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7. Ein Vater der Lüge

Teta bekam eine winzige Fremdenkammer im Hause der Ursulinerinnen zu Prag. Die Frau Oberin hatte sogar die Güte, ihr eine Audienz zu gewähren, in deren Verlauf sie nach den Geschäften der alten Dienstmagd in dieser Stadt fragte und sich freundlich erbot, ihr behilflich zu sein. Teta dankte in ihrer Art mit Knicks und gesenktem Blick. Ihre Angelegenheit sei rein privater und verwandtschaftlicher Natur. Sie werde daher die Hilfe der ehrwürdigen Frau Oberin nicht in Anspruch nehmen müssen. Während sie aber diese Ablehnung bescheiden heruntermurmelte, wußte sie ganz genau, wie sehr sie dadurch ihre Aufgabe sich erschwere. Innerhalb einer Stunde hätte die weißhaarige Klosterfrau – eine imposante Gnädige in Nonnentracht – feststellen können, ob sich in den verschiedenen Diözesen der Republik ein Seelsorger namens Mojmir Linek befinde und wo er zur Zeit seinen Dienst versehe. Dies aber war es ja gerade. Teta wollte nichts leidenschaftlicher vermeiden als eine Befassung geistlicher Stellen mit obenerwähnter heikler Frage. Man kann's ihr wahrlich nicht verdenken. Hatte der Neffe gegen die Kirche nicht weniger gefehlt als gegen seine Tante, so kam sie selbst in den Geruch, seine Mitverschworene, ja die Hehlerin eines schrecklichen Religionsfrevels zu sein. Wem sollte sie es weismachen können, daß eine arbeitsame Frau gutgläubig dreißig Jahre lang einen Gottesschwindler über Wasser hält, um sich ein glückhaft himmlisches Fortleben zu sichern? In den Augen der Strenggesinnten würde sie zweifellos eine Mitverworfene sein, bei den Mildgestimmten aber als die lächerlichste dumme Gans gelten, die es jemals in der Welt gegeben hat. Sie hatte demnach nur zu wählen zwischen naserümpfender Abscheu und prasselndem Hohngelächter. Wenn sie der schrecklichen Stunde im Pfarrhaus zu Hustopec gedachte, wurde sie jäh rot bis zu den Haarspitzen, und Schweißperlen traten ihr auf die Stirne. Sie verstand dann die Sinnesverwirrung selbst nicht mehr, die ihr den Mojmir Linek im Ottokar Janku vorgegaukelt hatte, wo doch Ottokar Janku offensichtlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mojmir Linek besaß, wenn sie ihre Erinnerung an den Knaben und die Fotografie des jungen Priesters in Betracht zog.

So ging nun Teta allmorgendlich zu früher Stunde aus dem Hause, um ihren Neffen zu suchen. Doch dieses ihr Suchen hatte auch jetzt noch einen widersinnigen und hinausschiebenden Charakter. Sie begann nämlich ihre Rundfrage bei den ältesten Adressen Mojmirs, in umgekehrter Reihenfolge also. Sie tat es vor allem, um die Priesterschaft Mojmirs bestätigt zu erhalten, wofür ihr die alten Wohnungen dienlicher erschienen, Gott weiß warum.

An ihrem Gehstock trippelte und watschelte sie bis zur Erschöpfung durch die langen Straßen der Hauptstadt. Die eingefleischte Sparsamkeit (wozu noch sparen?) erlaubte es ihr nur bei ganz entlegenen Strecken, die Straßenbahn oder einen Autobus zu benutzen. Oft war sie so müde, und die Beine brannten so höllisch, daß sie sich am liebsten mitten im Menschenstrom auf das Pflaster gesetzt hätte. Zugleich aber empfand sie eine sonderbare Befriedigung über diese Müdigkeit und diesen Schmerz, als beginne damit die Rückerstattung jener himmelhohen Schuldsumme, die der Neffe auch in ihrem Namen höchsten Ortes angehäuft hatte. Sie trat in viele Haustore ein, neue und alte, klopfte an bei Pförtnern oder Pförtnerinnen, stieg die Treppen in fünfte und sechste Stockwerke empor, suchte die Namen von Mojmirs ehemaligen Vermieterinnen, von denen sie keine mehr fand. Es war ein labyrinthischer Irrweg durch die verschollene Lebensgeschichte des Neffen, in der auch nicht eine einzige Station sich feststellen ließ. Teta läutete dennoch hier und dort an fremden Türen an. Niemand wußte etwas. Mit Herzklopfen überwand sie sich und betrat die Pfarrkanzlei der Kirche von Straschnitz, die in der Nähe der großen Friedhöfe liegt. Es war Mojmirs erste Stellung als junger Kooperator, und er hatte sich in gewissen Briefen über die vielen Totenämter und Grabreden sowie über seine Zurücksetzung durch die älteren Herren bitter beklagt. Mein Gott, bitter beklagt hatte er sich immer und überall und hatte nirgends einen Posten gefunden, ohne auf verbissene Feindschaft und ausgeklügelte Verschwörungen wider seine Person zu stoßen. In der Pfarrkanzlei von Straschnitz erhielt sie eine Antwort, die ihre schwankende Hoffnung wiederbelebte. Es sei sehr möglich, daß während der letzten zwanzig Jahre ein junger Priester dieses Namens an den hiesigen Altären und bei den Grablegungen eine Zeitlang gewirkt habe. Man müsse Nachforschungen darüber in den älteren Protokollen anstellen, die im Augenblick nicht zur Hand seien. Die Frau möge in zwei Tagen wiederkommen. Teta kam nicht wieder.

Ein öder Geburtstag, eine bittere Karwoche, ein schlimmes Osterfest gingen vorüber, ehe Teta tat, was sie hätte sofort tun sollen. Sie machte sich am Dienstag auf, um in einer Straße des äußeren Bezirkes Nusle das Haus aufzusuchen, von wo der vorletzte Brief des Neffen an sie gerichtet worden war. Es war im Gegensatz zu den ältlichen und tristen Mietskasernen, in denen sie bisher nachgeforscht hatte, ein ganz neues Haus, das die modernste Bauweise mit vorstädtischer Schäbigkeit in abstoßend frecher Art verband. Diese letztbekannte Wohnstätte des Sorgenneffen schien aus mehreren langen und schmalen Betonschachteln verwirrend durcheinandergeschoben zu sein. Hochmütig blitzte es von nacktem Metall und Glas. Am meisten aber störten Teta die Fenster, die nicht aufrecht standen, sondern schmale liegende Rechtecke bildeten, unaufrichtigen Schlitzaugen gleich. Konnte hinter solchen Fenstern ein Priester wohnen?

Der Pförtner war diesem Hause genau angemessen. Er glich nicht den hemdsärmligen, in Pantoffeln schlurfenden Hausmeistern ringsum, sondern war sportlich prall uniformiert und trug eine Art von amtlicher Kappe. Tetas scheue Frage beantwortete er mit knapper Strenge, ohne sie eines Blickes zu würdigen:

»Wer, die Lineks? – Zimmer, Küche, sechster Stock. – Gekündigt schon vor zwei Monaten. – Ausgezogen.«

Daß sich der einzählige Neffe im Munde des Portiers plötzlich in eine Mehrzahl verwandelt hatte, das war ein neuer Stoß gegen Tetas Brust, den das Bewußtsein nicht sofort verarbeiten konnte: »Wohin ausgezogen mit Erlaubnis?« fragte sie.

Eine Handbewegung des sportlich Gestrengen ins Leere:

»Kann ich nicht wissen. Vielleicht auf die andere Seite. Keine Adresse dagelassen. Werden wissen warum.«

Teta zog eine Münze hervor und drückte sie dem Hausmeister in die Hand. Die Hand schloß sich mechanisch um das Geldstück, der Mann aber schien's nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er wurde um keinen Strich freundlicher. Teta fragte schmeichlerisch:

»Könnt' ich von dem Herrn vielleicht doch die neue Wohnung erfahren? Es ist sehr wichtig, wenn ich bittlich sein darf.«

