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9. Madonnen und Nelken

Es kam ganz anders als in Großmütterchens Geschichte vom mährischen Sündendorf. Nicht zogen unter Seufzerklang und frommem Gesang barfüßige Pilger im Muschelhut über staubige Landstraßen und herbergten auf nackter Erde, um durch solche Leibesnot Buße zu tun und sich auf den Ablaß ihrer Sünden vorzubereiten. Sowohl die Sünde als auch die Sühne hatten sich der modernen Technik angepaßt und konnten auf den zeitgemäßen Komfort nicht verzichten. Elegante Schnellzüge mit Speisewagen, schlanke Autobusse und große Hotels mit tadelloser Bedienung harrten der Waller. Eine zeitgemäße Pilgerfahrt schien mithin nichts anderes zu sein als eine köstliche Gemeinschafts- und Vergnügungsreise, die in einem feierlichen Empfang durch den Heiligen Vater Pius den Elften gipfelte. Teta bekam ein gedrucktes Programm eingehändigt, auf dem jede Station, jeder Nächtigungsort, jede Abfahrts- und Ankunftszeit, kurz der gesamte Stundenplan dieser Pilgerfahrt voraussichtlich pünktlich eingezeichnet stand. Es war die erste große Auslandsreise ihres Lebens. Freudige Erwartung, kindliche Erregung hielt sie in Bann. Auch jetzt lag sie in den Nächten schlaflos. Aber es war eine andere Schlaflosigkeit als gestern noch, eine prickelnde und erwartungsvolle. Die alten Schachteln von Theresienruh störten sie viel weniger, und ihr bitteres Mißtrauen ließ nach. Wenn sie sich das Kommende ausmalte, dieses blauhimmlige Italien, von dem sie schon gar manches gehört hatte, dann wandelte sie ein neugieriges Vor-Entzücken an, das den tödlichen Gedanken an den Neffen, an das Mißlingen ihres Lebensplans, ja selbst an die unüberwindliche geistliche Verstörung langsam zurückdrängte. Es war, als ob das Heil und die Lösung der wichtigsten Fragen, die sie entschlossenerweise von dieser Pilgerfahrt erwartete, schon jetzt einen bläulich-kühlen Schatten vorauswerfe. Dennoch aber verabsäumte sie es nicht, in den Stellenvermittlungen an Hand des Reiseplans ihre italienischen Adressen genau anzugeben. Denn welcher Art dieses künftige Heil auch sein mochte, es würde nur mit Arbeit verbunden sein, dessen war sie sicher. Sie zweifelte nicht, daß sie, die weitbekannte erstklassige Herrschaftsköchin, eine Dienststelle finden werde, über kurz oder lang. Seitdem sie die vierhundert Schilling für diese Pilgerfahrt entrichtet hatte, fühlte sie sich wieder erstaunlich jung. Siebzig Jahre, das war schließlich nur eine leere Ziffer. Wenn sie die anderen alten Jungfrauen von Theresienruh betrachtete, von denen gar manche viel weniger Jahre auf dem Buckel hatte, kam sie sich jünger vor, flinker und arbeitsfähiger in jeder Weise. Im übrigen aber würde sie vor Antritt des neuen Dienstes ihre jämmerlichen Venen nach dem ärztlichen Rate »veröden« lassen und dann frisch und neugeboren sein und ohne Wimperzucken alle Tage ein Festdiner für dreißig Personen und zu acht Gängen anrichten. Hatte sie's nicht im vorigen Sommer noch geleistet, beim Geburtstagsfest der gnä' Herrschaft Argan? Seither hatte zwar der wirkliche Neffe ihrer Seele einen harten Stoß versetzt, ihre körperliche Gesundheit aber war unverändert. Die Leute sollten noch zu staunen haben über ihre Kraft und Standhaftigkeit. Mit solcher Zuversicht stärkte sie nach dem Zusammenbruch an der Kirchentür die Vorfreude ihrer ersten großen Reise.

Am Tage nach Christi Himmelfahrt versammelte man sich um sieben Uhr morgens am Südbahnhof. Teta erschrak sofort und wurde kleinlaut. Die Reisegesellschaft zu vierhundert Schilling bestand aus sechsundneunzig Menschen. Es war eine ziemlich kleine, aber um so erlesenere Pilgerschar, hoch im Range über einer armen Dienstmagd. Daran hatte Teta nicht gedacht, als sie sich das größere Opfer darzubringen entschloß. Es wäre für sie besser gewesen, zu der anderen, ordinäreren Pilgerschar zu stoßen, für zweihundert Schilling pro Person. Dort würde sie einige ihresgleichen gefunden und sich weniger verloren gefühlt haben. Sie stellte sich klein und bescheiden an den äußersten Rand des fröhlichen Menschenhaufens, der sich gegenseitig mit seinen Titeln und Würden komplimentierte, denn beinah alle schienen miteinander bekannt zu sein oder mindestens voneinander zu wissen. Hier war ohne Zweifel lauter gnä' Herrschaft versammelt; gehörte vielleicht einer oder der andere zu den kleinen Leuten, so ließ er sich's für die Dauer dieser Reise nicht anmerken. Den Mittelpunkt bildete ein hoher Prälat mit Seidenhut und violettem Kollar, eine pyramidenförmige Prachterscheinung, für ihn zu kochen, mußte ein Vergnügen sein. Neben dem Prälaten stand ein kleiner, zarter Herr in grauem Reiseanzug. Er lächelte sanft gestört vor sich hin. Er wurde »Herr Minister« genannt. Man nahte ihm schonend und umständlich. Redete ihn ein Verwegener betulich grinsend an, so neigte er ihm leicht das feine Ohr zu und sah gespannt auf den Boden, als sei er außerstande, etwas anderes als Staatsgeheimnisse entgegenzunehmen und sie mit einem vieldeutigen »So« und »Was Sie nicht sagen« zu quittieren. Teta sah beklommen dem Treiben zu, das sich um diese beiden Kernstücke der Pilgerfahrt entfaltete. Ging auch die Reise zum Heiligen Vater, der die Schlüssel des Himmelreichs für alle Katholiken verwaltet, so litt sie doch darunter, daß sie, das Dienstmädchen, sich der teuren herrschaftlichen Gruppe angeschlossen hatte, und zwar nur, um ihr sparsames Herz zu züchtigen. Sie gehörte zur »Niedrigkeit«, mit welchem Worte sie ihr soziales Abstandsgefühl selbst auszudrücken pflegte, denn unter »Obrigkeit« verstand sie nicht die Behörde, sondern jene Gesellschaftsklasse, welche nicht diente, sondern sich bedienen ließ. So lag es ihr im Blut. Und doch unterschied sie sich darin auffällig von der Frau Oberrevident, der es doch auch hätte im Blute liegen müssen.

