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Des zweiten Aktes zweiter Teil

Waldlichtung, nahe der Stadt Bayonne. Die Landstraße läuft, etwas erhöht, im Hintergrund. Man sieht Jacobowskys Limousine, noch viel ramponierter als in der vorigen Szene. – Rechts vorne deuten Farnkräuter und Gebüsch auf einen Bach hin. Auf der Böschung sitzen Oberst Stjerbinsky und Marianne, sie auf einem ihrer Gepäckstücke und er auf seinem Offiziersrucksack. Marianne hält Coco im Arm. Manchmal setzt sie ihn auf die Hutschachtel neben sich, die sie aus dem Wagen gebracht hat. Der geliebte Coco soll nicht mit der nackten Erde in Berührung kommen. – Trüber Sommertag.

Oberst Stjerbinsky murmelt Ich bin sehr schwermütig ...

Marianne die Pflege ihrer Fingernägel beendend, schaut ins Weite Ich bekomme diese Straßen nicht aus dem Kopf, diese Ameisenzüge von Autos, die nicht weiterkommen, diese Gesichter ...

Oberst Stjerbinsky laut, wie ein ungezogener Knabe, der Beachtung fordert Ich bin sehr schwermütig!

Marianne auf ihre Finger blasend, damit der Lack trockne Ich bin ... Ich weiß nicht, was ich bin ... Stjerbinsky jäh anblickend Sie sind schwermütig, Tadeusz Boleslav, das ist neu!

Oberst Stjerbinsky Ich hab alles verloren ...

Marianne Sie haben in Bordeaux eine Gelegenheit verloren ... Hab ich nicht mehr verloren?

Oberst Stjerbinsky Das ist es nicht!

Marianne Und außerdem hab ich meine süße kleine Mignon verloren und mein halbes Gepäck ... Was ist es also?

Oberst Stjerbinsky Ich bin vor Ihnen, Marianne, ein dreckiger Flüchtling unter Millionen Flüchtlingen. Ich helfe mit zu verstopfen die Städte und Dörfer dieses verfluchten französischen Winkels, wo zusammengurgelt der ganze Abschaum Europas. Bei Ausgeplünderten und Verhungerten bettle ich um Nahrung, Wohnung, Essence. Ich beginne meinen Wert zu verlieren ...

Marianne Sie übertreiben, mein Freund! Nicht Sie verschaffen Nahrung, Wohnung, Essence, sondern ...

Oberst Stjerbinsky Sondern Herr Jacobowsky, ich weiß. Mein Kamerad, Herr Jacobowsky, ist in seinem Element. Ich aber muß verstecken meine Uniform und die scharfen Züge meines Gesichts, und muß mich bemühn, zur Masse zu gehören, zur grauen Masse ... Ich bin sehr schwermütig ...

Marianne Haben Sie kein besseres Kompliment für mich?

Oberst Stjerbinsky Und auch Sie, Marianne, auch Sie wissen gar nicht, wie anders Sie geworden sind zu mir. Nein, das ist nicht mehr Tadeusz Boleslav, der Kavallerist, mit dem man durchflog im Rausche drei Pariser Nächte. Das ist nur ein gewisser Herr Stjerbinsky, ein sehr ungepflegter Herr ... Ausbruch Oh, was für ein Leben führ ich!

Marianne seine Hand ergreifend, leise Und ich? ... Seit wieviel Tagen rütteln Sie mich zusammen in dem schrecklichen Wagen dort? Seit wieviel Tagen stecke ich in demselben Kleid, habe keinen Koffer geöffnet, mein Haar nicht onduliert? Ich sehe aus zum Erbarmen. Mein Boudoir sind die Straßengräben Frankreichs. Es ist die reinste Plein-Air-Malerei, zu der mein armes Gesicht verurteilt ist. Und drei Männer kiebitzen!

Oberst Stjerbinsky Hab ich geduldet, daß Sie eine einzige Nacht verbringen ohne Zimmer?

Marianne lächelnd Sie haben nicht geduldet! Gewiß! Aber diese traurige Bataille de France um ein Bett und ein Brioche gewinnt Monsieur Jacobowsky.

Oberst Stjerbinsky Die Qualität von Agenten und Trödlern! Frauen überschätzen das.

Marianne Warum sind Sie so ungerecht? Er tut das alles ja für uns. Ihm hat niemand geholfen im Leben. Man spürt es ihm an ...

Oberst Stjerbinsky Ich verzichte auf Psychologie. Psychologie ist eine jüdische Schutzfarbe ...

Marianne Selbst dieses aparte Plätzchen verdanken wir seinem Feingefühl ... Ach, endlich nicht im Gedränge zu stecken, in der Katastrophe, im stickigen Grauen ... Atmen dürfen ohne Angst und Gefahr!

Oberst Stjerbinsky Szabuniewicz versteht dieselben Künste. Sie werdens gleich sehn.

Marianne Ich wäre jedenfalls auf ein kleines Frühstück neugierig ...

Oberst Stjerbinsky Wir Soldaten, wenn wir nichts zu essen haben, rauchen wir ... Bitte ...

Marianne Sind Ihre Rezepte immer so zärtlich?

Oberst Stjerbinsky Ich zermartere mir den Kopf, ob es möglich ist, daß eine schöne Frau von Familie sich in so etwas verlieben könnte wie Jacobowsky ...

Marianne Warum nicht? Wenn sie aufhört eine dumme Gans zu sein! Und wenn sie endlich verstehen lernt, daß Kopf und Herz wichtigere Organe sind als lange Beine und schmale Hüften!

Oberst Stjerbinsky nachdenklich Wahrscheinlich werde ich Herrn Jacobowsky töten müssen ...

Szabuniewicz kommt kopfhängerisch von der Straße Also was?! Geht ein Schiff von Bayonne?

Szabuniewicz Gestern abend ging das allerletzte. Ein Kohlenschiff mit dreihundert Menschen wie Heringe. Wir sind wieder zu spät, wie in Bordeaux! ... Jetzt bleibt nur mehr Saint Jean-de-Luz. Aber nicht einmal mehr der Präfekt hat Essence ...

Oberst Stjerbinsky Ich beginne, meinen Wert zu verlieren ... Hast du wenigstens was zu essen?

Szabuniewicz Einfach nichts! Bayonne ist kahlgefressen. Restaurants und Läden gesperrt polizeilich ... Und ein Gewitter kommt auch ...

Oberst Stjerbinsky knirschend Du Schlafsack!