»Gehn Sie auf die Polizei«, riet der einsilbige Torhüter einer nicht weniger einsilbigen Wohnmaschine und kehrte sich ab. Auch dieses bedenkliche Wort »Polizei« bedeutete nur einen neuen dumpfen Schlag. Teta aber grübelte jetzt nicht länger nach, sondern eilte mit einem breit auseinandergezerrten Gesicht die Straße entlang, ein paar Häuser weiter, bis zu jener Hausnummer, wo sich, dem seinerzeit empfangenen Voranschlag gemäß, die Baufirma Karel Fasching befinden mußte. Dahin hatte sie vor wenigen Wochen bare fünf Hunderter durch die Wiener Bank anweisen lassen. In einem dunklen Hausflur holte sie ihre verbogene Stahlbrille hervor und las mit fieberhaftem Eifer die Tafel der Wohnparteien von vorn nach hinten und von oben bis unten. Keine Spur eines Architekten Karel Fasching. Da lehnte sie sich kraftlos an die Wand und überlegte, ob's nicht am besten sei, mit dem nächsten Zuge heimzufahren. Unübersteigbare Wälle lagen zwischen ihr und dem Neffen, und sie hatte bei der Errichtung dieser Wälle mit eigener Hand mitgeholfen. War's nicht an der Zeit, die Partie verloren zu geben und Gottes strenges Urteil geduldig abzuwarten? In ihrem Sinn klang das Wort Polizei auf. Sie wußte wohl, daß es bei der Polizei überall Adressenämter gibt, wo man den Aufenthaltsort jedes Stadtbürgers erfragen kann. Hatte aber der strenge Hausmeister einer kaltschnäuzigen Baulichkeit nicht die andere und gefährlichere Bedeutung des Wortes Polizei durchtönen lassen? Vielleicht war der Neffe mehr als nur ein Religionsfrevler, gegen den ein Verfahren bei der göttlichen Gerechtigkeit anhängig war. Vielleicht war er einer von jenen Leuten, für welche die Polizei ein warmes Interesse hegte, und sie, die verantwortliche Anverwandte, würde bei einer Nachfrage in die schlimme Geschichte mit verwickelt werden. Wer konnte angesichts solcher Möglichkeiten einen Gang auf die Polizei wagen? Wahrhaftig, es gab nichts anderes mehr als sich abfinden, verzichten, heimkehren, den großen Lebensplan fahrenlassen für immer. Auf der Straße konnte Teta kaum mehr vorwärts. Sie mietete das erste Mal in ihrem Leben ein Autotaxi. Dieser Leichtsinn war nicht nur das Sinnbild des Verzichtes, sondern durfte schon als ein Anzeichen der moralischen Auflösung gelten, die dem Zusammenbruch des Planes folgte.

Am nächsten Tage jedoch stand sie wieder in derselben Straße, sie wußte nicht warum. Diesmal aber fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie wunderte sich, wo sie gestern diese ihre scharfen Augen gehabt hatte. Mit goldenen Balkenlettern starrte Teta der Name »Karel Fasching« an, und zwar vom Ladenschild einer Spezerei- und Delikatessenhandlung, die sich in dem Hause befand, wo sie den gleichnamigen Baumeister gestern gesucht hatte. Zagenden Fußes trat sie in das Geschäft. Ein scharfes Glöckchen an der Tür bimmelte ihr warnend ins Ohr. Der Inhaber hatte ein winziges Schnurrbärtchen und einen gewaltigen Bauch, mit dem er den Ladentisch vor sich herzudrängen schien. Sein Bariton empfing die Kundin melodisch:

»Kompliment, Madame, wollen ein Nachtmahl kaufen? Ganz frischer Schinken, ich schneid' ihn an für die Dame. – Prachtvolles Osterwetter dieses Jahr, dafür wird's ein schlechter Mai werden. – Madame ist fremd in der Gegend?«

»Also vielleicht zehn Deka Schinken«, murmelte Teta verlegen.

Der Koloß wetzte zwei lange, schmale Messer aneinander.

»Bei mir gibt's keine Maschinen«, bekannte er, »alles Handarbeit bei mir. Ich mach's mit dem Gefühl, es schmeckt besser.«

Teta senkte ein wenig den Kopf, und ihre Stimme klang unsicher:

»Und der Herr ist der Herr Fasching selbst«, fragte sie leise.

Der Mann mit dem Bauch schnaufte tief:

»Zu dienen, Madame. Ich bin mein eigenes Personal. Allein geht's besser, das war immer meine Lebensanschauung.«

Teta lächelte zuvorkommend, als teile sie vollkommen diese Überzeugung:

»Aber in dem Haus hier wohnt noch der Herr Architekt Fasching, nicht wahr, ein Verwandter von dem Herrn Fasching, der Herr Bruder sicher?«

Herr Fasching hielt betroffen im Wetzen inne und erklärte sonor:

»Irrtum, die Dame. Ich steh' allein in der Welt, wie Sie mich hier sehen. Kein Weib, kein Kind, kein Bruder, keine Schwester, ein geprüfter Junggeselle. Nur einen Neffen zweiten Grades habe ich in Chikago, es ist der letzte Fasching in dieser Welt neben mir.«

Nach diesem Bekenntnis spitzte der Feinkosthändler seine wulstigen Lippen, als wolle er sich eins dazu pfeifen. Teta aber wandte den Kopf weg und flüsterte: »Also den Herrn Architekten Karel Fasching gibt's gar nicht hier im Haus?«

Fasching, der das Messer wie einen Cellobogen schwungvoll über den Schinken gleiten ließ, sah gestört auf.

»Was hat die Dame nur mit diesem Architekten Fasching? Steht er vielleicht im Traumbüchl?«

Teta hob darauf ihre Stimme und sagte mit abgehackten Silben: »Ich hab' mit Erlaubnis ein Geld geschickt an den Herrn Architekten Fasching – ich bin nämlich die Teta Linek aus Wien.«

Er unterbrach sie und legte das Messer hin:

»Also Sie sind das, meine liebe Dame, Sie sind das!«

Teta, ohne aufzublicken:

»Mein Neffe, der Mojmir Linek, hat mir geschrieben deswegen und hat mir den Plan und die Rechnung vom Herrn Architekten mitgeschickt, da bin ich halt auf die Bank gegangen in Wien wegen der Anzahlung von fünfhundert für die Reparaturen.«

»Wollen näher treten, Madame, wenn ich bitten darf«, schnaufte der Koloß und schob die kleine Teta mit seinem Bauch in einen schmalen Nebenraum, der bis zur Decke mit Weinflaschen und Konservenbüchsen angefüllt war. Es roch hier modrig nach Muskatnuß und Essig. Teta mußte auf einem Schemel Platz nehmen, während der laut atmende Mann wie ein Gebirge vor ihr aufwuchs:

»Also Sie sind es, meine Dame, Sie haben die Angelegenheit geregelt! Schau einmal an, die Tante des Herrn Neffen, und sie ist kein Schwindel, und sie lebt wirklich, und da hat er einmal nicht gelogen. – Wär' das Geld nicht gekommen, meiner Seel, am nächsten Tag hätt' ich die Strafverfolgung einleiten lassen. – Wegen betrügerischer Herauslockung oder so ...«

Teta sah mit zurückgelegtem Kopf zu Fasching auf wie ein Mensch, der sich zu nahe vor einem Turm befindet:

»Hat der Neffe seine Einkäufe bei dem Herrn Fasching nicht bezahlt«, fragte sie in Erinnerung an Markus Prossnitzers Auskunft. Herr Fasching aber lachte höhnisch amüsiert:

»Einkäufe, meine liebe Frau? – Davon würd' ich gar nicht reden. Ich hab' ein Herz für meine Kunden. Wieviel Hausfrauen der Gegend sind bei mir in der Kreide! Ich borg' die Ware aufs Büchl und lass' das Geld anstehen, ein Jahr lang, wenn's nötig ist. – Aber der Herr Neffe, meine Dame, das waren keine gewöhnlichen Schulden, das waren Herauslockungen, betrügerische Zusicherungen und so. Ich bin ein alleinstehender Mann, ohne Verwandtschaft, aber Ordnung muß sein und Ehrbarkeit muß sein, und blöd machen lass' ich mich nicht und am allerwenigsten von so einem Obergescheiten und Gebildeten, von so einem, der Butter genug auf seinem Kopf hat!«

Die letzten Worte klangen in Teta abscheulich nach. Noch immer den Kopf weit zurückgebogen, forschte sie kleinlaut:

»Und wofür, wenn ich bittlich sein darf, hat der Neffe das Geld vom Herrn Fasching bekommen?«

Das fette Gesicht Faschings nahm einen Ausdruck von lüsterner Empörung an. Wieder spitzten sich die wulstigen Lippen unter dem winzigen Schnurrbart. Seine Augen blinzelten, während er die Stimme senkte:

»Frau Linek, ich frag' Sie nicht, was das für eine Geschichte war mit dem Architekten, davon will ich nichts wissen, da will ich nicht hineinverwickelt werden. Aber fragen auch Sie mich nicht nach meinen Geschichten, wenn ich bitten darf, ich bin ein alleinstehender Mann, und jeder Mensch hat seine Schwächen und seine Anwandlungen. – Ihr Neffe hat geglaubt, er kann mit meinen Schwächen und Anwandlungen sein Spiel treiben, und ich bin ihm hereingefallen, nur einmal im Leben fällt ein Mann wie ich herein. – Reden wir nicht weiter über diese Zusicherungen und Herauslockungen, die vors Kriminal gehören.«

Fasching hatte wie ein Mann gesprochen, der aus Scham die zweideutigen Projekte mit Nacht bedeckt, denen er in einem sonst tadellosen Leben einmal aufgesessen ist, zugleich aber die schwülen Empfindungen nicht vollkommen verbergen kann, mit denen ihn der Gedanke an jene Zusicherungen erfüllt. Teta erhob sich.

