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8. Fingerzeige

Die Zikan hatte Tränen in den Augen.

»Wir haben uns doch so schrecklich geängstigt um dich Tetilein«, rief sie, »ich und der arme Trottel! Wollt' schon auf der Polizei eine Verlustanzeige machen. – Na ja doch, du warst nicht nur ein paar Tage auf dem Land hierherum, sondern beinah vierzehn Täge.«

Die Rechnung stimmte. Siebeneinhalb Uhr morgens war es am Samstag nach Ostern, als Teta in der Wohnung der Frau Oberrevident auftauchte. Sie hatte ihre Reisetasche eigenhändig die drei Treppen heraufgeschleppt. Jetzt ließ sie das Gepäckstück fallen, atmete rasselnd und konnte nicht sprechen.

Die wackelköpfige Mila umtanzte sie erregt.

»Ich gratuliere, Schwesterlein! Ich gratulier'! Ich gratulier'!«

Teta wandte ihr einen bösen, vergrämten Blick zu.

»Sie gratuliert dir zum siebzigsten Geburtstag«, erklärte lächelnd die Zikan, »das ist doch ein großer Ehrentag im menschlichen Leben, und wir haben ihn nicht feiern können, weil du auf dem Land warst hierherum. – Aber jetzt komm in den Salon, Tetilein! Und Mila bringt den Kaffee und frisches Gebäck, ganz warm noch.«

Salon wurde das Sterbezimmer des Herrn Oberrevidenten der vielen Einrichtung wegen genannt. Teta ließ sich kraftlos unter der Burgzinne des plüschenen Kanapees verstauen. Sie mußte ihre ganze Kraft zusammennehmen, um sich die auf harter Bank aufrecht verbrachte Nachtfahrt nicht anmerken zu lassen. Gierig trank sie ihren Kaffee und aß zwei Kipfeln, eine Portion, die Katherina von ihrer Pensionärin nicht gewohnt war. Nach dem Frühstück aber überreichte sie Teta eines ihrer unansehnlichsten Erbstücke als Geschenk zum Wiegenfeste, wie sie feierlich sagte. Es war ein bemaltes Gipsfigürchen, das den heiligen Antonius darstellte.

»Du brauchst ihn nur zu bitten, Tetilein, und dann findest du alles, was du verloren hast.«

Teta nahm das Präsent ohne großen Dank entgegen. Antonius, der Schutzgeist der Vergeßlichen, war nicht ihr Heiliger.

»Nicht gut erholt hast du dich«, meinte jetzt die Zikan mit einem besorgt entlarvenden Blick, »du schaust blaß aus und grantig nach so vielen Tagen Erholung.«

»Wie hätt' ich mich auch erholen sollen in diesen Tägen«, versetzte Teta dunkel.

Mit harmloser Stimme legte die andere einen neuen Minengang.

»Du wirst dich abgerackert haben wieder, Schwester, ich kenn' dich – über Ostern vielleicht bei einer gnä' Herrschaft als Aushilf – auf dem Land hierherum ...«

»Was redst du da«, wich Teta aus, »ich hab' mich nicht abgerackert bei keiner gnä' Herrschaft.«

Die Frau Oberrevident öffnete einen viereckigen Riesenmund zu herzhaftem Gähnen.

»Langweilige Ostern waren das bei uns«, klagte sie. »Schönes Wetter, aber so langweilig. – Du aber, Tetinko, wirst uns Unterhaltliches erzählen können von deiner Reise.«

Teta stutzte, hob ein wenig den Kopf, zuckte die Achseln.

»Was soll ich Unterhaltliches erzählen? – Eine kleine Reise mit Erlaubnis. Ihr wart in der Stadt und ich war auf dem Land.«

Die Frau Oberrevident, die einen lila verblichenen Kimono aus der Witwenerbschaft Nummer zwei trug, lächelte liebevoll nachsichtig. »Wenn du gegen sieben angekommen bist, da mußt du doch schon in der Nacht abgefahren sein (oder nicht?).«

Teta starrte auf die Brotkrumen neben ihrer Tasse und sagte nichts. Die Zikan aber ging nach diesen Vorbereitungen zum frontalen Angriff über:

»Unterhaltliches wirst du doch gewiß zu erzählen haben. Von unserer Heimat, von Hustopec, nach fünfzig Jahren ...«

Teta lehnte sich zurück, schloß die Augen für ein paar Sekunden. Sie war viel zu erschöpft, um aufzufahren. Es stöhnte aus ihr: »Woher weißt du das? Hast du mir aufgelauert? Hast du mich ausspioniert?«

Die abwehrende Gebärde einer unschuldig Gekränkten.

