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5. Der letzte Brief

Ohne sich umzublicken, tritt Teta aus dem Haus. Sie bleibt aufatmend stehen. Es ist am zweiten März 1937 noch recht kalt, aber die herben Würzen des Vorfrühlings liegen schon in der Luft. Nirgends riecht der Vorfrühling energischer als in dieser dem Alpenvorland benachbarten Stadt. Ihr wohlversperrtes Gepäck hat Teta vorausgesandt zu ihrer Schwester, der Witwe des Herrn Oberrevidenten bei der privilegierten Südbahn, Zikan. Unter diesem Gepäck befindet sich auch die Zither, an der ihr Herz hängt. Nur das Heiligenbild hat sie dem Dienstmann nicht anvertraut und selbstverständlich auch nicht die Jugendfotografie des geweihten Neffen, die sie bei sich trägt. Ihr altersmürbes Täschchen drückt sie gegen die Brust. Darin liegt in versiegelten Briefumschlägen ihr ganzer Schatz, bar und wahr, in wohlaufgerundeter Summe. Seit Jahren schon hatte Teta den staatlichen und städtischen Sparkassen ihr Vertrauen entzogen. Sie erwies sich darin weiser als die größten Finanzmänner, indem sie ihren nur durch ein kleines Schloß versperrbaren Strohkoffer für zuverlässiger hielt als sämtliche stahlgepanzerten Banktresore, die sich nur geheimen Losungsworten und Zauberschlüsseln öffnen. Mit der wohlaufgerundeten Summe aber hatte es folgende Bewandtnis. Gestern war Teta zu Leopold Argan gerufen worden. Er hatte ihre beiden Hände ergriffen, sie Platz zu nehmen geheißen und also zu ihr gesprochen:

»Liebes Fräul'n Linek – nur die Krankheit meiner Tochter ist schuld daran, daß wir jetzt auseinandergehen müssen; wir wären sonst lange Jahre noch beieinander geblieben, mein' ich, wie sehr werd' ich Ihre gute Küche entbehren. – Erzählen Sie mir jetzt, was Sie vorhaben. Wollen Sie wieder in Stellung gehen? – Haben Sie sich schon umgeschaut?«

»Die Füß', gnä' Herr Baron«, klagte Teta, »mit die Füß' wird's halt immer mehr ein Kreuz.«

Leopold Argan nickte verständnisvoll vor sich hin:

»Jaja, jeder Beruf hat sein Spezialleiden, Fräul'n Linek. Bei uns Beamten ist es die Unbeweglichkeit, bei Ihnen ist es die viele Bewegung. Sie sollten aber Ihre Krampfadern unbedingt von einem Arzt anschauen lassen. Und dann, man sieht's Ihnen zwar nicht an, aber Sie sind doch schon siebzig, nicht wahr?«

Was ihr Alter betrifft, war Teta heikel wie jede Frau:

»Mit gnädiger Erlaubnis noch nicht, bitte«, stellte sie fest. »Aber auf diese Ostern werd' ich siebzig mit Gottes Hilfe.«

Herr Argan lächelte tröstlich, als sei das eine erwünschte Ziffer, und man könnte sich nichts Besseres wünschen.

»Aber da könnten Sie wirklich schon in den Ruhestand treten, Fräul'n Linek, nach so langen Dienstjahren. Bei uns allein sind Sie über zwanzig Jahre gewesen, glückliche Jahre, und wir und die Kinder ... Die Kinder haben mit Ihnen gelebt eine ganze liebe Ewigkeit lang. – Hören Sie jetzt gut zu: Sie haben Anspruch auf volle Pension, die ich Ihnen am Ersten jeden Monats auszahlen will. Hoffentlich werd' ich dazu imstande sein immer.«

Teta hielt den Kopf gesenkt, ohne ein Wort zu sagen.

»Aber es gibt noch eine andere Form«, fuhr Herr Argan fort, »und vielleicht wird diese Form Ihnen lieber sein. Ich bin bereit, eine Abfindung zu zahlen, eine große Summe, sagen wir zehntausend. Es wäre das ungefähr Ihr Lohn für sieben Jahre. Sie werden hoffentlich viel, viel länger leben, liebe Linek, aber ein großer Betrag, bar auf die Hand gezahlt, das hat schon seine Vorteile. Man kann ja nicht wissen, was mit uns allen und was mit Österreich geschieht.«

Teta hob den Blick ihrer Vergißmeinnichtaugen nicht. Sie verriet damit erstens die gebührende Demut der Magd. Und zweitens verriet sie dadurch nicht den ungebührenden Kampf ihrer Gedanken.

»Bitte entscheiden Sie selbst«, sagte Leopold Argan nach einer Weile.

Teta aber neigte den Kopf über ihren Schoß und flüsterte schamhaft: »Ich möcht' bei der gnä' Herrschaft bittlich sein um die Abfindung.«

Sie hatte die beiden Anerbieten ihres verflossenen Brotherrn raschen Verstandes überschlagen. Die von ihm so offen geäußerten Gründe kamen ihren eigenen Wünschen und Zweifeln entgegen. Zehntausend bar auf die Hand – das war ein bestürzendes Wonnegefühl, dem man auch dann nicht leicht entsagen konnte, wäre die lebenslange Pension voll gesichert gewesen. – Aber war irgend etwas voll gesichert in diesen schlimmen, so schwer begreiflichen Zeiten? Und hatte die gnä' Herrschaft nicht selbst ihre dauernde Zahlungsfähigkeit in lauten Zweifel gezogen? »Hoffentlich werd' ich immer imstand sein dazu.« Die gnä' Herrschaft – hochgute Menschen, wie Teta bei jeder Gelegenheit betonte – hatten das Geld an Undankbare und Aufsässige verschwendet, wie zum Beispiel an die Familie Bichler, hatten die Hausbücheln niemals genau auf den Groschen geprüft und dem wirklichen Marktpreis der Waren keineswegs fleißig nachgeforscht. Trotz des aus solcher Unachtsamkeit geschöpften Vorteils hatte Teta diesen Leichtsinn immer mißbilligt in ihrem Herzen. Ein gutes Ende konnte das nicht nehmen, zumal der verstimmte Himmel schon diesseits ein schreckliches Strafgericht ins Werk zu setzen begann. Es war daher klüger, sich auf einmal zurückzuziehen und nicht weiter von Leuten abzuhängen, die sichtbar in einem göttlichen Prozeßverfahren standen. Während Teta all diese so bemerkenswert unsentimentalen Erwägungen anstellte, konnte sie es doch nicht verhindern, daß ihr Tränen in die Augen kamen und beim Gedanken an Philipp und Doris ein kurzes Schluchzen aus der Kehle drang. Sie fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über das Gesicht.

Auch Herr Argan hielt merkwürdig lange den Kopf gesenkt, ehe er aus seiner Schreibtischlade ein starkes Bündel von Banknoten hervorzog, lauter Hunderter, und sie in zehn Häuflein vor Teta hinzählte.