»Und jetzt ist alles beglichen beim Herrn Fasching?« seufzte sie und ihr Gesicht war sehr rot.

»Ein kleiner Rest noch, meine Dame«, meinte er nachsichtig, »aber ich werd' Sie damit nicht behelligen, so bin ich nicht.«

»Vielleicht könnt ich auch noch das ...«, zögerte Teta, »wenn der Herr Fasching mir die Adresse vom Neffen verschafft ...«

Der Koloß zuckte die Achseln.

»Die leibliche Tante kennt die Adresse nicht, wie soll ich ... Diese Leute verrinnen wie Wasser im Kanal auf Nimmerwiedersehen. Und Prag ist eine große Stadt.«

Teta nahm sich zusammen, damit ihre Stimme recht harmlos klinge: »Der Herr Fasching kann's herausbekommen vielleicht. « – Der Dicke verpackte den Schinken behende in Ölpapier. »Ich werd' Ihnen was sagen, Madame Linek: Es ist wahr, ich seh' viele Leute, alle Welt kommt zum Fasching und nicht nur, um Rollmöpse zu kaufen. Ich werd' sehen, was ich für Sie tun kann. Schauen Sie morgen wieder zu mir herein.«

Teta erschien in den nächsten Tagen immer zu derselben Stunde in dem Laden. Sie hatte jede andere Nachforschung eingestellt. Das Geschäft war stets voll mit Kunden. Fasching winkte ihr jedesmal verneinend ab. Als sie aber am dritten Tag wiederkam, zog er sie trotz der zahlreichen Kundschaft in den Nebenraum.

»Was sagen Sie dazu, meine Liebe? Er war gestern hier bei Ladenschluß, er selbst höchstpersönlich, der Herr Neffe, und hat eine neue Herauslockung versucht. Hab' so gemacht, als interessier' ich mich dafür und ihm eine Kleinigkeit gegeben – auf ihr wertes Konto bitte. – Dann hab' ich ihn nach Haus begleitet, damit ich ganz sicher bin wegen der Adresse, denn mündlich trau' ich ihm nicht.«

Fasching reichte Teta ein Blättchen, auf dem Mojmirs Straße und Hausnummer sauber geschrieben stand. Sie aber erstattete ihm seine Anzahlung zurück.

 

Diese Gegend heißt mit Unrecht die »Neue Welt«. Sie liegt auf der Höhe des uralten Burgbezirkes jenseits des Flusses, eingebettet zwischen der sogenannten Brandstätte und dem ehemaligen Garnisonsgericht. In vergangenen Zeiten vermischte sich hier der Fliederduft des Frühlings mit den martialischen Gerüchen der nahen Kasernen, dem gärenden Arom des Kommißbrotes, des Lederzeugs und des Pferdemistes von der offenen Reitschule herüber. Diese »Neue Welt« hat einer neueren noch nicht Platz gemacht. Baufälliges Winkelwerk von Häusern drängt sich hier wie auf Abbruch. Versehentlich hat die weit ins Land hinauszielende Entwicklung der Stadt diesen Moder links liegenlassen, mit seinen schiefen Dächern, wurmstichigen Loggien, schmutzigen Höfchen und ausgetretenen Holzstiegen. Die »Neue Welt« hat die billigsten Mieten, denn man wohnt hier auch nur auf Abbruch und Widerruf, wiewohl auf historischem Boden. Das Prager Volk hat im Gegensatz zu den fremden Bewunderern seiner Stadt nicht allzuviel Sinn für Romantik. Es flieht die barocken Durchhäuser und Schwibbogen der altertümlichen Bezirke und zieht die weiten, lichten Vorstädte mit ihren ineinandergeschobenen Betonschachteln vor, von denen eine jüngst Tetas Mißbilligung erregte. In den unausgetrockneten Sümpfen der Vergangenheit wie in dieser »Neuen Welt« leben nur mehr düstere Kleinbürger von der geringfügigsten Sorte, ein paar närrische Sonderlinge oder Schiffbrüchige und Herabgekommene, die sich ein besseres Obdach nicht leisten können.

In einem dieser verwinkelten Häuser hat Teta soeben die mulmige Holztreppe erstiegen. Nun steht sie endlich vor der richtigen Tür. Nach Jahrzehnten. Durch eine Mattscheibe dringt schmutziges Licht in den Flur. Man kann aber auch ohne Brille ein kalligraphisches Meisterwerk lesen, das an die Tür genagelt ist:

»Redakteur M. Linek – Spezialist für Propaganda.« Und darunter in kleinerem Schriftgrad: »Hier werden Geburtstagsgedichte, Festreden, Prospekte, Offerten, Grabschriften aller Art in Auftrag genommen. – Astrologische Beratungsstelle. – Fotografische Vergrößerung von Familienbildern. – Juxartikel für fröhliche Geselligkeit.«

Teta liest mit großer Aufmerksamkeit und merkwürdiger Seelenruhe all diese Waren, die von der Firma M. Linek feilgeboten werden. So, und nun weiß sie alles. Bis zuletzt hat sie das Wunder mit zähem Glauben erwartet, der Neffe werde sich am Ende zwar als unwürdiger Priester, aber immerhin als Priester entpuppen. Die kindische Erwartung ist jetzt und für immer zerstört. Angesichts des Spezialisten für Propaganda, des astrologischen Beraters und des Verkäufers von Juxartikeln für fröhliche Geselligkeit glaubt sie nicht mehr an die vollzogene Weihe. Warum soll sie noch die Hand aufheben und den altertümlichen Glockenzug in Bewegung setzen? Was hat sie denn mit diesem Redakteur M. Linek zu schaffen, dem Sohn eines Trinkers und eines fremden Weibes? Ein gleichgültiger Bursche, den sie ein einziges Mal als Halbwüchsigen gesehen hat! Soll sie abrechnen mit ihm? Das ist es ja gerade. Es gibt keine Abrechnung über dreißig verschwendete Jahre. Worte und Vorwürfe erstatten nichts zurück, und der Gläubiger wird mehr von ihnen hergenommen als der Schuldner. Ins Einundsiebzigste geht sie seit Gründonnerstag. Wär's nicht hoch an der Zeit, zu retten, was zu retten ist? Könnte es nicht irgendwo noch eine Möglichkeit geben, für die letzte Stunde und das Nachherige, Endgültige vorzusorgen? Nur fort von hier! Und vergessen! – Vielleicht vergißt auch der Herrgott. Oder drückt ein Auge zu. Trotz dieser löblichen Regungen, die warnend ihren Geist durchzucken, vermöchte aber keine Macht der Welt Tetas Hand zurückzuhalten, die jetzt mit festem Griff die Glockenschnur erfaßt und energisch herabreißt. Hinter der Tür entsteht ein forderndes Läuten.

Nach einer kleinen Weile öffnet eine Frau. Es ist eine ziemlich junge Frau, noch keine Dreißig, nachlässig gekleidet, hinkt ein wenig. Trotz ihrer gar nicht häßlichen Züge sieht sie aus wie die fleischgewordene Bitterkeit. Ihre Hand läßt die Türklinke nicht los, als sei sie unwiderruflich willens, keinen Gläubiger oder Gerichtsvollzieher über die Schwelle zu lassen.

»Wünschen?« fragt sie mit scharfem Tonfall, der unruhig und drohend zugleich klingt.

