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Des ersten Aktes zweiter Teil

Vor dem Hotel ›Mon Repos et de la Rose‹. Einer der kleinen stillen Pariser Plätze auf dem linken Seine-Ufer. Eine angejahrte, einst prächtige Limousine vor der bescheidenen Front des Hotels. Man sieht ein kleines Stück einer der Seitengassen. Morgengrauen. In der Ferne hört man dann und wann ein sonderbar schleppendes Geräusch wie von hunderttausend Füßen, die unter schweren Lasten über den Pariser Asphalt traben. – Der Chauffeur eines reichen Hauses und Jacobowsky

Chauffeur mit der unüberwindlichen Beredsamkeit eines alten gewiegten Gamins Belieben Sie, Monsieur, nichts als die simplen Fakten zu wägen. Die Boches stehen bereits in Meaux ...

Jacobowsky Das Radio spricht erst von Compiègne ...

Chauffeur Das Radio ist nicht für die Wahrheit erfunden worden. Bestenfalls stehen die Boches in Meaux. Schlimmstenfalls werden sie morgen, was sag ich, heute abend über die Champs-Elysées marschieren. Hier aber vor Ihnen steht eines der teuersten und treuesten Automobile bereit, Sie nach dem Westen oder Süden Frankreichs in Sicherheit zu bringen. Sie haben keine Wahl, Monsieur ...

Jacobowsky mit einer Taschenlampe die Räder ableuchtend Sagen Sie das nicht! Es verletzt mich! Noch den Strick um den Hals werd ich an den freien Willen glauben ...

Chauffeur Danken Sie lieber dem Schicksal, das mich Ihnen in den Weg geführt hat. All die zehntausend Hispano-Suizas. Rolls-Royces, Buicks, Packards sind auf und davon gefahren. Seit gestern gibt es in der Ville Lumière, in unserer Stadt des Lichtes, der Aufklärung und des Verkehrs nur mehr ein paar Taxis und die verstecken sich. Sollten Sie in irgendeiner Garage noch auf einen Wagen stoßen, so ist er weniger wert als altes Eisen. Denn wo nehmen Sie Essence her, Monsieur, ja woher Essence, dieses Blut des Lebens? ... Ist Ihnen übel? Sie sehen schlecht aus ...

Jacobowsky Wieso übel? Wer sieht gut aus um halb sechs Uhr früh?

Chauffeur Tenez votre morale, Monsieur! Halten Sie Ihre ›Morale‹ hoch. Das ist die Hauptsache. Wenn alles schief geht, haben wir doch unsre ›Morale‹ ...

Jacobowsky Ich würde Sie bitten, meine ›Morale‹ durch kürzere Sentenzen zu schonen!

Chauffeur Es wird Ihrer ›Morale‹ jedenfalls zustatten kommen, wenn Sie hören, daß dieses Auto, das Ihr Leben retten wird, aus einem vornehmen Stall kommt ... Raten Sie ...

Jacobowsky Ich übe jede Selbstbeherrschung, mein Freund, aber einen Kopf für Rätsel hab ich heute nicht ...

Chauffeur pompös vertraulich Rothschild ...

Jacobowsky Baron Rothschild ...

Chauffeur Ich wußte, daß dieser Name in Ihren Ohren Musik sein wird, Monsieur ...

Jacobowsky träumerisch Ich stand in Verbindung mit dem Hause Rothschild ...

Chauffeur Ich stehe noch immer in Verbindung mit dem Hause Rothschild. Als Chef des Wagenparks. Die Familie hat schon vor Wochen Paris verlassen. Denn wissen Sie, in puncto Rothschild da verstehen die Boches keinen Spaß. Die beiden Rolls-Royces sind mit und der neue Cadillac auch ...

Jacobowsky Was geht mich das alles an?

Chauffeur »Mein guter Philibert«, sagte der Baron beim Abschied zu mir, »der Wagen ist mir besonders ans Herz gewachsen, aber handle nach deinem Gutdünken, nur den Boches soll er nicht in die Hand fallen, Philibert ...«

Jacobowsky Ich lausche Ihnen ehrfürchtig seit fünfzehn Minuten. Am Ende Ihrer Meistererzählungen werden die Deutschen die Stadtgrenze erreicht haben. Kommen Sie zur Sache ...

Chauffeur Sie sind der Mann meines Gutdünkens, Monsieur! Ich weiß, der Baron wäre glücklich, Sie, gerade Sie zum Nachfolger zu haben ...