»Ich bin keine Spionin, Tetilein, und keine Auflauerin«, sagte sie voll edler Verzeihung, »und du kannst mich beschimpfen, soviel du willst, für mich wirst du immer wie eine Mutter sein. – Und mich geht's nichts an, und ich interessiere mich nicht dafür, aber auf deiner Reisetasche draußen, da kleben ja die Zettel von der Grenze und von der Bahngarderobe. – Und du brauchst mir nichts Unterhaltliches zu erzählen, und ich will nichts hören von unserm Neffen, es geht mich nichts an, wenn er auch ebensogut mein Neffe ist, und ich hab' dir ja mein Wort gegeben, daß ich darüber nicht mehr reden tu', und eine Frau Oberrevident weiß, was sich paßt.«

»Ich bin müde heut«, sagte Teta.

Sie ging in ihr Zimmerchen. Sie schloß die Tür hinter sich. Sie setzte sich auf das schlechte, wackelige Eisenbett. Sie war unglücklich wie noch nie in ihrem Leben, nicht einmal in den schweren Zeiten der Jugend, wo jede Seele Not und Unrecht und Erniedrigung zu erleiden hat. Dieses Unglücklichsein aber war eine ganze große Welt, in der sie sich noch nicht auskannte. Sie mußte erst stehen und gehen lernen in ihr, wie ein Erblindeter in der seinen. Jetzt erkannte sie genau, wie glatt und milde ihr langes Leben verlaufen war, ohne Knoten gleichsam und ohne Stäubchen. An den verschiedenen Stätten ihrer Dienstbarkeit war ihr nie etwas Schlimmeres begegnet als dann und wann eine Rüge durch die gnä' Herrschaft, eine Verräterei durch das andere Personal, ein Anstand mit Herrn Bichler und dergleichen federleichte Ärgernisse sonst. Häuften sich die Mißhelligkeiten und schwoll ihr allzusehr die Galle, dann sperrte sie sich in ihre stille Kammer ein. Dort konnte sie ihren heiligen Klausner betrachten, dort versenkte sie sich in den Anblick jenes jungen ätherischen Priesters, der ihr Neffe und Ziehsohn war. Wie schnell besänftigte sich da ihr Blut, und alles kam in Ordnung! Ja, dieses war das Wort, auf dem ihr Lebensglück beruhte: Ordnung. Geregelt schien alles und ausgemacht und vorweggeschaut, das Bisherige und das Nachherige, das Vorübergehende und das Bleibende. Es drehte sich um einen einzigen Angelpunkt, um ihn, den edlen Jüngling des Bildnisses, der ihr allein zugehörte, und um den verwegenen Feuergeist der Briefe, der sie zwar stets erschreckte und ausbeutete, doch zugleich auch ihre Gedanken bis zum Rande erfüllte. – Und jetzt? – Was war ihr eigentlich so Böses begegnet? Mojmir Linek hatte sie nicht an den Bettelstab gebracht. Sie war reich genug, um ihre letzten Jahre in Unabhängigkeit zu verbringen. Sie konnte sogar bei einigem Mute daran denken, einen würdigeren Seminaristen ausfindig zu machen, dem sie mit ein paar Schilling forthalf, um sich einen neuen priesterlichen Mittler zu verpflichten, wodurch ihr gescheiterter Lebensplan zur Not noch geflickt werden konnte. So hätte sie denken können. Aber sie dachte nicht so. Das Schrecklichste war ihr geschehen: in grausige Unordnung hatte sich die klare Ordnung verwandelt. Sie aber besaß nicht Verstand und Seelenkraft genug, um in Ordnung die Unordnung rückzuverwandeln. Es war wie ein machtloses Absinken und Niedergleiten, wobei der wirkliche Neffe in Panamahut und Geckenschuhen ihr immer wieder einen Stoß versetzte, wenn sie sich emporarbeiten wollte. Nun saß sie da nach der schlaflosen Nachtfahrt und war nichts als unglücklich. Was für ausfüllende Beschäftigung ist solch ein Unglücklichsein! Es war dies aber nicht das Unglück einer Siebzigjährigen, sondern das einer Siebzehnjährigen nach ihrer ersten Verwirrung.