»Wollen Sie nicht nachrechnen, Fräul'n Linek«, forderte er seine Magd auf. Sie aber schüttelte heftig den Kopf, griff mit zitternden Fingern nach dem Schatz und ließ ihn in die beiden breiten Taschen der Schürze verschwinden, wie sie's auch immer mit den kleinen Trinkgeldern zu tun pflegte. Dann machte sie ihren allerbesten Knicks, küßte Herrn Argan die Hand, versprach, die gnä' Herrschaft und Fräulein Doris recht oft besuchen zu wollen, und empfahl sich. In ihrer Kammer aber zählte sie das Geld nicht einmal, sondern fünfmal nach, wobei ihre Hände nicht weniger zitterten als vorhin. Dann aber kam der große Augenblick, wo sie die Abfindung mit ihren Ersparnissen vereinigte. Und siehe, es waren zusammen mehr als zwanzigtausend, und die harte Arbeit hatte sich gelohnt, und sie war kein armer Dienstbote mehr, sondern ein vermögliches Weib, nicht nur aller Sorgen ledig, sondern auch noch im Besitze eines Erbschatzes, den sie nach freiem Ermessen hinterlassen konnte. Da setzte sich Teta bei versperrter Tür auf ihr Bett mit der buntgestickten Decke, hielt all das viele Geld in ihrem Schoß und genoß von ganzer Seele den erworbenen Reichtum, der ihr übers zeitliche Genügen hinaus zum bleibenden Auskommen verhelfen sollte. Es war ein Augenblick der tiefsten Befriedigung, desgleichen sie auch im Himmel kein viel größerer erwarten konnte. Nur ging er hier vorüber. Drüben aber würde er dauernd sein. Dies verkündeten die Geweihten, und sie hatten es studiert.

Jetzt aber, genau einen Tag nach diesem großen Augenblick, steht Teta mit ihrem helläugigen Tatarengesicht tapfer im Stadtgedränge und wartet auf die Straßenbahn, die sie ans entlegene Ende der Ottakringer Hauptstraße bringen soll. Unter ihrem linken Arm hält sie das sauber eingeschlagene Heiligenbild. Mit ihrer Rechten aber preßt sie das abgegriffene Täschchen an sich, eines der ältesten Weihnachtsgeschenke Livias. Sie fürchtet, irgendein »böser Mensch« könne es ihr entreißen. Darin aber verwahrte sie nicht nur ihren irdischen Schatz, sondern auch ihr überirdisches Kontokorrent, die vielen Briefe des hochwürdigen Neffen, diese gesammelten Ausweise über ihre pünktlich geleisteten Vorzahlungen für die künftige Wohnstatt der Seligkeit.

 

Tetas Schwester, die Witwe des Herrn Oberrevidenten bei der Südbahn, hieß Katherina und wurde Kati genannt. Sie war keine gewöhnliche, sondern eine höchst bewährte Witwe, indem sie nämlich diese Eigenschaft dreimal durch das Ableben des jeweiligen Gatten erworben hatte. Der erste, ein sehr viel älterer Mann, hatte sie vor undenklichen Zeiten als ein stattlicher Fünfziger allein gelassen; der zweite, ihr in den Jahren besser angepaßt, war knapp nach Vollendung des fünfzigsten ihr entrissen worden, während Herr Oberrevident Zikan, der ihr Sohn hätte sein können, es nur bis auf achtundvierzig hatte bringen dürfen. Alle drei Ehegatten Katis waren demnach auf denselben Gedanken verfallen, sich nämlich an der Schicksalswende des männlichen Lebens lieber aus dem Staube zu machen.

Nach den ersten beiden Verlusten war Kati immer wieder in Dienst gegangen, nicht als erstklassige Köchin bei erstklassigen gnä' Herrschaften wie ihre angesehene Schwester, sondern als Bedienerin oder als »Mädchen für alles«, und zwar ausschließlich bei ihresgleichen, das heißt bei alleinstehenden Witwen höheren Jahrgangs. Katherina nämlich bewährte sich nicht nur im Überleben der ihr angetrauten Ehemänner, sondern im Überleben schlechthin. Man konnte sie mit Fug und Recht eine routinierte Erbin nennen. Als tüchtiges »Mädchen für alles«, als schwatzhaftige Zubringerin und Zeitvertreiberin hatte sie es verstanden, zwei ihrer alleinstehenden Witwen so mächtig in ihren Bann zu schlagen, daß diese auf dem Totenbette die treue Hauskraft, Pflegerin und interessante Zunge letztwillig bedacht hatten. Kati hatte mithin in ihrem einundsechzigjährigen Leben eine fünffache Erbschaft gesammelt. Diese bestand zuvörderst aus der kleinen Pension des Herrn Oberrevidenten und dessen ansehnlicher Wohnung (zwei Zimmer, Kabinett und Küche), ferner aus dem Hausrat dieser sowie der früheren Ehen und schließlich aus einer Unzahl von Geschirr, von rosa und himmelblau bemalten Porzellantassen, von goldgerahmten Farbdrucken, Nippessächelchen aller Art, von Sofadecken, Schlummerrollen, Ührchen, Figürchen und herrlichem Tande sonst, die sämtlich aus der Hinterlassenschaft der betreuten Witwenschaftskolleginnen stammten. Es gab in der Stadt keine zweite Wohnung, die so voll von »Einrichtung« war wie die der Frau Oberrevident. Sie versinnbildlichte mit schnörkelreicher Üppigkeit den Aufstieg der Hustopecer Armut in die bürgerliche Sphäre der Metropole. Selbst die Küchenwände waren gepflastert mit erhebenden Bildwerken, als da sind Dantes Begegnung mit Beatrice auf der Arnobrücke oder der Mohr Othello, wie er seine semmelblonde Desdemona unter einem venezianischen Vollmond auf dem Balkon umarmt.

