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Des zweiten Aktes erster Teil

Cottage von Saint Cyrill bei Pontivy. Straße. Gartenmauer mit kleiner Eingangspforte. Dahinter die Villa von Marianne Deloupe. Das Haus ist so reich von blauer Klematis und Kletterrosen umschlungen, daß nur Fenster und ein kleiner Balkon sichtbar sind. Auf der Straße, etwa bis in ihre Mitte, liegt ein großer Steinhaufen als Tankhindernis. – Sommerliche Abenddämmerung, die später in eine grelle Vollmondnacht übergeht. Man hört aus weiter Ferne ein finsteres Murren und Grollen, aus dem manchmal das atembeklemmende Näher-Röhren und Verdröhnen deutscher Flugzeuge laut wird. – Beim Aufgehn des Vorhangs eilen Männer, Frauen und Kinder über die Straße, mit verzweifelten Gesichtern ihre Habseligkeiten schleppend. Ginette stürzt aus dem Haus. Sie ist eine noch hübsche Person von fünfunddreißig, die so manches hinter sich hat. Sie stellt ihr Suitcase hin und läuft, während sie den Hut aufsetzt, ans linke Ende der Straße, laut rufend.

Ginette Madame Firmin ... Madame Firmin ... Marianne ist Ginette vor den Garten gefolgt. Sie trägt ländlich-häusliche Kleidung. Obwohl sehr bleich, scheint sie völlig ruhig zu sein, träumerisch-ruhig. Ginette läuft auf die andre Seite der Straße und schreit Madame Gramont ... Madame Gramont ... Sie kommt zurück zu Marianne Nichts ... Die Fensterläden sind geschlossen ... Alle Nachbarn fort ... Es geht dort noch der Autobus nach Pontivy in zehn Minuten. – Es ist der letzte Autobus vor dem Jüngsten Gericht ...

Marianne Sie müssen sich beeilen, Ginette ...

Ginette Haben Sie nicht das Radio gehört, Madame?

Marianne Ich höre niemals Radio ...

Ginette Dann hören Sie dort wenigstens die deutschen Geschütze!

Marianne Das glaub ich nicht!

Ginette Was glauben Sie nicht?

Marianne Stünde dort eine deutsche Armee, so müßte hier eine französische stehn! Es sind französische Geschütze. Sie werfen den Feind zurück ...

Ginette Eine französische Armee gibt es nicht mehr ...

Marianne Das ist nicht wahr! Ich kenne General Gergaud persönlich und General Dufresne. Sie sagen, wir haben die beste Armee der Welt ...

Ginette auf den Steinhaufen weisend Was, glauben Sie, ist das? Es ist ein Tankhindernis. Ein französisches Hindernis! So ein dicker deutscher Tank hält sich den Bauch vor Lachen, ehe er darüber hinwegfährt. Da haben Sie Ihre Generäle!

Marianne Ich habe gewartet bis zum letzten Augenblick. Es wäre unwürdig, im letzten Augenblick aufzugeben ... Ich fürchte mich ja gar nicht ...

Ginette Und wie Sie sich fürchten! ... Madame! Denken Sie doch an das Telegramm aus Nîmes. Ihre Schwester ruft sie. Ihre Schwester braucht Sie.

Marianne Sie gehn doch statt meiner nach Nîmes, Ginette. Meine Schwester hält viel mehr von Ihrer Hilfe als von meiner ... Zieht ein Telegramm hervor, das sie auf der Brust verwahrt Dieses Telegramm ist wichtiger ...

Ginette Leider ...

Marianne Seine Persönlichkeit ist so stark, daß sie selbst die Morsezeichen durchtränkt! In Stjerbinskys Tonfall »Rühren Sie sich nicht fort von Saint Cyrill, Sie Inhalt meines Lebens! Ich komme ...« Ich bin so neugierig ... Er kommt. Noch in dieser Nacht.

Ginette Der Boche kommt. Noch in dieser Nacht!

Marianne Tadeusz Boleslav Stjerbinsky!

Ginette Um diesen Namen aussprechen zu können, muß man sehr verliebt sein.

Marianne Ist dieser Name nicht wie ein violettes Kreuz auf purpurnem Brokat?

Ginette Hilf Gott! ... Und Sie waren mit diesem schrecklichen Polen ganze drei Mal beisammen ...

Marianne Viermal!

Ginette Nein! Das vierte Mal wars nur ein Telephongespräch!

Marianne Das ist es ja! Drei kurze Abende, und er ging an die Front. Drei Träume, nicht zu Ende geträumt! Ich weiß nichts von ihm. Ich weiß nur, wenn ich jetzt nicht warte, werde ich ihn nie mehr wiedersehn. Und das könnt ich mir nicht verzeihn, bis ans Ende meiner Tage ...

Ginette Gut also! Er kommt! Und was dann?

Marianne Dann gehen wir nach Paris ...

Ginette zurückweichend Madame Marianne! Sie sind eine der vernünftigsten Frauen, die ich kenne. Sie führen sogar ein Haushaltungsbuch ... Das kommt alles daher, daß Sie die zwei letzten Nächte nicht geschlafen haben ... Sie leben unter einem Schleier ...

Marianne Ich lebe unter einem Schleier ...

Ginette Muß ich Sie an Ihre Pflichten erinnern? Ich, eine so gewöhnliche Person! Sie sind im Komitee eines Waisenhauses. Sie sind Mitglied des Roten Kreuzes, der Fürsorge für Kriegsblinde ...

Marianne Haben Sie noch so viel Zeit, um alle diese Würden aufzuzählen? ...

Ginette Ich weiß, wie das ist! Mich hats auch zweimal gepackt, gottverdammt! Sie haben eben viel zu jung geheiratet. Und nur aus der lächerlichen Großmut kleiner Mädchen, die zu viel lesen. Denn Monsieur Deloupe war fein und gescheit und dreimal zu alt für Sie. Gott hab ihn selig ... Aber ist das jetzt der Augenblick ...

Marianne Zwischen zu früh und zu spät liegt immer nur ein Augenblick ... Diesmal werd ich ihn nicht versäumen.

Ginette Sie scheinen wirklich nicht zu wissen, was in Frankreich vorgeht ...

Marianne Frankreich wird ewig jung sein und ewig geliebt. Ich nicht! Plötzlich erschrocken Hat Coco seine Schokolade und Mignon ihre Milch bekommen, die armen Tierchen?

Ginette Die armen Tierchen rühren nichts an. Sie sind aufrichtiger als Sie. Sie zeigen ihre Angst ...

Marianne Und mein Gepäck? Ist es fertig?