Teta gehörte durchaus nicht zu jenen Frauen, die mit gefalteten Händen das Ungemach hinnehmen. Ganz im Gegenteil. In diesen ihren harten und abgearbeiteten Händen unruhete der Wille, etwas zu unternehmen, auf irgendeine Weise die verletzte Ordnung wiederherzustellen. Aus dem Täschchen – dies war die erste Unternehmung – holte sie ihren Schatz hervor und zählte ihn mehrmals ab. Nicht ohne eine sonderbare Befriedigung, die ihrer geizigen Natur durchaus widersprach, stellte sie die beträchtlichen Auslagen des Prager Aufenthaltes fest. Es war ihr, als sei dadurch nicht nur ihre Barschaft, sondern auch ihr Erdenleben um ein hübsches Stück verkürzt worden. (Es gibt Selbstmörder, die sich die Pulsadern öffnen und das verströmende Lebensblut mit süßer Schadenfreude betrachten.) Mit einem kurzen, stumpfen Bleistift, dem abgenagten Rechengriffel aller alten Mägde, trug sie die verbrauchte Summe in ihr Büchlein ein, jene schief-ungelenken Ziffern malend, die für all ihre ehemaligen Gebieterinnen schwierige Hieroglyphen bedeutet hatten. Dann aber – und dies war schon der zweite Schritt auf dem Wege zur Ordnung – holte sie die gehegte und geschonte Fotografie ihres Idols hervor. Noch einmal versank sie in den Anblick des jugendlich reinen Geweihten, der sie fragend anschaute aus seinen kurzsichtig mystischen Augen und dem knabenhaft strengen Antlitz. Noch einmal runzelte das Gewölk hinter ihm die Stirn. Ihre Brust hob und senkte sich stockend. Nun war's an dem, und sie sollte mit eigenen Händen hinmorden den Unwirklichen, den frommen Begleiter ihrer Tage, den treuen Schlafhüter ihrer Nächte, das edelmütige Gefäß ihrer Hoffnung, an dem sie sich in den Stunden des Zweifels immer wieder gelabt hatte. Seit undenklicher Zeit hatte er Wohnung genommen in ihrem Gemüt und darin geleuchtet mit hoher Beständigkeit als Fürsprecher ihrer Seele, als Halt ihres künftigen Abscheidens, als heimlicher, rein empfangener Sohn. Sie drückte das Bildnis, das kühl war wie der Abgebildete, nicht an ihre Lippen, sondern an die Stirn. Diese Berührung aber rief nicht den Unwirklichen herbei, sondern den Wirklichen und jenes Zimmer in der »Neuen Welt«, den abscheulichen Fettgeruch aus der Küche, die Hinkende mit ihren grünen verzweifelten Katzenaugen und immer wieder ihn, den Verfertiger von Kreuzworträtseln, Juxartikeln und Meisterbriefen, wie er breiten Rückens dasaß, wie er beredsam auf und ab ging, wie er sie mit dem Kokon seiner Reden umspann, wie er sich niederwarf, Krokodilstränen vergießend, und wie er sie noch zum letzten Abschied als ein schäbiger Hausierer anbettelte. Oh, Teta hätte gewünscht, der Neffe würde sich als ein matter plumper Lump entpuppt haben, der nun nach all seinen Betrügereien als ein dicker Kleinbürger mit seinem ahnungslosen Eheweibe und vier Kindern irgendwo lebte und von seinen Taten ausruhte! Nur nicht dieser – dieser, für den die Worte fehlen. Aber gerade dieser mußte zurückbleiben, wenn der Unwirkliche verschwand. Einen dicken Familienvater könnte sie vergessen, ihn aber nicht, der mit seiner hartgesottenen Kraft und sieggewohnten Stimme weiterwirtschaftete in ihrer armen Seele. Da nahm sie die kühle Fotografie des Unwirklichen von ihrer Stirn und zerriß sie in hundert Fetzen. Und sie stand auf und tat die hundert Fetzen ihres Idols in das eiserne Öfchen der Kammer.