Da war aber noch ein besonders festlicher Herr, der, vor Geschäftigkeit und Lebenslust schwitzend, von einem zum andern lief, Fragen stellte, deren Beantwortung er nicht abwartete, und Antworten gab, nach denen man ihn nicht gefragt hatte. Ein großer, dicker Mann war's mit einem puterroten Gesicht und einem ausrasierten grauen Backenbart. Er trug einen etwas zu kleinen steifen Hut auf dem mächtig kahlen Schädel und schwenkte eine lange Liste in der Hand. Daß er so lustig und gutgelaunt war, sprach für seine festen Nerven, denn allem Anschein nach lastete auf ihm die Sorge für das gute Gelingen der Pilgerfahrt und für das leibliche Wohl von sechsundneunzig Menschen. Er machte sich's nicht leicht. Von allem Anfang an suchte er in den Teilnehmern fröhliche Kameradschaft zu erwecken. Diejenigen, welche sich noch nicht kannten, stellte er einander mit Eifer vor, pries die trefflichen Eigenschaften jedes einzelnen gegenseitig hoch, nannte geläufig Titel, Würden, Orden, Ehrenzeichen, deren kleinste sein Gedächtnis verzeichnet hielt. Man könnte sagen: er ging umher und gab die Ehre. Ohne Zurückhaltung jeglichem und jeglicher. So kam er auch zu Teta, die neben ihrem neuen Suitecase abseits stand und zu der Pilgerschar, der sie selbst angehörte, verlegen hinüberlugte. Er lüftete schwungvoll die Melone und erkundigte sich freudestrahlend:

»Auch eine Rompilgerin, die Dame?«

Teta nickte eilig und überreichte ihm wie zur Entschuldigung ihre Reisedokumente. Er warf einen kurzen routinierten Blick auf seine Liste und schüttelte Teta dann innig die Hand:

»Gestatten, ich bin der Kommerzialrat Josef Eusebius Kompert. – Und Sie sind also die Frau Linek? – Freue mich, freue mich! Hab' schon auf die Frau Linek gewartet. Es wird eine besonders schöne Pilgerfahrt werden, Frau Linek. Seine Heiligkeit haben zugesagt, uns durch eine eigene längere Ansprache zu beehren. – Jetzt aber werde ich Sie Monsignore vorstellen, Frau Linek, und dem Herrn Minister.«

Teta sträubte sich mit aller Kraft. Der Lebensvolle aber nahm sie bei der Hand und repräsentierte sie den beiden Großen: »Herr Minister – Monsignore«, verkündigte er schneidig, »das ist nämlich unsere Frau Linek.«

Seine etwas heisere Stimme posaunte stolz diesen Namen, als müsse ihn jedermann kennen, und er fügte, da er nicht anders vorstellen konnte, als Titel und Würde strahlend hinzu:

»Tätiges Mitglied des Vereins katholischer Jungfrauen.«

Teta machte ihren tiefen Mägdeknicks. Doch auch die hohen Herren verbeugten sich und reichten ihr die Hand. Nach dieser flüchtigen Berührung mit den Spitzen der Pilgerkarawane zog sich Teta in großer Eile wieder auf ihren früheren Posten am äußersten Rande der Begebenheiten zurück, wo sie auf das Zeichen zum Besteigen des schon bereitstehenden Zuges geduldig wartete.

Josef Eusebius Kompert gab dieses Zeichen noch nicht. Der ausladende Mann schoß unermüdlich umher, zählte immer wieder die Anwesenden an Hand seiner Liste ab, winkte die Bahnbeamten zu sich heran, stellte dringende Fragen, gab wichtige Aufträge, lief zum Gepäckwagen vor und zur Perronsperre zurück und zog jede halbe Minute stirnrunzelnd seine Uhr. Er war Reisemarschall aus reiner Begeisterung. Ein Ehrenamt wie so viele andere Ehrenämter, die auf Komperts kräftigen Mannesschultern ruhten. Ehrenämter sind bekanntlich Würden ohne Entgelt, es sei denn, daß man den Umgang mit hohen Persönlichkeiten und titelschweren Namen als entsprechenden Lohn ansehen will. In dieser Beziehung war Josef Eusebius ein für alle seine Ehrenmüh hoch entlohnter Mann. Er kannte ringsum in der Welt jede Persönlichkeit von öffentlicher Bedeutung, und was weit ungewöhnlicher und wichtiger war, dieselbige kannte auch ihn. Man mußte ihn nur hören, wenn er schallend verlauten ließ: »Seine Exzellenz, Herr Minister X, ein guter Freund von mir«, oder »Seine Eminenz, der hochwürdigste Herr Kardinal, mein ganz besonderer Gönner«, oder »Seine bischöfliche Gnaden, mein alter Duzbruder, ein fesches Haus«. Er sagte das im schneidigen Ton eines Soldaten, der zu seinen Vorgesetzten, unbeschadet des schärfsten Gehorsams, in einem vertraulichen Respektverhältnis steht. Da Josef Eusebius Kompert aber ein seelensguter Mann war, behielt er seine ehrenvollen Freundschaften und Beziehungen nicht für sich selbst. Was er sich »oben« durch allerlei Dienste und Gefälligkeiten an Gunst erworben hatte, das verstreute er in Form großmütiger Protektion reichlich nach »unten«. Der Tag galt ihm als verloren, an dem er nicht für irgend jemanden bei Seiner Exzellenz, Eminenz oder bischöflichen Gnaden intervenieren durfte. Im Gegensatz zu andern Sammlern hoher Gönnerschaften scheute er sich gar nicht, die betreffenden Herren zugunsten armer Teufel auf das nachdrücklichste zu belästigen. Dies bereitete ihm sogar ein besonders würziges Vergnügen. Hauptsache, man brachte etwas in Gang und führte die Leute zusammen. »Da muß etwas geschehen« und »Das wird der Kompert schon einfädeln«, so lauteten seine Lieblingswendungen. Mit noch größerer Leidenschaft als dem weltlichen diente er dem geistlichen Regiment. Der Kirche hatte er, wie sein Gesicht und sein Name verriet, nicht immer angehört. Neue Besen aber kehren gut, und Konvertiten übertreffen die Altgläubigen zumeist an Eifer. Sie haben's ja nicht mitbekommen. Darum dürfen sie sich Gelassenheit oder gar Nachlässigkeit nicht leisten. Für sie hat keine Zeremonie einen schon müden und verbrauchten Klang, alles ist noch frisch und unsicher, und ihr eitles Herz treibt sie an, sich hervorzutun in dem, was für die Mehrzahl der anderen allzuoft nur eine matte Gewohnheit ist. Und so hatte Josef Eusebius trotz seiner gesetzten Jahre und weitläufigen Geschäfte auch diesmal nicht darauf verzichtet, sich hervorzutun und das beschwerliche Marschallamt dieser Pilgerfahrt zu übernehmen. Um der redlichen Wahrheit willen aber soll die reine Uneigennützigkeit Komperts nicht übertrieben werden. Wenn die Reise glücklich und der Empfang im Vatikan klaglos verlief, so war's nicht ausgeschlossen, daß ihm ein päpstliches Ordenssternchen oder Kreuzchen winkte, das prächtige des »Heiligen Grabes« dritter Klasse etwa. Danach sehnte sich sein Herz schon lange, und er hätte es den anderen Ehrenzeichen seiner gepflegten Ordensbrust gerne hinzugefügt. Der Gedanke an diese Auszeichnung beflügelte seine emsige Sorglichkeit, und er schwitzte demnach sowohl aus reiner Begeisterung als auch im Hinblick auf ein köstliches Privatziel. Niemand wird leugnen, daß diese glückliche Mischung von Gemein- und Eigennutz einen seltenen Idealfall vorstellt.

