der linken Hand eine abwehrende Bewegung machte, daß niemand sie geleiten solle. Auch drehte sie sich nicht um, bevor sie die Treppe hinunterstieg.

»Mein Gott, Percy ,…«, sagte Klaus erschüttert, und sie wußten alle, daß er an seine eigene Mutter dachte.

Percys schmales Gesicht war noch immer der Treppe zugewendet, und aus seiner Härte sah Johannes, daß es ihm schwer wurde, hier stehenzubleiben und sie allein über den dunklen Hof gehen zu lassen, wo Lärm und Gesang aus der Kantine drang und das unsichtbare Fieber, das jedem Transport voranging.

»Wollen gehen«, sagte er kurz.

Und dann saßen sie noch eine stille Stunde in der »Etappe«. Sie sprachen nicht, nur Oberüber blies ganz leise auf seiner Harmonika, und kurz bevor sie aufstanden, um sich fertigzumachen, sagte Klaus: »Ihr hättet es doch nehmen sollen ,… das ist mein Blut, das für euch vergossen wird ,… seht ihr, nun kann einem nichts geschehen, denn es ist ja schon alles für uns getan ,… auch das mit dem Blut.«

»Du hast es für uns alle genommen«, erwiderte Johannes und erschrak sofort über die Bedeutung dieser Worte. Aber Klaus lächelte nur. Er hatte es wahrscheinlich nicht verstanden.

Sie traten an, gebeugt unter der »feldmarschmäßigen« Last. Noch einmal wurde alles nachgesehen, aufgerufen, abgezählt, verlesen. Noch einmal hielt der Hauptmann, auf seinem steifen Schimmel, eine Rede. Seine Stimme zitterte vor Rührung. Er wußte, daß er nicht sehr viele von ihnen wiedersehen würde. Dann schwenkten die Gruppen, die Musik setzte brausend ein, und sie zogen aus dem Tor. Es gingen viele Angehörige mit, Kinder, die Gepäck trugen, und Erwachsene, die mit stillen Gesichtern an der Seite der Kolonne marschierten. Und so oft der Zug in den Lichtkreis einer Laterne kam, leuchteten an Helmen und Gewehren die Herbstblumen mit einem unwirklichen Glanz und schwebten über der düsteren Drohung der grauen Kolonne wie ein Segen, den eine unsichtbare Hand irrtümlich verstreut hatte. Als dann die Musik schwieg, war nur der gleichsam unaufhaltsame Gleichschritt der Masse zu vernehmen, der in der Stille der Nacht etwas Drohendes und Schicksalhaftes hatte, und das harte Klappern der Hufe des Pferdes auf der steinernen Straße.

Unter der ersten Laterne der Stadt stand eine hohe Gestalt in einem phantastischen Mantel, den breiten Hut in die Stirn gedrückt: Luther. Er winkte mit der Hand und schloß sich schweigend ihrer Gruppe an. Straßen und Fenster waren mit Menschen erfüllt, durch die die Musik wie ein eherner Pflug sich brach, Fahnen rauschten unter den Sternen, Zuruf, Gelächter und Schluchzen gingen wie Schatten einer Wolke mit ihnen mit, und in allem diesem empfand Johannes zum erstenmal in seinem Leben die betäubende und gleichzeitig beflügelnde Macht einer Vielheit, des Rhythmus einer Masse, der gleich einem Riesenflügel sich hob und senkte, in dessen Schwingungen man taumelte, aber vor dem man nicht ausweichen konnte, weil er stärker war als alles Einzelne.

Er sah seine Reihe entlang. Oberüber, dessen Falten zu leuchten schienen, trug eine rote Dahlie zwischen den Lippen, und die unbekümmerte Sorglosigkeit des Heimatlosen blickte ohne Rührung und Furcht, ja mit einem leisen Spott auf die Menschen und Dinge der Straße, wie die Augen eines Landstreichers mit einem leisen Spott auf die Mühe der Pflügenden und der Erntenden zu blicken pflegen. Klaus hinter ihm war wie auf dem Gipfel einer Woge, die ohne eigenes Zutun hob und ohne Schmerzen sinken lassen würde. An seinem großen Helm steckte ein Asternstrauß, und bei jedem Schritt schlug eine weiße Blüte zärtlich gegen seine Wange. Gollimbek, der nun doch zwei Leibbinden mitgenommen hatte, marschierte wie zu seiner Trauung, und Megaï, obwohl gebeugt, behängt, erdrückt von seinem Gepäck, hatte doch den abwesenden, sanften Blick in eine unzulängliche Ferne, die ihm allein gehörte, weit jenseits der Masse. Nur Percy, schien Johannes, ging wie ein Krieger, ernst, gerade, die Stirn durch alle Nichtigkeit der Gegenwart dem kommenden Schicksal zugewendet.