Die zungenfertigen Nachbarinnen der Zikan in dem großen alten Hause Nummer 315, Ottakringer Hauptstraße, zerbrachen sich vielfach den Kopf darüber, wer einst diese getreulich zusammengeerbte Einrichtung selbst erben würde. Kati Zikan nämlich war kinderlos geblieben. Ihre Ehemänner, schwächlich und kränkelnd insgesamt, zumal der Herr Oberrevident, hatten es alle drei nicht vermocht, sich und ihrer präsumtiven Witwe einen Leibeserben zu zeugen. Diese ließ keinen Zweifel darüber obwalten, daß nicht sie an dem bedauerlichen Umstand die Schuld trage, sondern der allfällig männliche Teil. Der erste war ein rheumatischer Greis gewesen. Der zweite hatte seine Mußezeit und Kraft dem heurigen Weine verschrieben. Und was schließlich den Oberrevidenten der Südbahn anbetrifft, so hatte sie sich seinerzeit des einsam lungenleidenden Männchens erbarmt, weil ihn niemand sonst in seiner Leibesschwäche pflegte, weil er ihr so dankbar für jeden Griff war und weil sie nach ihren eigenen Worten an einem viel zu guten Herzen litt. Die Nachbarinnen waren längst schon zu dem Schlusse gelangt, daß niemand anderer die atemberaubende Einrichtung der Zikan erben werde als Mila, die Jüngste der Linekschwestern. Diese Mila war nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne auf den Kopf gefallen, und zwar als kleines Kind noch in Hustopec. Im Wachstum zurückgeblieben, mit einem Wasserkopf und einer gaumigen Sprachstörung behaftet, fuhr die Schwachsinnige als ein flinker, emsiger Krüppel in der Wohnung umher und arbeitete für zwei. Katherina Zikan behandelte sie sehr streng und betonte öfters, der Herr Oberrevident habe gesagt, Mila sei eigentlich ein »Fall« und gehöre nicht ins »soziale Leben«, sondern in die Obhut des Staates. Der Krüppel fand es ganz in Ordnung, daß er sich aus Gründen seiner bedenklichen Existenz doppelt plagen müsse, und verlor niemals die Willigkeit und gute Laune, die den geistesarmen Stiefkindern des Lebens gar oft eignen. Und Plage gab es genug, denn der großen Wohnung wegen hatte die Zikan zwei Zimmerherren in Untermiete genommen. Im übrigen ist es kaum anzunehmen, daß Milas kurzer Verstand jemals auf den vorkostenden Gedanken verfallen war, die Pracht dieser Einrichtung könnte einst ihr allein gehören. Ihr flößten all die Gebrechlichkeiten aus Porzellan, Glas, Gips, Alabaster stets nur die heftigste Furcht ein, denn ging dann und wann eines davon in Bruch, so herrschte Heulen und Zähneklappen im Hause. Doch auch die Zikan dachte niemals daran, daß sie nicht nur Erbin sei, sondern einmal als Erblasserin werde fungieren müssen. Die stämmige Witwe, altbewährt im Überleben anderer, kam gar nicht auf die Idee, daß sie selbst überlebt werden könnte. Ähnlich wie ihre Schwester Teta Linek wahrte auch die Frau Oberrevident in sich ein starkes Gefühl von der unanfechtbaren Fortdauer ihrer Persönlichkeit. Vielleicht hing dieses Gefühl insgeheim mit der Kinderlosigkeit zusammen oder umgekehrt die Kinderlosigkeit mit diesem Gefühl. Der Unterschied aber lag darin, daß Teta, von einem Strahl der Gnade berührt, dieses Gefühl der Kugelfestigkeit aufs Überirdische richtete, während Kati ohne jeden religiösen Schimmer sich im Ordinären zu verewigen gedachte. Dieser Unterschied beweist, daß die Entscheidung über den Menschen nicht durch Milieu und Erziehung getroffen wird. Ein und dieselbe Eigenschaft wird durch zwei Seelen ganz gegensätzlich entwickelt, auch unter denselben sozialen Bedingungen. Und jetzt muß klipp und klar die Wahrheit ausgeplaudert werden. Die Frau Oberrevident spekulierte mit großer Leidenschaft auf Tetas Erbe, von dem sie sich überschwengliche Vorstellungen machte. Die Schwester war um neun Jahre älter. Es lag daher in der Natur der Dinge, daß sie, Katherina, bei gebührender Umsicht über kurz oder lang in den Besitz jener geheimnisvollen Ersparnisse Tetas gelangen mußte. Hätte sie aber jemand gefragt: Was willst du noch, du hast drei Männer begraben, fünf Erbschaften gemacht, man nennt dich ungehobelten Dienstboten »Frau Oberrevident«, du beziehst eine Pension und besitzest deine sagenhafte Einrichtung – sie hätte nur höhnisch aufgelacht. Ihr ganzes Sinnen und Trachten kreiste um Tetas Spargut. Immer hatte sich die Schwester hochmütig zu ihr verhalten, den Verkehr auf wenige Zusammenkünfte im Jahr eingeschränkt und sich nicht einmal vor Katis schwindelerregendem Aufstieg in die Staatsbeamtenwelt gebeugt. Im Geiz hatte die ältere sogar die Jüngere weit übertroffen. Teta mußte jahraus, jahrein ihre Monatslöhnungen voll erübrigt haben, wenn nicht, ja – wenn nicht eine gewisse Gefahr ins Spiel gemischt war, über welche die Witwe trotz eifrigen Nachdenkens keine Klarheit gewinnen konnte. Sie schlief oft in der Nacht nicht, wenn sie an das Geld der Siebzigjährigen dachte, das doch nach der menschlichen Rechtsordnung ihr allein gehörte, denn Mila, als Ausgestoßene der Gesellschaft, kam nicht in Betracht. Sie hätte mit dem Reichtum – die Zahlen Siebzig- und Achtzigtausend schwindelten vor ihren Augen – nicht viel beginnen können, besaß sie doch nur die Bedürfnisse einer gealterten Dienstmagd und war an der Grenze des für sie Genießenswerten angelangt. Das gute Herz, an dem sie zu leiden vorgab, verursachte ihr keine Unkosten, und einen Seidenstrumpf, eine Flasche Wein oder eine teure Seife zu erwerben, wäre ihr gar nicht eingefallen. Ihr einziger Leichtsinn bestand im unermüdlichen Ankauf von Lotterielosen. Hat aber der wollüstige Traum von Mehrbesitz auch nur das Geringste mit dem sogenannten »vernünftigen Bedürfnis« zu tun? Er ist im Trieb zur Fortdauer einbeschlossen. Denn was ewig währen will, muß sich auch ewig mehren. So beweist Katherinas Gier gegen Darwin, daß der Kampf ums Dasein eine ungenügende Formel ist und ersetzt werden müßte durch den neuen Begriff: Kampf ums Mehrsein. Und er beweist ferner, daß Profitgier und Ausbeutungssucht nicht die Folgen einer veränderbaren sozialen Ursache sind, sondern eine unveränderbare Ursache selbst. Man wird nach alldem ermessen können, welch ein holder Schreck die Frau Oberrevident durchzuckte, als sie die unvermutete Nachricht empfing, Teta wolle für einige Zeit bei ihr Unterkunft suchen.

Nun war nach dreitägig strengem Reinemachen die staatsbeamtliche Wohnung geputzt, gefegt, gebohnt, daß die berühmte Einrichtung nur so blitzte. Mila, der »arme Trottel«, wie sie von der Schwester seufzend genannt zu werden pflegte, hatte wahrlich nicht zu lachen gehabt, drei Tage lang. Die Zikan stand bereits seit einer halben Stunde sehr erregt im Treppenhaus vor ihrer Tür, um Teta, die neue Beerbungskandidatin, mit festlichem Willkomm zu erwarten. Endlich kam die Ersehnte langsam, schwer atmend und immer wieder rastend, die unbequemen Stiegen empor. Katherina streckte ihr die knochigen Arme entgegen. Sie war größer und magerer als Teta, besaß aber ein ähnlich breites Gesicht, nur vergröbert und durch eine Warze auf der linken Wange entstellt. Die merkwürdig hellen und sehr schönen Augen der älteren hatte sie freilich nicht. Die ihrigen waren verwaschen, gerötet und blinzelten immerfort, als wollten sie damit ausdrücken: Alles was ich da sage, Herrschaften, ist nicht ganz ernst gemeint. Schon von weitem warf sie ihren Redeschwall wie ein Lasso nach Teta aus:

»Da bist du endlich, Tetilein, Tetitschko, Schwesterchen! – Also bringt uns das Leben doch zusammen einmal. – Immer in einer Stadt und sieht man sich nur Weihnachten und Ostern. (Oder nicht?) – Ich hab' das Meine gehabt und du das Deine. Das Meine aber war schwer, sehr schwer, Tetilein, eine Ledige wie du kann sich das gar nicht vorstellen. Drei Männer zu begraben und den Herrn Oberrevidenten sogar Erster Klasse mit zwei Wagen für die Hinterbliebenen, wie es sich gehört, und er war doch noch so jung, ein zarter Mann, fein und hochgebildet – aber angeschossen, ich hab's ja gewußt von Anfang an, das Herz hat's mir abgedrückt, und du hast ihn nicht genug gekannt, Schwesterchen, leider. – Reden wir nicht von solchen Traurigkeiten, ich brauch' halt immer jemanden, für den ich mich sorgen kann, da bin ich erst glücklich; deshalb war ich so froh, als du mir telefoniert hast, Tetilein, und einem der Zimmerherrn hab' ich gekündigt, und wir haben das schöne Zimmer hergerichtet – der arme Trottel und ich, und ich werd' dich nicht mehr fortlassen. – Mila, wo steckst du? – Nimm doch der Schwester das Paket ab und die Tasche und bring sofort den heißen Kaffee, bei Meinl hab' ich ihn gekauft, und die Nußkipfeln!«