Endlich war's soweit, und man konnte einsteigen. Der Reisemarschall hatte jedermann den Wagen, das Abteil, die Platznummer genannt, die ihm zugewiesen war. Er schaute auf strenge Ordnung, das mußte man sagen. Zuletzt hatte er noch mit eigener Hand jedem Pilger das Wahrzeichen dieser Wallfahrt um den Arm befestigt, ein weißes Band mit einem schwarzen Kreuz darauf. Teta wartete geduldig, bis alle anderen eingestiegen waren. Es gehörte sich so, denn sie wußte, daß sie als einfacher Dienstbote die letzte und geringste Pilgerin unter allen war. Schon hatte sich der Bahnsteig ganz geleert, und nur die Schaffner liefen ab und zu. Nun hob auch Teta mit schwerer Müh ihre Reisetasche auf die Plattform des Waggons und erfaßte die Handgriffe, um sich aufs Trittbrett zu schwingen. Dieses lag aber sehr hoch, und ihre Beine schmerzten verteufelt; sie tappte mehrmals ins Leere, ohne die Höhe erreichen zu können. Da fühlte sie sich plötzlich von starken Armen untergefaßt, und jetzt schwebte sie leicht und frei nach oben. Sie keuchte ihren Dank und drehte sich nach dem Helfer um, der hinter sie getreten war. Ein junger Mann war's, eher klein, in einem grauen Lüsterröckchen, wozu er jedoch wie zur Entschuldigung eine ernste schwarze Krawatte trug. Seine kastanienbraunen Haare wellten sich schön über einer an den Schläfen scharf abgekanteten Stirn, und helle blaue Augen hatte er, die denen der Teta auffällig ähnelten. Man konnte ihm den Geweihten gar nicht ansehen. Er lachte übers ganze Gesicht. Dies aber war kein gewöhnliches, mechanisches, zweckloses oder nervöses Lachen, sondern er lachte gewissermaßen aus einem reichen Vorrat innerer Freudenlaune hervor. Der junge Mann nahm Tetas Hand.

»Ein Mitpilger«, sagte er und »ich bin der Kaplan Johannes Seydel.«

»Und ich bin die Linek«, erwiderte Teta ihrerseits, und weil sie schon vom Herrn Reisemarschall gelernt hatte, daß der Mensch irgendeinen Titel oder Charakter angeben müsse, um vor den Augen einer Welt von gnä' Herrschaft zu bestehen, fügte sie hinzu:

»Tätiges Mitglied des Vereins katholischer Jungfrauen.«

»Bravo, bravo!« lobte der Herr Kaplan diese Angabe, als sei er entzückt von ihr, ergriff kurzerhand Tetas Köfferchen und verstaute es im Reisenetz ihres Abteils, ehe sie noch diese ungehörige Dienstleistung verhindern konnte. Dann lachte er sie wieder mit seinem helläugigen, weißzähnigen, frischen Jungengesicht an und sagte:

»Eine glückliche Reise wünsch' ich Ihnen, Frau Linek. – So, und jetzt wünschen Sie mir dasselbe.«

Teta gehorchte mit der artigen Stimme eines Schulmädchens: »Ich wünsch' dem hochwürdigen Herrn eine glückliche Reise.«

Dann aber mußte auch sie lachen, und es war ihr ganz eigentümlich zumut, wie sie auf ihrem Platz dasaß und durch die offene Tür dem jungen Menschen nachsah, der im Wagengang verschwand.

Sie wurde aber sofort abgelenkt, denn eine vierköpfige Familie drängte sich geräuschvoll mit Sack und Pack in das Abteil. Es waren höchst gewichtige Pilger. Der Vater wog seine zwei Zentner mindestens und hatte ein schwabberndes Tripelkinn und einen feuerroten Quadrupelnacken. Die prallen Töchter waren ihm nachgeraten. Nur die energische Frau hatte sich dank ihrem Charakter eine knochige Linie bewahrt. Sie ließ jetzt das Fenster herab und rief gellend über den Bahnsteig:

»Die Bagage bitte für Herrn Bezirksarmenrat Fleißig!«

Der Bezirksarmenrat, dessen Gestalt in so lebhaftem Widerspruch zu seinem Amte stand, wischte sich die Stirn, blies einen pfeifenden Luftstrom von sich und nickte Teta resigniert zu.

»Heiß wird's werden da drunt' in Italien.«

Die Träger schleppten das hochgeschwollene Pilgergepäck heran und bauten es kunstvoll in den Netzen auf, so daß Tetas kleiner Koffer darunter verschwand. Plötzlich stieß eine der dicken Töchter einen Schrei aus. Das Wichtigste hatte man zu Hause liegenlassen. Die Hutschachtel, in der sich die schwarzen Spitzenschleier befanden, die als Kopfbedeckung für die Frauen im Vatikan vorgeschrieben sind. Es war zu spät. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Töchter saßen vernichtet da, denn es waren kostbare alte Spitzen, ein vortrefflicher Gelegenheitskauf. Frau Fleißig klagte und höhnte abwechselnd. Der Herr Bezirksarmenrat aber, der häusliche Katastrophen über alles haßte, brummte gefällig, man werde drunt' in Italien noch schönere Papstschleier zu kaufen bekommen, es sei ja das wahre und berühmte Land für dergleichen Textilien.

Teta beobachtete ihre Reisegefährten mit scharfen Augen. Sie hatte in Häusern aller Art gedient, in vornehmen und weniger vornehmen, und sich mit den Jahren ein Feingefühl erworben und einen sicheren Blick für die verschiedenen gesellschaftlichen Schattengrade. Wie die meisten Diener alter Schule war sie besonders empfindlich und unduldsam gegen die durch rasch erworbenen Reichtum verkleidete Grobheit und Gewöhnlichkeit. Sie mußte nur so lange warten, bis die Frau Bezirksarmenrat Fleißig die lila Stulpenhandschuh abgestreift und die Qualität ihrer Hände entblößt hatte, um der Sache ganz sicher zu sein. Ja, diese dort kam aus der »Niedrigkeit«, genauso wie sie selbst und die Katherina Zikan. Diese Erkenntnis aber erfüllte Teta keineswegs mit kollegialer Erleichterung, sondern mit ablehnendem Unbehagen. Nachdem das Unglück mit den vergessenen Spitzenschleiern bis auf die schale Neige ausgeredet war, wandte sich Frau Fleißig Teta zu. Die schwarzgekleidete Nachbarin mit ihrem ruhigen und aufmerksamen Gesicht schien ihre Neugier zu erwecken. So unscheinbar, so zurückhaltend sehen oft Damen aus, die sich später als vornehme Bekanntschaften entpuppen. Dies dachte zumindest Frau Fleißig, die keineswegs Tetas sozialen Scharfsinn besaß. Sie verfiel sofort in einen gedehnten, ermüdeten Ton, wobei sie sich mit der Zungenspitze immer wieder die Lippen netzte, was sie dem Anschein nach für unnachahmlich fein hielt:

»Es ist jetzt nicht die Saison für Italien«, begann sie, »meinen nicht auch, gnä' Frau?«

Teta nickte zustimmend. Das Wort »gnä' Frau« aber durchrann sie höchst unbehaglich. Die Fleißig schnatterte fort, ihre Lippen leckend:

»Wir hätten schon Ostern mit der Pilgerfahrt des Herrn Kardinals nach Rom gehen sollen. Wir waren von Seiner Eminenz persönlich eingeladen. Aber leider, mein Mann war absolut unabkömmlich – ich bitte Sie, das Geschäft in den Feiertagen, man kann sich ja auf niemanden verlassen. – Und dann hat uns Monsignore so gebeten, daß wir Pfingsten mitmachen. Da kann man doch nicht nein sagen, nicht wahr, Sie verstehen das auch, gnä' Frau?«

»Mit Erlaubnis, ich bin keine gnä' Frau«, entfuhr es Teta beinahe wider Willen. Frau Fleißig erschrak und spitzte den Mund: »Wie bitte? – Mit wem hab' ich die Ehre?«

»Ich bin die Linek«, sagte Teta plötzlich zaghaft, nachdem sie sich in der Wahrheit verfangen hatte wie in einer Schlinge, »nur Hausgehilfin.« – Und um den Schaden gutzumachen, flüsternd: »Von den katholischen Jungfrauen bitte ein tätiges Mitglied.«

In Anbetracht dieses Bekenntnisses vereiste die Frau Bezirksarmenrat unverzüglich. Herr Josef Eusebius Kompert, der gute Freund, hätte dafür sorgen müssen, daß die angesehene Familie Fleißig, ein leuchtender Name des gewerbetreibenden Bürgertums, in besserer Nachbarschaft nach Rom pilgere als in demselben Abteil mit einem alten Dienstboten. Sie flüsterte ihrem Gatten etwas ins Ohr, der eine beschwichtigende Geste machte, im übrigen aber seine drei Kinnpolster trübselig hängenließ. Auch die Töchter wurden strenge angezwinkert. Man richtete das Wort kaum mehr an Teta. Diese aber litt unter dem Schweigen nicht im geringsten, sondern bedauerte es nur immer wieder, daß sie nicht die volkstümlichere Pilgerfahrt gewählt hatte, wo es weniger frische gnä' Herrschaft gab, die sie durch ihre unpassende Teilnahme störte. Um nicht zu stören, blieb sie ruhig sitzen, als der geschäftige Reisemarschall, von Abteil zu Abteil hastend, die Essenszeit ausrief wie eine Siegesnachricht. Auch als die zweite Serie des Mittagsmahls verkündet wurde, rührte sie sich nicht vom Platz.