Der nächste Schritt auf dem Wege zur Ordnung galt den gesammelten Briefen Mojmir Lineks. Teta hatte das himmelblaue Bändchen gelöst und den ganzen dicken Stoß in ihren Schoß gleiten lassen. Hilflos sah sie diese Fülle, und ihre Hände zögerten, mit dem Morde zu beginnen, der weit verdienter war als der Mord an dem ätherischen Unwirklichen. Noch einmal naschen aber wollte sie an der süßen Bitterkeit. Sie setzte ihre Brille auf, wühlte in dem alten Papier, zog einen der Briefe heraus wie ein Lotterielos, fing zu lesen an:

»Als ich heute an den Altar trat, dachte ich mit ganzer Seele an Ihr ewiges Heil, liebes Tantchen ...«

Entsetzlich, ungeheuerlich, unausdenkbar! Doch gerade mit diesem Briefe, der sie einst so sehr beglückt hatte, wollte sie das Zerstörungswerk nicht beginnen. – Ein anderer!

»Ich muß Ihnen berichten, teuerstes Tantchen, daß ich gestern am hohen Pfingstsonntage bei der Anrufung des Hl. Geistes sehr unaufmerksam gewesen bin. Anstatt seine sieben Gaben und die feurigen Zungen zu sehen in den Sonnenstrahlen, die unsere kleine Kirche durchwoben, ergriff mich plötzlich eine sonderbare Angst um Sie. Befinden Sie sich nicht wohl, um Gottes willen, haben Sie sich vielleicht erkältet, hat man Ihnen zuviel Arbeit zugemutet? Ach, warum gehören wir nicht zu den Reichen und zu den Herrschaften, sondern zu den Armen und zu den Dienenden? Über diese Grundfrage meiner irdischen Existenz vermag mir oft nicht einmal der Trost unserer Religion hinwegzuhelfen. Hätt' ich nur einen überflüssigen Hunderter, nichts hielte mich zurück, ich würde zu Ihnen fliegen, um Sie endlich umarmen zu dürfen, um Sie zu pflegen, wenn Sie krank sind, wie vielleicht jetzt. Ich habe niemanden auf der Welt als Sie, die mein Herz ständig mit Sorge und Unruhe erfüllt. Schreiben Sie sofort und beruhigen Sie Ihren Neffen ...«

Mit langsamer Hand legte Teta diesen Brief zu den anderen. Wenn sie jetzt die verletzte Ordnung wiederherstellte, so war es nur die Ordnung dieser Briefe, dieser tückisch absonderlichen Liebesbriefe, der einzigen ihres Lebens. Jeder einzelne kam, nach dem Datum geschichtet, wiederum an seinen alten Platz. Es war ein schweres Versagen, eine schmähliche Niederlage, als sie die himmelblaue Schleife abermals um die Briefe band. Teta belog sich nicht. Sie hatte die Kraft nicht mehr zur vollständigen Leere, den Mut nicht mehr zum völligen Neubeginn. Wenn dieser Stoß auch den unausdenklich gemeinsten Verrat enthielt, den die Welt kannte, sie wollte sich nicht ganz von ihm trennen, denn was sie selbst in all die Briefe hineingefühlt und hineingeträumt hatte, das war kein Verrat, sondern das aus hundert Blättern gepreßte Rosenöl ihrer Hingabe an Gott und an einen Menschen seit dreißig Jahren.

Wer sonst immer Teta Linek sah, mochte sie für eine hurtig arbeitsame Person in reifen Jahren halten, doch keineswegs für eine Frau ihres Alters. Hätte sie aber jetzt ein Zeuge erblickt, wie sie tief gebeugt auf dem elenden Eisenbette saß und vor sich hin starrte, er hätte nicht gezweifelt, eine gebrochene Greisin vor sich zu haben. Dieser Zustand der Gebrochenheit freilich währte nicht lang. Teta ließ ihren Blick die grauen Wände des Kabinetts entlangwandern. Ja, dort war das Bild mit dem Schneeberg, der sie an Grafenegg gemahnte. Schöne, gute Jahre waren's gewesen im Hause Argan. Fast schien es so, daß ihr eigenes Unglück durch das größere der gnä' Herrschaft mit entfesselt worden sei. Denn ohne jene Schicksalsschläge hätte sie diesen prächtigen Posten gewiß nicht verlassen. Sie dachte flüchtig an das puppenhafte Totenantlitz Philipps und an das verschrumpfte Gesichtchen der kranken Doris. Unter ihren Augen waren sie groß geworden, die lieben Kinder. Mit der ihr eigenen Härte, die zugleich eine Angst vor dem Gefühl war, beschloß Teta, sowenig wie möglich die Erinnerung an die Familie Argan zu beschwören. Es war eine ihrer Herrschaften. Fremde Leute, was weiter? Das Bild mit dem Schneeberg aber wollte sie noch heute von der Wand nehmen lassen.