Ginette Ah! Madame, Sie kommen zur Besinnung! Darf ich Ihr Reisenecessaire holen, und wir laufen zum Autobus dort ...

Marianne Aus einem Reisenecessaire leben die nächste Zeit? Dann lieber die Boches! Was können sie mir tun? Ich bin eine Französin.

Ginette Diese Ungeheuer halten jede Französin für eine Kokotte. Ihre Professoren mit den zerhackten Gesichtern behaupten, daß wir uns alle von alten Juden aushalten lassen, mit syphilitischen Negern schlafen und keine lebende Jungen mehr zur Welt bringen ...

Marianne Um so besser! Harmlose Kokotten töten nicht einmal die Boches ...

Ginette Wie?! Nein, das geht nicht! Ich bleibe ...

Marianne Das wäre mir gar nicht angenehm, Ginette ... Ich habe einen Auftrag für Sie ... Übergibt ihr einen Lederbeutel Bringen Sie meinen Schmuck in Sicherheit nach Nîmes. Und umarmen Sie die Schwester ...

Ginette In Sicherheit? ... Also doch ein Funke von Vernunft unterm Schleier ...

Marianne Mehrere Funken, Ginette! ... Warten Sie in Nîmes auf meine erste Nachricht ...

Ginette Mein Gott! Was soll ich tun?

Marianne Gehn! Es ist höchste Zeit! Umarmt sie.

Ginette Ich werde umkommen vor Angst um Sie!

Marianne in der Gartenpforte Da liegt noch ein roter Lampion vom letzten Sommerfest ... Ich werde ihn anzünden, damit Tadeusz Boleslav sieht, wo er erwartet ist ...

Ginette nimmt ihr den Lampion aus der Hand Sind Sie ganz von Gott verlassen?

Marianne Warum nicht?

Ginette Die deutschen Flieger ... Und wollen Sie es diesem schrecklichen Menschen gar so leicht machen? ... Ein rotes Licht?! ... Wenn es wenigstens blau wäre! ...

Autobus-Signal in der Ferne.

Marianne Der Autobus! Fort, Ginette! ...

Ginette hin- und hergerissen Wie ist Ihnen zumute, Madame, mein geliebter Engel?

Marianne Ein wenig müde ... Aber neugierig, so neugierig ...

Geht mit einem kleinen erstaunten Lachen ins Haus.

Ginette zögernd Was soll ich tun? ... Neues Signal. Stürzt ab nach der Seite des Signals.

Der Tag ist zu Ende. Das Mondlicht wächst. Der Donner und das Röhren in der Ferne werden lauter. – Die Szene bleibt lange Zeit leer. Dann wird nach und nach das unwillige Pochen und Taktieren eines erschöpften Automotors vernehmbar. Man kann das fauchende Näherkommen verfolgen, und endlich taucht Jacobowskys Limousine auf, kotbespritzt, klappernd, ruckweise. – Oberst Stjerbinsky, das blaue Reiterauge starr vorwärtsgerichtet, streift den Steinhaufen des Tankhindernisses, wodurch der rechte Kotflügel beschädigt wird. Der Wagen, in seinem Lebensrecht erschüttert, bleibt mit einem harten Sprung stehen, die Türen fliegen auf, und Jacobowsky kollert heraus.

Oberst Stjerbinsky befriedigt Da sind wir. Irgendwo hier muß es sein ...

Jacobowsky rappelt sich zusammen, höhnisch Da sind wir! Irgendwo hier! Wo sind wir?

Szabuniewicz beschwichtigend Ein kleiner Umweg halt, der Herr, weiter nichts ...

Jacobowsky Ein kleiner Umweg halt von achtundvierzig Stunden. In diesen achtundvierzig Stunden waren wir siebenmal in Gefahr, die Marschkolonnen der Deutschen zu kreuzen. Es war wie ein Wettrennen. Und jetzt haben uns die Boches wieder überrundet ...

Oberst Stjerbinsky Sie sind ein ganz guter Beobachter, Herr ...

Jacobowsky In diesen achtundvierzig verschwendeten Stunden haben Sie meinen Wagen zuschanden gefahren, Colonel, einen guten Wagen des Hauses Rothschild. Zwei Zusammenstöße! Ein Pneudefekt! Unzählige Reibereien mit den Flüchtlingen auf der Straße! Einmal lagen wir im Graben. Und die französische Gendarmerie schoß uns nach, weil Sie auf Anruf nicht hielten ...

Oberst Stjerbinsky Ich habe Ihnen nicht verschwiegen, Jacobowsky, daß ich Herrenreiter bin und kein Chauffeur ...

Jacobowsky Was heißt Chauffeur? Sie sind professioneller Rennfahrer, Colonel! Sie nehmen Kurven mit hundert Kilometer Geschwindigkeit. Sie werfen Meilensteine um. Sie töten Hunde und Hühner zu Dutzenden. Und Sie sausen im Kreis, so daß man immer in dasselbe Dorf einfährt ...

Oberst Stjerbinsky Siehst du irgendwo ein beleuchtetes Haus, Szabuniewicz?

Jacobowsky Wir könnten trotz aller verstopften Straßen längst in Bordeaux sein, in Bayonne, in einem guten Port, wo uns Rettung winkt. Wo aber sind wir? Vor den Mündungen der deutschen Batterien und unter den deutschen Flugzeugen. Das heißt Gott herausfordern!

Szabuniewicz Ich sah kein beleuchtetes Haus, nirgends ...

Jacobowsky Unersetzliche Essence haben wir verschwendet, wahrhaftiges Lebensblut heute! Dreimal ist es meiner Energie, meiner Überredungskunst gelungen, Essence aus der Erde zu stampfen, sonst wären wir liegen geblieben und gefangen worden ...

Szabuniewicz Es muß dem Herrn wieder gelingen! Es liegt ja dem Herrn im Blut. Wir haben keine zehn Kilometer mehr im Wagen ...

Jacobowsky Bin ich ein Gasolintank oder ein Mensch in Todesgefahr?

Oberst Stjerbinsky Wer zweifelt, daß der Oberst Tadeusz Boleslav Stjerbinsky ist in größerer Todesgefahr als der Herr Jacobowsky ... Auf meinen Kopf haben die Deutschen einen Preis gesetzt ...

Jacobowsky Das hätten Sie mir sagen sollen, ehe wir in Compagnie gingen ...

Oberst Stjerbinsky Ich schäme mich ... Fünftausend Mark ist kein Preis ...

Szabuniewicz Es sind Dreckfresser, diese Boches ...

Oberst Stjerbinsky Ich habe eine Mission zu erfüllen. Sie nicht!