Jacobowsky Zur Sache! Was kostet der Wagen?

Chauffeur Die Räder sind wie neu!

Jacobowsky Ich muß es glauben ...

Chauffeur Und das Wichtigste! Er ist gefüllt bis oben mit bester Essence, prima Lebensblut. Mobiloil! Wissen Sie, was das bedeutet heutzutage?

Jacobowsky Ich weiß es. Was kostet der Wagen?

Chauffeur Einen Fliegenschiß!

Jacobowsky Was kostet ein Fliegenschiß?

Chauffeur Vierzigtausend Francs!

Jacobowsky Ich leide manchmal an Gehörstörungen ...

Chauffeur Was haben Sie gehört? Ich habe fünfunddreißig gesagt.

Jacobowsky Au revoir!

Chauffeur Halten Sie ihre ›Morale‹ hoch, Monsieur!

Jacobowsky Das tue ich soeben!

Chauffeur Was kann Ihnen das Geld bedeuten? Heute!

Jacobowsky Solang ich habe, nichts! Aber die Morale bedeutet mir etwas. Solche Wagen find ich hundertzwanzig. Salomon hat noch andere Adressen. Danke bestens ... Wendet sich zum Gehen.

Chauffeur Ich erwarte Ihre Gegenvorschläge, Monsieur ...

Jacobowsky Verkaufen Sie die Limousine an ein Museum! ...

Chauffeur Dort wird man sie gewiß neben der Karosse Ludwig des Vierzehnten aufstellen! Sonst haben Sie nichts zu bieten?

Jacobowsky Keine zehntausend ist der klapprige Veteran wert!

Chauffeur Zehntausend begehrt heut jeder Lastwagen, wenn er Sie hinten aufsitzen läßt. Dies aber ist ein Auto, in dem ein Baron, und mehr als das, ein Bankmagnat, Entspannung fand. In diesem Auto fuhren ein Präsident der Republik und unzählige Minister ...

Jacobowsky Vielleicht auch noch der alte Clemenceau.

Chauffeur Ein guter böser Mann, der alte Clemenceau! Geben Sie fünfundzwanzigtausend!

Jacobowsky Die Rechtslage ist sehr verworren. Ich kann nicht nachprüfen, ob Sie befugt sind, den Wagen anzubieten ... Ich nenne als letzten Preis fünfzehntausend!

Chauffeur Ich bin ein gesetzter Familienvater, der den Schrecken der Occupation entgegenblickt ...

Jacobowsky Die Occupation wird selbst diesen Wagen konfiszieren, obwohl er nicht einmal ein Reserverad besitzt!

Chauffeur hoheitsvoll Schicksal ist Schicksal!

Jacobowsky Es ist ein irreguläres Geschäft. Ich will keine Untersuchungen anstellen. Ich kaufe mit Bewußtsein eine alte Katz im Sack ... Sechzehntausend bar! Ja oder nein?

Chauffeur entblößt seinen Arm Was ist das?

Jacobowsky Haben Sie einen Autounfall gehabt?

Chauffeur Nicht einmal im Traum!

Jacobowsky Hat ein wilder Hund ihren Arm zerfleischt?

Chauffeur Die Boches haben meinen Arm zerfleischt, Herr ... Verdun!

Jacobowsky greift sich an den Kopf Verdun! ... Ich werde verrückt ... Ils ne passeront pas ... Sie sind durchgekommen ... Die Siege von gestern werden zu Niederlagen von heute ...

Chauffeur Sie benachteiligen also einen ehemaligen Kämpfer von Verdun!

Jacobowsky Zwanzigtausend! und nur wegen Verdun! Er zählt die Scheine ab.

Chauffeur Hier ist die Carte grise ... Sie brauchen bloß Ihren Namen einzusetzen, und Rothschilds Limousine gehört Ihnen vor Gott und Menschen ... Empfängt das Geld

Jacobowsky den Chauffeur traurig anblickend Ich bin ein internationaler Expert für Finanzwesen. Ich habe die berühmte Dollar-Anleihe der Stadt Baden-Baden zustande gebracht ... Und jetzt überzahle ich, nur wegen des Wortes ›Verdun‹, ohne jede Garantie dieses Vehikel, von dem ich nicht einmal weiß, ob es überhaupt vom Fleck kommt. So tief sinkt man im Exil! ... Die Türen schließen schlecht. Die Schutzscheibe ist zerbrochen. Überall Kratzer. Öffnen Sie die Motorhaube!