Szabuniewicz Wieso Schlafsack? Sie haben auf einer Matratze gelegen die ganze Nacht. Ich nicht! Ich muß mich jetzt hinhauen ... Ab

Oberst Stjerbinsky Nur weit weg von hier! Damit ich dich nicht sehe!

Marianne Mit Szabuniewicz war es demnach nichts ...

Oberst Stjerbinsky Ich habe also nur lange Beine und keinen Kopf und kein Herz.

Marianne Wer sagt das?

Oberst Stjerbinsky Jacobowsky aber hat mehr Kopf und Herz.

Marianne Anders! Ihr seid Gegensätze.

Oberst Stjerbinsky Danke, daß ich wenigstens ein Gegensatz sein darf! ... Sie aber sind keine dumme Gans mehr ...

Marianne mit sehr verhaltener Zärtlichkeit Bin ich es wirklich nicht mehr, Tadeusz Boleslav? Und ich gehe mit Ihnen durch dieses Teufelsgewühl bis zu Ende? Und ich werde sogar noch ein schmutziges Kohlenschiff besteigen für Sie irgendwo. Ich, eine Französin, der nichts geschehen kann. Beweis genug?

Oberst Stjerbinsky Kein Beweis Ihrer Liebe ist mir genug, seit ich gehöre zur grauen Masse!

Marianne pocht auf die Hutschachtel Geschah es vielleicht zu meinem Komfort, daß ich Ihre schrecklichen polnischen Dokumente in dieser unschuldigen Hutschachtel versteckte, als wir die deutschen Tanks am Horizont sahen? Seitdem gefährden Sie nicht nur mein eigenes Leben, sondern auch zwei entzückende Kunstwerke der Modistin Yvonne. Beweis genug?

Oberst Stjerbinsky Marianne emporziehend Marianne, Wunderbare! Ohne dich könnt ich dieses schmutzige Leben nicht ertragen. Komm! Komm! Ich bin wie wahnsinnig ... Er reißt die Frau an sich, beugt ihren Kopf herab, will sie küssen.

Marianne Geben Sie doch acht ... Sie tun Coco weh ...

Oberst Stjerbinsky tritt zurück, schwer atmend Dieses Hündlein vergällt mir die Existenz! ...

Marianne sehr weich Tadeusz Boleslav ...

Oberst Stjerbinsky Keine Stunde war ich mit Ihnen allein! Keine Stunde! Ahnen Sie, was ich fühle?! Er will sie wieder umarmen.

Marianne ausweichend Jacobowsky kommt ...

Oberst Stjerbinsky Coco und Jacobowsky ... Jacobowsky und Coco ... Ich bin sehr schwermütig ...

Jacobowsky eilt von der Straße herbei. Er ist ziemlich atemlos. Sein Gesicht aber beginnt angesichts Mariannes zu strahlen, schleppt er doch ein prall gefülltes Hausfrauennetz voll guter Dinge heran.

Jacobowsky Eine gute Idee, Madame, daß Sie sich ins Freie begeben haben aus dem Wagen. Gottes Natur ist Gottes Natur und Gottes Natur ist eigens erschaffen für fröhliche Picknicks ...

Marianne Wie haben Sie das alles bekommen, Monsieur?

Jacobowsky Das ist doch nicht mein erstes Wunder, Madame ... Man begegnet so vielen Freunden heute in Bayonne und keiner ist rasiert, und alle sind grau wie der Tod ... Vergessen wirs! ... Wir haben immerhin eine hübsche Strecke gelegt zwischen uns und die Deutschen, die noch immer bei Tours stehen sollen. Unterbrechen wir also den Weltuntergang für eine Stunde und denken wir nicht daran, daß wir festgefahren sind. Seien wir guter Dinge! Wenn Jacobowsky guter Dinge ist, giftet sich Hitler grün und blau ...

Oberst Stjerbinsky Hitler führt den Krieg ausschließlich, damit Herr Jacobowsky sich giftet ...

Jacobowsky Sie wissen ja gar nicht, wie recht Sie haben, Colonel! Der Weltuntergang wird aus Ihnen noch einen Psychologen machen. Beginnt auszupacken Das unschuldige Tier zuerst! Milchschokolade für Coco ...

Marianne Ich bin Ihnen so dankbar, mein Freund! ... Nun hat Coco was Gutes! Der unschuldige Réfugié Coco ... Sie zerkleinert die Schokoladetafeln für den Hund.

Jacobowsky Und wir weniger unschuldigen Réfugiés haben hier heißen Kaffee in dieser Thermosflasche. Und wir haben neun harte Eier und ein halbes Pfund Schinken und Butter und Salami und Pâté de la maison und lange frische Brote, und dieses ganze ›Ravitaillement‹ war gar nicht leicht zu erwerben ... Kommen Sie, Colonel, breiten wir den Plaid als Tischtuch aus ... Hier ... Nein, hier ... Marianne hilft ihm, da sich Stjerbinsky nicht rührt, den Plaid auszubreiten. Jacobowsky wickelt einen Teil der Speisen in ein Papier Der Anteil für Szabuniewicz! Der Müde liegt dort wie eine Schildwache, die eingeschlafen ist ...

Marianne Bringen Sie ihm dieses Essen, Tadeusz ...

Oberst Stjerbinsky Ich?

Marianne Sind Sie nicht sein Eigentümer?

Jacobowsky Ich kann ja ...

Oberst Stjerbinsky Nicht Sie! Er geht finster mit dem Eßpaket ab.

Jacobowsky überreicht Marianne drei rote Rosen Hier, Madame ...

Marianne Sie haben noch keinen Morgen meine Rosen vergessen, trotz aller Gefahren ...

Jacobowsky während er mit ausgesprochenem Schönheitssinn die ›Tafel‹ herrichtet Es ist mein dürftiger Dank an das Schicksal, das die schrecklichsten Tage meines Lebens zu den schönsten Tagen meines Lebens macht ...

Marianne Ihre Rosen sind mir sehr wichtig, mein Freund ... Sie steckt die Rosen an.

Oberst Stjerbinsky zurückkommend Natürlich die Rosen ... Verkniffen Aber kein Besteck!

Jacobowsky Irrtum, geschätzter Colonel! Hier hat jeder von uns sein Tellerchen, sein Becherchen von Papier, sein Messerchen, sein Gäbelchen von eitel Blech. Ist das nicht wie ›Hinter den Bergen, Bei den Sieben Zwergen‹? Schneewittchen! Schade, daß Sie Grimms Märchen nicht kennen! Die deutsche Kultur stößt einem immer wieder auf ... Leider ...

Man hat Platz genommen und beginnt zu speisen.