Jacobowsky Um so unfaßbarer, daß Sie diese Mission wegen einer Dame aufs Spiel setzen, Sie, ein Oberst, ein Pole, ein Patriot! Es ist keine Zeit jetzt für Damen.

Oberst Stjerbinsky Es ist immer Zeit für Damen! Das männliche Leben ist kurz.

Jacobowsky Die Vernunft sträubt sich ...

Oberst Stjerbinsky Die Vernunft sträubt sich stets gegen das Leben. Was ist die Vernunft? Ein kleiner alter Bürokrat mit einem grünen Augenschirm ...

Jacobowsky Die Stunde ist zu ernst für solche Aperçus.

Oberst Stjerbinsky Ich hab als Edelmann einer Dame gegeben mein Wort! Dieses Wort ist ebenso verpflichtend auf Tod und Leben wie eine politische Mission! Ein Jacobowsky wird das nie verstehn! Ich habe zwei Missionen zu verbinden und werde beide erfüllen.

Jacobowsky In welchem Jahrhundert leben Sie, Colonel? Sie haben keine Ahnung von den Nazis, und Sie hassen sie nicht einmal ...

Oberst Stjerbinsky Ich bin Soldat. Ich hab gegen die Nazis an der Weichsel gekämpft, am Pruth, vor Warschau, an der Somme ...

Szabuniewicz dicht an Jacobowsky herantretend Der Herr weiß noch immer nicht, wer Oberst Stjerbinsky ist, der Herr! Der Oberst hat geritten die berühmten Attacken von Grodno und Goleczyno mit nacktem Säbel gegen Tanks. Der Oberst ist ausgebrochen aus dem Gefangenenlager in Königsberg und mitten durch Deutschland nach Frankreich gegangen. Den Oberst werden die polnischen Kinder in Schulbüchern lernen später ...

Oberst Stjerbinsky abwinkend Laß das, Szabuniewicz! ... Ich hab mich geschlagen, wie andre auch. Gut! Und was tun Sie gegen Hitler, Herr Jacobowsky, als davonlaufen, davonlaufen, davonlaufen?

Jacobowsky Hitler? Ich bitte um Verzeihung. Wer ist Hitler? Den gibt es gar nicht. Hitler ist nur ein anderer Name für die Schlechtigkeit der Welt!

Oberst Stjerbinsky Haha! Und wer ausgenommen ist von dieser Schlechtigkeit, das ist einzig und allein unser Herr Jacobowsky ...

Jacobowsky Nein, Colonel! Ich bin um nichts besser. Einen Vorzug aber hab ich voraus vor Ihnen. Ich kann niemals Hitler sein, nicht bis zum Jüngsten Tage. Sie aber hätten ganz gut Hitler sein können, und Sie können es noch immer werden. Jederzeit!

Oberst Stjerbinsky Es macht mich seekrank, Szabuniewicz ...

Jacobowsky Sehn Sie, der einzige Vorsprung, den der Verfolgte auf der Welt hat, besteht darin, daß er nicht der Verfolger ist ...

Oberst Stjerbinsky Und das ist kein Aperçu? Das ist sogar ein Dreh, ein mosaischer ...

Jacobowsky mit steigender Leidenschaftlichkeit und Energie die Rede bauend Ich will Ihnen gleich beweisen, daß es kein Dreh ist, sondern die pure Wahrheit. Sie sind Pole und auch ich bin Pole, wiewohl ihr mich als dreijähriges Kind aus meiner Heimat vertrieben habt ... Und als dann in Deutschland im Jahre dreiunddreißig diese Pest und dieses Leid über mich kam, da habt ihr Polen euch die Hände gerieben und gesagt: »Recht geschieht dem Jacobowsky!« Und als später dann in Österreich diese Pest und dieses Leid über mich kam, da habt ihr die Achseln gezuckt und gesagt: »Was gehts uns an?« Und nicht nur ihr habt gesagt, »Was gehts uns an?«, sondern alle andern habens auch gesagt. Engländer und Amerikaner und Franzosen und Russen! Und als dann in Prag diese Pest und dieses Leid ausbrach, da habt ihr noch immer geglaubt, es gehe euch nichts an und habt sogar die Gelegenheit benutzt, dem armen Tschechen in den Rücken zu fallen. Als es aber über euch selbst kam, dieses Leid und diese Pest, da waret ihr sehr unschuldig erstaunt und gar nicht vorbereitet und in siebzehn Tagen erledigt. Ist das nicht die Wahrheit?

Oberst Stjerbinsky völlig unberührt Such Nummer 333, Szabuniewicz ...

Szabuniewicz späht umher Man sieht keine Nummern ...

Jacobowsky läßt sich nicht unterbrechen Hättet ihr aber, ihr und alle andern, am Anfang nicht gesagt: »Recht geschieht dem Jacobowsky!« oder bestenfalls: »Was gehts uns an?«, sondern: »Der Jacobowsky ist ein Mensch, und wir können nicht dulden, daß ein Mensch so behandelt wird«, dann wäret ihr alle ein paar Jahre später nicht so elend, läppisch und schmählich zugrunde gegangen, und binnen sechs Wochen wäre die Pest ausgerottet worden und Hitler wäre geblieben was er ist, ein Stammtischnarr in einem stinkigen Münchner Bierhaus. Somit seid ihr selbst, ihr allein und alle andern, die Größe Hitlers, seine Genialität, sein Blitzkrieg, sein Sieg und seine Weltherrschaft ...

Szabuniewicz ungeduldig vor Mariannes Haustür dem Obersten Zeichen gebend Gefunden! Nummer 333! Stjerbinskys Glück! Wir sind gerade vor dem Haus stehn geblieben!

Oberst Stjerbinsky Villa Deloupe?

Szabuniewicz Villa Deloupe! Alles dunkel! Alles versperrt! Niemand da!

Oberst Stjerbinsky mit ruhiger Festigkeit Sie ist da!

Szabuniewicz So sehen Sie doch selbst! Ein ausgestorbenes Haus! Die Dame konnte nicht länger warten. Eine prächtige Force majeure ...

Oberst Stjerbinsky Sie wartet. Sie schläft.

Jacobowsky Sie haben eine Selbstsicherheit, Colonel, um die Sie ein Panther beneiden könnte!

Szabuniewicz Bitte, bitte, mein Vater und Wohltäter, schnell einsteigen, nach Pontivy, dort stampft Herr Jacobowsky Essence aus der Erde, und dann auf die Hauptstraße! Wir können morgen in Bordeaux sein. Sie werden das letzte Schiff erreichen ...

Jacobowsky Wenn Sie schon nicht auf die Stimme der Vernunft hören, so achten Sie wenigstens diese Stimme des untergeordneten Menschenverstandes!