Da stand aber auf einmal der junge Kaplan Johannes Seydel vor ihr und lachte sie an.

»Was ist denn mit Ihnen, Fräulein Linek? – Ihre Suppe wird kalt.« Sie erschrak und wurde backfischhaft rot.

»Der Hochwürdige selbst«, stammelte sie, »nein, aber so was! – Wenn ich bittlich sein darf – ich hab' keinen Hunger.«

»Das gibt's nicht, liebes Fräulein Linek. Unser Reisetag heut ist sehr lang. Man braucht schon seine Kräfte. – Und dann was soll das denn heißen, Sie haben doch Ihr Essen bezahlt!«

Er reichte ihr die Hände, damit sie sich leichter erheben könne, und lenkte sie durch die langen Gänge zum Speisewagen. Sie aber mußte wieder vor sich hin lachen, weil ihr so eigentümlich zumute war. –

Johannes Seydel hatte recht. Es war ein unendlich langer Reisetag. Teta sah am Fenster hohe Berge vorüberfliegen, die Wolken, Seen und Burgen Kärntens und dann das weiße Flußbett der Piave und anders geformte Häuser und eine neue Landschaft. In mancher Stunde sog sie all diese Bilder einer Welt in sich ein, die so wohltätig von der ihren sich entfernte, Meile um Meile dahinbrausend. In anderen Stunden wieder saß sie mit geschlossenen Augen da, willenlos in die Fahrt eingeschmiegt. Da aber nahte sich ihr wieder die verlassene Welt und verflocht sich mit der vorüberfliegenden. Die Stimme der Zikan drohte im gefährlichen Rattern des Tunnels: »Was schreist du, Tetilein? Was mein ist, ist dein! Was dein ist, ist mein!« Sogar der uralte Herr Prossnitzer tauchte auf und wurde eins mit dem Reisemarschall Josef Eusebius Kompert. Hinter allem aber steckte immer wieder der Neffe, der Wirkliche und Leibhaftige, und es war noch weit niederträchtiger von ihm, daß er sich irgendwo in einem Nebenabteil verborgen hielt, als wenn er sich in seinem hellgelben Anzug mit violetter Krawatte offen gezeigt hätte. In den Bergen von Gemona begann die Nacht. Der Vollmond wanderte im Fenster mit. Sonst war alles leer in der Welt. Die ermüdeten Menschen schwankten und schliefen. Auch Teta wußte nicht mehr, wo sie war.

Noch ein drittes Mal an diesem Reisetage kam der müden Pilgerin ihr Beschützer zu Hilfe. Endlich hielt der Zug in der wimmelnden Bahnhofshalle von Venedig. Schon in Mestre hatte der besorgte Reisemarschall von Abteil zu Abteil die Weisung erteilt, jeder möge seine Siebensachen auf die großen Loris der Gepäckträger legen und, ohne sich weiter darum zu kümmern, so schnell wie möglich dem Ausgang zustreben. Venedig sei bekanntlich eine Wasserstadt, und man versammle sich auf der Landungsbrücke des Dampfers nächst dem Bahnhof. – Die Familie Fleißig hielt mit großer Aufregung das Coupéfenster besetzt, um ihr gewaltiges Gepäck den Trägern hinabzureichen. Die dicken Töchter standen ächzend auf den Sitzbänken und holten, gehässig einander beschimpfend, die schweren Koffer aus den Netzen, was immer erst nach mehreren vergeblichen Bemühungen gelang. Frau Fleißig zählte und zählte die Stücke, wobei sie sich stets verrechnete und allemal mit einem Schreckensschrei nach dem oder jenem vermißten Wertgegenstand begehrte. Der Herr Bezirksarmenrat stand erschöpft, sorgenschwer und müßig daneben, die ungeschickten Arbeiterinnen teils tadelnd, teils antreibend. Teta konnte zu ihrem Koffer nicht gelangen. Sie wartete in ihrer Art geduldig und gleichgültig, bis sich die raumverdrängende Pilgerfamilie Fleißig endlich mit herablassendem Gruße davongemacht hatte. Als sie dann mit ihrem Gepäckstück auf dem Bahnsteig stand, war sie ganz allein und verloren. Dort eilten die Fleißigs dahin, ohne sich um sie zu kümmern, und sie waren schon die letzten. Die Träger riefen ihr Worte zu, die sie nicht verstand. Sie fürchtete sich einerseits, die Reisetasche aus der Hand zu geben, und andererseits war sie zu schüchtern dazu. Die Träger rollten mit ihren hochgeladenen Loris unter Spottreden davon. Teta trippelte, ihren Koffer schleppend, den hoffnungslos langen Bahnsteig dahin. Schon aber kam ihr Seydel entgegengelaufen und riß ihr die Last aus der Hand. Hochatmend blieb sie stehen:

»Das geht doch nicht ... Das schickt sich doch nicht, daß der hochwürdige Herr selbst ...«

Der Kaplan stellte sich in Positur und schaute sie streng an.

»Wissen Sie was, Fräulein Linek«, sagte er mit übertrieben tiefer Stimme, »wir schließen einen Vertrag miteinand, ich sag zu Ihnen nicht ›hochverehrliches Mitglied des katholischer Jungfrauenvereines‹ und Sie nennen mich nicht ›hochwürdiger Herr‹ – Pilger sind arme Seelen allesamt und nicht hochwürdig oder hochverehrlich. – ›Kaplan Seydel‹ genügt oder ›Kaplan Johannes‹ oder wie Sie wollen.«

Er lachte. Teta aber kämpfte verzweifelt um die Reisetasche.

»Ich kann's selbst tragen, Herr Kaplan! Ich bin ja gewohnt Sachen zu tragen – ojemine!«

»Mir scheint, Sie haben keine Ahnung, wie stark ich bin« erklärte Seydel und wurde ganz gravitätisch, »beinah wär' ich ein Berufsathlet geworden, ich hab' sogar einen Preis bekommen einmal. – Passen Sie auf, Fräulein Linek!«

Er legte den Koffer auf seine flachen Hände, warf ihn in die Luft, fing ihn auf, und dies fünf- oder sechsmal und immer höher. Leute sammelten sich. Es gab Applaus und lustige Zurufe.

»Nein, der Herr Kaplan, das ist ja großartig!« staunte Teta und plötzlich stieg ein Lachen in ihr auf, mit dem sie gar nicht zu Ende kommen konnte.