Marianne Grimms Märchen? Was ist das?

Jacobowsky Etwas sehr Liebliches und sehr Grausames, Madame! Es wimmelt in Grimms Märchen von Menschenfressern, in die Ferne weisend wie jene Boches dort ... Vielleicht sollte man doch die ominöse Hutschachtel besser verbergen ...

Marianne Sie essen nichts, Tadeusz ...

Oberst Stjerbinsky Ich lehne es ab zu essen!

Jacobowsky Werden Sie auch zu trinken ablehnen? Oberst Stjerbinsky schweigt verstockt Sie werden nicht ablehnen, Colonel! ... Der Zauberer zaubert ... Hokuspokus! Er greift hinter sich ins Gras und bringt eine Flasche zum Vorschein Hut ab vor diesem Elixier! Cognac, Réserve 1911!

Oberst Stjerbinsky zwischen den Zähnen Aber einen Korkenzieher haben Sie sicher nicht!

Jacobowsky Ich schäme mich der billigen Triumphe, die Sie mir bereiten, Colonel! Sehen Sie hier dieses praktische Universalwerkzeug: Korkenzieher, Zange, Schuhlöffel und Taschenlampe in einer Person! Während er die Flasche entkorkt Mit diesem Geniestreich moderner Technik versuchte ich meine Existenz Nummer vier in Prag aufzubauen ... Es war ein Hereinfall ... Will dem Oberst einschenken

Oberst Stjerbinsky Nicht in den Papierbecher, bitte! Nur ein Barbar trinkt edlen Fine aus so was! Greift in den Rucksack Hier, meine Feldflasche!

Jacobowsky All diese militärischen Gerätschaften seh ich nicht gern in Ihrem Besitz!

Oberst Stjerbinsky Möchte wissen, was Sie das angeht ... Die Deutschen stehn bei Tours!

Marianne hat ein Brot für Jacobowsky belegt Ist das Sandwich so richtig, Monsieur?

Jacobowsky Frankreich mußte fallen, damit die Elfenhand einer Frau für mich sorgt ... Er küßt ihr die Hand.

Oberst Stjerbinsky hat sich die Feldflasche vollgeschenkt Sie dürfen ruhig Réserve 1911 aus Papier trinken, Jacobowsky ...

Jacobowsky Meine selige Mutter pflegte zu sagen: »Gebrannter Wein ist gut vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang.«

Oberst Stjerbinsky Und tagsüber?

Jacobowsky erhebt sich, um Wasser aus dem Bach zu holen, singt »Ich hört ein Bächlein rauschen.« Schubert, Colonel! Es muß was zu bedeuten haben, daß mir die deutsche Kultur zum zweitenmal aufstößt!

Marianne Bitte auch für mich!

Oberst Stjerbinsky Aha! Das große Einverständnis in der Nüchternheit!

Marianne faßt lachend Stjerbinskys, und dann Jacobowskys Hand, der mit dem Wasser kommt Einmal einverstanden im Rausch! ... Das andremal einverstanden in der Nüchternheit! ... Die großen Gegensätze! Wie sind sie komisch!

Oberst Stjerbinsky Gegensätze müssen sich vernichten!

Marianne Vielleicht sollten sie einander ergänzen. Gegensätze sind immer nur Hälften.

Oberst Stjerbinsky Wie auszeichnend, Herrn Jacobowskys schlechtere Hälfte zu sein!

Jacobowsky versöhnlich Sie sind die bessere, Oberst! Nehmen Sie mirs nicht übel.

Oberst Stjerbinsky Sie haben es sehr weit gebracht seit einer Woche, Herr ... Leise, tief Denn ich hasse Sie! Nimmt einen tiefen Schluck

Jacobowsky Weil ich Wasser trinke? Ist das alles, was Sie mir vorwerfen?

Oberst Stjerbinsky Nein! Nicht alles!

Jacobowsky Interessant! Zum Beispiel?

Oberst Stjerbinsky Als wir die Nacht gestern in Dax im Centre d'Acceuil schliefen, auf diesen ekelhaften Matratzen, Sie und ich nebeneinander – Stjerbinskys Glück – warum haben Sie mich da immer wieder angestarrt, so, so ...

Jacobowsky Ich hab mich über Ihr Gesicht gewundert und über Ihr Murmeln ...

Oberst Stjerbinsky Meinen Rosenkranz hab ich gebetet. Und aus Scham vor Ihnen unter der Decke.

Jacobowsky Machen Sie immer so drohende Augen, wenn Sie beten?

Oberst Stjerbinsky Sie aber haben nicht gebetet, Jacobowsky, sondern am Bauch befestigt Ihre Kassette mit einem Riemen ... Sie haben sich gefürchtet!

Jacobowsky In dieser Kassette liegt mein letztes Geld und einige teure Andenken!

Oberst Stjerbinsky Jacobowsky nicht zu Worte kommen lassend Sie haben sich gefürchtet vor mir! ... Schweigen Sie! Herr S. L. Jacobowsky hält somit den Oberst Tadeusz Boleslav aus dem edlen Hause Pupicky-Stjerbinsky für einen Lumpen, Strauchdieb, Wegelagerer ...

Jacobowsky Nein, Colonel ...

Oberst Stjerbinsky Schweigen Sie! Er trinkt die Feldflasche leer Ich habe im Kriege Männer getötet und im Frieden Frauen verlassen. Gott helfe mir! Wer ist aber der Wegelagerer? Wer verführt durch Nüchternheit? Wer besticht durch kriechende Sanftmut? Wer filzt sich ein durch Hilfsbereitschaft? Hitler hat recht. Ihr ganzes Sein ist Wegnehmen, Wegnehmen, Wegnehmen ...

Marianne stark Ich dulde nicht, daß Sie so von unserm Freund sprechen!

Oberst Stjerbinsky Schon ganz beim Gegensatz angekommen, wie?

Marianne Es ist das Glück von uns Frauen, daß wir Gegensätze verstehen dürfen ...

Oberst Stjerbinsky rasend Das Glück! ... Immer besser! Er hat keine langen Beine, aber Kopf und Herz ... Umarmen Sie ihn doch ...

Marianne Noch ein Wort und ich stehe auf ... Ich habe freiwillig das alles auf mich genommen ... Wollen Sie mich strafen dafür?

Oberst Stjerbinsky beherrscht sich Wir werden abrechnen, wenn wir allein sind, Jacobowsky! Schenkt sich Cognac ein.

Jacobowsky Also, an Ihrer Stelle, Colonel, würde ich das Wort ›Abrechnen‹ lieber vermeiden!