Milas schwerer Graukopf wackelte in freudiger Sensationslust, und sie hüpfte wie ein Kind, während sie nach Tetas Sachen griff. Diese aber gab Heiligenbild und Täschchen nicht her, sondern hielt beides festumklammert und sagte ruhig:

»Jetzt um elf trink' ich keinen Kaffee, bin's nicht gewohnt, und ich dank' dir, Schwester, mit Erlaubnis, ein paar Täge werd' ich bei euch bleiben, eh' ich mich weiter umschaun tu.«

»Umschaun, umschaun!« klagte die Zikan auf. »Für wen willst du dich noch plagen in deinen Jahren? Und heißen Kaffee kann man trinken, jederzeit.«

Sie drängte sie in das große Zimmer, dessen eingeborener Moderduft von den Gerüchen des Bohnerwachses und der scharfen Politur überschrien wurde. Dazwischen roch es auch nach Insektenpulver. Der Tisch war weiß gedeckt. Teta mußte sich auf das plüschrote Kanapee niedersetzen, dessen Rückenlehne ein Aufsatz mit Zinnen und Türmchen schmückte, wodurch es einer Art von Burg glich. Von den Zinnen grüßten altdeutsche Zinnbecher, Humpen und ein bronzener Landsknecht, die stolzen Wahrzeichen der fünf Erbschaften. Die Zikan schenkte den Kaffee ein:

»Warum sagst du, nur ein paar Täge, Tetilein? Willst du mich unglücklich machen? – Ein alter Mensch braucht Pflege, und für die Pflege bin ich doch bekannt (oder nicht?). Die Oberschwester vom zweiten Stock sagt immer, eine bessere Pflegekraft als die Frau Oberrevident, das gibt es nicht, da kommt keine geprüfte nach. – Bist du zufrieden mit dem Zimmer?« Teta blinzelt nach dem breiten Bett hin, das dem Verstorbenen gehört hatte.

»Und wo wirst du schlafen, Schwester?« fragte sie.

Die Zikan lächelte mit heiliger Nachsicht:

»Ich? Darum sorg dich nicht. Mir macht's nichts aus. Ich leg' mir einen Strohsack in die Küche, zu dem armen Trottel.«

»Und hast du noch den andern Zimmerherrn in dem kleinen Kabinett?« forschte Teta nach einigem Überlegen.

»Weggeschickt hab' ich auch ihn, Schwester, gekündigt für den Ersten dieses Monats, damit du's weißt. – Das war keiner von den Soliden – Maria und Josef, nein! – alle drei Wochen hat er sich eine mitgebracht, so einen Schlampen, so einen Fetzen, da bekommt man Dinge zu hören durch die Wand, no, du würdest dich bedanken! – Kati, hab' ich zu mir gesagt, deine Schwester hat sich glücklicherweise bei dir angezeigt, die ältere und fromme, und sie ist doch eingeschriebenes Mitglied der Katholischen Jungfrauen, und du hast doch gelernt, was sich paßt und was sich nicht paßt, und du kannst doch die Teta dem Unsoliden mit seinen Flietschen nicht aussetzen, damit sie in der Nacht gestört wird am End durch das Gejuchze und das Geplätscher, und das paßt sich nicht, und da hab' ich ihm gekündigt mit vierzehn Tagen, und die Miete ist er mir auch noch schuldig inklusive Frühstück. – Es kost' mich sechzig bar, aber die Teta kennt mich und weiß, daß ich keine solche bin, und ich steh' nicht an auf das bissel Geld und hab' doch den armen Trottel durchgefüttert immer, und keins der Geschwister hat auch nur einen roten Heller zugelegt, wo doch der selige Herr Oberrevident immer gesagt hat, die Mila gehört nicht ins soziale Leben, sondern auf die öffentliche Fürsorge, und: ›Mein lieber Herr Oberrevident‹, hab' ich drauf gesagt zu meinem Seligen ›der arme Trottel ist mein Schwesterlein, und mein Schwesterlein schick' ich nicht fort aus dem sozialen Leben, und ich tu sie nicht in die städtische Fürsorge, in diese grauslichen Anstalten, solang ich selbst noch zwei Hände hab' zur Arbeit.‹«

Teta hatte das endlose Geschwätz mit halbgeschlossenen Augen über sich ergehen lassen. Von ihrer Kaffeetasse nippte sie nur zum Schein. Mila aber, als sie das wohlbekannte Lied hörte und die neuerliche Versicherung, sie werde nicht aus dem sozialen Leben gestoßen werden und dürfe weiter sich im Haus abrackern, lachte fröhlich und klatschte in die Hände. Die älteste schenkte ihr kaum einen Blick. Sie besaß, Burschl ausgenommen, keine Sympathie für Krüppel, Bresthafte, Narren und mißratene Geschöpfe Gottes. Nach einer Weile aber tat sie die Entscheidung kund, die sie im stillen getroffen hatte:

»Mit Erlaubnis, Schwester, möcht' ich das Kabinett bekommen zum Hinlegen.«

Die Frau Oberrevident gab große Bestürzung zu erkennen:

»Aber das schöne große Zimmer, Tetilein, und das hochherrschaftliche Bett mit prima Sprungfedermatratze, wo doch der Herr Oberrevident drin gestorben ist ...«

»Ich bin nicht gewöhnt an Hochherrschaftliches«, erklärte Teta bestimmt und erhob sich.

Das Kabinett mit seinem trüben Hoffenster glich genau den winzigen Mägdekammern ihrer Anfänge. Das Bett bestand aus einem wackligen Eisengestell mit plattgeschlafenen Matratzen drauf. Teta nickte befriedigt. Die zahlreichen Kunstwerke an der Wand hingegen prüfte sie mit sichtlicher Mißbilligung. Von einer Witwe, deren Gatte Turfspieler gewesen, hatte Katherina eine Menge hippologischer Stiche geerbt, die nun das Kabinett schmückten. Außerdem war noch eine Apfelschußszene aus Wilhelm Tell vorhanden und ein prächtig bewegter Stierkampf.

»Wenn ich bittlich sein darf, das muß alles weg«, befahl Teta. Nur ein einziges Bild fand Gnade vor ihren Augen. Es war eine tabakbraune Landschaft mit einem tintigen Alpensee und darüber ein Gletscherberg ohne Luft und Perspektive, der einem altbackenen Schokoladekrapfen glich, aus dem immerdar gelbliche Schlagsahne quoll.

»Das kann bleiben«, entschied Teta, und sie dachte vielleicht an Grafenegg, wo sie so viele Sommer verbracht hatte. Zu einer kleinen Verstimmung kam es erst des Kastens wegen.

»Wo ist der Schlüssel dazu«, erkundigte sich Teta.