»Also wenn Sie unartig sind, Fräulein Linek, da nehm' ich Sie genauso wie diesen Koffer und spiele Ball mit Ihnen!«

Das Lachen füllte Teta bis in den letzten Winkel ihres Selbst aus. Es tat ihr alles weh und wohl davon. Die Müdigkeit war weg. Der Kaplan aber nahm ihren Arm und stützte sie leicht und kräftig, daß sie hinzuschweben meinte. Sie traten auf den Vorplatz des Bahnhofs. Schwarz und ölig tanzte das Wasser des Kanals, spitzte tausend beglänzte Lippen. Die Gondeln mit ihren messerscharfen Silberkielen schaukelten im Vollmond zersplittertes Licht unter sich. Die Vaporetti hasteten vorüber von der dicken Flut umlispelt, und stießen kurze, heisere, besorgte Rufe aus. Gegenüber die Kirchenkuppel war giftig grün angestrahlt. Der grelle Marmor hegte hinter jedem Vorsprung und in allen Nischen scharfgerissene Schlagschatten, wie aus Ebenholz geschnitzt. Dies war Venedig, wie man es von den Ansichtskarten kannte, welche die gnä' Herrschaft Argan vor Jahren Teta zugesandt hatte. Dort aber auf dem Ponton winkte schon der Reisemarschall Josef Eusebius Kompert und machte erbitterte Zeichen. Immer noch an Seydels Arm, betrat Teta das Schiff.

Die Familie Fleißig und auch andere noch wunderten sich über dieses ungleiche Paar. Der junge Kaplan aber tat nichts anderes, als was sein Meister ihn hieß, der die Mühseligen und Beladenen zu sich entboten hatte. Unter dieser bürgerlichen Pilgerschar war Teta verhältnismäßig die einzige, die auf diesen Ehrentitel des Evangeliums Anspruch besaß. Kaplan Seydel wußte, was er tat. Sie aber wußte nicht, wie ihr geschah.

 

Der Tag begann recht zeitig.

Nach der Morgenmesse, beim Frühstück im Gasthof – es wurde wie jede Mahlzeit an drei langen, dichtbesetzten Tafeln eingenommen –, klopfte Josef Eusebius Kompert an seine Kaffeetasse und erhob sich. Der Reisemarschall, ein Meisterredner, ließ keine Gelegenheit vorüberstreichen, ohne das Wort zu ergreifen, und sei es auch nur zum Tagesappell:

»Herr Minister, Monsignore, Pilger und Pilgerinnen«, begann er knapp und schneidig, »wir haben die Donaunixen verlassen, um die Lagunenfeen aufzusuchen.« Mit der Mythologie ins Gedränge geraten, machte er eine große Gebärde auf den Prälaten hin. »Eine Auszeichnung und ein Glück, daß Monsignore bei uns ist, einer der größten Kunstgelehrten und Kenner Italiens, wie man weiß. – Also, Entschuldigungen werden nicht angenommen, Müdigkeit wird nicht vorgeschützt, wir haben heute zu erledigen wie folgt.«

Er setzte seine Brille auf und las die zu besichtigenden Sehenswürdigkeiten herunter wie eine Ordre de bataille:

»Piazza San Marco, die Basilika, Dogenpalast, Akademie der schönen Künste, Scuola San Rocco, die Kirchen Frari, Maria della Salute, San Trovaso. – Mittags begeben wir uns zum Lido, an den Strand des Adriatischen Meeres.«

»Werden Sie das alles ›miterledigen‹ wollen, Fräulein Teta?« fragte zwinkernd der Kaplan, der Teta gegenübersaß. »Fühlen Sie sich frisch genug nach der gestrigen Reise?«

Sie nickte heftig. Nicht ein Winkelchen wollte sie versäumen. Es war ja eine Erinnerung fürs Leben, das ihr eine zweite Pilgerfahrt nicht mehr bescheren würde. Ihre Beine mußten mit, ob sie wollten oder nicht. Sie glich nicht der Fleißig und einigen anderen Jammerweibern, die jetzt noch in den Federn lagen und hatten sagen lassen, sie würden nicht mithalten diesmal, weil sie ja Venedig von früheren Reisen genau kennten und außerdem nach der langen Eisenbahnfahrt sich ihre Haare müßten waschen lassen.

Teta stapfte tapfer los an ihrem Stock. Und niemand wußte es, nicht einmal sie selbst, welch ungeheure Willenskraft und Selbstüberwindung es sie kostete, Schritt zu halten mit den gesunden anderen. Was für diese eine interessante Besichtigung und ein fröhlicher Bummel war, das bedeutete für Teta einen schrecklichen Bußgang, einen echten Passionsweg, als hätte sie all die zahlreichen Stationen eines Kalvarienbergs auf den Knien emporrutschen müssen. Jeder Schritt war Feuerqual, bei der sich das matte Herz zusammenkrampfte. Und dann, sie durfte ja keine Miene verziehen, nicht durch das leiseste Wimperzucken und durch kein Räuspern verraten, was sie litt. Das war sie dieser Pilgerfahrt zu vierhundert Schilling und sich selbst schuldig. Man könnte hier von einem umgekehrten »Noblesse oblige« sprechen. In diesem Falle verpflichtete die »Niedrigkeit«. Das wäre ja noch schöner gewesen, daß sie, die letzte in dieser Pilgerschar, sich wehleidig zeigte, mit ihrem alten Kadaver Geschichten machte und die Herrschaften im Genusse der venezianischen Sehenswürdigkeiten störte! Also immer wieder die Zähne zusammengebissen und vorwärts!

Die wilde Sonne geißelte den unüberwindlich großen Platz und sog sich fest in Tetas schwarzem Kleid, daß es schwer war wie das Gewand einer Ertrinkenden. Wie ferne lag, von riesigen Fahnen umflattert, das golden bunte Portal der Kirche! Teta marschierte drauflos, unaufhaltsam wie ein kühner Soldat im Kugelregen. Ihr Gesicht war breit auseinandergezerrt und zu allem entschlossen. Ein oberflächlicher Beurteiler hätte sie für eine böse alte Frau halten können. Die Jugend unter den Pilgern machte sich ans Taubenfüttern. Teta aber schenkte keinen Blick den berühmten Vögeln von Sankt Markus, die wie geflügelte Schleier scharenweise aufwehten und zurückwallten in einem unfühlbaren Winde. Durch diesen erwünschten Aufenthalt gelang es ihr, nicht nur nicht zurückzubleiben, sondern unter den ersten die kühle Vorhalle des Domes zu erreichen. Das Dunkel brachte Linderung der Schmerzen. Auch schob man sich hier unter der Menge nur langsam weiter, was auch ein Vorteil für ihre Beine war. Teta sah sich nach einer Bank um. Da winkte sie Monsignore, der pyramidenförmige Prälat, leutselig zu sich heran: »Kommen Sie nur, liebe Frau«, lächelte er, »und bleiben Sie dicht bei mir!«