Marianne Taisez-vous! ... Irgendwer kommt ... Hören Sie auf zu trinken! Sie vertragen ja gar nicht so viel ...

Auf der Straße ist ein Doppelzweirad aufgetaucht, dessen Vordersitz Der Ewige Jude, dessen Hintersitz der Heilige Franziskus einnimmt. Die beiden steigen ab und nähern sich, das Tandem führend, der Gruppe. Der Ewige Jude ist ein Mann von einigen dreißig Jahren, hager, vorgebeugt, mit hoher Stirn, schwarzem Kraushaar und der dicken Hornbrille eines Intellektuellen. Der Heilige Franziskus ist ein langer blasser Minoritenmönch in Sandalen, die Kutte wegen des Radfahrens mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt.

Der Ewige Jude Guten Morgen, wenn wir die Gesellschaft nicht stören ...

Oberst Stjerbinsky Wer sind Sie eigentlich?

Der Ewige Jude Eigentlich? Ja, wenn Sie mich so fragen ... Über seinen plötzlichen Einfall erheitert Eigentlich bin ich der Ewige Jude!

Oberst Stjerbinsky nach einem tiefen Schluck Sie hätte ich mir älter vorgestellt ...

Der Ewige Jude Man tut, was man kann. Wenn einer zweitausend Jahre alt wird, so schaut er ungefähr aus wie ich ...

Oberst Stjerbinsky schon mit ziemlich glasigen Augen Und seit wann fahren Sie Tandem, Herr Wandernder Jude?

Der Ewige Jude Bin ich nicht die Weltgeschichte des menschlichen Verkehrs persönlich? Freilich, ein Clipper-Billett wär mir lieber, um der Katastrophe schnell nach Amerika zu entkommen. Welch ein Unsinn, daß ich den Katastrophen immer wieder entkommen will!

Oberst Stjerbinsky Sagen Sie, was zucken Sie da immer mit dem Mund? ... Lachen Sie?

Der Ewige Jude Na, lachen Sie zweitausend Jahre über immer denselben Witz! ... Ich verziehe mein Gesicht zum Lachen, bleibe aber stecken, weil ich nicht lachen kann. Ich bin wie eine Glocke, die anschlägt, aber nicht läutet ... Und außerdem hab ich zwei Jahre Dachau hinter mir ...

Marianne Und dort der geistliche Herr? ... Wollen Sie nicht näher kommen, hochwürdiger Pater?

Der Ewige Jude Oh, verzeihen Sie. Ich habe vergessen vorzustellen! Dies hier ist der Heilige Franziskus!

Der Heilige Franziskus Hören Sie nicht hin! Er ist ein armer, trauriger Mensch, der mit seiner großen Not Scherz treibt ...

Der Ewige Jude Und er wieder kann seinen schweren italienischen Akzent nicht loswerden, obwohl er sich mit Mussolini zerstritten hat ...

Der Heilige Franziskus Ich habe mich mit niemandem zerstritten. Ich bin ein unwürdiger elender Mönch, der seine Hände erhebt und ruft: Gott hat uns geschaffen in seiner herrlichen Natur zu Brüdern und Schwestern und zu Lieb und Wonne und nicht zum herzlosen Nationalstolz ...

Jacobowsky Ich sehe zwei Gegensätze, die ganz gut miteinander auskommen!

Der Ewige Jude Oh, wir sind ein Herz und eine Seele! Lassen Sie Gegensätze nur alt genug werden, dann finden sie sich, wie die Parallelen im Unendlichen.

Marianne Wollen die Herren sich nicht niedersetzen und zugreifen?

Der Ewige Jude Zugreifen? Nein! Gespenster sind immer nach dem Frühstück. Niedersetzen? Nein! Mein Beruf ist es ja, unstet zu sein. Wenn Sie uns aber mit etwas Geld für die Flucht weiterhelfen ...

Jacobowsky gibt ihm einen Schein Leider herrscht Ebbe ...

Oberst Stjerbinsky holt aus der Tasche etwas hervor, was er dem Mönch gibt.

Der Ewige Jude Was ist das für ein Ding?

Oberst Stjerbinsky Die Ehrenmedaille des internationalen Klubs gegen die Motorisierung der Welt.

Der Ewige Jude Wir können durch Nachrichten danken ... Finden Sie die Luft nicht sehr drückend?

Oberst Stjerbinsky hat beinahe die ganze Flasche geleert Ich sitze in einer Waschküche ...

Der Ewige Jude Bei solchem Wetter pflege ich umzugehn. Im Eugène Sue und bei andern Autoren können Sie's nachlesen, daß ich der Bote des großen Windstoßes bin. Der Windstoß ist unterwegs. In Wiesbaden wurde der Waffenstillstand geschlossen. Die Deutschen werden den größten Teil Frankreichs und die ganze Küste besetzen. Es bleibt uns nur mehr ein Augenblick. Schon treffen die ›Vorauseiltruppen‹ in den Bürgermeisterämtern ein. Mit Auslieferungslisten! Es gibt zwei Möglichkeiten ...

Jacobowsky die Stirn wischend Zwei Möglichkeiten ...

Der Ewige Jude Entweder geht man ins Innere Frankreichs. Das ist schlecht! Oder man versucht in Bayonne die nötigen Visa zu bekommen, um die Brücke nach Irun zu überschreiten ...

Oberst Stjerbinsky Und Saint Jean-de-Luz ... Wenn alle Stricke reißen ...

Der Ewige Jude Wer weiß? Das Meer ist immer rätselhaft ...

Marianne tritt, mit Tränen in den Augen, vor den Heiligen Franziskus Hochwürdiger Vater! Ich habe nichts auf den Straßen zu suchen. Ich bin eine Französin. Ich führe ein sehr sündiges Leben. Schon allzulang hab ich keine Messe gehört und nicht gebeichtet. Gedenken Sie meiner im Gebet! Würden Sie mich bitte Ihres Segens würdigen?

Der Heilige Franziskus scheu und ohne Salbung Möge Gott Sie segnen, meine Tochter, Madame la France! Er wird Ihnen Ihre Sünden vergeben, denn sie stammen aus dem Leichtsinn des Herzens und nicht aus Bosheit. Ich sehe es Ihrem Gesicht an, daß in Ihnen lebt die Liebe zum Schöpfer und zu seinen Geschöpfen. Um dieser Liebe willen wird Gott Sie wieder erheben, Madame la France! Starker Wind ist zu hören.

Der Ewige Jude Da ist der Windstoß! Man kann sich auf mich verlassen. Nach Bayonne, Pater! Es ist Zeit für uns ...