Chauffeur gehorcht, anerkennend schmunzelnd Monsieur kennt sich aus ...

Jacobowsky Ich erblicke ein schmutziges Kohlenbergwerk, wo seit zehn Jahren gestreikt wird ... Der Motor ist eine Ruine ...

Chauffeur gekränkt Der Motor, mein Herr, arbeitet wie mein eigenes Herz.

Jacobowsky Was weiß ich, wie Ihr eigenes Herz arbeitet ...

Chauffeur Setzen Sie sich doch an den Volant und probieren Sie den Motor aus! Hier ist der Schlüssel ...

Jacobowsky Wozu dieses Schlüsselchen? ...

Chauffeur starrt ihn an Wozu dieses Schlüsselchen?

Jacobowsky düster zerstreut Ach so! Natürlich ...

Der Chauffeur öffnet höflich die Tür. Jacobowsky setzt sich umständlich ans Steuer.

Chauffeur Sie werden sehn, er fährt so weich wie die Liebe einer Mutter ... Wohlan, Monsieur! Lockern Sie die Bremse! Geben Sie Gas! ...

Jacobowsky regungslos, träumerisch A propos, da fällt mir gerade ein, daß ich persönlich nicht zu fahren pflege ... Als ich Präsident war, stand ein Chauffeur stets in meinen Diensten. Uniform, strenges Dunkelblau! Es war ein nobler Mann und trug den Bart des Kaisers Franz Joseph! Der tragische Herr ist inzwischen aus dem Hotel getreten. Unter seinem weiten havelockartigen Mantel wird ein bescheidenes Gepäckstück sichtbar, das er in der Hand trägt. Er macht ein paar sehr tiefe Atemzüge, als wolle er sich noch zum letzten Mal mit Pariser Luft vollsaugen Einen schönen guten Morgen, Monsieur! Haben Sie ausreichend geschlafen? ...

Der tragische Herr Was kümmert Sie das?

Jacobowsky Sie sind gewiß im Begriff, Paris zu verlassen?

Der tragische Herr Was kümmert Sie das?

Jacobowsky In diesem Fall möchte ich Sie einladen ...

Der tragische Herr unterbrechend Ich lehne die Einladung ab ...

Jacobowsky Auf welche Weise aber wollen Sie an Ihr Ziel kommen?

Der tragische Herr Ich habe kein Ziel ...

Jacobowsky Doch auch ohne Ziel, wie ...

Der tragische Herr Zu Fuß ... zu Fuß ... zu Fuß ... Wie die meisten ... Still! Hören Sie!

Fern wird das unaufhörlich dichte Getrappel von Millionen Schritten deutlicher vernehmbar.

Jacobowsky greift sich ans Herz Was ist das? Sind das schon die Deutschen?

Der tragische Herr Noch nicht die Deutschen ... Die Pariser!

Chauffeur Ja, das sind die Pariser!

Der tragische Herr tritt etwas vor, als spräche er nicht zu Jacobowsky, sondern zur ganzen Welt oder zu sich selbst. Zugleich geht das Geschleppe und Getrappel der Schritte in Musik über, welche seine Rede begleitet und rhythmisiert. Während dieser Rede aber treten aus der Tür des Hotels die Gäste, einzeln oder paarweise, mit Gepäck beladen, gehen, sorgenvoll miteinander flüsternd, über die Bühne und verschwinden in der Seitengasse. Es ist wie ein sonderbares Ballett, das die Worte des tragischen Herrn anschaulich macht.