Der Prälat hatte die Führung persönlich übernommen. Er war wirklich ein Kunstkenner und Historiker von Rang. Wie es die Art aller Eingeweihten ist, brannte er darauf, die Unbelehrten an seinem Wissensborne schwelgen zu lassen. Er wandte sich vorzüglich an Teta mit seinen Erklärungen, die er um ihretwillen in ein kindlich volkstümliches Gewand kleidete. Seiner gründlichen Natur entsprechend, legte er auf Vollständigkeit den höchsten Wert. Nichts an Wissenswertem blieb seinem Gefolge geschenkt. Alle drei Schritte machte man halt, und dies war Teta höchst willkommen. Nicht willkommen hingegen war das ewige Halsverdrehen und Kopfzurückbiegen, das die Betrachtung der Mosaiken in Kuppel und Wölbung erforderte. Man glaubte, den Kopf im Nacken, die Besinnung verlieren zu müssen, während der hohe Herr ausführlich den morgenländisch-byzantinischen Charakter der Christusfigur deutete und auf die bildlichen Kennzeichen hinwies, die im Paradiese den Baum des Lebens vom Baum der Erkenntnis unterschieden. – Ein Diner für zwanzig Personen war leichte Mühe dagegen. – Der Prälat lächelte schlau und erkor aus den Nächststehenden eine kleinere Gruppe, unter der sich selbstverständlich auch die arme Teta befand. Sie mußte mit diesem unnachgiebigen Führer in die Krypta und Schatzkammer hinab und ein entsetzlich steiles Treppenwerk zur umlaufenden Galerie emporsteigen. Dort hielt sie sich am Steingeländer fest, während sie meinte, ein kochender Wasserstrudel reiße ihr die Beine unterm Leibe fort. Christus und Adam und Eva und die Erzväter und Gold und Malachitgrün und Lazuliblau und das schallende Gedämmer drehten sich langsam feierlich um sie. Monsignore hatte trotz seiner Pyramidenförmigkeit einen leichten federnden Schritt. Wissen beflügelt die Korpulenz. Er zwängte sich geschickt durch jede Enge, neigte sich ohne Schwindel weit über den Abgrund, vollführte tiefe Kniebeugen, blieb minutenlang in schwieriger Hockstellung, wenn es galt, ein köstliches Detail ins rechte Licht der Erklärung zu rücken – und immer forderte er Teta als erste auf, es ihm gleichzutun. Durfte man wagen, einem Geweihten und noch dazu einem Geweihten dieses Ranges mit Teilnahmslosigkeit, Lässigkeit oder gar mit Ungehorsam zu begegnen? Teta also zwängte sich durch, neigte sich über den Abgrund, vollführte tiefe Kniebeugen, verblieb minutenlang in schwieriger Hockstellung und wagte es nicht einmal, trotz Schmerz und Schwindel, die Augen zu schließen. Sie hauchte immer wieder, starr vor Bewunderung: »Nein, aber so was!« – und nickte und schüttelte den Kopf, damit weder Monsignore noch ein anderer bemerkte, daß ihre Seele einzig und allein damit beschäftigt war, ihren bresthaften Leib aufrecht zu halten.

Als man dann wieder draußen stand, gottlob, im durchstrahlten, menschendurchwärmten Portikus, trat der flotte Josef Eusebius an Teta heran, zwinkerte listig, strich mit beiden Händen den kurzen grauen Backenbart und fragte triumphierend:

»Nun, was sagen Sie, Fräulein Linek, zu unserem Monsignore? Das sind Kenntnisse, da fehlt kein I-Tüpfel, da haben wir was gelernt fürs Leben. – Und wie gefällt Ihnen Venedig?«

Teta nickte zustimmend und schüttelte bewundernd den Kopf, eines nach dem andern:

»Ja, das ist eine Pracht«, sagte sie.

»Das will ich meinen«, bestätigte der Reisemarschall und gab durch seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, daß er höchlich mit sich zufrieden sei, daß er alles aufs schönste zu lenken wisse, daß seine Pilgerfahrten bekanntlich besser klappten als die anderer Veranstalter einschließlich Seiner Eminenz, denn bei ihm gebe es echt christlicherweise kein Hoch und kein Niedrig.

Teta aber mußte ihr altes Sprüchlein von der Pracht an diesem Tage noch oft wiederholen. Sie sagte es angesichts der Piazzetta und des vanillecremefarbenen Dogenpalastes her, obgleich ihr dieser ziemlich merkwürdig vorkam. Er war wie umgekehrt. Der schwere obere Teil lastete auf dem durchbrochen leichten untern. Wie wenn jemand eine Schaumbäckerei auf den Kopf gestellt hätte. Aber es half nicht. Sie mußte sich durch die langen, spiegelglatten Säle des Palastes schleppen und Monsignores lückenlosen Belehrungen über die Geschichte Venedigs lauschen, über den geheimnisvollen Rat der Zehn und den steinernen Löwenrachen, der ein Postkastl für anonyme Briefe war. Nicht erlassen wurden ihr die Seufzerbrücke und die Gefängnisse unter den Bleidächern, wo es wiederum viel Gekrieche und Gehocke gab. Mittlerweile versteinten die Schmerzen in ihren Beinen sonderbar. Es war aber gut so. Sie ging wie auf schweren steifen Säulen, die jedoch nicht mehr brannten und stachen. Manchmal suchte ihr Blick den Kaplan Johannes. Der aber schien sie vergessen zu haben, kümmerte sich nicht mehr um sie. Warum soll er sich um dich kümmern, der Hochwürdige, der liebe, schalt sie sich selbst, du dumme Gans, du Alte, du Niedrige!

Jetzt löste die Batterie aus San Giorgio den Mittagsschuß. Er brachte die Erlösung. Monsignore unterbrach die Schule. Die Pilger, alle mit ihrem weißen kreuzgeschmückten Band überm Arm, versammelten sich auf dem Schifflein, das zur Lido-Insel hinausfuhr, und Teta durfte niedersitzen. Sie atmete rasch vor lauter Wonne. Es war, wie wenn eine gewaltige Hand einen feurig wallenden Vorhang von ihren Augen weggezogen hätte. Die Welt wurde leicht und heiter. Es gab so viel zu sehen plötzlich ohne Sehenswürdigkeiten. Wie die Lagunen, dieser weite stahlfarbene See, mit kleinen Wellchen das Schiff mutwillig umtanzte, mit einer Herde gleichsam, einer Wellenherde spitzköpfig hüpfender Tiere. Wie die flirrende Stadt mit ihren Gestaden vorüberzog, aufgelöst jedes Haus, jede Kirche, jeder Kampanile, das Geschiebe der Dächer, die viereckigen Altane, alles geschmolzen, Venedig feuerflüssig aus dem Hochofen des Mittags quellend. Wie die Frauen hier in ihren schwarzen Spitzentüchern anders die Kinder trugen als die Weiber der Heimat. Wie man hier viel welker alt und viel lauernder jung war als zu Hause. Oh, Teta hatte immer ihre hellen Augen gehabt, um scharf zu beobachten, und oft war die gnä' Herrschaft Argan erstaunt gewesen, was sie alles zu sehen vermochte und in ihre kargen Worte kleidete!

Dann saß man wieder an mehreren Tafeln bei der Mahlzeit, dicht eingezwängt einer neben dem anderen. Man saß auf einer luftigen Terrasse, und Teta hatte das Meer vor sich. Sie sah es zum erstenmal im Leben, und es griff ihr anfangs angstvoll ans Herz, mehr noch als die schroffen Felsgestalten des Toten Gebirgs sie einst angegriffen hatten. Es war hier draußen ein dunstiger Tag und ganz windstill mit einem Male. Die Fläche lag bewegungslos, ein mit Atemhauch stellenweise mattbeschlagener Spiegel. Eine Grenze zwischen Himmel und Meer bestand nicht. Sie waren aus einem Stück. Das Meer war verflüssigter Himmel und der Himmel verflüchtigtes Meer. Sie bildeten beide ein unendliches Silbernichts, das sich nirgends entzweibrechen ließ. Manch einer hätte angesichts dieser trägen Unendlichkeit gedacht: Kann's wirklich so schlimm sein, sich aufzulösen, zu verschwinden in diesem Silbrigen, aufzugeben die schmerzhafte Person, die doch zumeist aus brennenden Krampfadern besteht, aus Atemnot, Gallenschmerzen und Verstörtheit jeder Art? Verloren zu sein als schläfriges Nichts im schläfrigen Nichts? – Manch einer hätte dies denken können, nicht aber Teta. Sie war nicht geschaffen zu solch schwächlichen Anwandlungen eines bequemen Pantheismus. Sie bestand mit allem Nachdruck auf der Ewigkeit ihrer einmal geschaffenen Person und deren vollkommener Instandhaltung bis ans Ende aller Dinge. Der Betrug des Neffen hatte nur die Ausführung ihres Lebensplanes verwirrt, nicht aber dessen Sinn und Ziel. Sie war müde zum Sterben, aber so sterbensmüde war sie wieder nicht, um sich selbst verlieren zu wollen, um sich ohnmächtig preiszugeben dem streng geregelten Verlauf der jenseitigen Ereignisse, der sie erwartete. So träumerisch und fiebermatt ihr auch zumute war, sie hielt ihr heiliges Ich – was unsterblich ist, das ist auch heilig – mit eisernem Willen fest in jeder Minute. Sie aß nur sehr wenig und vorsichtig von den Spaghetti, den kleinen gebackenen Fischen und dem Käse. Dafür trank sie zwei Gläser des üppigroten Veroneser Weins, und diese gaben ihr den Mut, den Aufgaben des Nachmittags mit Ruhe entgegenzusehen. Kaplan Johannes Seydel saß an einem andern Tisch.