Beide ab auf dem Tandem. Der Wind wird immer stärker und wirbelt die Papiere, in welche die Speisen gewickelt waren, über die Szene.

Marianne in tiefer Bewegung Ich gehe ins Auto ... Folgen Sie mir nicht ... Ich möchte allein sein ...

Oberst Stjerbinsky schuldbewußt ihr nach Marianne ... Mein geliebtes Leben ... Lassen Sie mich erklären ...

Marianne Ich möchte allein sein ...

Jacobowsky Hiergeblieben, Stjerbinsky!

Oberst Stjerbinsky dreht sich scharf um Seit wann die Befehlsform?!

Jacobowsky Hier liegt Ihr Offiziers-Rucksack! Ich nehme an, daß darin nicht nur Hemden und Unterhosen verpackt sind ...

Oberst Stjerbinsky Das will ich meinen! Diese beiden Armee-Revolver zum Beispiel, Modell 1938! Holt sie heraus.

Jacobowsky Ich fordere Sie auf, unverzüglich alles, woran Sie identifizierbar sind, in diesen Bach zu werfen. Der Ewige Jude verbreitet keine falschen Gerüchte. Vielleicht ist die Gestapo schon in Bayonne. Auf ihren Kopf steht ein Preis. Mitgefangen, mitgehangen. Ihr Tod wäre unser Tod!

Oberst Stjerbinsky schwankend Sie überschätzen den Tod, Jacobowsky!

Jacobowsky Der Mensch hat nur ein einziges Leben!

Oberst Stjerbinsky Falsch! Der Mensch hat zwei Leben. Meinem unsterblichen Leben können die Boches nichts anhaben!

Jacobowsky Ich hänge an meinem sterblichen Leben!

Oberst Stjerbinsky Das ist ja die ganze Schweinerei ...

Jacobowsky Findet die Gestapo Ihren Rucksack, sind wir alle verloren ...

Oberst Stjerbinsky Eine ganze Flasche Cognac bringt neue Erkenntnisse ...

Jacobowsky Neue Illusionen ...

Oberst Stjerbinsky Ich weiß jetzt, daß Gott die Natur nicht so eingerichtet hätte, daß wir einander töten dürften, wenn unser irdischer Tod ein wirklicher Tod wäre ...

Jacobowsky Eine Religion für Totschläger!

Oberst Stjerbinsky Eine Religion für Kavaliere, Jacobowsky! Wenn ich sterbe, dann lebe ich! Und darum lieb ich den Krieg und die Attacke, mit nacktem Säbel mitten hinein in die Maschinengewehre, und den Rausch und den Zweikampf. Ja, und die Ehre, dieses Prachtgefühl, daß meine Seele keine schwarzen Füße hat ...

Marianne das Wagenfenster öffnend, ruft Warum schreien Sie so?

Oberst Stjerbinsky Ich bin nicht betrunken, meine Seele ... Wir verhandeln nur eine Kleinigkeit ...

Jacobowsky Sie reden von Ehre und achten nicht einmal Menschenwürde.

Oberst Stjerbinsky Menschenwürde ist eine Erfindung des kleinen Mannes für den kleinen Mann! Ich gebe Ihnen mehr. Sie bekommen zurück von mir, was Hitler Ihnen genommen hat: Ehre! Er drückt ihm einen Revolver in die Hand.

Jacobowsky Was soll das?

Oberst Stjerbinsky verglast aber feierlich Herr Jacobowsky! Sie beleidigen mich durch Ihre Existenz! Deshalb fordere ich Sie auf Satisfaktion mit zweimaligem Kugelwechsel ...

Jacobowsky Träum ich? Wach ich? Waffenstillstand in Wiesbaden! Vorauseiltruppen! Die Küste wird besetzt. Ich bin in der Falle und hab ein Duell ...

Oberst Stjerbinsky Wir werden kämpfen um eine Frau, Jacobowsky ...

Jacobowsky Und um was für eine Frau, Stjerbinsky ...

Oberst Stjerbinsky Sie haben akzeptiert?

Jacobowsky Warum nicht? ... Warum nicht? ...

Oberst Stjerbinsky Sie lernen durch mich die Ehre schätzen?

Jacobowsky Keine Spur! Aber ein heftiges Bedürfnis entwickelt sich in mir, Sie loszuwerden für immer, Sie Alpdruck! Welch eine Gelegenheit! Und schießen kann jedes Kind ...

Oberst Stjerbinsky Ich bin fair! Ich gebe Ihnen voraus eine ganze Flasche Cognac. Meine Hand ist unsicher. Sie können mich töten auf zwölf Schritt Distanz. Wir losen, wer zuerst schießt. Akzeptiert?

Jacobowsky Akzeptiert! Erklären Sie mir nur vorher den Mechanismus ...

Oberst Stjerbinsky nimmt ihm den Revolver aus der Hand, entsichert und spannt ihn So ...

Szabuniewicz kommt gerannt, die Arme schwingend mit entsetzt aufgerissenen Augen Herr Oberst ... Madame ... Herr Oberst ... Madame ... Sie haben uns ... Die Boches ...

Jacobowsky Laufen wir!

Szabuniewicz Zu spät ... Dort ...

Jacobowsky packt mit wildem Entschluß Stjerbinskys Rucksack und schleudert ihn in den Bach. Marianne eilt schreckensbleich herbei.

Oberst Stjerbinsky mit beiden Revolvern in der Faust vorgehend Ich habe vierundzwanzig Patronen!

Szabuniewicz wirft sich ihm in den Weg, umklammert ihn, ringt mit ihm Nur jetzt nicht verrückt sein, mein Vater und Wohltäter ...

Marianne umklammert ihn von der andern Seite Tadeusz ... Kommen Sie zu sich, Geliebter ...

Oberst Stjerbinsky Eh' sie mich hinmachen, sechs nehm ich mit, mindestens ...

Jacobowsky So denken Sie doch an Marianne ...!

Oberst Stjerbinsky läßt die Arme sinken und steckt die Waffen ein.

Marianne Sie dürfen kein Wort sprechen, kein Wort, mein Leben ... Zu Jacobowsky Helfen Sie! Helfen Sie ihm!

Jacobowsky Kann ich mir selbst helfen? Erblickt plötzlich die Hutschachtel Gerechter Gott! Die Hutschachtel!

Auf der Straße macht die Spitze einer deutschen Patrouille auf Motorrädern halt. Sie ist von einem Oberleutnant geführt, und begleitet von einem Gestapobeamten, der während des blitzhaften Vormarsches noch nicht Zeit gefunden hat, sein Touristengewand mit der Uniform zu vertauschen.