Die Frau Oberrevident erklärte, und ihre Nase spitzte sich auffällig zu, daß die Zimmerherren bisher keine Schlüssel gefordert hätten. Und es hätte sich unter ihnen sogar ein hochansehnlicher Kriminalbeamter der Polizei befunden.

»Mit Erlaubnis, Schwester, aber ich muß einen Schlüssel haben«, erklärte Teta unberührt.

Die Zikan entschloß sich erst nach einer kleinen gefährlichen Pause zur Fügsamkeit: »Das ist, weil wir uns so wenig kennen, Tetilein«, verkündete sie mit friedfertiger Wehmut, »und weil wir uns nur immer Weihnachten und Ostern gesehen haben durch deine Schuld. – Aber für mich bist du wie eine Mutter. – Soll Mila sofort den Schlosser herholen?«

»Sie soll ihn holen«, entschied Teta mit vollkommener Ruhe. Dann wandte sie ihre klaren Augen der Schwester zu:

»Für das Kabinett zahl' ich dir natürlich den Preis der Zimmerherren, Schwester, und das Essen verrechnen wir.«

Da half kein Protest und keine Beschwörung der verzweifelten Frau Oberrevident, die ja nichts mehr wünschte, als daß Teta recht bald in ihre Schuld gerate.

 

In den nächsten Tagen geschah immer wieder dasselbe. Pünktlich um neun Uhr vor- und um vier Uhr nachmittags, zur Stunde, da der Briefträger die Haustreppen emporstieg, schlich sich Teta aus ihrem Kabinett in den Vorraum, um an der Wohnungstür etwaige Post eigenhändig in Empfang zu nehmen. Durch einen Spalt der Küchentür beobachtete die Zikan mit heftiger Neugier und wachsender Beunruhigung dieses regelmäßige und daher verdächtige Ereignis. Endlich beschloß sie, nicht länger zu warten und der heimlichen Gefahr offen die Stirn zu bieten. Sie baute ihren Plan auf zwei Schwächen Tetas auf, die ihr aus alter Zeit bekannt waren. Die eine bestand in der schmunzelnden Vorliebe der Schwester für ein Gläschen Schnaps, einen pieksüßen gar, verklärt durch Anis- oder Zimtgeschmack. Die zweite Schwäche Tetas aber hieß Musik. Wurde im Hause Argan gesungen und gespielt, hatte sie stets ihre Tür geöffnet, um von den rhythmischen Klängen erreicht zu werden. Dann ging im Takt das Nudelwalken oder Schneeschlagen viel besser von der Hand. Auch spielte in ihrer so unerschütterlichen Gewißheit vom Himmel die Musik eine wichtige Rolle. Sie war dort den Engeln anvertraut. Diese aber beschäftigten sich durchaus nicht nur mit erhabenem Kirchengesang, sondern bildeten auch zahlreiche Blaskapellen und vierstimmig gemischte Chöre weltlicher Art, die in den immergrünen Parkanlagen und luftigen Sälen der ewigen Pensionopolis von früh bis in die Nacht unaufhörliche Freikonzerte gaben. Katherina Zikan besaß aus der Erbschaft Nummer drei, das war ihr zweiter Gatte, ein etwas heiseres, aber sonst stattliches Grammophon. Der beständige Liebhaber des jungen Weins und der Schrammelmusik hatte es seinerzeit angeschafft und ein paar Schallplatten dazu, deren schönste das weitberühmte Lied zum besten gab:

»Fein, fein schmeckt uns der Wein,
Wenn man zwanzig ist, und auch die Liebe ...
Wenn man älter wird, wenn man kälter wird,
Schmeckt allein nur der Wein.«

Die Zikan legte diese Platte auf, nachdem sie eine Flasche Anisett für bare zwölf Schilling entkorkt und durch eine Zutat reinen Weingeistes verschärft hatte. Es war fünf Uhr und einiges drüber. Die sonntägliche Straße unten dehnte sich leer. Der karge Himmel im Fensterausschnitt rötete sich schon feierlich. Kati zog Teta ins große Zimmer:

»Nur herein in den Salon, Tetilein«, mahnte sie, »warum sollen sich zwei arme alte Weiber nicht einen hübschen Sonntag machen? (Oder nicht?) Ich hab' was vorbereitet für uns.«

Sie schenkte die Gläschen voll. Sie ließ die Nadel laufen. Der näselnde Tenor krähte. Und siehe, die unzugängliche Teta wiegte den Kopf hin und her und ließ ihren Blick freundlich durchs offene Fenster in den bescheidenen Abendhimmel schweifen. Zuerst berührte sie den Likör kostend mit der Zungenspitze, dann aber kippte sie das Gläschen auf einen Zug. Der weibliche Jago füllte sogar ein zweites nach. »Fein, fein schmeckt uns der Wein ...«, ging's von neuem los. Nach dem dritten Schnäpschen hielt Jago den Augenblick für gekommen:

»Hast du was Neues von unserem Neffen gehört?« fragte die Frau Oberrevident. Teta holte ihren Blick aus dem Himmel zurück und wurde sehr aufmerksam:

»Von welchem Neffen?« erkundigte sie sich leichthin.

»Willst du die Platte noch einmal hören, Tetilein – oder eine andere?«

Teta warf einen feindseligen Blick auf das Grammophon:

»Nein, ich hab' genug. Stell ab die Maschinerie!«

Während die Zikan diesen Befehl ausführte, sagte sie gleichgültig: »Ich mein' doch den Mojmir, den Buben von unserem Bruder Mojmir.«

»Was hab' ich mit dem Mojmir zu schaffen, dem Buben von unserem Bruder Mojmir?« knurrte Teta.

»Mich geht's ja nichts an, Schwesterlein«, lächelte die Frau Oberrevident gutmütig. »Aber ich hab' mir halt gedacht, du wirst etwas wissen von ihm. – Wer denn sonst?«

Teta wandte mit einem Ruck ihren Kopf der Schwester zu:

»Warum sagst du: ›Wer denn sonst?‹ – Warum ich?«

Katherina Zikan hielt die Flasche hoch.

»Noch ein halbes Stamperl, Tetilein? – Hast ja erst zwei gehabt. Und der Schnaps ist gut, ein echter Mikulasch, kost' zwanzig Schilling die Flasche und ist leicht wie für Kinder.«

»Ich hab' schon drei gehabt, Schwester«, sagte Teta, ohne mit der Wimper zu zucken. »Kannst mir aber noch ein viertes geben. Mir tut das nichts. – Warum aber hast du gesagt: ›Wer denn sonst?‹ – Warum ich?«

Katherina hielt Tetas Gläschen gegen das bereits nachlassende Licht und schenkte es vorsichtig mit dem wasserhellen Anisett bis zum Rande voll. Währenddessen meinte sie nachdenklich:

»Du hast mir ja selbst erzählt davon damals – ist schon schrecklich lang her. – Wie die Zeit vergeht!«

Tetas Stimme blieb sehr leise: »Was hab' ich dir erzählt? Und wann hab' ich dir erzählt, damals?«

»Aber erinnerst du dich nicht dran, Schwesterlein? Du hast ja erzählt damals, du läßt unseren Neffen zum Doktor ausbilden auf eigene Kosten, seinerzeit.«

Jetzt fuhr Teta auf, und ihre Augen waren fast schwarz.