Schon hatte sich der Meisterredner Josef Eusebius wieder erhoben, und forsch kam's von seinen Lippen:

»Müdigkeit wird nicht vorgeschützt, Entschuldigungen werden nicht angenommen!«

Nun hieß es wieder ohne Gnade, sich zusammenreißen, aufbrechen, die Elektrische besteigen, dann ein Schiff und wieder ein Schiff, um endlich vor der Akademie der Künste zu landen. Diesmal aber blieb Teta schlau zurück, entzog sich der lichtvollen Führung Monsignores und blieb inmitten eines großen Saals auf dem Rundsofa ruhig sitzen. Mit entsetzten Augen betrachtete sie ein riesiges Gemälde, auf dem der heilige Markus, von Henkershänden vom Turm geschleudert, mit verrenkten, mantelumknatterten Gliedern im Sturz über der Erde schwebte, jetzt und für alle Zeit. Gleichgültige Gruppen von Venezianern standen auf diesem Bildwerk herum, betrachteten die grausame Hinrichtung nur mit einem halben Auge und schienen sich in der Abwicklung ihrer Handelsgeschäfte nicht wesentlich stören zu lassen.

Teta begriff diese Gleichgültigkeit der Bildfiguren nicht. Sie begriff auch nicht die Gleichgültigkeit der Beschauer, die mit ihrem roten Büchlein in der Hand an diesem Greuel lässig vorüberschlenderten. Es liegt ein großer Unterschied darin, wie ein Gebildeter und wie ein Ungebildeter ein Kunstwerk betrachtet. Der Gebildete gibt unverzüglich zu erkennen, daß der dargestellte Gegenstand für ihn keine Rolle spielt. Er zückt sogleich seine kennerische Rechte, mit der er die wichtigste Kurve der Komposition schwungvoll nachzeichnet. Angesichts des stürzenden Heiligen spricht er von der meisterhaften Verkürzung, dem Scurzo des Körpers. Wenn ein Hündlein auf einem Bild nach der herausgeschnittenen Zunge des Märtyrers schnappt, lobt er den Farbauftrag und die spielerische Manier dieser Einzelheit. Gebildet sein heißt gewissermaßen in den Kulissen stehen und das Schauspiel des Lebens und der Kunst als Habitué von hinten beobachten zu dürfen. Bildung wird also jener sauer erworbene Zustand genannt, welcher es einer gewissen Menschengruppe erlaubt, sich durch nichts imponieren zu lassen, weil sie selbst zu wissen meint, wie es gemacht wird. Bildung ist ein Rettungsring wie jeder andere. Wer ihn umgeschnallt hat, der gehört nicht mehr zu den Ausgelieferten, die geistig mit den Wellen kämpfen müssen. So stammt dieser wie jeder andere Snobismus aus dem urtümlichsten Streben des Menschen, welcher der ungeheuren Preisgegebenheit seines Daseins auf jede Weise entrinnen will. Der Ungebildete aber ist der Ausgelieferte schlechthin. Er ist dem Gegenständlichen des Lebens rettungslos verfallen und somit auch dem der Kunst, sofern er eine Seele besitzt. Beim Anblick der herausgeschnittenen Zunge, nach der das Hündlein schnappt, wird ihm übel. Er ist auch nicht fähig wie der Gebildete, fünfundsiebzig Gemälde in einer halben Stunde zu verschlingen. Nach Versenkung in ein einziges schon taumelt ihm der Kopf.

Oh, wie fühlte Teta sich übel, wie taumelte ihr der Kopf! Und dennoch gab sie sich noch immer nicht geschlagen. Ein wenig später in der Kirche der Frari, derselben, wo Tizians Himmelfahrt als Altarbild hängt, stand plötzlich der Kaplan Seydel neben ihr und nahm sie bei der Hand:

»So, Fräulein Linek, genug für heut, mein' ich. Ich wollt' vorhin dem Herrn Prälaten nicht ins Handwerk pfuschen. Aber jetzt müssen Sie sich ausruhen. Kommen Sie, ich hab' etwas für uns entdeckt.«

Er lachte Teta mit seinem hellen, knabenhaften Gesicht an und führte sie in eine stille Seitenkapelle, wo sie sich im Gestühl niederließen. Der Sakristan zog mit einer Stange den Vorhang vor einem dreiteiligen Altarbild fort. Von der mittleren Tafel blickte die lieblichste Madonna des alten Giovanni Bellini auf sie herab.

»Ich wette, auch Sie haben solche Bilder gern, Fräulein Linek«, sagte der Kaplan mit einer verliebten Stimme.

Teta gedachte ihres betenden Klausners in prächtigem Farbdruck über den schmalen Betten ihrer verschiedenen Mägdekammern und bejahte heftig: »Mit Erlaubnis, immer hab' ich die heiligen Bilder so gern gehabt.«

Seydel schirmte seine Augen mit der Hand und murmelte:

»Und das dort ist eines der schönsten Bilder, die es überhaupt auf der Welt gibt.«

Teta nickte vollkommen überzeugt, obgleich ihre müden Augen in dem schwachen Licht nur die sanfte Bläulichkeit des Mantels, die Malvenfarbe der Gewandung und den süßen Fleischton des Kindes wahrnahmen. Der Kaplan, durchaus kein Schwärmer sonst, sondern ein kräftiger, lustiger Mann, blickte verklärt. Er sprach vor sich hin, als säße nicht die alte Dienstmagd Teta Linek neben ihm, sondern eine wissende Seele seinesgleichen:

»Sehen Sie nur, liebes Fräulein Linek, diese dort, das ist wirklich die Jungfrau, die unberührte und unberührbare. Solche Hände, so fein, so lang, so spitzfingrig, so durchsichtig, die hat heute keine Lady, keine Gräfin, keine Fürstin, deshalb können solche Hände auch nicht gemalt werden. Einmal aber wurden sie gemalt, einfach deshalb, weil die Maler Vorbilder für sie fanden. An den Händen zeigt sich unsere ganze Verderbtheit und Ordinärheit. O wir Armen mit unserer harten Arbeit, unserem Sport, unserm Trubel! Unsere jungen Frauen bedecken ihre Fingernägel mit Lack, aber es hilft nichts, sie können es nicht verbergen, daß ihre Hände abgegriffen sind und sich mit allem beschäftigt und alles berührt haben. – Und doch, man spürt ganz genau, daß auch die Hände der Jungfrau dort ihre schwere Arbeit tun, sie wickeln den Bambino um, sie waschen Windeln, sie kochen und nähen. – Diese Jungfrau ist ganz Jungfrau und doch auch ganz Mutter. – Es ist so, als ob eine blaue Schwertlilie Mutter sein könnte, einem Blumenschoß ist das Kind entsprossen.«

Teta blickte auf ihre bräunlich verschrumpelten Hände hinab, beinah erschrocken. Seydel sah es und lachte.