Oberleutnant preußischer Junker mit Monokel, kommandiert Absitzen! Man sieht nur das erste Glied der Abteilung, vier Mann, zwei für jedes Motorrad, die regungslos stramm stehen, bis zum Ende. Oberleutnant zur Flüchtlingsgruppe Bitte sich nicht vom Orte zu bewegen! Nähert sich langsam mit dem Touristen Habe ich es mit französischen Staatsbürgern zu tun?

Marianne tritt etwas vor, hält aber Stjerbinskys Hand umkrampft Ich, Monsieur ...

Oberleutnant Mein Befehl, gnädige Frau, zwingt mich, Sie und Ihre Gesellschaft anzuhalten. Andrerseits habe ich die strikte Weisung, der Bevölkerung des Feindlandes mit geschliffenster Höflichkeit entgegenzukommen ...

Marianne tonlos Was für Befehl?

Oberleutnant Wir haben vorzuspritzen und den Wald durchzukämmen!!

Marianne Was haben Sie?

Oberleutnant Vorzuspritzen ...

Tourist rosiges Schweinsgesicht, das sächselt, grüner Hut mit Rasierpinsel, Wadenstrümpfe, kurze hellgelbe Jacke Und durchzukämmen ... Und hinter uns kommt die Quab!

Marianne Die Quab, oh, heilige Jungfrau ... Und wer sind Sie, mein Herr?

Tourist Ich bin ein Tourist, dessen Uniform unterwegs ist ...

Oberleutnant Sie brauchen nicht zu erschrecken, gnädige Frau! Unsere Tathandlung richtet sich nicht gegen Frankreichs friedfertige Bürger, sondern gegen politische Missetäter, insbesondere Angehörige der sogenannten tschechoslowakischen und polnischen Armee in Frankreich aus den Lagern von Angers und Agde ... Ich bitte also, sich zu legitimieren ... Zu Jacobowsky Sie zuerst!

Jacobowsky kreideweiß, schweißübergossen, nach Atem ringend, reicht mit bebender Hand dem Oberleutnant seinen Ausweis, der ihn dem Touristen weitergibt Ich bin keine Militärperson ...

Oberleutnant Das seh ich ...

Tourist die Identitätskarte genußvoll aufblätternd Jacobowsky! Das ist eindeutig. Jot wie Jude! Ehemals deutscher Reichsangehöriger! Ausgebürgert ... Scharf Sagen Sie, sind Sie vielleicht Schriftsteller?

Jacobowsky zusammenfahrend Gott behüte, Herr Tourist! Ich lebe von Gelegenheitsgeschäften ...

Tourist Kennt man! Schmarotzer am Leibe der Menschheit ... Reicht dem Oberleutnant die Papiere, der sie an Jacobowsky zurückgibt.

Jacobowsky dem Glück nicht trauend Ist das alles? ... Ich darf mich entfernen? ...

Tourist Ja, wie ein Affe am Dressierhalsband ... Sie entgehn uns nicht ...

Oberleutnant Der Nächste Übernimmt die Dokumente von Szabuniewicz, die wieder zum Touristen wandern Nationalität?

Szabuniewicz Pole ...

Tourist Aha, Pole! Schon faul! Mal sehn ... Schlägt ein schwarzes Buch auf, das er unterm Arm geklemmt hielt Szabuniewicz, Sch wie Schweinehund, nee, stimmt nicht, weil S und z ... Blätternd und lesend Seversky Ludomir, Oberstleutnant, Spinicz Alois, Kapitän, Sikorsky, Armeegeneral, Stjerbinsky, Tadeusz Boleslav, Oberst, drei Kreuze ... Namen sind das, Stjerbinsky, Szublow ... Klappt das Buch zu Beruf?

Szabuniewicz Wissenschaftlich, der Herr ... Der Tourist verwundert Hühneraugenoperateur, Masseur, Desinfektor, Exterminator und Aushilfsirrenwärter ...

Oberleutnant Irrenwärter?

Szabuniewicz Steht vermerkt alles ... Er bekommt seine Papiere zurück.

Oberleutnant Gnädiges Fräulein oder gnädige Frau ... Marianne nestelt aus ihrem Täschchen ein Dokument Madame Marianne Deloupe ... Verehelichte Deloupe?

Marianne Ich bin ... Ich war verehelicht ...

Jacobowsky der sich etwas zurückgezogen hatte, fällt schnell ein, auf den Obersten weisend Hier steht der verstorbene Gatte der Dame!

Oberleutnant und Tourist Was?!!

Jacobowsky plötzlich verwandelt, kühl, überlegen Verzeihung! Ich habe mich versprochen. Der verstorbene Gatte der Dame lebt bis zu einem gewissen Grade. Und doch, – die Dame ist eine Art Witwe, würde sie sonst mit einem Irrenwärter reisen?

Oberleutnant Der Herr da ist ...

Tourist Ich möchte die Papiere dieses Herrn Deloupe sehn ...

Jacobowsky immer kühner Papiere? Ja, wissen Sie nicht, was vorgegangen ist? Es stand in allen Zeitungen. Als Ihre Flieger die Irrenanstalt bei Nantes zum fünftenmal bombardierten, da brachen die Kranken aus, liefen durch die Straßen, rannten in die Felder. Viele brachten sich um. Nur ein Bruchteil konnte wieder eingefangen werden. Madame Deloupe gelang es, mit Hilfe dieses Fachmannes hier, ihren Gatten in der Nähe von Nantes aufzuspüren. Aber in welchem Zustand! Halb eingesunken im Moor ...

Tourist Sagen Sie mal, wer redet eigentlich mit Ihnen, Sie rotes Jot?

Marianne nimmt schnell den Faden auf – von nun an alles in wildem Tempo Halb eingesunken im Moor! Ohne Kleider! Nur in seinem Anstaltspyjama. Wir mußten ihn beruhigen, stundenlang. Dann in der Stadt einen Anzug kaufen. Und welch eine Fahrt in dem Wagen dort ... Schluchzt auf Ich hab es auf mich genommen, ihn im Sanatorium von Saint Jean-de-Luz selbst zu pflegen mit Hilfe von Herrn Szabuniewicz ...

Szabuniewicz Kann ich bestätigen jedes Wort. Als Fachmann ...

Tourist Na, guter Mann! Wie gehts allemal? Franzosen rühren wir nicht an ... Er bewegt sich auf Stjerbinsky zu, der wirklich mit den Augen eines Wahnsinnigen Schritt um Schritt zurückweicht.