Der tragische Herr Die Pariser gehn, gehn, gehn. Sie ziehen zu den Bahnhöfen. Aber die Bahnhöfe sind tot, denn keine Züge werden mehr abgelassen. Da wenden die Pariser ihren Schritt und gehn und gehn durch die langen Vorstadtzeilen, tausend, zehntausend, hunderttausend, alle mit Sack und Pack, junge Frauen, alte Männer, kleine Kinder und Großmütter, die Geschäftsleute und die Ärzte, die Commis und die Advokaten und die Wirte der Bistros und die Kellner und die Coiffeure und die Deserteure und die Mieter des Hauses und der Concierge und die Hunde, und nur die Katzen bleiben daheim. Die ersten Gäste sind gekommen und gegangen In den Beinen hats uns gepackt, und die Beine, sie müssen gehn und gehn. Unsre Beine haben noch einen Vorsprung von vierundzwanzig oder von achtundvierzig Stunden. Dann sind die Boches da, und wo wir sein werden und was mit uns geschehen wird, das weiß Gott und Saint Denis und Sainte Geneviève allein. Neue Gäste Hören Sie? Das sind keine Maschinengewehre, das sind die letzten Rollbalken, die an den Schaufenstern niederrasseln, Lafayette und Trois Quartiers und Potin und die Prachtläden der Rue de la Paix. Hören Sie's nicht? Neue Gäste Die Champs-Elysées und die Place de la Concorde und die Inneren Boulevards und die Äußeren Boulevards, sie sperren ab und sie wandern mit, hinaus nach West und Südwest über die großen Landstraßen. Und was zurückbleibt, das ist nicht mehr die Place de la Concorde und Vendôme und der Boulevard Malesherbes und des Italiens, das sind Fassaden und Kulissen und ein alter flimmernder Film. Die alte Dame aus Arras und Clémentine kommen und gehen als Letzte. Hinter ihnen schiebt ein kleiner Junge das Gepäck auf einem Handkarren Wenn die Boches einmarschieren, wird Paris ein schmutziger Sarg sein, in dem nicht einmal mehr ein Leichnam liegt. Ich aber bin in Paris geboren und ich gehöre zu Paris und ich ziehe fort mit Paris aus Paris. Und ich will nicht fahren, sondern ich will gehn und gehn mit den andern und mit den wandernden Boulevards, stundenlang, tagelang. Denn wenn die Beine schmerzen, dann tut das Herz weniger weh ... Er geht langsam ab mit langen steifen Schritten.

Jacobowsky der ihm gebannt nachgeblickt hat, nach einem langen, gedankenvollen Schweigen Ich möchte so schnell wie möglich den Atlantischen Ozean erreichen. Es gibt ohne Zweifel noch immer Schiffe, die einen nach England oder Amerika bringen ... Zum Chauffeur Wären Sie gesonnen, mon ami, für einen guten Preis mein Führer zu sein?

Chauffeur Oh, Monsieur, ich denke ganz anders als jener sonderbare Herr dort. Ich könnte jetzt gerade Paris weniger verlassen als ein Mann seine sterbende Mutter ...

Madame Bouffier tritt, tief niedergeschlagen, aus dem Hotel Mein Haus ist leer. Ich habe keinen Mut mehr. Ich bin eine alte gebrochene Frau ...

Jacobowsky Meine gute Madame Bouffier! Jeder Mensch hat im Herzen ein heimliches Tabernakel, wo die fünf bis sieben Dinge wohnen, an denen er hängt. Eines dieser Dinge heißt bei mir Paris und das Hotel ›Mon Repos et de la Rose‹, wo ich zwischen Flucht Nummer vier und fünf ein wenig aufatmen durfte ...

Madame Bouffier Sie sind ein treuer Mensch ...

Jacobowsky Das bin ich wirklich. Und ich will Ihnen meine Treue praktisch beweisen. Sie wissen, daß ich als überzeugter Optimist bei Ausbruch des Krieges kostbare alte Möbel gekauft habe, um später einmal mir eine Wohnung einzurichten. Hier ist das Lagerverzeichnis und die Anweisung an den Spediteur. Schmücken Sie Ihr Haus mit diesen Möbeln!

Madame Bouffier Ich werde sie aufbewahren für Sie. Denn vielleicht finden Sie doch noch eine Frau, die Sie liebt.

Jacobowsky Was soll eine Frau lieben an mir? Ich kann nicht einmal die berechtigte Minimalforderung des Weibes erfüllen: fester Wohnsitz und kein Bauch ... Meinen Schrankkoffer lasse ich Ihnen ebenfalls zurück. Ich nehme nur meine Handtasche mit und die Teppiche, die Teppiche selbstverständlich. Hat Salomon die Teppiche schon zusammengerollt?

Madame Bouffier ins Haus rufend Salomon ... Die Sachen von Monsieur Jacobowsky ...

Jacobowsky Sie werden es vielleicht nicht verstehen, aber ich hänge sehr an diesen beiden Teheran-Teppichen. Es sind hochwertige Prachtstücke. Sie haben einst den Kiosk des Sultans Abdul Hamid geschmückt. Und in mein neues Exil nehme ich wenigstens eine Illusion von Besitz mit ...