»Ich erinnere mich ganz genau!« rief sie. »An alles erinnere ich mich ganz genau, da kann mich kein Mensch dumm machen! Nichts hab' ich dir erzählt damals, gar nichts!«

Der weibliche Jago erkannte, daß er nicht raffiniert genug vorgegangen war und sich eine bedenkliche Blöße gegeben hatte. Mit einer erbitterten Handbewegung lehnte Teta das fünfte Glas ab.

»Da muß ich mich rein geirrt haben, Tetilein«, seufzte die Frau Oberrevident, »ich hab' keinen so guten Kopf wie du. – Die Schwägerin wird's mir erzählt haben damals oder jemand anderer von unserer Familie. – Ich hab' grad meinen ersten genommen gehabt damals, du weißt noch, eine erstklassige Trauung in Meidling, und dann das Festessen beim ›Goldenen Hirschen‹ für zweiundzwanzig Personen, das Gedeck zu sieben fünfzig; er war wie ein Kavalier, kann man sagen, der Alois, nur dieser Rheumatismus, kein Glied hat er rühren können, und ich mußte ihn an- und ausziehen und ihn ins Bett heben wie ein Kind, und dann hat er dagelegen und hat gestöhnt, und ich war erst neunzehn – und was weiß so eine Ledige überhaupt ... Mich geht's ja nichts an, Tetilein, was kümmert's mich! Ich hab' mich halt nur gefreut, weil es so schön ist von dir.«

Kati schneuzte sich verräterisch und empfindsam. Teta aber saß zurückgelehnt mit halbgeschlossenen Augen. Sie überlegte scharf, wie weit sie gehen dürfe, um einerseits nicht unglaubwürdig zu erscheinen, andererseits ein für allemal dem Spitzelwesen der Zikan zu steuern. Daß ihr geheimer Lebensplan, wenn auch in ungenauer Form (Doktor), zur Kenntnis der Schwester gelangt war, bereitete ihr die widrigsten Gefühle:

»Daß du's weißt«, sagte sie grimmig, und ihre Augen waren noch immer schwarz, »es ist wahr, ich hab' diesem Mojmir die Schulen bezahlt und das Leben in Olmütz und auch später. – Das aber hat dir die Schwägerin nicht erzählt, daß es ein Kreuz war, daß der Bub nicht hat gut getan und daß es mich nur gekostet und gekostet hat, und daß ich bei der gnä' Herrschaft hab' müssen um Vorschüsse bittlich sein und daß ich mir nichts konnt' ersparen mein ganzes Leben!«

Teta bewegte sich unruhig auf ihrem Sessel und wischte die Stirn:

»Wenn wir miteinand wollen gut sein, Schwester, red nicht mehr davon, mit mir nicht und mit anderen Leuten auch nicht. Ich will und will nichts mehr hören von diesem Neffen Mojmir! – Jetzt weißt du's!«

Katherina Zikan nickte voll Entrüstung, Mitgefühl und Einverständnis: »Und ich dumme Gans«, seufzte sie schwermütig, »hab' immer geglaubt, du wartest auf einen Brief von unserem Neffen Mojmir!«

Teta warf ihr einen kurzen scharfen Blick zu, ungewiß, ob ihre verschwommene Darstellung die gefährliche Schwester überzeugt habe oder nicht.

»Ich wart' auf keinen Brief«, knurrte sie wegwerfend, »ich wart auf ein Paket, das mir die Herrschaft nachschicken wird – Sachen, die ich hab' vergessen auf dem Land in Grafenegg.«

Nach diesem unentschiedenen Kampf, der sie in starke Erregung gestürzt hatte, kehrte in den nächsten Tagen Teta stets erst nach neun Uhr von der Morgenmesse heim und ging knapp vor vier Uhr »ein bissel spazieren«, wie sie sagte. Es geschah aber des Briefträgers wegen, den sie ohne Zeugen vor dem Haustor abpassen wollte. So gelangte sie, es war an einem Freitag, in den Besitz des erwarteten Briefes. Sie las ihn in einer nahen städtischen Gartenanlage, wo sie mit mächtigem Herzklopfen auf einer Bank saß.

 

»Dies ist, so will ich hoffen«, schrieb der hochwürdige Mojmir, »der letzte Brief, den ich an Sie schreiben muß, liebes Tantchen. Bitte nehmen Sie, ehe Sie weiterlesen, den Umschlag zur Hand und studieren Sie genau den Poststempel. Darauf werden Sie einen Namen entziffern, der Ihnen von Kindesbeinen vertraut klingen mag: Klobouky! Ja, in dem Kreisstädtchen Klobouky, ein kleines Wegstündlein von Hustopec entfernt, werfe ich diesen Brief in den Kasten. Geschrieben aber habe ich ihn in unsrem Hustopec, als ich im Wirtshaus zu Mittag aß. Sie werden es verstehen, daß ich die Einladung meines derzeit noch amtierenden Vorgängers nicht angenommen habe. Man kann doch einen achtzigjährigen Herrn, der sich übrigens sehr schwer von seiner Herde trennt, nicht auch noch beim Essen überfallen. Ich habe mit Absicht seit meinem letzten Schreiben, in welchem ich Ihnen die plötzliche Verschiebung meiner Angelegenheit mitteilen mußte, eine längere Pause eingeschaltet. Es sind sehr schwere und sehr schmerzliche Zeiten, die hinter mir liegen. Sie hatten vollkommen recht, Tantchen, daß Sie die Überweisung des zur Herrichtung des Pfarrhauses nötigen Geldes an die Bedingung meines vollzogenen Amtsantrittes knüpften. Mein altes Pech hatte sich wieder eingemischt, die teuflische Mißgunst, die mich von jeher verfolgt. – Würden Sie es für möglich halten, daß ein so unbedeutender Gottesdiener wie ich die Feindschaft eines hochgestellten Herrn Kanonikus zu erdulden hat, eines elenden Priesters übrigens, der mit einem Schandweibe der sogenannten guten Gesellschaft im Konkubinat lebt? – Dies nur nebenbei. Nun aber, wie Sie aus Poststempel und Aufschrift meines Briefes ersehen, habe ich mein Amt in Hustopec so gut wie angetreten. Um ganz akkurat zu sein, ich werde es innerhalb der nächsten drei Wochen antreten, um dann schon die heiligen Ämter der Karwoche zu zelebrieren. Diese kleine Verzögerung versteht sich von selbst, der alte Herr hatte es so erbeten, und man kann einen ehrwürdigen Priester doch nicht auf die Straße werfen. Hingegen habe ich von ihm die Erlaubnis erwirkt, daß mit den notwendigsten Arbeiten schon jetzt begonnen werde. Maler und Anstreicher sind bereits am Werke. Ich mache Ihnen heute das Anerbieten, daß wir die Kosten für die Auffrischung unserer künftigen Wohnstätte zu gleichen Teilen tragen. Auf Ihren Teil würden nach dem beiliegenden Voranschlag in Eurem dortigen Gelde neunhundertsiebenundachtzig entfallen, was in böhmischem Gelde ungefähr fünftausend Kronen entspricht. Mein guter Freund hier, das heißt in Prag, Herr Architekt Karel Fasching, hat den Auftrag freundlichst übernommen. Er stellt den Umbau billiger her als jeder andere, zum reinen Selbstkostenpreis natürlich, aus alter Freundschaft. Sein genauer Voranschlag nebst Plan liegt bei. Ich selbst habe ihm meinen Anteil schon eingehändigt. Am praktischsten ist es, wenn Sie ihm den Ihrigen durch eine Bank anweisen. Gott, der Allmächtige, straft die Welt, und zwar die bürgerliche vor allem, durch die Devisenordnung in gewissen Ländern. Aber Sie, mein gescheites Tantchen, Sie kennen ja schon den Weg zur Bank, wo man ein paar Hunderter nach hierher ohne Schwierigkeiten senden kann. Das ist nur eine Anregung, weiter nichts. Nicht für meine schwachen Hände ist dieses Geld bestimmt, sondern für unser gemeinsames Leben. Ich will also gar nichts damit persönlich zu tun haben und möchte es nicht übernehmen. –