Marianne schreit auf Nicht direkt ansprechen! Um Gottes willen!

Jacobowsky Er beginnt sofort zu toben ... Sie würden staunen!

Marianne Stjerbinsky umarmend und streichelnd Es ist nichts, mein Engel! Sei nur gut! Niemand wird dir ein Haar krümmen. Ich, deine Marianne, schütze dich! Ja, ja, wir gehen zusammen wohin du willst ... Da, nimm Coco, deinen lieben Coco ... Aufschluchzend Das Hündlein ist sein ganzes Glück ...

Oberst Stjerbinsky steht regungslos, Coco im Arm.

Tourist der stehen geblieben ist Kann der Mann nicht reden?

Marianne Er redet meist nur mit Coco oder mit sich allein ...

Szabuniewicz Kann ich bestätigen jedes Wort. Als Fachmann ...

Tourist Die ganze Chose gefällt mir nicht ... Man muß Anhaltspunkte finden ... Vielleicht im Gepäck ...

Marianne verächtlich zum Oberleutnant Der Rest meines Gepäcks liegt im Auto dort. Der Kranke aus der Anstalt von Nantes hat keines. Es ist alles offen, Monsieur.

Tourist Quandt und Scherr! Schauen Sie mal die Sachen durch! Nach Papieren! Zwei SS-Leute, von hinten herbeilaufend, stürzen sich aufs Auto und beginnen es durchzuwühlen. Der Tourist nimmt den Oberleutnant etwas zur Seite Riechen Sie den Fischkopf? A trois ...

Oberleutnant A trois?

Tourist Französisches Dreieck! Jede Französin schläft mit zwei Männern, regelmäßig ...

Oberleutnant Na, im Bund deutscher Mädels soll mans machen à quatre bis à douze!

Tourist Erlauben Sie mal. Dieser Vergleich kratzt doch wohl im Halse. Wenn eine freie deutsche Jungfrau mit einem oder mehreren Parteigenossen über den flammenden Julklotz springt und dann beim Schein der deutschen Sterne mit weltseligem Lockruf den Vater ihrer Kinder wählt, dann tut sie es im Vollbewußtsein ihrer Gebärtüchtigkeit und ihres Beitrags zum ewigen Leben des Volkes ... Dieses hier aber ist Rassenschande ... Ein SS-Mann überreicht dem Touristen ein Bündel Papiere. Der Tourist blättert Rechnungen, nichts als Rechnungen ... Herr Jacobowsky bezahlt ... Diese Bolschewiken sind alle Plutokraten ... Wirft Jacobowsky das Papierbündel verächtlich hin.

Oberleutnant will Schluß machen Halten Sie den Mann Deloupe für einen getarnten Offizier der okkupierten Nationen? Wenn nicht, geb ich den Abmarschbefehl ...

Tourist Bin mit meiner Willensbildung noch nicht zu Ende ... Was denken Sie von dem Mann?

Oberleutnant Denken ist nicht mein Geschäft!

Tourist Für so was hab ich den Röntgenblick! Sehen Sie sich man die ausgehöhlte Fassade von dem Menschen an, diese eingefallenen Augen ... Jacobowsky fixierend, laut Klinischer Fall der Zerrüttung eines Rassenariers durch Juda!

Jacobowsky mit äußerster Bescheidenheit Um Vergebung, Herr Tourist! Ich will dem Rassenamt nicht vorgreifen. Aber Loup heißt französisch: Wolf. De Loupe, Fils de Loupe, Sohn des Wolfes, Wolfsohn. Die Wölfe und Wolfsöhne pflegen auch in Frankreich keine Arier zu sein ...

Tourist Wolfsohn?! Habe gleich gespürt, daß hier etwas nicht stimmt ... Bemerkt die sarkastische Maske des Oberleutnants, wird verlegen und zeigt ärgerlich auf die Hutschachtel Was ist das?

Marianne mit höchster Ruhe Das ist eine Hutschachtel.

Tourist Und was ist in der Hutschachtel?

Marianne Was kann in der Hutschachtel einer Frau sein? Hüte! Blickt dem Oberleutnant starr ins Auge Soll ich öffnen, Monsieur?

Oberleutnant Bin Soldat und kein Zöllner ...

Marianne tollkühn vor der Schachtel hinkniend, läßt das Schloß aufspringen Es sind darin zwei Hüte, zwei Waschblusen, Strümpfe, ein Sweater, Tennisschuhe ...

Oberst Stjerbinsky steht sehr weit von den andern entfernt. Er hält Coco noch immer im linken Arm. Im Augenblick der höchsten Gefahr verkrampft sich sein Gesicht. Langsam zieht er den Revolver aus der Tasche, was Szabuniewicz und das Publikum bemerken.

Szabuniewicz stürzt sich wie rasend auf Stjerbinsky, würgt, ihn, schlägt ihn, schüttelt ihn, brüllt Werden Sie mich loslassen, Sie Teufel, Sie verfluchter! Sie werden mich nicht wieder beißen, Sie wütender Hund. Loslassen! Sonst kommen Sie ins Gitterbett und in die Zwangsjacke noch heute! Loslassen!

Coco heult und bellt in Todesschreck.

Jacobowsky Schlag auf Schlag Ein Anfall! Da haben Sie es! Ein Anfall! Die Herren sind Madame zu nahe gekommen. Das erträgt er nicht. Auch den Namen Wolfsohn erträgt er nicht ...

Marianne bricht über der Hutschachtel zusammen Ich gehe zugrunde ... Ich kann nicht mehr ...

Jacobowsky um Marianne bemüht Die unglückliche herzkranke Frau ... Da sehen Sie, was Liebe vermag ... Wasser! Helfen Sie! ... Ist Ihr Regimentsarzt nicht in der Nähe? ... Wo bleibt die geschliffenste Höflichkeit zur französischen Bevölkerung? ...

Oberleutnant jugendlich bestürzt Ich bedaure sehr, Gnädigste ...

Szabuniewicz Stjerbinsky die Stirn streichend Sehn Sie, Herr ... Ihrer Frau tut niemand etwas ... Ruhig, schön die Muskeln entspannen ... Da haben Sie Coco wieder ... Zuhause gibts dann eine pickfeine Injektion ...

Oberleutnant Dalli, dalli, Wärter! Liefern Sie Ihren gemeingefährlichen Patienten schnellstens in der nächsten Klinik ein!

Jacobowsky feierlich Das ist eben der wunde Punkt, Herr Oberleutnant! Das Auto von Madame kann sein Ziel nicht erreichen, denn der letzte Tropfen Essence ist ausgegangen. Es ist festgefahren wie ganz Frankreich. Nur Sie können dieser Französin ritterlich helfen ...