»Mit Erlaubnis, ich möcht' den Herrn Linek besuchen«, sagt Teta ruhig und tritt kühn an ihr vorbei in den kleinen dunklen Vorraum. – Also das ist der andere Teil von »den Lineks«, denkt sie, diese arme Schlumpe, diese Hinkende, und vielleicht haben sie vier Kinder. Das Wort »Besuchen« hat die junge Frau sichtlich besänftigt. Sie reißt eine Tür auf und ruft unfreundlich: »Kundschaft?« Dann läßt sie Teta eintreten. Es ist ein niedriges, aber ziemlich langes Zimmer. Im Fenster, am anderen Ende des Zimmers, drängt sich eine schöne Aussicht zusammen, ein Gewirr altertümlicher Dächer und Giebel, von schwebenden Blütenkronen unterbrochen, und dahinter im bläulichen Gespensterreich die Kuppeln und Türme Mütterchen Prags wie Nebelbilder. Wenn's einem danach zumute wär', müßte man von dieser Aussicht sagen: »Aber das ist eine Pracht!« – Das Zimmer dagegen ist durchaus keine Pracht. Es hat beinahe gar keine »Einrichtung«, und die Frau scheint nicht einmal auf Sauberkeit Wert zu legen. Ein paar wacklige Holzstühle. An der rechten Längswand ein zerwühltes Bett, das jetzt, um elf Uhr vormittags, noch nicht gemacht ist. An der anderen Längswand zwei grobe Holztische, die mit dem Warenlager des Spezialisten für Propaganda bedeckt sind, mit kalligraphierten Inschriften, komischen Ansichtskarten in knallenden Farben, mit obszönen Bildchen, wie sie nachts in den Kaffeehäusern und billigen Lokalen vertrieben werden und mit jenen an der Tür erwähnten Juxartikeln für fröhliche Geselligkeit, als da sind Zigarren, die explodieren, Zigarettenschachteln, aus denen ein Teufelchen springt, Knallbonbons, magische Zündhölzer, Masken, Papierhüte und dergleichen mehr. Der Holzverschlag in einer Ecke deutet auf die fotografischen Vergrößerungen des Propagandisten hin, und dem brenzligen Geruch nach zu schließen auch auf pyrotechnische Arbeiten. Wahrscheinlich werden in der Dunkelkammer die explosiven Scherzartikel hergestellt. Aus der kleinen Küche daneben aber dringt schwallweise ein Geruch von schlechtem Fett ins Zimmer, der alles andere übertönt. Die verwöhnte Teta, eingedenk der blanken Küchen ihres Lebens, der eisfrischen Teebutter und des makellosen Schmalzes, mit dem zu arbeiten sie gewohnt war, kann sich einer leichten Übelkeit nicht erwehren. Doch auch die Armut hat sie noch nicht vergessen. Dies hier aber ist nicht eigentlich Armut, sondern etwas viel Gefährlicheres, Beängstigenderes, über das sie sich nicht klarwerden kann.

Die Frau schiebt ihr einen Stuhl hin. Dann trollt sie sich in die Küche, aus der auch durch die geschlossene Tür der Fettgestank weiter hervorströmt. Teta sitzt still da und betrachtet den breiten Rücken des Mannes, der an dem Tischchen vor der schönen Aussicht im Fenster in seine Schreibarbeit vertieft ist. Der Schwung bewährter Schönschrift kommt in diesem Rücken und dem geneigten Haupte voll zum Ausdruck. – Genauso hat er auch die Briefe an mich gemalt, überlegt Teta, diese vielen Briefe. Sie wundert sich gar nicht, daß der Kopf des Mannes nicht kahl ist, sondern mit dichtem braunem Haar bedeckt, das sich im Nacken ein wenig lockt. – Also nicht einmal die Glatze stimmt, denkt sie. Er schreibt mir, daß er den Fuß nachziehen muß, wegen des feuerländischen Insektenstichs. Diese Lüge ist ihm nur eingefallen, weil sie hinkt. – Warum, warum? Ich Gottverlassene!

Der schreibende Mann läßt, ohne sich umzudrehen, eine angenehme, ja schmeichelnde Stimme erlauten:

»Entschuldigen Sie bitte. Nur noch zwei Minuten, dann bin ich fertig. Ich kann das nicht unterbrechen, sonst verlier' ich den Faden.«

Er murmelt halb in der Arbeit vor sich hin und halb, um die Kundschaft zu beschäftigen:

»Eine persische Stadt des Altertums, ein biblischer Frauenname, vier Silben, ein ausgestorbenes Säugetier, ein moderner amerikanischer Tanz. – So ein Kreuzworträtsel ist nicht leicht aufzubauen. Nach zwölf Uhr muß es auf der Redaktion der Hausfrauenzeitung abgegeben werden, Honorar zehn Kronen. – Haben Sie aber eine Ahnung, wenn Sie ein Kreuzworträtsel lösen, meine Gnädige, wieviel Studium und Schulgeld es gekostet hat, bis man so etwas entwerfen kann! – Zehn Kronen Honorar ... Berühmter Naturforscher, wichtiger Friedensschluß mit B, fünf Silben ...«

Wer anders als Teta besitzt eine Ahnung davon, wieviel Schulgeld diese nutzlose Bildung gekostet hat? Sie schweigt und wartet geduldig, bis der Mann sein Kreuzworträtsel endlich in den Umschlag steckt und sich erhebt. Er ist ziemlich groß und wohlgewachsen. Im Gegensatz zu Frau und Wohnung scheint er sich einer gewissen künstlerisch nachlässigen Eleganz zu befleißen. Er ist gut rasiert, trägt ein feines lila Hemd und dazu eine schwere Seidenkrawatte in gleicher Farbe mit einem chinesischen Muster. Das Äußere des Mannes beweist, daß er zugunsten seiner eigenen Person Aufwand zu treiben gewohnt ist. Sein Hausrock besteht aus braunem gerilltem Samt und scheint ganz neu zu sein. Teta kann es nicht fassen, daß sie sich durch die bewußte Fotografie hat jemals über die Wirklichkeit hinwegtäuschen lassen. Denn dies hier ist er leibhaftig, der kleine Neffe in der Küche bei Hofrat Slabatnigg, mit seinen mutwillig ungehorsamen Haaren, der bübisch aufgestellten Nase, den verschwollenen Schlitzaugen. Die verschwollenen Schlitzaugen vor allem! Durch die Zeit sind diese Kennzeichen nur schärfer noch herausgearbeitet worden. Teta aber, die Dümmste aller Dummen, hat wahrhaftig gemeint, jenes rotzaufschnupfende Bubengesicht könne sich durch ihren Erziehungsbeitrag in den heiligen Klausner verwandelt haben, dem die Englein sich zuneigen, oder auch nur in das wackere Pfarrersantlitz Ottokar Jankus.

»Wer hat die Dame zu mir empfohlen?« fragt jetzt der Mann. »Wenn ich mich nicht täusche, wird die Dame wahrscheinlich eine schöne Grabschrift benötigen. – Oder handelt es sich um ein Horoskop?«

Er weist mit seiner gepflegten Hand auf eine astrologische Legende hin, die über dem so unanständig zerwühlten Bette hängt. Sie sieht aus wie eine Sonnenuhr mit verworrenen Zeichen und Zeigern. »Da würd' ich aber um die genauen Daten bitten müssen«, sagt er.

Ja, das ist auch dieselbe Stimme, die damals die Gedichte so prächtig deklamiert hat, diese Stimme, die an allem eigentlich Schuld trägt.

»Niemand hat mich hierher empfohlen bitte«, sagt die alte Magd und bewegt dabei kaum ihre Lippen. Der Mann tritt näher auf sie zu. Sein Blick, gleichgültig zuerst, beginnt allmählich zu erstaunen und sich mit einem raschen Gefälle von Gedanken zu erfüllen. Tetas Vergißmeinnichtaugen halten ihn fest. Da kneift der Mann plötzlich seine dicken Lider ein und wendet den Kopf ab, als wolle er etwas ungestört und ungesehen im Schatten zu Ende denken.

»Du also bist der Neffe?« sagt Teta kurz und bündig.

Sie, die sonst zu aller Welt demütig in der dritten Person spricht, holt ein nacktes und hartes Du aus ihrem Innern hervor. Es ist aber keineswegs ein verwandtschaftliches Du, sondern ein richterlicher Laut, streng und von oben herab. Was jetzt geschieht, dauert nicht mehr als dreißig Sekunden. Der Mann kann nicht sprechen. Er beginnt zu schwitzen. Große Tropfen entperlen seiner Stirn und rinnen ihm übers Gesicht. In wenigen Augenblicken ist er so naß, als käme er aus einem Platzregen. Sobald er aber nach dem Taschentuch greift und sich über die Wangen fährt, hat er sich bereits wieder gefaßt. Nur die Mundwinkel zucken noch wie nach einer Schreckenslähmung, die Augen aber sind schon vergnügt, beginnen zu lächeln, zu lachen, zu strahlen und die verführerische Stimme bricht aus einem ganz und gar schon wolkenlosen Gemüt freudig hervor:

»Das Tantchen ... Wie, das Tantchen ... Ich glaub', ich bin verrückt! – Nein, diese Überraschung!«

Um Zeit zu gewinnen, um Hilfe zu holen, wenn auch eine gefährliche Hilfe, reißt er die Küchentür auf und schreit:

»Komm herein, Mascha! – Das würdest du nicht erraten, wer mich da besucht – das Tantchen meines Lebens, von der ich dir so viel erzählt hab'!«

Die Hinkende bleibt auf der Schwelle stehen. Ihre Augen leuchten katzengrün vor belustigter Bosheit.