Auf einmal stockte ihr Blick. Die Vergißmeinnichtaugen füllten sich mit Veilchenblau. – Dort der größere Strohkoffer! Hatte sie recht gesehen? Sie kniff die Lider ein. Die durch die Schleifen des Koffers gezogene Eisenstange schien ihr um eine Spur verbogen zu sein. Jemand hatte Hand an ihr Besitztum gelegt! Die Müdigkeit war vergessen und alles andere. Mit einem Satz, wie eine ganz Junge, sprang sie hinzu, zerrte das Schlüsselchen hervor und öffnete das Kofferschloß. Und da, jawohl, da war der Beweis!

In Tetas Gepäck befanden sich wahrhaftig keine Kostbarkeiten, nichts, was einer Träne wert gewesen wäre, sondern nur das Armselig-Übliche, das sich im Leben einer Dienstmagd ansammelt, die es nicht und nicht übers Herz bringen kann, verbrauchtes Zeug fortzuwerfen: vor allem grobe Wäsche in Masse, hundertmal geflickt, vermottete Kleider und brüchige Schürzen und ausgetretene Schuhe und eine Unzahl von Schächtelchen und Büchschen, angefüllt mit Bändern und Stoffresten und Fetzen und Garnspulen und Sicherheitsnadeln und rostigen Fingerhüten und zerbrochenen Stricknadeln und halben Scheren. Solch ein Koffer ist ein Pharaonengrab der billigen Alltäglichkeit. Doch auch dieses Pharaonengrab hatten räuberische Hände durchwühlt, wenngleich sie ihre Spuren besser verwischt hatten als die Grabschänder Ägyptens. Teta wußte sofort, was geschehen war. Die Frau Oberrevident hatte nach Schätzen gegraben und ihr Eigen- und Heiligtum entweiht. Sie sah es an der veränderten Schichtung, sie roch es an dem gestörten Geruch. Da geschah, was im Zimmer des Neffen nicht geschehen war. Teta erlitt einen Tobsuchtsanfall, einen Wein- und Schreikrampf. Ist es möglich, daß die Menschen, die verwandten Menschen gar, solche Bestien sind? Sie zertrampeln dein Ich, sie durchgraben mit schmutzigen Krallen dein kleines Hoheitsgebiet! Sie rauben und morden, und wenn du eine Sekunde lang wegschaust und dich nicht verteidigst, bist du verloren! – Kann man in dieser Welt leben? Was ist das überhaupt für eine Welt, die den himmlischen Aufenthalt unterbricht? Ein Ekel bis zum Wahnwitz schüttelte Teta. Sie schrie gellend:

»Aufgebrochen hat sie den Koffer! Bestohlen bin ich und ausgeraubt! Aufgebrochen ...«

Und immer wieder: »Aufgebrochen!« Vor dem Koffer kniend, schlug sie mit Fäusten auf das Weißzeug los. Manchmal traf ein Faustschlag die Zither, die zuoberst lag und harmonisch aufstöhnte. Teta hatte nicht oft im Leben geweint. Jetzt aber strömte es aus ihren Augen, als müsse das Versäumte in wenigen Minuten nachgeholt werden. Ihr Gesicht aber war von Tollwut auseinandergezerrt.

Inzwischen begann's an der Tür erregt zu pochen, und die Stimme der Zikan drang zischend ein:

»Was schreist du da, Schwester, Maria und Josef, was willst du? Sei still doch! Das ganze Haus rennt schon zusamm'!«

Teta schlug weiter wie toll auf das unschuldige Weißzeug, als wolle sie sich das Leben aus dem Leibe berserkern.

»Aufgebrochen!« raste sie. »Aufgebrochen den Koffer!«

»Was hab' ich? – Nichts hab' ich aufgebrochen! – Ich bin Staatsbeamtenwitwe und brech' nicht auf! In meiner eigenen Wohnung das ...«

Auch die Zikan hatte jetzt ihre Stimme kreischend erhoben. Dieser unangenehme Laut aber schien die Tobsüchtige sofort zu beruhigen. Sie wurde unvermittelt still. Man hörte nichts mehr draußen vor der Tür.