Szabuniewicz erscheint in der Seitengasse. Hinter ihm ein als Cowboy verkleideter Greis, der zwei Pferde am Zügel führt. Szabuniewicz winkt ihm, in der Gasse stehen zu bleiben. Er selbst beginnt ungeduldig vor dem Hotel zu patrouillieren. Er trägt einen steifen Hut und Handschuhe.

Madame Bouffier auf den Chauffeur weisend Und dieser Herr wird Sie an die Grenze führen?

Chauffeur Auf keinen Fall, Madame! Ich gehöre zu den eingefleischten Parisern, die nicht einmal die Boches aus Paris vertreiben können ...

Der Concierge Salomon schleppt zwei schwere eingerollte Teppiche aus dem Hotel, nachdem er zuerst Jacobowskys Handtasche gebracht hat.

Jacobowsky seufzt Salomon, was wird aus Ihnen werden ... Ich sorge mich um Sie, Salomon ...

Salomon unter der Last keuchend Was weiß ich, was aus mir werden wird? ... Ich hab's nie gewußt ... Ich bin ein Findelkind der israelitischen Gemeinde. Es gibt wenige Findelkinder unter uns. Ich bin eine enorme Rarität meiner Rasse ...

Madame Bouffier resolut Den Schutz von Salomon übernehme ich. Und wenn ich ihn im Keller verstecken müßte und Tag und Nacht Wache stehn davor! Salomon beginnt mit Hilfe des Chauffeurs die großen Teppiche im Fond des Wagens zu verstauen. Jacobowsky geht mit Madame Bouffier die Liste des Spediteurs durch, so daß sie den folgenden Dialog nicht hören. Oberst Stjerbinsky erscheint im Portal. Mit dem Fuß stößt er seinen prallen Offiziersrucksack auf das Trottoir. Unter den Arm geklemmt trägt er die Aktentasche, in der rechten Hand einen Geigenkasten, in der linken seine Satteltaschen. Er ist in einen enganliegenden grauen Zivilanzug gekleidet, dessen Ärmel etwas zu kurz sind. Madame Bouffier, mit einem Blick auf den Oberst, zu Jacobowsky Das sind meine letzten Gäste, diese Polen! Ein attraktiver Mann, der Oberst! Aber ich weine ihm keine Träne nach ...

Oberst Stjerbinsky halblaut zu Szabuniewicz Was ist mit dem Flugzeug?

Szabuniewicz Sie haben sich halb tot gelacht ...

Oberst Stjerbinsky Und unser Vizekonsul?

Szabuniewicz Seit vorgestern mit allen drei Wagen in Bordeaux ...

Oberst Stjerbinsky Und unsre polnische Regierung in Angers und unser Generalstab?

Szabuniewicz Bereits seit einer Woche in London!

Oberst Stjerbinsky Uns aber lassen sie in der Tinte sitzen! Hast du aufgetrieben einen Wagen?

Szabuniewicz Wenn man schon einen Chauffeur findet, so verlangt er, daß man vorausbezahlt eine haushohe Summe und um Essence einreicht beim Ministerium für Transportwesen. Haben Sie eine haushohe Summe? Also!

Oberst Stjerbinsky Ich muß spätestens morgen abend in Saint Cyrill sein. Marianne wartet ... Und die Dokumente müssen nach London ...

Szabuniewicz Das hätte sich der Herr Oberst gestern sagen sollen, anstatt mit der jungen Dame ...

Oberst Stjerbinsky Gestern ist gestern. Heute vor Sonnenaufgang war ich in der Kirche nebenan, hab den Priester geweckt, gebeichtet und bereut. Meine Seele ist rein für Marianne ...

Szabuniewicz Hätten wir nicht, wie man sagt, gegen Marianne eine gute Force majeure, nicht nach Saint Cyrill ...

Oberst Stjerbinsky Die einzige Force majeure ist mein liebevolles Verlangen nach dieser Frau ... Schau also, daß du zwei anständige Pferde verschaffst ...

Szabuniewicz Pferde?! Das ist doch das reinste Mittelalter ...

Oberst Stjerbinsky Was weißt du vom reinsten Mittelalter? Ein Masseur! Was verstehst du von Pferden? Ein Irrenwärter! Ein gutes Pferd legt zurück im Tag mehr Kilometer als ein Medium-Tank. Ein Pferd braucht keine Essence, sondern nur ein bißchen Hafer und Heu. Ein Pferd trabt neben der verstopften Straße durch die Felder. Also!