»Das ist wirklich eine Überraschung!« ruft sie. »Dein Tantchen kommt dich besuchen und du hast ihr unsere werte Adresse mitgeteilt! – Aber verzeihen Sie, ich will die lieben Verwandten nicht stören, das darf man ja nicht, woher ...«

Mascha schlägt die Tür zu. Man fühlt es aber, wie sie dicht dahinter stehenbleibt und ihr Ohr anpreßt, um schadenfroh zu lauschen. Mojmir flüstert: »Denken Sie nichts Böses von mir, Tantchen – nur meine Wirtschafterin natürlich.«

Teta versteht nicht recht, warum der Neffe eine Hurenwirtschaft für weniger verfänglich hält als eine getraute Ehe. Will er ihr noch immer etwas vormachen? Er aber sieht sich verzweifelt nach einem besseren Sitz für Tantchen um. Da er nichts findet, holt er aus dem Bett ein zerdrücktes Kopfkissen hervor, schüttelt es mit komischem Eifer auf und polstert damit einen der Holzstühle, den er Teta anbietet. Sie weist ihn kalt zurück: »Ich will nicht sitzen jetzt, Neffe«, sagt sie.

»Wenn Sie stehen wollen, Tantchen, dann muß ich knien«, sagt er. – »Du sollst nicht Unsinn reden jetzt, sondern die volle Wahrheit«, sagt sie.

Er greift sich, Luft schnappend, an das Herz, als sei es nicht mehr das beste: »Erbarmen Sie sich, Tantchen! Lassen Sie mir ein bißl Zeit! Diese freudige Überraschung ist zu groß.«

»Du sollst nicht Unsinn reden jetzt, sondern die Wahrheit, Neffe«, sagt sie unerbittlich. »Was bist du, Neffe?«

Er fährt in seine Taschen, als suche er nach einem Zeugnis seiner Existenz. Er findet nichts.

»Ich, Tantchen, ich ...«, beginnt er und unterbricht sich sofort, denn sein Blick fällt auf die obszönen Fotografien, die offen auf einem der Tische daliegen. Wie ein gewiegter Bühnenkünstler spielt er sich auf diesen Tisch zu und bedeckt die lasterhaften Bildchen mit einer Morgenzeitung. Hoffentlich hat Tantchen nichts gesehen. Sie hatte gesehen, leider.

»Ich bin ...«, hebt er von neuem an. »Sie sehen ja, daß ich nicht faulenze, daß ich mir ein Leben aufbaue. Ich kann nichts dafür, daß die Zeiten so hundsmiserabel sind – und besonders für geistige Berufe ... Man tut schließlich, was man kann.«

Mit einer weiten Handbewegung umfaßt er all die vertrackten Waren auf den Tischen und seufzt:

»Glauben Sie, es ist vielleicht ein Vergnügen, jede Nacht bis fünf Uhr früh mit diesem Zeug da in den Kaffeehäusern herumzuhausieren?«

Tetas Gesicht, tatarischer denn je, starrt den Neffen unbewegt an. Sie ähnelt einem tibetanischen Mönch.

»Ich frag' doch mit Erlaubnis, was du bist, Neffe – ob du ausgeweiht bist, frag' ich dich.«

Der Neffe lächelt ein wenig und fährt sich mit der weißen Hand ins dichte Haar.

»Das ist nicht so einfach zu beantworten, Tantchen«, erklärt er nachdenklich, als sei er sich selbst darüber nicht ganz im klaren.

Tetas Augen lassen ihn noch immer nicht los. »Ich will wissen, ob du vorher davongelaufen bist oder erst nachher?«

An diesem Punkte des Gesprächs bekommt Mojmir Linek seine ganze Gewandtheit und Beredsamkeit zurück. Er schwingt sich mit ein paar Griffen aus der Niederung, in die ihn der Schreck geworfen hatte, zu jener unangreifbar überlegenen Position empor, die seine verwirrenden Briefe auszeichnet. Nun schwitzt er nicht mehr. Er nimmt Tetas Rechte zwischen seine Hände. Er drückt die Tante zärtlich auf den Stuhl hinab, sie merkt es kaum. Ihre Augen hängen jetzt an seinem großen Mund.

»Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, Tantchen, dann müssen Sie mir zuhören, dann müssen Sie mich ausreden lassen.«

Eine überflüssige Forderung. Sie denkt nicht daran, ihn zu unterbrechen. Er macht ein paar Schritte auf und ab, wirft den Kopf zurück und schüttelt nicht ohne Anmut seine Mähne. – Den Bauerntolpatsch haben sie ihm gründlich ausgetrieben für mein Geld, denkt Teta. Dann bleibt er wieder vor ihr stehen, neigt sich hinab und spricht leise, fast zärtlich:

»Sie halten mich natürlich für einen ganz gemeinen Schwindler und ausgekochten Betrüger. – Aber, Tantchen, ob Sie's glauben oder nicht, das reine Gegenteil ist richtig. Als Schwindler und Betrüger steh' ich jetzt vor Ihnen, weil meine Seele zu wahrhaftig gewesen ist, weil ich nicht so gut lügen kann wie Hunderte andere. Hätt' ich nur ein bißl besser lügen können, so würden Sie mich jetzt mit dem Kollar sehen, Tantchen, im schwarzen Habit, mit einem ausgefressenen Pfaffengesicht, und ich hätt' zu essen fünfmal am Tag und keine Sorgen und müßt' mich nicht abplagen, und Sie wären zufrieden mit einem solchen Neffen.«

»Also du bist davongelaufen vorher«, stellte Teta eisig fest. Mojmir Linek hebt beschwörend beide Hände.

»Seien Sie gerecht und lassen Sie mich's erklären, Tantchen. – Sie haben das mit meiner seligen Mutter abgekartet damals und mich aufs Olmützer Gymnasium geschickt und all die vielen Schuljahre bezahlt. Mit Ihrem eigenen Geld haben Sie also bezahlt, was ich durch das viele Lernen geworden bin, ein gebildeter Mensch oder, wie man es nennt, ein Intellektueller. Die Wissenschaft hat ihre strenge Hand nach mir ausgestreckt und das moderne Denken, und zwar durch Ihre eigene Unterstützung, Tantchen. Ich hab' einen offenen Kopf gehabt, leider, das hat schon der Schullehrer von Hustopec gewußt. – Und da habe ich plötzlich am großen Kreuzweg meines Lebens gestanden. Ich sollte an den Altar treten – hören Sie jetzt gut zu –, ich sollte eine Oblate aus Weizenmehl und einen Schluck Meßwein in Leib und Blut Christi verwandeln, alle Tage, um sechs Uhr oder um sieben Uhr früh. – Wär' ich nun ein Lügner gewesen, Tantchen, wie so viele andere, hätt' ich's getan auch ohne Glauben, warum nicht, Beruf ist Beruf, und ob man von Ausbeutung der Arbeit oder der Dummheit seiner Nebenmenschen lebt, das macht nicht viel Unterschied. – Aber, sehen Sie, das gerade ist ja das Merkwürdige, ich bin kein Lügner.«

Hier schlägt er sich tönend an die Brust, und seine Augen funkeln hinter den verschwollenen Lidern.

»Ich war jung, ich war ein Freigeist, warum soll ich's Ihnen verheimlichen, ich hatte durch das viele Lernen meinen Gott verloren, ich hielt das Meßopfer für einen Zauberbrauch aus längst überwundenen Zeiten, ich konnte einfach nicht um der lieben Krippe willen das tun, was andere taten, ohne daß man sie für Schwindler hält wie mich.«

Auf einen schwankenden Zuhörer würde Mojmirs Beweisführung vielleicht nicht ohne Eindruck bleiben. Teta aber ist davon unbewegt. Nicht ein Schatten rührt sich auf ihrem klaren Gesicht. Auf Dialektik dieser Art ist sie durch Herrn Bichler gut präpariert. Sie sagt mit eckigem Ton folgende Worte, denen eine gewisse Größe nicht abzusprechen ist:

»Du hast nicht das Richtige gelernt, Neffe, sondern das Falsche.« – Mojmir Linek lächelt fern und müde.

»Vielleicht, Tantchen, vielleicht. ...«

Er bedeckte seine Augen, als müsse er sein Gewissen scharf erforschen.

»Heute, als reifer Mann«, sagt er träumerisch, »stehe ich ganz anderswo. – Aber bedenken Sie doch, ein junges Blut und eine heiße, grübelnde slawische Seele ... Ach Gott, warum haben Sie mich nicht einen schlichten Bauern sein lassen, mir ging's besser jetzt! Sie haben mich aber für vieles Geld zu einem Gebildeten gemacht. Und ein Gebildeter ist wie eine unschuldige Wiese, auf der irgend jemand große schmutzige Zeitungsblätter auseinandergestreut hat. – Kein hübscher Anblick. – Und verhungern tut man auch dabei.«

Teta hat ihn ausreden lassen, ohne sich zu bewegen. Jetzt aber fragt sie stoßweise und sehr langsam:

»Wenn du kein Schwindler bist, warum hast du mir nicht die Wahrheit geschrieben, gleich damals, sondern Lügen und Lügen bis vor drei Wochen?«

Er schiebt einen Stuhl dicht neben sie, setzt sich und legt seine weichen großen Hände, deren Nägel manikürt sind, schwer auf Tetas Knie. »Tantchen, das hab' ich aus Liebe getan für Sie«, sagt er mit tiefer Stimme.