Oberst Stjerbinsky Marianne wartet!

Szabuniewicz Soll ich gehn und klopfen?

Oberst Stjerbinsky Du sollst nicht gehn und klopfen!

Szabuniewicz Dann geben Sie selbst ein Signal!

Oberst Stjerbinsky Mit der Hupe eine Frau wecken?! Abscheulich! Pack die Geige aus, Szabuniewicz! Madame hat es gern ...

Szabuniewicz nimmt die Geige aus dem Futteral.

Jacobowsky erstarrt Himmel! Die Zeit vergeht! Und was geschieht jetzt? Ein Konzert vielleicht ...

Oberst Stjerbinsky nimmt die Geige entgegen und betrachtet sie liebevoll Sie war mit mir an allen Fronten ...

Jacobowsky Wahrscheinlich um die deutsche Infanterie zu erschrecken, im Nervenkrieg ...

Szabuniewicz Wir Polen sind alle Virtuosen. Ich zum Beispiel auf der Mundharmonika.

Jacobowsky Mundharmonika! Auch das noch!

Szabuniewicz sein Instrument prüfend Der Herr ist nicht musikalisch, der Herr?!

Jacobowsky Nicht musikalisch?! Kleinigkeit! Ich war Ehrenschatzmeister von zwei Symphonieorchestern! Oberst Stjerbinsky beginnt auf der Geige, ohne Vibrato, ein lustiges populäres Tanzstück zu stammeln. Szabuniewicz begleitet ihn auf der Mundharmonika mit quäkenden Tönen. Jacobowsky spricht zu dieser Musik, indem er die Fäuste gegen seine Schläfen drückt Wie wird mir? Ist das Wirklichkeit? Ist das Vision? Die deutschen Geschütze brummen. Frankreich verreckt. Frankreichs Rosen duften, als gehe sie das Ganze nichts an. Der Tod aus Polen fiedelt im Mondlicht. Und des Todes Schammes spielt Mundharmonika.

Marianne erscheint auf dem kleinen Balkon des Hauses, sich vortastend wie eine Somnambule. Das Mondlicht ist nun ganz scharf. Oberst Stjerbinsky bricht mitten ab in seinem wilden und stümpernden Gefiedel, läßt langsam die Geige sinken und nähert sich, als wolle er damit seine zarte Verehrung andeuten, auf Zehenspitzen durch das Gärtchen der Geliebten auf dem Balkon. Das Artilleriefeuer hinter den Horizonten wird drohender, mit deutlichen Abschüssen und Explosionen. – Marianne kann Szabuniewicz und Jacobowsky nicht sehn.

Oberst Stjerbinsky mit sehr veränderter, bebender Baßstimme Marianne ...

Marianne Ich war ja so allein ...

Oberst Stjerbinsky mit immer zärtlicherer Vibration Haben Sie den Glauben an mich verloren, Marianne? Ich komme spät. Aber komme ich zu spät?

Marianne scheint noch immer verwirrt Sie kommen genau um fünfzehn Minuten zu spät, Tadeusz Boleslav ... Ich habe vorhin auf die Uhr gesehn ...

Oberst Stjerbinsky mit weicher Nachsicht Ich kenne das, mein süßes Herz. Jedes neue Wiedersehn ist eine schwierige Aufgabe für Liebende ...

Marianne Die Boches waren vorhin da, Tadeusz Boleslav. Jeder von ihnen halb in Uniform und halb in Tierfellen. Sie haben mich auf die Küchen-porch geführt und erschossen ...

Oberst Stjerbinsky Das war nur ein kleiner Angsttraum, mein süßes Herz, als Sie ruhten. Jetzt sind Sie aber von meiner Geige erwacht und sehn: Nicht die Boches sind gekommen sondern Er, Tadeusz Boleslav ...

Marianne plötzlich mit kühler Stimme Ich bin schon früher erwacht, mein Freund. Wissen Sie, wie lang ich auf Sie warte! Wissen Sie, daß ich Ginette fortgeschickt habe. Wissen Sie, daß alle Nachbarn geflohn sind und ich mutterseelenallein war mit meiner Angst. Und jetzt erklären Sie mir, wie kann eine Frau so idiotisch sein ...

Oberst Stjerbinsky mit heller Stimme, als wolle er ein Wunder in einer Kamera festhalten Bitte gehorsamst, sich nicht zu rühren, Marianne! Bleiben Sie so! Es ist der herrlichste Anblick meines Lebens. Ich komme durch die versperrte Tür ... Er stemmt sich fest gegen die Haustür, die jedoch leicht aufgeht, wodurch er ein wenig stolpernd ins Haus tritt.

Marianne lächelt bewegungslos Meine Tür war nicht versperrt, Tadeusz Boleslav ...

Jacobowsky der alles das mit wachsendem Erstaunen beobachtet, monologisiert Ich war immer ein Theaternarr. Ich liebe diese Balkonszenen: Don Giovanni, Romeo und Julia, Cyrano de Bergerac. Freilich, die große Schlachtszene dahinten ist zu nahe der Balkonszene hier! Ein Regiefehler ...

Oberst Stjerbinsky erscheint auf dem Balkon Marianne ... Er will sie an sich reißen.

Marianne beugt sich zurück Nicht so, mein Freund! Zeigen Sie mir zuerst Ihre Augen. Ihre Augen sind dieselben. Erbarmungslos und vergeßlich wie das Meer. Sie waren mir untreu! ... Ah, Sie haben einen Verband ums Gelenk. Sie sind verwundet. Sie haben für Frankreich gekämpft! Ich liebe Sie. Ich hätte gewartet auf Sie bis zum Tod ...

Oberst Stjerbinsky Marianne! Ich gehöre Ihretwegen vors Kriegsgericht. Meine Pflicht wäre es gewesen, auf dem kürzesten Wege Bordeaux zu erreichen ...

Marianne Vors Kriegsgericht? Ist das wahr? Und für mich haben Sie Ihre Pflicht vergessen, die Politik, und sogar Polen?

Oberst Stjerbinsky Sogar Polen!

Marianne Wie elend sehen Sie aus, mein unbekannter Geliebter! Sie brauchen Cognac! Ein Wasserglas! Ich weiß nichts von Ihnen, nichts, das aber hab ich mir gemerkt ... Zieht ihn ins Haus

Jacobowsky sitzt neben Szabuniewicz auf dem Tankhindernis Die Zeit vergeht ... Die Zeit vergeht ... Schon kommt der erste Feldgraue des Wegs ...