»Wie meine Mutter hab' ich sie gehalten«, jammerte die Frau Oberrevident schon in den gemäßigteren Tönen eines tiefen Schmerzes. Da aber das Todesschweigen in dem Kabinett sich immer länger hinzog, bekam sie's mit der Angst und fing von neuem an zu klopfen, zu flüstern:

»Mach auf, Tetilein!« lockte sie. »Laß mich hinein! Ich hab' dir schon wieder verziehen und deinen Worten. Niemand hat aufgebrochen. Was dir fehlt, ersetz' ich. – Nur mach auf, Schwester, um Gottes willen!«

Keine Antwort. – Wie erschrak da die Zikan! Durch einen offenkundigen Selbstmord wär' sie nicht gern zum sechsten Male Erbin geworden. Sie warf sich gegen die Tür, rüttelte an der Klinke, befahl der greinenden Mila, alle im Haus vorhandenen Schlüssel herbeizuschaffen, vielleicht sperrte einer davon. Als sie den ersten zu versuchen begann, öffnete sich die Tür innen von selbst, und heraus trat Teta in Hut und Mantel, das Heiligenbild unter den linken Arm geklemmt, das Täschchen gegen die Brust pressend. Ihr Gesicht brannte. Ihre hellen Augen aber blickten schon friedlich drein:

»Ich werd' bittlich sein, Schwester«, sagte sie mit nachzitternder und doch ruhiger Stimme, »daß ich jetzt auszieh' aus deiner Wohnung mit Erlaubnis. Ich wollt' dir ja eh nur ein paar Tage zur Last fallen und muß um Entschuldigung bitten deshalb.«

Jetzt aber heulte die Zikan auf, ins Herz getroffen:

»Und das, weil du mich beleidigt hast mit deinem polizeilichen Verdacht ...«

»Wenn ich beleidigt hab', werd' ich um Verzeihung bitten«, erwiderte Teta versöhnlich, »es wird aber besser sein, wir machen's wie früher, Schwester, und sehen uns nur besuchlich in Ehrbarkeit gegenseitig. – Und du schickst mir die Sachen nach, nicht wahr, auf meine Kosten?«

Sie zwang sich ein höfliches Lächeln ab und gab der Zikan die Hand, als wäre nichts vorgefallen, als sei es einer der verschollenen Feiertage, an welchen sie in früheren Zeiten die Schwester zu besuchen pflegte. Dieser aber fiel nichts ein, um die Scheidende zu bannen.

 

Teta hatte sich wegen einer Unterkunft an den Verein katholischer Jungfrauen gewandt, als dessen würdig angesehenes Mitglied sie betrachtet wurde. Der Verein besaß im Lerchenfelder Stadtbezirk ein eigenes Altersheim, das den Namen »Theresienruh« führte. In diesem Hause fand Teta gegen ein geringes Entgelt Aufnahme und Verköstigung. Sie hatte fest angenommen, daß solch eine unbescholtene und ausdauernde Jungfrau wie sie ein eigenes Zimmerchen bekommen werde, ein bescheidenes Abbild und armseliges Vorspiel gleichsam jenes oberen Wohnsitzes, nach dem sie sich brennender sehnte als je, gerade weil er durch die Veruntreuung des Neffen so grausam in Frage gestellt war. Im Gegensatz zur himmlischen Pensionsstadt jedoch, die jeglicher verdienstvoll erworbenen Unsterblichkeit ein freundlich weißes und blumengeschmücktes Einbettstübchen zuwies, besaß »Theresienruh« nur fünf Einzelkammern, und diese waren gegenwärtig besetzt. Eine davon, so versprach die Hausverwaltung, werde durch Ableben der Inhaberin über kurz oder lang frei werden. Diese jedoch, eine nicht minder robuste als fromme Natur, wehrte sich vorläufig noch, trotz all ihres Himmelglaubens, gegen die Übersiedlung in den ewigen Mieterschutz. Frau Linek müsse sich daher gedulden.