Teta lehnt sich zurück, zieht die Knie weg, daß ihm die verführerischen Hände herunterfallen. Seine Stimme aber bleibt nach wie vor wehmütig tief:

»Warum sind Sie gekommen, Tantchen? Warum haben Sie mich ausspioniert? Jetzt, nach so vielen Jahren? Das war nicht klug von Ihnen. Ich hab' Sie doch so gern gehabt in meinem Herzen, Tantchen, und nur darum hab' ich Ihnen nichts geschrieben von meinen schweren inneren Kämpfen damals. Und weil ich aus Liebe und Schonung für Sie nicht geschrieben hab', war das Unglück fertig, denn später konnte ich die Wahrheit ebensowenig nachholen. Begreifen Sie nicht, daß es Liebe war. – Ich bin doch eine slawische Seele, eine träumerische. – Sie soll ihren frommen, gottgeweihten Neffen immer in der Welt haben, so hab' ich's mir ausgedacht, einen besseren und reineren Mojmir, als du es bist, sie hat es sich doch verdient, die liebe Tante, mit ihrer Hände Arbeit, mit ihrer Treue, mit ihrem Gottvertrauen. In ihren Gedanken wirst du ein Lamm sein und ein einfacher Priester und zelebrieren täglich und die Menschlein taufen und versehen, und sie wird beten für dich und denken, daß du für sie betest, und es wird ihr helfen. – So hab' ich mir's ausgedacht, ich schwör's Ihnen, und es war ein Betrug aus Dankbarkeit für Sie. – Sie wird zufrieden sein, dich in Hustopec zu wissen, in der Heimat. Und wird dich nicht ausspionieren und an diese Sache nicht rühren, an die sie dreißig Jahre nicht gerührt hat.«

»Ich war in Hustopec am letzten Dienstag!« stößt Teta hervor. Er schlägt die Hände zusammen und klagt:

»Da haben Sie alles verdorben, Tantchen, Sie allein!«

Teta fährt hoch, daß der Stuhl umfällt und das ziemlich fleckige Kopfpolster auf dem Fußboden liegt. Es verschlägt ihr den Atem. Wie die Fäden eines Seidenspinners umwebt sie die schöne weiche Stimme, umwickeln sie die vielen Worte, die kraftlos machen, wenn man ihren Sinn auch nicht immer versteht.

»In allen Briefen«, keucht sie, »immer nur Geld, Geld – das ist die Wahrheit und sonst nichts! Geld, Geld, Geld, das war deine Liebe! Du hast mich um meinen Lohn gebracht – und noch um viel mehr!«

Der Neffe steht einige Atemzüge lang unentschlossen da. Er scheint nicht weiterzuwissen.

»Was hätt' ich tun sollen«, flüstert er matt. »Ich bin arm und außer dem Tantchen hab' ich ja niemanden auf der Welt.«

Dann aber wirft er sich allzu plötzlich und ohne rechten Übergang vor Teta auf die Knie und beginnt mit lautem Schnaufen jämmerlich zu weinen.

»Verzeihen Sie mir um Gottes willen! Ich hatte ja keine andere Hilfe als Sie, Tantchen!«

Teta blickt auf ihn wortlos hinab. Ihr Kopf ist aufgetrieben von Schmerz. Das laute Weinen dieses Mannes erfüllt sie mit Ekel. Wär' sie doch niemals in dieses abscheuliche Haus gekommen, um die ganze Tiefe des Betruges zu ermessen, in den sie verwickelt ist. Der Neffe weint noch immer. Übel kann einem werden davon. Da öffnet sich lautlos die Küchentür, und die Hinkende steht da mit ihren grünen Katzenaugen.

»Aha, er hält schon beim Weinen«, lacht sie hysterisch, »und die slawische Seele war auch schon da, nicht wahr? – Das Programm kennen wir auswendig. Lassen Sie sich nicht weich machen, Frau Tante, geben Sie nicht nach. Er ist keine slawische Seele, er ist ein Teufel. – Beim Teufel haben Sie Ihre Seligkeit eingekauft! – Sie hat er nur Ihr Geld gekostet, mich aber hat er mein ganzes Leben gekostet!«

Der Neffe hat sich aufgerafft. Sein Gesicht ist jetzt gemein vor Wut. »Laß uns allein! Geh in die Küche!« zischt er.

Mascha aber wirft die Hände hoch und bricht los:

»Geh in die Küche«, schreit sie, »geh in die Küche, schäl Kartoffeln, mach das Bett, hol Bier! – Dafür bin ich gut. Mit einem Mann leben, bei dem kein Wort wahr ist, Frau Tante, kein einziges kleines Wort ... Wenn draußen die Sonne scheint, sagt er, es regnet, und er preßt dir den letzten Groschen aus und den letzten Tropfen Blut und die ganze Seele. Ich muß auf dem Strohsack liegen, und er schläft in seinem Drecksbett jede Nacht mit einer anderen Hur' und weckt mich auf, damit ich Wasser warm mach'. – Beim Teufel haben Sie eingekauft!«

Der Neffe hat sich wieder gefaßt.

»Das ist der Dank«, wirft er hin, »daß ich eine genommen hab', die kein anderer anspuckt!«

Jetzt überschlägt sich Maschas Stimme:

»Frau Tante, geben Sie nicht nach! Vernichten Sie ihn! Zeigen Sie ihn an! Ich geh' als Zeugin! Ich weiß von allem! Ich beschwör' alles! – Er hat schon einmal gesessen, ein halbes Jahr! Den kennt man auf dem Gericht, den Vorbestraften! – Vernichten Sie ihn! Befreien Sie uns von diesem Scheusal!«

Teta umklammert mit der Rechten ihren Stock. Mit der Linken preßt sie das Täschchen ans Herz. Sie blickt verzweifelt um sich wie ein Mensch, der nicht weiß, wie er trockenen Fußes über einen verschlammten Weg hinwegkommen soll.

»Gehn möcht' ich jetzt«, sagt sie.

Mascha macht zwei Hinkeschritte ins Zimmer. Sie bebt am ganzen Leib.

»Schenken Sie's ihm nicht, Frau Tante!« hetzt sie. »Ich würd' einen Advokaten fragen!«

Der Neffe nickt vor sich hin, als sei ihm sein ganzes Lebensproblem jetzt erst klargeworden:

»Da sehen Sie es, wie weit ich's gebracht hab' mit all Ihrer Hilfe, Tantchen – zu diesem Weib hier, das Tag und Nacht spekuliert, wie sie mein Leben auslöschen könnt'! – Und ich hab' mich ihrer erbarmt, ich und kein anderer, weil ich so ein böser Teufel bin – und es ist wahr, daß ich einen Prozeß verloren hab'. Und warum hab' ich ihn verloren? Weil ich ein böser Teufel war und einen anderen nicht hineinlegen wollt'!«

Bei den Worten »ich hab' mich ihrer erbarmt« schluchzt Mascha auf, als habe er sie ins Gesicht geschlagen.

»Zum Richter, Frau Tante!« stöhnt sie. »Zum Richter gehen Sie – noch heut!«

Der Neffe geht zu seinem Schreibtisch und beginnt in den Papieren zu wühlen wie einer, der des lästigen Unsinns satt ist und zu ernster Arbeit zurückkehren will.

»Zum Richter, bitte sehr«, sagt er großzügig. »Was kann Ihnen aber der Richter zurückgeben, Tantchen? – Nichts, gar nichts! – Nur ich kann Ihnen etwas zurückgeben – einmal vielleicht ...« In diesen Worten zwinkert ein neuer Klang, duckt sich eine ferne Hoffnung. Teta sagt zum zweitenmal:

»Gehn möcht' ich jetzt.«

Der Neffe stellt sich dicht vor sie auf. Aus seinen verschwollenen Schlitzaugen, in denen man sich nicht auskennt, blickt er schmerzlich auf sie hinab, schmerzlich und zugleich auch zuversichtlich:

»Jetzt wollen Sie gehen, Tantchen, wo alles so schlimm steht, jetzt, nachdem unsere alte gute Beziehung zerstört ist? – Das dürfen Sie nicht! Bleiben Sie! Wir wollen alles bereden und in Ordnung bringen, nicht wahr. Trotz allem Elend steh' ich doch in Saft und Kraft, Tantchen. – Sehen Sie mich nur an, mit mir ist es noch lange nicht aus. Mein Kopf ist voll von Plänen, von ausgezeichneten Plänen, kann ich Ihnen verraten. Ich werd' alles gutmachen, ich werd' leben und sterben für Sie!«

Wieder dieses rasche Gewebe des Seidenspinners, das einen einhüllt, kraftlos macht, angenehm erwürgt. Mascha steht gebückt in der Küchentür, den kürzeren Fuß in Schwebe, den Leib abgebogen, die beiden Fäuste gegen die Magengrube gepreßt, und weint und weint.