Szabuniewicz Man muß daran denken, der Herr, wie der Oberst beim Handicaprennen der Siebzehner Ulanen vor dem großen Hindernis vom Pferd flog. Drei Purzelbäume in der Luft, so, so, so. Er war schon eher mausetot, da sagte er beim Aufwachen zu mir: »Weine nicht, Szabuniewicz! Deinem Stjerbinsky passiert nichts. Denn er ist ein Herr des Lebens ...«

Jacobowsky skeptisch Was ist das, ein Herr des Lebens?

Szabuniewicz Einer, der weiter lebt, wenn er sich den Hals gebrochen hat ...

Jacobowsky Das ist ein Glückspilz, aber kein Herr des Lebens ...

Szabuniewicz die niedrige Stirn in Falten legend Also, ein Herr des Lebens ist einer, der selbst dann zurecht kommt, wenn er zu spät kommt ...

Jacobowsky Ein gutes Prinzip für ein Spielkasino, nicht aber für den militärischen Geheimdienst!

Szabuniewicz Pflegen der Herr sich nicht zu verlieben?

Jacobowsky Nicht verlieben? Dreimal täglich!

Szabuniewicz Und wo wartet die letzte gnädige Dame?

Jacobowsky Ja, wo mag sie warten ...

Oberst Stjerbinsky Hand in Hand mit Marianne aus dem Haus tretend Szabuniewicz!

Szabuniewicz Hier!

Marianne erschreckend Was? Wir sind nicht allein?

Oberst Stjerbinsky Das ist Szabuniewicz! Er lebt schon dreihundert Jahre in meiner Familie ...

Marianne Wie?

Oberst Stjerbinsky Sein Großvater, Urgroßvater, Ururgroßvater hat gehört zu den ›Seelen‹, die wir Stjerbinskys besaßen in alter russischer Zeit. Jetzt aber sind wir ärmer als Bettler und können nicht mehr sorgen für unsre Szabuniewicze. So ist er Masseur geworden und Irrenwärter in Frankreich, anstatt mein Schloßkastellan zu sein mit Goldkette und Reiherfeder in Polen ...

Marianne kann ihre Enttäuschung kaum beherrschen Und ich dachte, wir werden allein ...

Oberst Stjerbinsky der fühlt, daß Marianne den Tränen nahe ist Marianne! Ich schenke Ihnen Szabuniewicz. Er wird sterben, wenn Sie befehlen. Er wird leben, wenn Sie erlauben.

Marianne weiß nicht, ob sie weinen soll oder lachen Oh, danke! Ich glaube, dieses Geschenk ist zu groß ... Und der andre Herr ... Gehört er auch zu den Stjerbinskys?

Jacobowsky Im Gegenteil, Madame. Ich habe mich von den Stjerbinskys immer zu distanzieren verstanden, und länger als lumpige dreihundert Jahre! Der Oberst ist mein Gast.

Oberst Stjerbinsky Das ist nur Jacobowsky, Marianne. Ein ziemlich gefälliger Mensch. Er besorgt alles, Autos, Hotelzimmer, Marrons glacés, und Essence, Essence vor allem ...

Marianne zeigt irritiert auf das Auto Und das hier?

Jacobowsky immer mehr geblendet von Mariannes Anblick Ich bin der glückliche Eigentümer! Dieses Automobil ist die Gutartigkeit in Person, denn es fährt selbst dann, wenn der Oberst am Steuer sitzt ...

Marianne Nicht wahr, Tadeusz Boleslav, jetzt gehn wir schnell nach Paris ...

Oberst Stjerbinsky Aber Marianne! Paris ist in den Händen der Boches ...

Marianne erstarrend Und ich hab mich gewehrt, es für möglich zu halten ...

Szabuniewicz Seit gestern ...

Marianne Alles was ich habe, ist in Paris. Meine Wohnung, meine Bücher, meine Pelze ...

Oberst Stjerbinsky Machen Sie einen Strich drunter. Vergessen Sie's!

Jacobowsky Der Oberst ist ein Pessimist für andre. Sie sind Französin. Sie werden alles wiederfinden, Madame!

Marianne Danke, Monsieur! ... Ich habe schon vergessen ... Lassen Sie uns in ein kleines, stilles Nest gehn, Tadeusz Boleslav ...

Oberst Stjerbinsky Ein kleines stilles Nest gibts nicht mehr in Frankreich. Wo waren Sie denn in den letzten Tagen, Marianne?

Marianne Ich habe gewartet und geträumt ...

Jacobowsky mit Bewunderung Warten und träumen im Weltuntergang ... Das ist groß ...

Oberst Stjerbinsky sie umfassend Wir gehen nach Bordeaux, Marianne, und finden ein Schiff nach London ...

Marianne Halten Sie mich fest! Mir wird schwindlig. Ich habe noch nie Frankreich verlassen. Ich bin ...

Oberst Stjerbinsky Sie sind mit mir ...

Jacobowsky Am besten, man denkt nur an die nächsten Stunden!

Oberst Stjerbinsky Darum müssen Sie Essence herschaffen, Jacobowsky, und schnell!

Jacobowsky Muß ich? Vielleicht würde ich gar nicht wollen, obwohl ich doch wirklich muß ... Jetzt aber, da ich die Ehre habe, Madame in meinem Wagen zu beherbergen, werde ich Essence vom Himmel herunterleiten! Ich schwörs!

Lautes Näherdröhnen eines Flugzeugs.

Marianne leise aufschreiend Vom Himmel, mein Gott, vom Himmel ... Zu Stjerbinsky Sehn Sie nicht, daß ich an allen Gliedern zittre ... Bringen Sie mich fort von hier!

Jacobowsky stark, fast fröhlich Steigen Sie ein, Madame! Uns begleitet zwar der Tod. Ich aber bin Optimist, und jetzt mehr als je!

Marianne streicht sich über die Stirn. Dann ist sie verwandelt und voll Energie.

Marianne Nein, nein, so geht das nicht! Wir müssen zuerst das Gepäck holen und Coco und Mignon, die Ärmsten, und das Gas abstellen und die Wasserleitung und alle Schränke zuschließen und das Haus versperren! Und ich muß mich umkleiden! ... Schnell! Helfen Sie! Rasch ab ins Haus.

Oberst Stjerbinsky Szabuniewicz, helfen!

Jacobowsky Sollte ich nicht auch ...?

Oberst Stjerbinsky Sie nicht! Sie bleiben draußen und verschaffen Essence. Er und Szabuniewicz eilen ins Haus.