Dann wurden sie verladen. Sie hatten alle zusammen ein Abteil, und als sie alles in die Gepäcknetze verstopft hatten, standen sie draußen und sahen den Zug entlang, dessen Maschine am Tor ihres Schicksals zu stehen schien. Die Sterne waren verschwunden, und die Luft war grau und still, als ob es schneien wollte. Johannes wurde plötzlich müde, und er sah die Schwelle des Karstenhofes vor sich, das Feuer im Herd, die Mutter davor, die mit ihren ringlosen Händen spielte. »Ich möchte sie sehen«, dachte er. Und er fühlte, wie ihre Hand über seine Stirn glitt, zwischen den Augenbrauen, wie sie getan hatte, als er ein Kind gewesen war. Tränen stiegen in seine Augen, und plötzlich lag das Land, in das sie nun fahren würden, ungeheuer vor seiner Seele. Wälder, Ebenen, Ströme, ohne Grenzen, ohne Heimat, ohne Rückkehr. »Morgen fahre ich zu ihr«, sagte Luther leise. Er nickte und stieg in das leere Abteil zurück. Dort blieb er, die Stirn an das kalte Fenster gelehnt, bis das Hornsignal zum Einsteigen rief. »Einmal werden wir wieder leben«, sagte er, als er Luthers Hand nahm.

Sie sahen aus dem Fenster auf ihn hernieder, auf sein zergrübeltes, schweres Gesicht, das er lächelnd zu ihnen aufhob. Es war ihnen allen, als bliebe er nun in einer anderen Welt, die unerreichbar sein würde für lange Jahre ihres Lebens. Als teile das Dasein sich in zwei Hälften gleich den Ufern eines Stromes, ohne Brücke, ohne Ruf. In diesem Blick lag das Unausweichliche der Entscheidung, die letzte Handlung und Güte einer Lebensreihe, die sich abschloß, die niemals wiederkehren würde, und auch wenn sie seine Augen wiedersähen, so würde der Blick dieses Wiedersehens ein anderer geworden sein, der Blick einer Verwandlung, einer anderen Erde, von der sie nichts wußten, als daß sie »anders« sein würde.

Und sie fühlten, daß auch Luther dies wußte. Auch wenn er lächelte. »Wenn dich dein Bein ärgert, so reiße es aus«, sagte er, mit der Hand an seine linke Manteltasche schlagend. »Aber was nutzt es? Was fangt ihr mit einem ausgerissenen Bein an, wo es sowieso schon eng genug in eurem Abteil ist?«

»Wissen Sie nicht, daß Sie bei uns bleiben?« fragte Johannes leise. Er nickte, und noch einmal stand der alte, leidenschaftliche Glanz in seinen grauen Augen ,… »Ja, bis ihr größer werdet«, antwortete er. »Bis nach der ersten Schlacht ,…«

Die Maschine zog an. Die Kapelle spielte. Er lief neben dem Zuge her, den Hut in der Hand. »Fürchtet euch nicht!« schrie er mit letzter Kraft. »Fürchtet euch nicht, hört ihr?« Und dann, mitten im Lauf, bog er, fast mit einem Sprung, ins Dunkle ab und war nicht mehr zu sehen.

Sie ließen das Fenster noch auf. Erhellte Räume, Straßenlaternen, Signallichter schienen zu ihnen hinein und verschwanden. Eine Weiche dröhnte unter ihnen, noch eine, Glockenschläge eines Signals verhallten. Dann glitt der Zug ruhig über das Geleise, ins dunkle Land, über dem der Himmel hing.

Es fiel etwas in ihnen zusammen, als ob es an Fäden gehangen hätte, und die Fäden seien nun zerschnitten worden. Ihre Körper waren todmüde, und ihre Lippen scheuten sich vor der Mühe und Härte eines Wortes. Sie saßen mit geschlossenen Augen auf ihren Plätzen und warteten, daß das neue Leben sich in ihnen rege. Nur Percy stand am Fenster und sah aufmerksam hinaus. Und als nach einer neuen Reihe von Weichen der Zug sich leise wendete, als sei er nun erst seines Weges gewiß, schloß er das Fenster und schob den Kompaß in die Tasche. »Südosten«, sagte er ruhig. »Polen.«

»Polen«, dachte Johannes. »Polen ,… das ist nun unsere Ewigkeit ,… gefallen in Polen ,… das klingt unrein ,… eine Assonanz ,… gestohlen ,… nein, das geht nicht ,… verschollen ,… verschollen in Polen ,… es ist nicht ganz rein, aber es geht noch am ehesten ,… verschollen in Polen ,…«

Und lange vor der Schwelle dieser seiner Ewigkeit schlief er ein, ohne Feierlichkeit und Zubereitung, den Kopf an das harte Holz gelegt, und bei jedem rhythmischen Stoßen der Räder schlug der Tragriemen seines Tornisters, der aus dem Gepäcknetz herunterhing, leise an seine Wange, wie ein Perpendikel der Ewigkeitsuhr, von der er träumte.


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