»Wenn er das verspricht, das ist das allerschlimmste, Frau Tante«, lallt sie. »Er kann nichts wiedergutmachen, nichts, ich hab's ausgekostet. – Nur Sie können es gutmachen. – Befreien Sie uns!«

Der Neffe mit einer milden Kopfbewegung gegen die Weinende hin, diese verkörperte Anklage vor Gott:

»Gott verzeih' ihr's«, sagt er, und man könnte beim Klang seiner Stimme meinen, er sei wirklich ein geweihter und geübter Priester. »Gott verzeih' ihr's, sie ist sehr arm. – Aber sie wird uns beiden helfen, Tantchen, ich weiß es.«

Teta löst sich mit einer sichtbaren Anstrengung von ihrem Standort los. Drei kurze eilige Schritte zur Tür. Sie drückt die Klinke nieder. Hinter ihr der abscheuliche Fettgeruch, Maschas abgerissenes Schluchzen, die obszönen Bilder, die Juxartikel auf dem Tisch, dieses ganze Zimmer mit dem verlotterten Bett, und jetzt noch die weiche einschmeichelnde Stimme, die ihr den Nacken kitzelt: »Gehen Sie noch nicht, Tantchen! Geben Sie uns die Ehre! Ein Löffel Suppe ...«

Sie aber stapft schon an ihrem pochenden Stock die mulmige Holztreppe hinab.

Die Winkelgäßchen der »Neuen Welt«, wohin führen sie? Teta trippelt eilends dahin, als seien ihre Krampfadern und ihre siebzig Jahre ein Märchen. Sie möchte zu einer Straßenbahn gelangen, aber vergißt es immer wieder. Ohne Ziel geht sie und geht durch das menschenleere Labyrinth in irgendeine Richtung. Ihr schwarzer Stock klopft das katzenköpfige Pflaster. Wie soll sie fertig werden mit dieser Begegnung, mit dieser Verwirrung! Nach einem langen Leben voll Ordnung, voll Einteilung, Tag für Tag: erwachen, ankleiden, Morgenmesse, Feuer machen, Frühstück kochen, aufräumen, einkaufen gehen, Zubereitung des Mittagessens, Geschirr waschen, Tee oder Kaffee am Nachmittag, die verausgabten Summen zusammenrechnen, Abendessen richten, Geschirr waschen, die Küche säubern, schlafen gehen. Nur an manchem Sonntag ein kurzer Ausgang, ein bescheidener Klatsch mit Kolleginnen, ein kleines Festchen im Verein katholischer Jungfrauen. Da hört man so manches, was im Leben vorgeht, und schließt die Nase wie vor schlechtem Fettgeruch und ist heilfroh, daß es einen nichts angeht. Jetzt aber, im Siebzigsten, geschieht zum erstenmal etwas, das einen schrecklich angeht. Es ist, als wenn das über alle Weibheit verhängte Schicksal sich einen dunklen Gang gegraben hätte, um eine Unberührbare, eine Ledige, eine Lieblose, eine Gefeite knapp vor dem Ziel endlich doch einzuholen. Siehe, durch einen Neffen! Da hat zum Beispiel eine Ehefrau jahrelang halb und halb gewußt, daß ihr Mann sie betrügt, hat aber nie daran gerührt, sondern ist kunstvoll ausgewichen, bis das Leben sie schließlich gegen ihren Willen zwingt, dem Mann nachzuspionieren – und nun steht sie in einem ekelhaften halbdunklen Zimmer vor dem Lumpenpaar im Bett, und alles ist zu Ende. Da hat ein Mädchen ein uneheliches Kind geboren und mußte es in Kost geben aufs Land und hat gespart und gehofft, der Junge werde sie einst als Mutter anerkennen, lieben und ehren; es ist aber ein Wechselbalg, ein Verbrecher und liebt und ehrt sie nicht, sondern plündert sie aus und bricht ein bei ihr und bringt sie in unabsehbare Schande. So oder ähnlich ist das. Nein, nicht diese Gleichnisse sind ähnlich, sondern nur die Verstörung in Teta ähnelt den Zusammenbrüchen der hier geschilderten Frauen. Sie kann nicht fertig werden mit der Stunde, die hinter ihr liegt. Ist der Neffe, den sie heut in der tieferen Bedeutung des Wortes zum erstenmal sah, wirklich nichts anderes als der Beauftragte ihres Lebensplanes gewesen? Ist sie wirklich nur um den Himmel geprellt worden und nicht auch noch um die Erde? Waren die dreißig Jahre Obsorge nicht mehr als nur der notwendige Eifer, um einst einen Mittler vor Gottes Thron zu haben und einen Geweihten nach dem Absterben, der alljährlich in Treue die hl. Totenmesse für die bedrohte Seele hält, damit sie nicht vergessen sei und verschollen hernieden, ehe sie ihre bleibende Stätte gewinnt? Hat sich in diesen kalten Eifer vielleicht doch etwas Gütiges eingeschlichen, etwas warm Quellendes? Allezeit hatte es sich doch wiederholt, dieses so regelmäßige, dieses den Briefen Entgegenwarten, dieses Herzklopfen beim Empfang der Briefe, dieses zehnmalige Lesen jeder Zeile, dieses Zweifeln, dieses Glauben, dieser Ärger, diese Freude, das Ausfüllen der Postanweisung der Blick auf die Fotografie des schönen jungen Priesters morgens und abends, und alles, alles hat im Guten und Bösen nur eines bedeutet: Ein Mensch ist da auf der Welt für dich. Und du bist auf der Welt da für einen Menschen.

Wie hat er es vorhin zu nennen gewagt, dieser Mensch, dieser Lump, dieses Ungeheuer? »Unsere alte Beziehung, Tantchen!« Ja, jetzt ist sie wirklich zerstört für immer, diese liebe alte Beziehung, diese verfluchte gottesschänderische Beziehung, zerstört durch die Wahrheit und den Anblick. Selbst in Hustopec war sie ganz geblieben, auch noch in der schrecklichen Minute, da sich Mojmir Linek in Ottokar Janku verwandelte und Teta die Besinnung verlor. Sogar gestern noch im Kaufmannsladen Herrn Faschings lebte sie. Jetzt erst, seit wenigen Minuten, ist der Plan und Inhalt von dreißig Jahren verschüttet für alle Ewigkeit. Aus dem windschiefen Haus getreten, und schon war auch um sie die neue schreckliche Leere, durch die sie jetzt dahineilt im hundertstimmigen Schall der Prager Mittagsglocken.

Teta versucht in ihrem armen mürben Schädel alles zurückzurufen, was sie in jenem unheilvollen Zimmer gehört und gesprochen hatte. Ach, sie hat ja kaum etwas gesprochen. Nicht, wie sie sich's vorgenommen hatte, konnte sie das Niederträchtige Punkt für Punkt aufklären, nicht den Schwindel mit der Primiz, nicht die Herkunft der Fotografie, nicht die Missionsgeschichte vom Feuerland und nicht die letzte, die allergemeinste Irreführung, das Pfarrhaus in Hustopec, der Voranschlag Herrn Faschings und die maßlos verwegene Einladung an sie, dort ihr Leben zu beschließen. Nie und nimmer würde sie's verstehen, und all seine Reden machen's nur noch unverständlicher. – Und doch, hatte sie nicht warnende Stimmen genug in sich vernommen, die sie von dieser Reise zurückhalten wollten? – Noch an der Tür M. Lineks war solch eine Stimme erwacht. – Und hatte sie nicht der Neffe gerade deshalb für schuldiger erklärt als sich selbst, weil sie diesen warnenden Stimmen nicht nachgegeben? – Der Neffe!! Einen Spitzbuben und einen Betrüger, den mußte sie erwarten seit dem Dienstag in Hustopec. Daß es aber dieser Betrüger war, gerade dieser und kein anderer, das würgt ihr die Kehle. Lügen, schwindeln, veruntreuen, begaunern, anschummeln, das kann bald ein Mensch – der Neffe aber drechselt die Lüge auf der schnurrenden Drehbank seiner Reden, daß sie zur Wahrheit wird. Oft hat sie dort in dem unheilvollen Zimmer selbst nicht gewußt, ob ihre Sünde nicht größer sei als die seine, weil sie ihm schließlich die Bildung bezahlt hat, durch die er seinen Gott verloren und derentwegen er nun das Allerheiligste Altarsakrament für gewöhnliches, mit Wasser vermischtes Weizenmehl halten muß. Auch jetzt im Sturm der Mittagsglocken weiß sie es nicht, ob sie nicht schuldiger ist als er. Wohinein hat der Seidenspinner sie mit verstrickt? Sie wollte doch nur das Allerbeste für sich und dadurch auch für ihn. Hilf, Heilige Dreifaltigkeit! Könnte sie ihn nur vergessen, den Wirklichen und Leibhaftigen, und wieder an den Unwirklichen ihrer Fotografie glauben! Wer sammelt die Scherben ihrer Himmelshoffnung? Was nun? Wohin jetzt? – Der Donner der Mittagsglocken verrollt.