Jacobowsky allein Verschaffen Essence ... Vielleicht vom ersten Nazi, der daher kommt. Er lehnt sich an die Gartenmauer, entfaltet aufseufzend die Automobilkarte und beginnt sie im Schein einer Taschenlampe zu entziffern. Pontivy, das sind noch mindestens fünf Kilometer Westsüdwest ...

Der Brigadier der Gendarmerie, in feldgrauer Uniform, mit roter Kappe, Karabiner, Diensttasche, kommt auf seinem Fahrrad, von Jacobowsky unbemerkt. Als er diesen gewahrt, hält er, steigt ab, und tritt ganz nahe auf ihn zu, ohne ein Geräusch zu machen.

Brigadier Hein, Sie da!!

Jacobowsky wird totenbleich, läßt die Karte sinken. Er muß sich mit den Händen an der Mauer festhalten. Ziemlich lange Pause.

Jacobowsky Gott der Gerechte!

Brigadier Bon soir! Was haben Sie, Monsieur?

Jacobowsky Ich sende ein Dankgebet zu Gott, weil ich soeben langsam erkenne, daß Sie kein deutscher Feldgendarm sind, sondern nur ein französischer ...

Brigadier Stornieren Sie Ihr Dankgebet, Monsieur! Begegnungen mit der Gendarmerie sind auch in Frankreich keine Lustbarkeit ... Ausweis, bitte!

Jacobowsky überreicht seine Carte d'Identité, ein grünes Register, das so vielfach angestückelt und zusammengefaltet ist, daß es bis zur Erde herabhängt Carte d'Identité!! Sie beweist Ihnen, daß man trotz aller Anstrengung dagegen stets mit sich selbst identisch bleibt, was nicht ungefährlich ist heute.

Brigadier Carte d'Identité! Sie beweist mir, daß Sie beständig Ihren Aufenthaltsort wechseln ...

Jacobowsky Carte d'Identité!! Sie beweist Ihnen, daß ich ein nervöser Mensch bin, der sich unsagbar nach Ruhe sehnt und sie nicht finden kann.

Brigadier Ausländer natürlich!

Jacobowsky Gar so natürlich ist es nicht, keines Landes Inländer und aller Länder Ausländer zu sein ... Paß gefällig?

Brigadier Danke! Ich repräsentiere die innere Verwaltung Frankreichs, nicht die äußere. Ihr Sauf-conduit, bitte?

Jacobowsky stellt sich unwissend Was ist das, gütiger Gott?

Brigadier Als Ausländer haben Sie ohne Bescheinigung der Behörde nicht das Recht, frei zu fluktuieren ...

Jacobowsky Ich fluktuiere nicht frei, sondern gezwungenermaßen. Im übrigen fluktuiert ganz Frankreich ...

Brigadier das bürokratische Lied mit atemberaubend eintöniger Geschwindigkeit herunterleiernd, verleiht den sprachlichen Mißbildungen des Amtsstils Nachdruck Ihr Grundaufenthaltsort ist Paris. Sie haben bei dem Commissariat de Police Ihres Arrondissements eine Eingabe auf Papier timbré abzuliefern, in der Sie um die Vergünstigung ansuchen, das Département vertauschen zu dürfen. Das Commissariat de Police leitet Ihr Gesuch an die Préfecture weiter, welche es nach reiflicher Prüfung und Nachforschung an das Bureau Central Militaire de Circulation zur Amtshandlung herabgelangen läßt. Das Bureau Central Militaire de Circulation entscheidet dann nach Maßgabe der herrschenden Transport- und Verkehrsverhältnisse, ob Sie sich hierher begeben dürfen, wohin Sie sich begeben haben ...

Jacobowsky Sagen Sie, Herr Sergeant, ist es Ihnen im Drange der Geschäfte etwa entgangen, daß sich Paris in den Händen der Deutschen befindet ...?

Brigadier Das ist nichts als eine nackte Tatsache! Sie hebt die gesetzlichen Regulationen nicht auf. Sie haben sich demnach schleunigst nach Paris zu begeben, Monsieur, um den amtlich vorgeschriebenen Weg zu beschreiten. Andernfalls befinden Sie sich hier widerrechtlich, illegal, schwarz, auf dieser Landstraße. Sie stehen hier nur de facto vor mir, und nicht de jure. Sehr schlimm!

Jacobowsky Was werden wir da machen?

Brigadier Solange ich im Dienst bin, werde ich darauf dringen müssen, daß Ihre ausländische Person aus dem illegalen in den legalen Zustand überführt wird, und zwar zwangsweise ...

Jacobowsky Heißt das Verhaftung und Abschiebung nach Paris?

Brigadier Gemäß der Instruktion über fluktuierende Ausländer ...

Jacobowsky Wissen Sie, was die Boches mit mir anfangen werden, wenn sie mich erwischen?

Brigadier Sie werden Sie nicht fressen.

Jacobowsky Sie werden mich fressen, Herr, speziell mich! Ich bin ihre Leibspeise. Ruhiger Alle Achtung vor Ihrem Pflichteifer! Aber zwischen uns hier und den Deutschen dort liegt vielleicht nur mehr ein Hügelzug und ein Flußlauf ...

Brigadier Nehme ich dienstlich nicht zur Kenntnis ...

Jacobowsky Und außerdienstlich?

Brigadier Außerdienstlich bin ich nichts als Franzose.

Jacobowsky Und was tut ein Franzose heute?

Brigadier Am besten, schlafen!

Jacobowsky Der Schlaf ist einer der glänzendsten Einfälle unseres Schöpfers! ... Wie wäre es, wenn Sie gleich ...

Brigadier Sie vergessen, Monsieur, ich bin im Dienst!

Jacobowsky Wäre es nicht zweckmäßiger, Sie würden mir einen guten Rat erteilen, anstatt mich zu verhaften? Ich fühle den unüberwindlichen Wunsch in mir, den Boden Frankreichs zu verlassen. Wie fange ich das an?

Brigadier wieder monoton über Stock und Stein Nichts einfacher, lieber Herr! Zum Verlassen Frankreichs benötigen Sie ein Visa de Sortie. Zu diesem Zwecke müssen Sie bei der nächsten Sous-Préfecture, in Pontivy, um ein solches Visa de Sortie nachsuchen, nach Ausfüllung von drei Fragebogen mit je einer Photographie, Profil, rechtes Ohr sichtbar, nebst Einzahlung von siebenundzwanzig Francs fünfundsiebzig Centimes. Die Sous-Préfecture setzt sich mit der Préfecture Ihres Grundaufenthaltsortes, Paris, in Verbindung und errichtet durch eingehende Korrespondenz ein Dossier über Ihren Fall, das nach einigen Wochen dem Ministerium des Innern zur weiteren Behandlung vorgelegt wird. Das Ministerium des Innern beauftragt eine eigene Kommission damit, zu untersuchen, ob Sie würdig waren, Frankreich zu betreten und ob Sie würdig sind, es zu verlassen. Das braucht seine Zeit, wickelt sich aber ab wie geölt. Ihr Problem jedoch hat einen Knoten. Sie müssen vorher nach Paris zurückkehren und Ihr Sauf-conduit abwarten, das Ihnen erlaubt, hierher zu reisen. Denn Sie können ja nicht vor einer Sous-Préfecture erscheinen, ohne ›en règle‹ zu sein. Wer nicht ›en règle‹ ist, wäre besser nicht geboren! Klar?