»Die Ihren sind schon ganz richtig, Fräulein Linek.« Dann stand er auf: »Jetzt sind die anderen bestimmt fort«, sagte er, »und wir haben unsere Ruh.«

Teta saß noch immer da und schien mit einem schwierigen Gedanken nicht fertig zu werden. »Und haben der Herr Kaplan auch noch eine gnä' Frau Mutter«, fragte sie nach einer Weile.

Er habe weder Vater noch Mutter, erwiderte Seydel, sie seien beide gestorben, als er neun Jahre alt gewesen.

Teta nickte, als habe sie nichts anderes erwartet und sei gar nicht unzufrieden damit. Sie sah voll zu ihm auf:

»So haben der Herr Kaplan niemanden mehr«, erkundigte sie sich, jedes Wort betonend.

»Nein, Fräulein Linek, so schlimm ist es nicht. Ich hab' wahrhaftig nichts entbehrt. Meine ältere Schwester, die ist besser zu mir als jede Mutter. Sie hat mich großgezogen, studieren lassen, ihr verdanke ich so gut wie alles.«

Teta nickte wiederum, als habe sie's genauso erwartet. Dann glitt ihr Blick prüfend zu Bellinis Madonna hin. Ihre Gedanken schienen an folgender Feststellung lange gearbeitet zu haben:

»Es ist sehr gut, daß der Herr Kaplan eine gnä' Frau Schwester hat.«

»Fräulein Schwester«, verbesserte Seydel lachend, »ein Fräulein wie Sie. Nicht ganz so freilich – aber immerhin, die Iren ist auch schon fünfundvierzig.«

Nach diesen Worten erhob sich auch Teta, als wisse sie nun genug. Sie verließen den Raum, denn der ungeduldige Sakristan hatte den Bellini wieder verhängt. Der Kaplan reichte Teta den Arm. Trotz der verschlungenen Passionswege dieses Tages fiel es ihr jetzt nicht mehr schwer, langsam dahinzuschlendern. In einem kleinen Café aßen sie Gefrorenes, dieses sonderbare Paar.

 

Kaplan Johannes hatte auf der Straße ein paar tiefrote Nelken gekauft und sie in Tetas Hofzimmerchen stellen lassen, das sie allein bewohnen durfte. Es war noch heller Tag. Sie aber lag in ihrer Erschöpfung auf dem Bett und starrte unaufhörlich die brennenden Nelken in der schmalen Vase an. Niemals ihr Lebtag hatte jemand Teta Blumen geschenkt. In Grafenegg war sie oft in den Wald gegangen, um Seidelbast zu pflücken, Knabenkraut, Zyklamen und hochstengligen Enzian, jedes zu seiner Zeit. So hatte sie immer mit eigener Hand dafür gesorgt, daß ihre eifersüchtig versperrte Kammer mit frischen Blumen geschmückt war. Daß aber ein anderer Mensch, ein junger Mann noch dazu, ja ein geweihter Priester sogar, eigens hinging und ihr schöne Nelken kaufte wie einer gnä' Herrschaft, das ließ sich so schnell und so leicht nicht fassen.

So war's trotz aller Müh und Schmerzen heut doch ein großer, ein erfüllter Tag gewesen, dachte Teta hochatmend auf ihrem Lager. Und sie freute sich aus ganzer Seele auf die nächsten Tage, es waren ja noch volle elf, und sie trug keine Sorge, daß ihre Beine standhalten würden. Was immer sie aber auch dachte, der Kaplan Seydel wollte nicht aus ihrem Sinn weichen. Der Raum um sie war ausgefüllt von seinem guten Lachen, seiner jungen Kraft, die mit Reisekoffern Ball spielte und sie, eine Zusammenbrechende, wiedererweckt und die längsten Wege spielend geleitet hatte. Was durfte sie nur tun, um sich ihm angenehm, liebreich und dankbar zu erweisen? Ihre fieberhafte Phantasie kreiste unablässig um diese schwierige Frage. Sie fand stets nur dieselbe Antwort, die freilich mehr den eigenen Wünschen diente als der Dankerstattung. Könnte sie doch sorgen für diesen Geweihten, sein Mahl bereiten, seine Wohnung hüten, seine Wäsche ausbessern und sich dieser stummen, unbemerkten Tätigkeit ganz hingeben! Es war die reinste Narretei. Der Hochwürdige brauchte nicht ihresgleichen. Er besaß eine sorgliche Schwester, eine gnädige Dame, die hatte ihn aufgezogen und studieren lassen wie sie den Neffen Mojmir Linek. Gott aber hatte das Fräulein Seydel in ihrem Bruder gesegnet und Teta in ihrem Neffen verflucht. An diesem furchtbaren Urteil ließ sich nicht mehr rütteln! Und dann, jene Schwester, die auf den schönen Namen Iren hörte, war erst fünfundvierzig, stand also im kräftigsten Alter, während sie, Teta, schon siebzig vorüber war und daher am Rand des Grabes.

Im Sturze all dieser verwegenen Träumereien überflutete sie jäh ein schreckhaftes Erstaunen. Sie glaubte plötzlich zu verstehen, was sich doch gar nicht verstehen ließ. Das war kein Zufall. Der Herrgott hatte ihr zuerst den Schilling vor der Kirchentür hingeworfen. Als sie nichts merkte, hatte der Herrgott sie selbst vor der Kirchentür hingeworfen. Warum? Nur damit sie die Ankündigung der Pilgerfahrt lese. Nur damit er sie auf diesen Weg führe. Nur damit sie nach dem Unwirklichen und nach dem Wirklichen dem einzig Richtigen begegne, ihm, der kein Verklärter auf einer Fotografie war und kein lumpiger Spitzbube und Gottfopper, sondern heilig und lustig zugleich. Es war nicht auszudenken, dieses Wunder. Aber was sollte sie mit dem Wunder anfangen? Eine liebliche Schwester war da, das gnä' Fräulein Iren, eine Gesegnete, und sie besaß den unteilbaren Anspruch auf den vollen Lohn. Ihr seliges Plätzchen auf Erden und in der himmlischen Stadt war beneidenswert gesichert und zugerüstet. Hatte der Herrgott Teta mit dem einzig Richtigen nur zusammengeführt, um ihr grausam zu zeigen, was verloren und vertan war durch ihre eigene verzwickte Mitschuld an dem Betrug des Neffen?

Es muß aber gesagt werden, daß diese theologischen Grübeleien Teta heute weit weniger bewegten als sonst. Sie konnte und konnte sich Johannes Seydels nicht erwehren, dessen Gesicht, dessen Stimme, dessen Lachen sie in bestürzenden Annäherungen unaufhörlich umgaukelte. Da ertappte sie sich plötzlich auf einem furchtbaren Gedanken, den man um der ewigen Seligkeit willen niemandem hätte beichten dürfen. Und dieser verbotene Gedanke wurde zum noch verboteneren Wort, das sie mehrmals ausstieß, ohne es zu wissen:

»Tät' er nur mir gehören, er, tät' er nur mir gehören!«

Dir gehören? Als was? Als Bruder? – Ja, als Bruder! – Dazu bist du zu alt, zu uralt, du dumme Mittagshexe! Dann sollte er mein Sohn sein und ich seine Mutter! – Du eine Mutter? Lachst du nicht selbst? Was hilft das Lachen? Tät' er nur mir gehören! Bellinis Madonna huschte vorbei. Teta aber wandte sich von den Nelken ab und drehte ihr schamrotes Gesicht zur Wand.


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