Teta war demnach zum erstenmal im Leben gezwungen, einen Schlafraum mit drei anderen Frauen zu teilen. Sie sah darin wahrhaftig kein Abbild und Vorspiel der himmlischen Endgültigkeit, sondern das Zeichen ihres irdischen Niedergangs, dessen Raub sie geworden, seitdem sie das Haus Argan verlassen und die verfluchte Forschungsreise angetreten hatte. Das Recht auf die Einsamkeit des Schlafes war ein ehrlich erworbenes und eifersüchtig bewahrtes Gut, das sie hoch über die Ärmsten und Niedrigsten der grauen Masse erhob. – Man wird vielleicht fragen: Teta schließt in ihrem Täschchen einen Schatz in runder Summe. Warum geht sie nicht hin und mietet irgendwo eine Kammer, wo sie in Ruhe hausen kann? – Auf diese klare Frage gibt es als Antwort nur Vermutungen. Der Widerspruch kam nicht nur aus Tetas Wesen, sondern auch aus ihrem Beruf. Sie hatte einerseits Furcht, der Schatz würde ihr unter den Fingern zerrinnen. Andererseits aber war sie, trotz ihres Unabhängigkeitsdranges, doch niemals selbständig gewesen in ihrem Leben. Dieses hatte sich ja immer im Rahmen anderer und übergeordneter Existenzen abgespielt. Sie war gewohnt, »in Häusern« zu sein, und dachte wahrscheinlich gar nicht an die Möglichkeit einer eigenen Wirtschaft. Gleichzeitig aber litt sie tief unter dem Absturz, unter dieser bitteren Teilansicht ihres Unglücks, das sie dem Neffen, dem Wirklichen, verdankte. Hatte sie in all den Jahrzehnten jemals daran gezweifelt, daß sie die Tage ihres Alters in einem lauschigen Pfarrhaus an der Seite ihres geistlichen Mittlers und Sohnes verbringen werde? Jetzt wenigstens redete sie sich mit großer Verstocktheit ein, daß sie an dieser so heimeligen Zukunft nicht eine einzige Stunde gezweifelt habe.

Sie mußte also mit drei alten Schachteln zusammen schlafen und sich einer sogenannten »Hausordnung« unterwerfen, die nicht wie in früherer Zeit durch ihre Obliegenheiten bei einer gnä' Herrschaft vorgezeichnet war, sondern durch die gedruckte Kundmachung einer Direktion. Fast erging es ihr nach den Worten des Herrn Oberrevidenten: Das soziale Leben hatte sie ausgestoßen und mir nichts dir nichts in eine bessere Fürsorgeanstalt praktiziert. Am schlimmsten aber waren die Nächte. In den Nächten haßte man die Schlafgenossinnen glühend. Man mißtraute ihnen und lag starr und wach, den Schatz unter dem Kopfkissen, und belauerte den rasselnden, röchelnden oder blasenden Atem der Feindinnen. Es gab nur Feinde in diesem Leben. Wer etwas hat, wer etwas verbirgt, dem stellen alle Menschen als Feinde nach. Wer aber nichts hat, dem hilft keiner, der geht vor die Hunde. In diese Zwickmühle ist der Mensch gesperrt. Nicht aus Übertriebenheit hatte man sich stets am Abend eingeschlossen in besseren Zeiten. Wer aber vertrauensselig war, der kaufte seine Seligkeit beim Teufel ein, dreißig Jahre lang, und der Herrgott schützte ihn nicht, denn der kannte die Menschen und schien sie zu verachten. Wer eine Reise tat und stellte das Gepäck bei der leiblichen Schwester unter, dem wurde sein Eigentum entweiht, und der Herrgott schützte ihn nicht, denn der kannte die Menschen und schien sie zu verachten. Die Menschen bestanden nur aus zwei Sorten: aus Betrügern und aus Dummköpfen, und Betrug und Dummheit aber wurde schon hier unten bestraft, während die feinere Betrügerei erst drüben zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Sie, Teta, hatte teil an beiderlei Sündenformen. Seit der Begegnung in der »Neuen Welt« nämlich konnte sie das bestimmte Gefühl nicht abstreiten, sie sei auf eine vertrackte Art die Komplicin des großen Betrügers geworden. Der Neffe selbst hatte ihr durch seine Selbstverteidigung diesen Gedankenkeim eingesetzt, der, zumal bei Nacht, üppig aufging. Hätte sie nicht die Pflicht gehabt, in all den Jahren nach dem Rechten zu sehen, anstatt unbegreiflich träge und nachlässig dafür zu sorgen, daß die Betrügerei nur ja auf keine Schwierigkeiten stoße? Wenn sie nun auch ihre Unabkömmlichkeit als Dienstbote ins Treffen führte und die bestrickende Wirkung der Briefe, ihr Gewissen gab sich nicht geschlagen. Sie war die Hehlerin dieses Frevels, und die höchste Instanz würde sie nicht freisprechen, und alles war verpatzt. – Warum hast du dreißig Jahre gewartet? – Auf diese Frage des Richters wußte die Angeklagte keine Antwort. Da lag sie nun in den Nächten, schlaflos unter solcher Seelenlast, und belauerte den Atem ihrer naturgegebenen Feindinnen und war überzeugt, daß auch diese, schlaflos wie sie, den ihren belauerten. Es waren aber darunter bessere Damen, Herrschaften, sogar die Schwester eines ehemaligen Generals. Doch was half das? Die Nacht glich den politischen Mächten nach dem Kriege, dem Unheimlichen, Unheiligen. Sie erkannte keine Rangunterschiede an. Teta war nicht mehr allein wie früher. Und Teta war allein unter Feinden. Es mußte anders werden.