Ich schaue hinaus auf die alte Landstraße von Hustopec. Ich habe dem Wirt mein ländliches, aber recht schmackhaftes Mahl schon bezahlt. Bald wird in meine ermüdete Seele der Friede der weiten mährischen Ährenfelder einziehen und die Genügsamkeit eines einfachen gottgeweihten Lebens in Gemeinschaft mit meiner alten Wohltäterin und wahren Mutter. Ich eile zum Schluß, weil ich diesen Brief in Klobouky einwerfen will, damit er Sie mit dem Schnellzug früher erreicht. Ihm wird, will's Gott, kein nächster mehr folgen, er soll der letzte sein, und der treue Neffe, den Sie seit einunddreißig Jahren nur schriftlicherweise kennen, verwandelt sich bald in den wirklichen Pater Mojmir, der Sie segnet. Sollten Sie kein Lebenszeichen mehr erhalten, so wissen Sie, wo Sie ihn finden und wo er Sie früher oder später sehnsüchtig erwartet.« –

Immer wieder dasselbe war's mit Mojmirs Briefen. Viermal und fünfmal gelesen, behielten sie einen Teil ihres Sinnes stets noch zurück. Sie verwoben das Praktische mit dem Idealen auf schwindelerregende Weise. Sie waren zu hoch für Tetas armen Kopf. Gerade dadurch aber, daß sie zu hoch waren und die Empfängerin gleichsam unmerklich mit erhöhten, übten sie ihren seltsamen Schlangenzauber auf das »liebe Tantchen« aus. Schon der Anfang bereitete, was die Zeitfolge betrifft, unüberwindliche Schwierigkeiten. – Wie war das nur? – Der Neffe sitzt im Gasthaus zu Hostupec und wirft zu gleicher Zeit, wie er schreibt, den Brief in den Postkasten von Klobouky. – Wär' nur die Gnädige Argan bei der Hand, um diesen widerspruchsvollen Vorgang auszudeuten. Aber die Gnädige sitzt am Bett ihres todkranken Kindes, Tag und Nacht, und rührt sich nicht fort. Man kann sie nicht behelligen. Nach der sechsten Lesung jedoch erkannte Teta, daß der Brief sie von nagenden Zweifeln befreite und mit starker Freude erfüllte. Er war wirklich und wahrhaftig in Hustopec geschrieben und in Klobouky, dem Kreisstädtchen, auf die Post gegeben worden, das bewies ihr unwiderleglich der klare Stempel. Die Maler und Anstreicher waren am Werk. In sauberer Maschinschrift und auf imposantem Kanzleipapier lag der Voranschlag der Firma Karel Fasching bei, und in großen roten rundgeschriebenen Lettern prangte neben einer Stempelmarke zu zwei Kronen über dem Ganzen als Titel: »Umbau und Installation des Pfarrhauses zu Hustopec. – Für Seine Hochwürden, den Herrn Pfarrer Mojmir Linek Wohlgeboren.« – Hier stand es demnach schwarz auf weiß, oder besser rot auf weiß, und es war beinahe so gut wie jenes Zeugnis auf dem Amtspapier des erzbischöflichen Ordinariats zu Prag. Dazu kam noch die vertrauenerweckende Genauigkeit der einzelnen Posten in der Verrechnung, von denen jeder bis in die Heller ging. In dem proponierten Badezimmer war demgemäß sogar ein Bidet zum Preise von vierhundertachtunddreißig Kronen siebenundvierzig Heller angeführt. Nun wurde es Ernst! Teta steckte den »letzten Brief« zu den übrigen, mit einer himmelblauen Schleife zusammengebundenen, in ihr Täschchen. Leicht und fröhlich war ihr zumute. In den nächsten Tagen entschloß sie sich zu drei wichtigen Gängen. Der erste führte sie zur Prager Bank in der Herrengasse, die für die Überweisung kleiner, durch die Devisenordnung zugelassener Beträge zuständig war. Dort erfuhr sie, daß man nach Erledigung verschiedener Formalitäten bis zu fünfhundert Schilling in die Tschechoslowakei absenden dürfe. Sie füllte mit ihrer schiefen Kinderschrift alle möglichen Zettel aus und ließ an die Firma Karel Fasching, die in derselben Straße wie Mojmirs Wohnung lag, die erlaubte Summe abgehen.

Ihr zweiter Gang führte sie zu dem Arzt jener Krankenkasse, in welcher sie als Hausgehilfin eingetragen war. Diesen Gang mußte sie aber nach stundenlangem vergeblichem Warten mehrmals wiederholen, ehe sie endlich ins Ordinationszimmer vorgelassen wurde, denn grobe und egoistische Patienten drängten sich in dem schmalen Vorraum zu Dutzenden. Als sie endlich drankam, warf der verdrießliche Doktor einen flüchtigen Blick auf ihre Beine:

»Na, Frau«, stotterte er, »eingebildet müssen S' nicht sein auf Ihre Krampfadern.«

Teta bedeckte schnell wieder ihre Blöße und fragte untertänig: »Wird der gnä' Herr Doktor mir ein Rezept aufschreiben, wenn ich bittlich sein darf.«

Der Arzt saß schon am Schreibtisch und brummte ungeduldig:

»Ich werde Ihnen einen Dienstzettel mitgeben ans Allgemeine Krankenhaus. Diese Venen da müssen verödet werden. Dann habn S' Ihre Ruh.«

Teta blinzelte argwöhnisch zum Schreibtisch hin:

»Ist das eine Operation, wenn ich bittlich sein darf?«

Der Arzt suchte erbittert nach seiner Löschblattwiege:

»Ein ungefährlicher Eingriff«, knurrte er, als sei das Maß der einem Kassenpatienten zustehenden Zeit schon lang überschritten. »Ein paar Tage werden Sie einen Verband tragen müssen.«

Die Füllfeder knirschte böse seine Unterschrift. Teta aber wagte mit leiser Stimme noch eine Frage:

»Und ohne Eingriff, mit Erlaubnis, wie lang könnt' ich da noch meine Ruh haben?«

»Ich bin kein Prophet, sondern ein Kassenarzt!« herrschte sie der Doktor grimmig an und reichte ihr den Zettel. »Ich kann nicht wissen, ob Sie im Jahre 1940 eine Thrombose oder eine Lungenentzündung bekommen oder sonst etwas. – Der nächste bitte!«

Teta ging heiter davon. Sie dachte nicht daran, den Dienstzettel aufs Allgemeine Krankenhaus zu tragen. Der Doktor hatte die Zahl 1940 genannt. Bis dahin waren es noch drei lange Jahre. Die Jahreszahl hatte ihr Herz beruhigt und erfreut, obwohl ihre Beine sie oft nicht mehr schleppen wollten. Diese Reparatur, anders als das Pfarrhaus von Hustopec, hatte demnach einem fachmännischen Urteil gemäß noch ihre gute Zeit.