Szabuniewicz Wenn der Herr Oberst lieb und brav ist und nicht nach Saint Cyrill reitet, sondern nach Bordeaux, da hätt' ich vielleicht ...

Oberst Stjerbinsky Was für Gerede ...

Szabuniewicz Szabuniewicz kennt die Wünsche seines Gutsherrn und Wohltäters auswendig ... Geruhen zu schaun ... Er winkt. Die Pferde erscheinen in der Mündung der Seitenstraße.

Oberst Stjerbinsky breit lächelnd Pferde ... Er beginnt die Schindmähren sogleich zu untersuchen.

Szabuniewicz Brave französische Nichols ... Ganz billig ...

Oberst Stjerbinsky sein Gesicht verdüstert sich Du bist ein Idiot! ... Das sind keine Medium-Tanks, das sind nicht einmal Pompefunèbre-Gäule, das sind Mumien des Altertums ...

Szabuniewicz gekränkt Sie gehören zum Vergnügungspark in Neuilly ...

Oberst Stjerbinsky Sie brechen zusammen, wenn die Huren am Sonntag auf ihnen in der Manege reiten ... Schick ihn fort!

Szabuniewicz Er bekommt ein Trinkgeld ...

Oberst Stjerbinsky greift in die Tasche und reicht ihm etwas Was ist das?

Oberst Stjerbinsky Die Silbermedaille für das Hubertusrennen auf Schloß Radziwill. Erster Preis ...

Szabuniewicz Zehn Papierfrancs wären ihm lieber ...

Oberst Stjerbinsky Sie ist fünfzig wert ... Ich muß sparen mit dem Bargeld!

Greis mit Pferden ab.

Jacobowsky der den Obersten im Umgang mit Pferden fasziniert beobachtet hat, nähert sich ihm, nach einem sichtbaren Seelenkampf, äußerst formell Mon Colonel! Sind Sie Automobilist?

Oberst Stjerbinsky Ich bin Kavallerist! ...

Jacobowsky Die moderne Kavallerie pflegt motorisiert zu sein.

Oberst Stjerbinsky mit finsterem Stolz Nicht in Polen!

Jacobowsky Ich zweifle nicht, daß Sie ein Auto lenken können.

Oberst Stjerbinsky Ist die Straße schnurgerade, fahre ich sehr brillant. Kurven hasse ich. Zum Chauffieren dient mir meist meine Ordonnanz.

Jacobowsky Das genügt, mon Colonel. Sie können lenken. Ich nicht. Die Zeit drängt. Sie streben zum Ozean. Ich ebenfalls. Wir ergänzen uns also. Hier steht mein neuer Wagen ...

Oberst Stjerbinsky Ich erinnere mich Ihres Namens. Sie sind Herr Leibowicz ...

Jacobowsky Verzeihung, Jacobowsky, S. L. Jacobowsky ...

Oberst Stjerbinsky Und Sie sind Pole?

Jacobowsky Ich bin unter anderm auch Pole. Das heißt, ich bin sogar in erster Linie Pole, weil in Polen geboren ...

Oberst Stjerbinsky Wo sind Sie geboren in Polen?

Jacobowsky In dem Dorfe Studno bei Radom ...

Oberst Stjerbinsky behaglich Schau, schau, Studno bei Radom ... Dort besaß einst mein Vater ein großes Gut ...

Jacobowsky die Augen mit einem Lächeln aufschlagend Dort besaß mein Vater kein großes Gut ...

Oberst Stjerbinsky Hat mit geistigen Getränken gehandelt, der Papa? ...

Jacobowsky Nicht gerade mit Getränken, aber mit Geist ein wenig ... Er hat die jüdischen Kinder in biblischer Geschichte unterrichtet, Kain und Abel, David und Goliath, wissen Sie, und Ähnliches ...

Oberst Stjerbinsky Herr ... Herr ... Ich komme Ihnen so schwer auf den Namen ... Ich hoffe, Sie sind polnischer Patriot!

Jacobowsky die Hand auf dem Herzen Ich bin fest entschlossen dazu!

Oberst Stjerbinsky Durch diesen Wagen werden wir wichtige Dokumente unsres Freiheitskampfes der Gefahr entreißen ...

Jacobowsky Ich sehe mit Vergnügen, daß Sie meine Einladung angenommen haben, Herr Oberst ...