Oberleutnant Feldwebel! Füllen Sie mal ein paar Liter von unserm Erdfaltenausbruchsölersatz Gasigasol für die Dame ab!

Feldwebel Jawoll, Herr Oberleutnant! Der Befehl wird eiligst ausgeführt.

Tourist nachdenklich Die Chose gefällt mir nicht ... Der Mann gehört mindestens unter Beobachtung ...

Oberleutnant mit Schärfe zum Touristen Trotz bester Organisation hab ich in der Vorauseiltruppe, die ich kommandiere, keinen Psychiater und keine Gummizelle ... Sache der Quab ...

Die Partei muß diesmal der Wehrmacht weichen. Sie tuts mit Zähneknirschen.

Tourist Sache der Quab ... Alle bleiben am Dressierhalsband ... Schnell ab auf der Straße.

Feldwebel Fertig, Herr Oberleutnant!

Oberleutnant kommandiert Das Ganze – Kehrt! Aufsitzen! Richtung halbrechts durch den Wald zum weiteren Durchkämmen! Entfernt sich der verdröhnenden Patrouille nach.

Atemlose Erstarrung. Marianne faßt sich als erste, erhebt sich, geht schwebend auf Jacobowsky zu, küßt ihn. Jacobowsky knickt darauf zusammen und droht umzusinken.

Marianne Er wird ohnmächtig ...

Jacobowsky sich sofort ermannend Schon vorüber ... Zuerst hat einen der große Ichthyosaurus in den Krallen und, siehe da, er sächselt. Und dann bekommt man den Kuß seines Lebens! Das ist zu viel für einen nervösen Menschen ...

Das Gewitter, das schon lange fühlbar war, kommt näher.

Marianne Jacobowsky, mein Freund, was haben Sie getan ...

Jacobowsky sehr erstaunt über sich selbst Mein größtes Wunder, wahrhaftig! Ich hab wieder Essence bezogen, und diesmal direkt von der Hölle!

Marianne Sie haben mehr getan. Sie haben Ihrem großen Gegensatz das Leben gerettet!

Oberst Stjerbinsky mit tief gesenktem Kopf Er hat mich vernichtet. Szabuniewicz! Ich fühl mich wie eine unbegrabene Leiche. Selbst Coco ekelt sich vor mir ... Er gibt Szabuniewicz das verzweifelt maulende Hündchen.

Marianne Tadeusz! Freuen Sie sich doch Ihres Lebens! Es ist funkelnagelneu. Sie dreht sich begeistert wie im Tanz Ich freu mich, ja, ich freu mich ...

Oberst Stjerbinsky Und ich möchte gehn, mit allen Auszeichnungen an der Brust, gehn den Boches entgegen auf der Straße und mich selbst ausliefern ... Dumpf zu Jacobowsky Sie hätten schweigen können und ruhig zusehn, wie die Nazis mich verhaften oder töten ... Warum haben Sie nicht geschwiegen?

Jacobowsky Ich weiß nicht ... Inspiration ist alles ...

Oberst Stjerbinsky Wär ich Marianne, auf mein Wort, ich würde mit Jacobowsky gehn und nicht mit Stjerbinsky, dem Verrückten, dem Geschlagenen, dem Halben! Stark Lassen Sie mich stehn! Gehn Sie mit Jacobowsky, Marianne!

Jacobowsky Stjerbinsky, spielen Sie nicht mit dem Feuer! Es ist sehr ernst. Ja, Marianne würde mit Jacobowsky gehn, wenn Jacobowsky kein Troubadour wäre, sondern ein ›Wegnehmer‹, nach Ihren Worten. Jacobowsky aber weiß zuviel. Jacobowsky ist ein Verlorner, wenn er vielleicht auch am Leben bleibt, ein Emigrant auf dem ganzen Planeten. Soll er die Frau seines Herzens in die Erniedrigung ziehen? Niemals! Leise Stjerbinsky ist kein Verlorner, Marianne ...

Marianne hat die Hände der beiden Männer gefaßt Ihr Lieben, gebt euch die Hand, Ihr Lieben ...

Jacobowsky Auch das noch! Nein! Er reißt sich los. Hören Sie die Motormänner?! Sie durchkämmen den Wald und die Welt. Das nächstemal bleiben wir im Kamm. Noch ein Tag. Und dann kommt die Quab ...

Marianne Was ist die Quab?

Jacobowsky geheimnisvoll Die Qu. – A. – B.!

Marianne Was ist die Qu. – A. – B.?

Jacobowsky Ich weiß nicht. Er reicht ihr den Arm und führt sie zum Auto. Ich weiß nur, daß unsre Wege sich trennen. Sie fahren mit ihm in diesem Wagen nach Saint Jean-de-Luz, um ein Schiff zu finden. Ich gehe das Stückchen nach Bayonne zu Fuß, um meine Visa zu finden für die Brücke nach Irun! Nehmen Sie Platz! Marianne gehorcht wie hypnotisiert Bringen Sie die Sachen in den Wagen, Szabuniewicz! Szabuniewicz tut es.

Marianne ganz verstört Ich verstehe Sie nicht. Was heißt das alles?

Jacobowsky das heißt ... Der Arzt hat mir Bewegung angeraten. Ich muß endlich etwas für meine Gesundheit tun ...

Marianne In diesem Gewitter und Regen?

Jacobowsky Im Regen wächst man, sagte meine Mutter zu uns Kindern ... Er nimmt seine kleine Tasche aus dem Wagen Ans Steuer, Oberst! ... Braver Szabuniewicz ... Und nun auf Nimmerwiedersehen, Marianne!!

Marianne Aber das ist doch unmöglich ... Überreden Sie ihn, Tadeusz!

Jacobowsky grimmig Kein Wort, Stjerbinsky, kein Wort! Ich möcht in diesem Leben Ihre Stimme nicht mehr hören! Los! ... Los! Voll Qual Los! Ich kann nicht länger ... Stampft auf Bremse, Gas, Stjerbinsky!!!

Blitz und Donner. Der Wagen setzt sich in Bewegung.

Marianne sich umdrehend, ruft Jacobowsky ...

Der Wagen verschwindet. Jacobowsky drückt den Hut in die Stirn, stellt den Rockkragen hoch, nimmt die Handtasche vom Boden.

Jacobowsky mit einem zweifelnden Blick zum Wetterhimmel Wächst man wirklich? ... Er beginnt zu gehen.


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