Der dritte Gang Tetas führte in ein Koffergeschäft. Sie erstand recht billig ein Suitecase aus Lederimitation. Sie wollte dem geweihten Neffen nicht mit unwürdigem Gepäck entgegentreten. Dieser Einkauf geschah am Tage nach Palmsonntag. Die Zikan schlug die Hände zusammen, als die Schwester mit dem funkelnagelneuen Stück in der Wohnung auftauchte:

»Aber Tetilein – wozu das? Maria und Josef!«

»Mit Erlaubnis verreise ich morgen auf ein paar Tage«, erklärte Teta trocken.

»Du verreist morgen?« schrie die Frau Oberrevident auf, und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer chinesischen Maske. »Was haben wir dir angetan, der arme Trottel und ich, daß du bös geworden bist auf uns? Warum behandelst du mich so, dein Schwesterlein?«

»Ihr habt mir gar nichts angetan«, versetzte Teta ruhig, »und ich behandle dich ja gar nicht so, sondern ich werd' zurück sein gleich nach Ostern.«

»Du wirst nicht zurückkommen«, plärrte die Zikan, und Tränen liefen ihr über die gelbliche Backe mit der behaarten Warze, und die Warze wurde feuerrot. »Du wirst verschwinden und nichts mehr hören lassen von dir, jetzt, wo du alt bist, und ich werd' nichts wissen von dir, und kein Mensch wird wissen, daß du meine Schwester warst.«

Diese höchst verräterischen Sätze schien Teta aber nicht zu durchschauen. Sie besänftigte freundlich die fünffache Erbin:

»Aber warum machst du solche Geschichten, Kati«, lächelte sie. »Wo ich doch nur für ein paar Tage fortgeh'. – Und früher hab' ich doch auch nicht bei dir gewohnt ...«

Die Zikan schnupfte mit tragischer Miene ihren Schmerz hoch und fragte schluchzend:

»Und wohin gehst von mir, Schwester, wohin?«

Teta log, ohne zu lügen:

»Aufs Land hierherum«, erklärte sie unbestimmt. »Und ich behalt' ja in Miete dein Kabinett. Und ich lass' alles bei dir, was ich hab', mein heiliges Bild, die schöne Bettdecke und die beiden Koffer, damit du siehst, daß ich wiederkomm' noch einmal.«

Diese Erklärung veränderte die Sachlage gründlich. Das schlechte Wetter verlor sich schnell aus Katis Zügen und machte einem fröhlich-wehmütigen Aprilhimmel Platz:

»Wenn du nur gesund wiederkommst und schnell, Tetilein«, leierte sie weinerlich, »weil ich mich doch so sehr um dich sorgen tu'; zwei Schwestern sind wir, und ich hab' mich schon gewöhnt an dich und, wenn's Gott gibt, will ich vor dir sterben, ich, die viel jüngere, denn ich hab's schon satt, immer hinter dem Leichenwagen daherzugehen, und drei teure Gräber liegen auf mir allein, und die muß ich pflegen, da kann sich keiner den Mund verbrennen, und Lichter zünd' ich an zu Allerseelen, dort und dort und dort, daß man nicht weiß, wo einem der Kopf steht. – Und für die Zeit, wo du fort bist hier auf dem Land herum, da nehm' ich keine Miete, das bitt' ich mir aus, und kannst hier lassen alles, was du hast, die beiden abgesperrten Koffer und was im abgesperrten Kasten drin ist, und ich werd' es bewachen und behüten wie meine Einrichtung, denn du bist mir wie eine Mutter.«

Noch vor dem Abschluß dieser geläufigen Zusicherungen verschwand Teta in ihrem Kabinett und drehte den Schlüssel um. Dann öffnete sie einen der Strohkoffer und entnahm ihm ihre allerbesten Sachen, zwei schwarze Seidenblusen und das aus dem jüngsten Weihnachtsgeschenk Livia Argans angefertigte Festkleid. All das kam in das neue Suitecase und ein paar Lavendelsträußchen dazu, wie sie in den Straßen feilgeboten werden. Auch ihren Schmuck vergaß Teta nicht, der aus einer silbernen Brosche, zwei Korallenketten und einem Türkisring bestand. Ihr Schatz aber blieb nach wie vor in dem kleinen Täschchen. Nachts lag er unter ihrem Kopfkissen. Tagsüber aber gab sie das Täschchen auch nicht für eine Minute aus der Hand. Sie hatte zwar schon gehört, daß man nur kleine Geldsummen über die Grenze mitnehmen dürfe, doch mit dem ganzen Mute ihrer Unschuld, was das gegenwärtige Leben anbetraf, machte sie sich keine weiteren Sorgen deswegen. Sie hatte auch recht. Welcher Zöllner würde im Täschchen eines alten Dienstboten derartige Reichtümer vermuten? Am frühen Morgen des Reisetages schlich sich Mila heimlich in Tetas Kabinett.

»Bring mir etwas vom Land mit, Tetilein, bring mir etwas mit«, flüsterte sie und wurde rot bis unter ihr Grauhaar wie eine Klatschrose. Vorsichtig fingerte Teta eine Zehnernote aus dem Täschchen und gab sie ihrer jüngsten Schwester.

»Was könnt' ich dir vom Land mitbringen? Hier gibt's doch mehr zu kaufen als auf dem Land. Kauf dir, was du willst, Schwester.«

Mit verzehrend erstauntem Blick betrachtete die Verkümmerte das Geld in ihrer Hand:

»Gehört das wirklich mir?« fragte sie andächtig.

»Das nächste Mal bekommst du wieder etwas«, verkündete stolz die Trinkgeldgeberin, in die sich Teta aus der früheren Trinkgeldempfängerin verwandelt hatte: »Aber sag nichts der Kati.«

Das Gesicht der Schwachsinnigen verfinsterte sich angestrengt:

»Nein, das geht nicht«, murmelte sie mit gaumigen Tönen sehr traurig, »der Frau Oberrevident muß man doch alles sagen, alles.« – Teta ließ sie sehr ärgerlich an:

»Bist du nicht alt genug, Dummkopf? Warum mußt du ihr alles sagen?«

Die Augen des armen Trottels hingen entsetzt an der Schwester: »Man darf nicht lügen«, entrang es sich stammelnd dem ungestalten Munde, »sonst wird man fortgeschickt aus dem sozialen Leben.«

Teta bekannte sich erzürnt zum Grundprinzip ihres Lebens:

»Geschwiegen ist noch nicht gelogen. Jeder hat das Recht dazu.« – Die Schwachsinnige aber schüttelte immer heftiger ihren schweren Kopf:

»Wer nicht alles sagt, kommt in die Fürsorge.«

Da wandelte ein kurzes scharfes Mitleid Teta an. Das erste Mal vielleicht seit längstverschollenen Tagen. Sie hatte sich bisher um den armen Trottel blutwenig gekümmert und seinen Zustand als Ratschluß Gottes hingenommen. Daß aber ein menschliches Wesen, und gar ihre eigene Schwester, nicht die Kraft besaß, ein kleines Geheimnis in sich zu verschließen, dieses Elend alles Elends erschütterte sie mehr als jede Krankheit.


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