Oberst Stjerbinsky Die Zeit drängt ... Lassen Sie diese Teppiche aus dem Auto schaffen ...

Jacobowsky Um Verzeihung! Diese Teppiche sind sehr wertvoll. Sie sind die Freude aller Kenner. Sie sind gewissermaßen das Letzte, was mir geblieben ist. Sie sind die Symbole einer Heimstätte mitten in meiner Heimatlosigkeit. Sie dienen der Erhaltung meiner Menschenwürde. Man wird sie als Hausrat über die Grenze lassen. Die Teppiche bedeuten mir sehr viel ...

Oberst Stjerbinsky Ich bin nicht gewohnt, zu reisen in einem Möbelwagen. Ich bin einer von Pilsudskys Obersten. Und außerdem muß der Fond leer bleiben zu einem bestimmten Zweck ...

Jacobowsky Warum muß der Fond leer bleiben?

Oberst Stjerbinsky Ich liebe es nicht, meine Pläne zu begründen. Und ich hasse schwer beladene Gefährte. Meine Devise ist: Leichtes Gepäck!

Jacobowsky Entschuldigen Sie! Diese Limousine habe schließlich ich von dem Manne hier erworben ...

Chauffeur Für einen Fliegenschiß, Monsieur ...

Oberst Stjerbinsky Sie müssen sich klarmachen beizeiten, Herr ... Zu Szabuniewicz Wie heißt er?

Szabuniewicz Herr Jacobowsky ...

Oberst Stjerbinsky Sie retten, Herr Jacobowsky, in diesem Wagen nicht nur Ihre bescheidene Person, sondern Sie dienen indirekt einem höheren Zweck.

Jacobowsky Hoffentlich ...

Oberst Stjerbinsky Na also! Seien Sie stolz!

Jacobowsky nach einer traurigen Pause Nehmen Sie die Teppiche aus dem Wagen, Salomon ... Salomon führt langsam unter stummem Protest den Befehl aus Madame Bouffier! Bewahren Sie diese Teppiche als weiteres Andenken an mich ...

Madame Bouffier Das ist unmöglich. Warum lassen Sie sich auf solche Art behandeln?

Jacobowsky Ich weiß es selbst nicht, Madame Bouffier ... Der Oberst und ich sind gewissermaßen Mitarbeiter. Am Werk der Flucht. Mitarbeiter müssen einander Opfer bringen. Ich bin bereit dazu! Wer braucht heutzutage Abdul Hamids Teppiche ...

Szabuniewicz Bitte Platz zu nehmen, die Herren ... Die Boches marschieren ...

Jacobowsky hat die Automobilkarte hervorgezogen Unser Weg geht über die großen Boulevards, Place de la Bastille, Ivry, auf die Route Nationale nach Westsüdwest ...

Oberst Stjerbinsky ohne in die Karte zu blicken Unser Weg geht über die Champs-Elysées, Saint Cloud, Versailles, auf die Route Nationale nach Westnordwest ...

Jacobowsky heftiger Schweißausbruch Westnordwest?! Sie sagen das nicht im Ernst! Wollen Sie den deutschen Divisionen in die Arme laufen?

Oberst Stjerbinsky Überlassen Sie die taktischen Probleme mir! ... Im Süden und Westen sind alle Straßen von Flüchtlingen verlegt. Haben Sie kein Vertrauen in einen polnischen Oberst?

Jacobowsky Verrückterweise hab ich sogar ein Körnchen Vertrauen unter einem Berg von Zweifel ... Schließlich aber ist es doch mein Wagen, obwohl von Sekunde zu Sekunde die Überzeugung in mir hinschmilzt, daß es mein Wagen ist ...

Oberst Stjerbinsky Mein Wagen! Was heißt das, Jacobowsky, im Weltuntergang? Kann jemand sagen, dieses Rettungsboot ist mein Rettungsboot auf stürmischem Meer? ... Und außerdem hol Sie der Teufel! Sie scheinen nicht zu verstehn, was es bedeutet, daß ich mich einladen lasse von Ihnen! Ich verzichte auf Ihren Rumpelkasten! Pferde sind auf jeden Fall besser. Komm, Szabuniewicz!

Jacobowsky Nein! Ich bitte Sie. Es ist alles in Ordnung. Ich bin ein nervöser Mensch. Sie sind ein hoher Offizier. Sie sind Stratege. Sie sind erzogen zu Umsicht und Initiative. Sie dienen einem höheren Zweck. Sie müssen so schnell wie möglich den Atlantischen Ozean erreichen. Ich bin unter Ihrem Schutz. Die Logik spricht für Sie!