Jacobowsky Sonnenklar!

Brigadier Sie fassen sehr leicht auf, Monsieur ...

Jacobowsky Ich war leider ein früh gewecktes Kind ... Und wie sind meine Aussichten, wenn ich alle Forderungen erfülle?

Brigadier Ihre Aussichten sind gleich Null! Denn welches Wohlwollen dürfen Sie von einem Staat erwarten, dem Sie so viel Schreibereien verursachen? ... Am besten, Sie kommen gleich mit!

Jacobowsky Einfach so wie ich bin?

Brigadier Einfach so wie Sie sind. Wir legen auf äußeren Glanz keinen Wert ... Ein politischer Gefangener hat übrigens das Recht, so viel Gepäck mit sich zu führen, als er mit seinen zarten Händchen tragen kann ...

Jacobowsky der trotz seiner Blässe Haltung bewahrt, holt aus dem Wagen sein Suitcase, wobei er murmelt Wie gut, daß ich die Teppiche schon früher eingebüßt habe ... Dann zum Brigadier Sollte ich nicht meine Gesellschaft da drinnen von der Änderung der Lage benachrichtigen?

Brigadier Wozu wollen Sie Ihrer Gesellschaft das Herz brechen?

Jacobowsky Das ist wahr! Wozu soll ich dem Oberst das Herz brechen?

Brigadier Gehn wir, Monsieur! Ich werde langsam neben Ihnen einherfahren, damit Sie nicht außer Atem kommen ...

Jacobowsky Dank für Ihr medizinisches Verständnis, Brigadier! Ich komme leicht außer Atem. Mein Herz ist etwas verbraucht ... Beide beginnen zu gehn, Jacobowsky mit schwankendem Schritt. Plötzlich bleibt er stehn Ich möchte nur noch einen Zettel schreiben, um Madame meine Limousine zu schenken ... Ein kleines Cadeau ...

Brigadier Man verschenkt nicht seine Verluste! Und außerdem müssen Besitzübertragungen notariell beglaubigt werden. Die Notare aber halten gesperrt zu dieser Stunde. Von Saint Cyrills fernem Dorfkirchturm schlägt es langsam neun Haben Sie die Glockenschläge gezählt, Monsieur?

Jacobowsky Wozu? Meine Zeit ist vorüber!

Brigadier erforscht seine Armbanduhr intensiv Neun! Wie?

Jacobowsky läßt mechanisch seine dicke, altmodische Uhr aufspringen Auf jeden Fall zu spät ... Auf der Uhr meines Vaters ...

Brigadier Neun!! Merde alors. Ich bin außer Dienst! Also dieser Krüppel ist Ihr Wagen?

Jacobowsky Sehe ich ihm nicht schon ähnlich?

Brigadier Und Sie wollen nach Bordeaux. Bayonne, Biarritz, Hendaye? Die Boches rücken an der Küste vor. Vermeiden Sie daher die Küstenstraße ... Sie kommen nicht weiter!

Jacobowsky Langsam, Brigadier! Nehmen Sie auf meinen Blutdruck Rücksicht.

Brigadier Und Sie haben keine Essence? Natürlich haben Sie keine Essence! Nehmen Sie dieses gestempelte Papier da! Der diensthabende Kollege unten in Saint Cyrill wird Ihnen auf diesen Zettel hin dreißig Liter Essence ausfolgen, zum normalen Preis ...

Jacobowsky Einen Augenblick ... Ich muß mich erholen zuerst ... Das kommt wirklich vom Himmel ... Vom Himmel ... Er greift verlegen nach seiner Brieftasche Wie kann ich ...?

Brigadier Sie können nicht! Ich bin ›nur‹ ein französischer Gendarm ...

Jacobowsky Noch eins! Warum waren Sie gut zu mir?

Brigadier Weil Sie meine Bosheit nicht gereizt haben! Ihr Verdienst!

Jacobowsky Wie soll ich danken?

Brigadier Sie sollen! Grüßen Sie England und Amerika vom Brigadier Jouvet ... Besteigt schnell sein Rad und verschwindet pfeifend.

Jacobowsky sieht ihm versonnen nach, schüttelt lange den Kopf und stellt schließlich sein Suitcase auf die Erde. Er verbleibt regungslos. Marianne, Oberst Stjerbinsky, Szabuniewicz kommen aus dem Haus. Szabuniewicz bricht beinahe unter der Last des Gepäcks zusammen, das er auf dem Rücken, unterm Arm und in den Händen heranschleppt. Oberst Stjerbinsky balanciert zwei federleichte Hutschachteln mit sichtlichen Widerständen, denn es schickt sich ja nicht für einen Offizier, Lasten zu tragen. Marianne hält im rechten Arm das träge Pekineserhündchen Coco und in der linken Hand den mit rosa Schleifen geschmückten Korb des Kätzchens Mignon.

Marianne Wie langsam Sie sind, Messieurs! Wir haben so viel Zeit verloren im Haus und bestimmt die Hälfte vergessen. Wären wir nur schon dreißig Kilometer weiter! Aber wie?! Armer Coco! Arme Mimi! Warum habe ich euch das angetan? – Nun werdet ihr mit drei wildfremden Männern leben müssen! ... Ah, wie nah sind die Boches schon! Es ist die Hölle hier. Schnell, schnell ... Szabuniewicz schnallt den Schrankkoffer hinten an und verstaut keuchend und schwitzend das Gepäck im Fond des Autos. Es bleibt nur ein einziger Sitzplatz frei Sperren Sie das Tor ab, Tadeusz Boleslav! Oberst Stjerbinsky gehorcht Und jetzt legen Sie die beiden Hutschachteln zuoberst. Oberst Stjerbinsky gehorcht Nein nicht so! Da kollern sie ja sofort aus dem Wagen ... Oberst Stjerbinsky gehorcht Sie müssen noch einmal ins Haus, chéri! Holen Sie vom Kamin den dreiteiligen Spiegel und Papas Photographie, und mein Tennis-Racket aus dem Vorzimmer ...