Teta schaut auf und erschrickt. Ihr Weg hat sie in die Irre geführt, nämlich zurück. Sie erkennt das schmutzige zweistöckige Haus wieder, das sie vorhin verlassen hat. Tückisch blitzen die Fenster sie an. Eilends flattert Teta auf die andere Gassenseite und versucht in umgekehrter Richtung der ›Neuen Welt‹ zu entkommen. Der Stock taktiert laut neben ihr einher. Da mischt sich ein leichter Schritt in das atemlose Pochen. Noch ist der Schritt hinter ihr. Jetzt aber ist er bereits neben ihr. Der Neffe trägt einen fröhlichen Panamahut mit einem rotweißen Frühlingsband und gelbe Handschuhe dazu. Er scheint sich in aller Eile umgekleidet und für den Spaziergang prächtig zurechtgemacht zu haben. Man kann's wohl begreifen, daß solch ein stattlicher Mann der armen Hinkenden allnächtlich untreu wird. Seine kanarifarbigen Schuhe haben einen weißen Vorstoß. Es sind offenbar sehr teure Schuhe, die man nur in den Geschäften der inneren Stadt zu kaufen bekommt. Hausierer mit Juxartikeln und unanständigen Bildern pflegen sich schäbiger zu tragen. Der Anblick des Schuldners flößt der Gläubigerin erstickende Angst ein. Sie ist ja so klein und alt und verloren in dieser fremden ›Neuen Welt‹. – Werd' ich ihn nie mehr loswerden, den Wirklichen, denkt sie und beginnt beinah zu rennen.

»Ich verlass' Sie nicht, Tantchen«, plaudert er, »ich bin schon eine ganze Weile hinter Ihnen her. Sie haben mich nicht zu Ende reden lassen vorhin, das Wichtigste konnt' ich Ihnen gar nicht mehr sagen. Der Eindruck, den Sie bekommen haben, ist ganz falsch, auf mein Wort. – Die Mascha liebt mich, die Ärmste, sie geht für mich durchs Feuer. Nur diese ewigen Sorgen um das schwere Leben haben sie ein bißchen verdreht. Sie wird kein Hindernis sein für uns, im Gegenteil, sie wird alles tun, damit ich mein Seelenheil wiedergewinne, sie wird bleiben oder gehen, wie Sie es befehlen.«

Teta kann ihren Schritt immer noch mehr beschleunigen. Sie hätte solche Tugendkräfte nicht mehr in sich vermutet. Der Neffe aber hat lange Beine und spürt ihre Anstrengung gar nicht. Seine weiche Stimme zieht wieder verführerische Fäden um ihr Bewußtsein.

»Ich hab's gefühlt in den letzten Tagen«, beginnt er in einem leichten, aber aufrichtigen Erzählerton, »ich hab' genau gewußt, ob Sie mir's glauben oder nicht, daß Sie kommen werden, Tantchen, auf die Stunde. – Dahinter steckt etwas. Die Zeit war reif, und auch ich war reif. Gott schickt Sie mir, um mir noch einmal eine Chance zu geben. – Hören Sie, ich bin nicht mehr der Freigeist meiner Jugend, weiß Gott, ich hab' draufzahlen müssen, und nun sitz' ich zwischen allen Stühlen. – Der Vogel hat sein Nest, der Fuchs hat seine Höhle, der Katholik seine Kirche, der Kommunist seine Partei, nur des Menschen Sohn hat nicht, sein Haupt hinzubetten. Ich bin wie des Menschen Sohn, Tantchen, und habe nicht, mein Haupt hinzubetten. – Wie sehn' ich mich danach, etwas zu haben! – Sie allein, als meine Mutter, können mich zurückführen! Sehen Sie mich an, hier bin ich, und ich bin bereit. – Denken Sie an das Verdienst, zu dem ich Ihnen jetzt mehr als je verhelfen kann, mehr als damals, wo ich ein ungehobelter Bauernbub gewesen bin!«

»Zur Elektrischen möcht' ich«, sagt Teta atemlos.

Der Neffe nimmt zärtlich ihren Arm. Sie ist zu schwach, zu erschöpft, um sich zu wehren. Auch tut ihr die hilfreiche Berührung wohl. Er neigt sich im Sprechen zu ihr hinab. Sie bemerkt, daß in seiner Brusttasche das lila Seidentüchlein scharf parfümiert ist. Weinen möchte Teta über diesen unanständigen Duft eines von ihr zum Priester Bestimmten.

»Da kenn' ich einen Obersten«, berichtet der Neffe, »Smetanka heißt er, der war konfessionslos und hat jetzt mit fünfundfünfzig Jahren konvertiert, ist bei den Franziskanern eingetreten und wurde vorgestern ausgeweiht, alle Zeitungen haben darüber geschrieben. – Und ich bin doch erst einundvierzig und hab' meine theologischen Studien beinah absolviert. Bei mir braucht's nur eine kleine Auffrischung, ein Jahr, anderthalb Jahre, zwei Jahre, was kann das kosten, und dann bekomm' ich die Weihen und darf alles wiedergutmachen an Ihnen, Tantchen, als ein reifer, durchs Leben schwer geprüfter Mann, der in keiner Gefahr mehr ist. – Sie wissen ja, dem Himmel ist ein bußfertiger Sünder lieber als zehn Gerechte, darauf kann man sich verlassen.«

»Geht's hier zur Elektrischen?« keucht Teta, die fühlt, daß sie nun bald zusammenbrechen wird.

Der Neffe drückt mit ehrerbietiger Vertraulichkeit ihren Arm: »Wie wär's, Tantchen ...? Die Mascha schick' ich weg, sie ist ja nur meine Wirtschafterin, meine Pfarrersköchin sozusagen, Sie aber ziehen zu mir, damit Sie mich überwachen können, damit mich die Schwäche nicht wieder übermannt, damit ich an Ihrer Hand endlich zu meinem Heil gelange. – Der Himmel hat uns gegenseitig füreinander bestimmt, das ist keine Frage, ich bereite Ihren und Sie bereiten meinen Weg. – Entscheiden Sie sich schnell! Sagen Sie ja! Hier ist die Haltestelle ...« Teta bleibt stehen, taumelt, ringt nach Atem. Endlich kann sie sprechen, rauh und abgerissen:

»Geh fort, Neffe«, sagt sie, »nie sollst du mehr reden, nie mehr schreiben. Nie wieder will ich dich sehen!«

Diese einfachen Worte – auch sie entbehren nicht einer gewissen Größe – werden mit solch ungeheurer Entschiedenheit hervorgestoßen, daß dem Neffen der Laut im Munde erstirbt. Er muß einige Sekunden lang sein Gesicht wegwenden, um Haltung zu bewahren. Und dort rasselt der Wagen der Straßenbahn heran, rot und weiß. Der frühlingsfrisch herausgeputzte Mensch bekommt plötzlich schnelle und scheue Augen, Bettleraugen. Wenn es auch seinem gebildeten und überlegenen Wesen gemäß kaum glaublich klingen mag, er verwandelt sich durch Tetas Worte binnen einer Sekunde in den Hausierer mittelmäßiger Nachtlokale. So sehen die herabgekommenen Künstler aus, die mit Stift und Zeichenmappe von Tisch zu Tisch gehen und den Gästen ihre Porträts anbieten. Noch sieben Atemzüge und die unerschöpfliche Melkkuh seine Lebens ist entwichen für immer. Seine verschwollenen Schlitzaugen blinzeln und müssen echte Tränen unterdrücken. Auch die schmeichelhafte Verführungsstimme klingt ganz welk und rostig: »So helfen Sie mir wenigstens noch einmal aus, Tantchen – mir bleibt sonst nichts mehr übrig als ein Strick oder der Gasschlauch!«

Teta gräbt mit steifen Fingern eine Banknote aus dem Täschchen hervor. Dann übergibt sie dem Wirklichen und Leibhaftigen die endgültige Abschlagszahlung an das verlorene Idol.


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