Szabuniewicz vertraulich zu Jacobowsky Da läßt sich nichts machen. Es ist wegen der Dame ...

Jacobowsky verstört Was für eine Dame? Wozu eine Dame?

Szabuniewicz Coeur Dame ... Man kann sich aber auf sein Glück verlassen ...

Madame Bouffier O Gott, mein Freund! Können Sie nicht noch schnell einen andern Fahrer finden?

Jacobowsky Zu spät! Die Entscheidung ist gefallen. Ich bin wie hypnotisiert von meinem Schicksal.

Madame Bouffier Diese Leute werden Ihr Tod sein ...

Jacobowsky Man hat so wenig Wahl heute zwischen Tod und Tod ... Oberst Stjerbinsky hat sich an das Steuer gesetzt, neben ihm Szabuniewicz. Jacobowsky tröstet Madame Bouffier mit heiterer Stimme Keine Sorge um mich, ma chère amie! Ich habe ein gutes Vorgefühl. Die Sache wird interessant ... Wir sehn uns wieder ... Er küßt ihr die Hand. Sie zieht ihn an sich Salomon, meine Post ...

Salomon Wohin soll ich die Post schicken? ...

Jacobowsky drückt ihm die Hand In mein Vaterland Nummer sechs. Diesseits oder Jenseits! Adresse folgt ... Er nimmt Platz im Fond des Autos.

Oberst Stjerbinsky tritt wütend auf den Gashebel. Der Wagen reagiert nicht.

Oberst Stjerbinsky Psia krew! Was ist das? Ich gebe dem Luder die Sporen. Und es rührt sich nicht ...

Jacobowsky verliert plötzlich seine Fassung und keucht Ich bin betrogen! Ich bin hereingefallen! Der Motor ist eine Ruine ...

Chauffeur hoheitsvoll Nur Ruhe, mein Herr! Der Wagen ist das tadellose Objekt eines großen Hauses. Ich bin hergekommen mit ihm, und Sie werden mit ihm fortkommen ... Die Batterie muß frisch geladen werden. Weiter nichts. Um die Ecke ist eine Garage. Bitte aussteigen und anschieben, Messieurs! Nur zwanzig Meter ...

Oberst Stjerbinsky indem er aussteigt, zu Jacobowsky, der ebenfalls ausgestiegen ist, mit Bitterkeit Da sehen Sie, was man mit Ihnen für Schwierigkeiten hat! Und gleich zu Beginn!

Jacobowsky Ja, das fängt wirklich gut an ...

Die lauten Stimmen haben inzwischen einige Pariser angezogen, kleine Kinder und alte Leute an Krücken und Stöcken, die zu schwach sind, die Stadt zu verlassen.

Chauffeur Anschieben, Messieurs, anschieben!

Oberst Stjerbinsky Halt! Niemand weiß, was vor uns liegt! Es ist daher sehr notwendig, den Himmel anzurufen vor der Abreise ... Streng zu Jacobowsky Das gilt auch für Sie, Herr Ja ...

Szabuniewicz Jacobowsky!

Jacobowsky Für mich zehnfach, Colonel! Denn vor Ihnen liegt nur die Reise mit mir. Vor mir aber liegt die Reise mit Ihnen!

Oberst Stjerbinsky bekreuzt sich und verweilt einige Augenblicke still! – Dann wendet er sich wie ein Redner an die Greise und Kinder rings, die ihn aus großen Augen anstarren.

Oberst Stjerbinsky Pariser! Ihr sollt nicht glauben, vielleicht, daß ich, der polnische Oberst Stjerbinsky, davonlaufe vor den Boches! Ich ziehe mich nur zurück zur Gegenoffensive! Er setzt sich wieder ans Steuerrad Fertig! Los! Auf mein Kommando! Eins, zwei, drei ...

Jacobowsky, Szabuniewicz, der Chauffeur schieben mächtig an. Der Wagen rührt sich nicht.

Chauffeur Die Bremse, Colonel, die Bremse!

Oberst Stjerbinsky Ach so, die Bremse ... Er löst den Hebel. Der Wagen rollt langsam vorwärts. Einige von den Kindern schieben mit.

Madame Bouffier winkt, was sinnlos ist, mit einem Taschentuch und schluchzt Gott schütze Jacobowsky!


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