Oberst Stjerbinsky wirft wütende Blicke auf den regungslosen Jacobowsky, während er Mariannes Wünsche ausführt. Er spricht teils vor dem Haus, teils, schreiend, im Haus.

Oberst Stjerbinsky Das ist das ganze Problem! Selbst Oberst Tadeusz Boleslav Stjerbinsky aus dem Geschlecht Pupicky-Stjerbinsky arbeitet mit seiner Hand. Nur die Jacobowskys arbeiten nicht mit ihrer Hand. Sie sind sich zu gut dazu ...

Jacobowsky ihm nachrufend Sehr richtig, Oberst. Die Jacobowskys haben Besseres zu tun.

Marianne Lassen Sie das Tennis-Racket! Ich brauche keins in London!

Oberst Stjerbinsky teils im Haus, teils vor dem Haus Was haben die Jacobowskys zu tun außer Coupons von Aktien zu schneiden, lange Telephongespräche zu führen mit Lissabon, New York, Buenos Aires, Filme zu finanzieren mit hübschen Stars und den ganzen Tag in den Zeitungen nachzuschaun, ob sie drinstehn. Was tun die Jacobowskys sonst?

Jacobowsky Wunder!

Oberst Stjerbinsky ihn anstarrend Wunder ...

Jacobowsky Wunder! Das sollten Sie aus der Bibel wissen.

Marianne ihren Ohren nicht trauend Wunder?

Jacobowsky Ich will mich nicht überheben, Madame. Nicht Jacobowsky tut Wunder, aber Gott tut Wunder an Jacobowsky noch immer.

Oberst Stjerbinsky Einen Cognac, Szabuniewicz! Mir wird übel ... Was für Wunder?

Jacobowsky den Oberst nicht ansehend Das geht Sie gar nichts an, Oberst. Es ist eine Sache zwischen mir und Madame allein ... Er deutet mit dem Zeigefinger zu den Sternen Sehen Sie dort oben den leuchtenden Punkt, Madame? Das ist der Engel, der mich vor einer Weile ausgesucht hat, um mir Essence vom Himmel herunter zu bringen, damit ich Ihnen mein Versprechen halten kann. Er zaubert den Zettel des Brigadiers aus der Luft Dieser Zettel bedeutet Essence, Lebensblut, und zwar genug, um uns in Sicherheit zu bringen, und der französische Staat liefert mir die Essence selbst ...

Marianne den Zettel lesend »Sûreté Nationale, Der Posten von Saint Cyrill. Anweisung für dreißig Liter Essence« ... Sie müssen aber schnell gefahren sein, Monsieur!

Oberst Stjerbinsky Er kann nicht fahren.

Marianne Sie sehen so liebenswürdig aus, Monsieur, und gar nicht ein bißchen unheimlich ... Welch ein Glück, daß wir Sie bei uns haben, Tadeusz und ich!

Oberst Stjerbinsky Wie, zum Teufel, haben Sie das geschoben, Jacobowsky?

Jacobowsky ohne den Blick von Marianne abzuwenden Nicht Ihre Sache, teurer Oberst ... Sie haben einfach an Wunder zu glauben!

Näherheulend ist das Flugzeug zurückgekehrt und donnert jetzt niedrig über die Landschaft hin. Alle bücken sich tief. Sogar Oberst Stjerbinsky neigt ein bißchen seinen ausgemergelten Kopf. Ein Strich Maschinengewehrfeuer. Die Fensterscheiben klirren, das Hündchen kläfft, das Kätzchen miaut vor Schreck.

Marianne Coco an ihre Brust pressend Oh, mon petit Coco ...

Oberst Stjerbinsky mit einem fachmännischen Blick zum Himmel. Der Mann am Maschinengewehr dort oben ist ein Stümper ... Die ganze Salve sitzt im Dach ...

Szabuniewicz die Limousine untersuchend Zwei kleine Löcheln hinten ... Macht nichts.

Marianne mit großer Tapferkeit sich selbst beherrschend War das ein Maschinengewehr, Tadeusz ... Es ist also nur ein Zufall, daß wir noch leben ...

Oberst Stjerbinsky legt den Arm um Marianne Das ist immer nur ein Zufall, mein Herz, mehr oder weniger ...

Jacobowsky sich den kalten Schweiß wischend, doch mit fröhlicher Stimme Keine Angst, Madame! Sie und Ihre reizenden Schützlinge werden bald in Sicherheit sein!

Oberst Stjerbinsky macht eine scharfe Wendung Herr Jacobowsky predigt Furchtlosigkeit ... Hört mein Ohr richtig?

Jacobowsky Frauenschönheit macht leicht auch einen Zivilisten zum Helden.

Oberst Stjerbinsky Aber Sie schwitzen doch.

Marianne die sich mittlerweile in den Fond des Wagens gesetzt hat Worauf warten wir? Vielleicht auf den nächsten Flieger ...

Jacobowsky Ich bemerke mit Vergnügen, daß für mich nur mehr ein Plätzchen auf dem Boden bleibt.

Marianne Oh, Monsieur ... Was machen wir da? Soll ich ...

Jacobowsky unterbricht erschrocken Keineswegs, Madame! Sie dürfen nichts entbehren Er hockt sich auf den Boden des Autos Ich bin mit meinem Plätzchen äußerst zufrieden.

Marianne Es ist schrecklich unbequem ...

Jacobowsky Dafür aber zu Ihren Füßen ...

Oberst Stjerbinsky sitzt schon am Volant, Szabuniewicz neben ihm Ich weiß nicht, dieser Jacobowsky gefällt mir nicht mehr. Er löst die Bremse. Dann heftig zu Szabuniewicz Tausch du mit Jacobowsky den Sitz!

Jacobowsky Szabuniewicz, der aufstehn will, zurückhaltend Wo denken Sie hin, Colonel? Nur keine Sorge um mich! Mir gehts herrlich. Fassen Sie lieber die Kurve dort ins Auge! Ich werde die Zähne zusammenbeißen ... Er schlägt die Wagentür zu.

Oberst Stjerbinsky tritt wütend auf den Gashebel, worauf der Motor wild aufheult, aus dem Auspuff kommt eine schwarze Wolke – der Wagen rührt sich nicht.

Marianne Heilige Jungfrau, Tadeusz, wir ersticken ja!

Szabuniewicz Den Gang einschalten, mein Wohltäter!

Jacobowsky Hauptsache die Kurve, Colonel! Mit heller Stimme Ich möchte jetzt weniger sterben denn je ... Vive la vie!!

Das Auto setzt sich ruckweise in Bewegung und verschwindet in der Nacht.


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