Sie entschloß sich, dem gefährlichen Müßiggang zu entsagen und wieder in Dienst zu gehen. Zu diesem Zweck suchte sie Herrn und Frau Argan auf, um ein »Zeugnis« zu erbitten, das sie für ihren weiteren Lebensweg nicht mehr als nötig erachtet hatte. Da es in diesen Tagen der jungen Doris besser zu gehen schien und eine neue Kur erstaunliche Fortschritte zeitigte, fand sie ihre ehemalige gnä' Herrschaft in hoffnungsreichster Geberlaune. Man schrieb ihr ein Zeugnis, desgleichen es kein zweites gab: eine Kochkünstlerin, die keinem Chef eines ersten Hotels nachsteht, einundzwanzig Jahre der Treue, des Fleißes, der Redlichkeit. Teta ging mit diesem Prachtdokument zu den Vermittlungsbüros für Hausgehilfinnen, auf jene staubigen Menschenmärkte, die sie seit grauer Vorzeit nicht mehr betreten und als Inhaberin einer Lebensstellung verachtet hatte. Sie ließ ihren Stock zu Hause und trat einher wie eine resche Fünfzigerin, der auch die weitläufigste Küche und der gastlichste Tisch keinen Respekt einflößt. Sie sagte und es war eine wunderliche, aber lautere Wahrheit –, daß es ihr mehr drauf ankomme, eine Arbeit zu finden als einen guten Verdienst, und sie wolle gerne unter dem Preissatz einer erstklassigen Herrschaftsköchin dienen, die laut Zeugnis keinem Chef nachsteht und auf einen zwanzigjährigen Posten in einer hochgnädigen Familie zurückblickt. Ganz sicher war dieses Dumping, zu dem Teta sich hinreißen ließ, kein sehr kluger Schritt. Die Menschen begreifen nichts weniger als den Adel, der darin liegen kann, daß jemand sich selbst unterbietet. Wer sich nicht selbst hoch einschätzt, der ist gewiß noch viel weniger wert als die Masse, die sich durch die Bank hoch einschätzt. Doch wie dem auch immer sei, Tetas Wunderzeugnis hatte einen dicken Schönheitsfehler, der sich nicht wegradieren ließ. Es war ihr Geburtsdatum. Wer würde in diesen Zeiten der arbeitslosen Jugend und des nachdrängenden Menschenüberflusses eine Siebzigjährige ins Haus nehmen? Auch waren in den letzten Jahren jene Häuser verdammt zusammengeschmolzen, welche sich eine »perfekte Köchin« leisten konnten. Man lebte im Zeitalter der »halbtägigen Bedienerinnen« und der »Mädchen für alles«. Teta wurde vertröstet. In einer Koch- oder Haushaltungsschule könne sich demnächst vielleicht eine Möglichkeit zeigen. Auch werde man an sie denken, wenn im Falle irgendeiner großen Hochzeit oder eines Hausballes eine Aushilfe verlangt werden sollte. Es zeigte sich nichts. Sie aber gab in ihrer altbekannten Zähigkeit die Hoffnung nicht auf. Denn wie sollte sie ohne Arbeit leben?

Gleich am Sonntag nach ihrem Auszug aus der Wohnung der Zikan bekam sie Besuch. Teta hatte gerade an ihr Kabinett gedacht und daß es schade sei vielleicht darum und daß sie's eigentlich dort recht gut gehabt hatte. Da meldete ihr der ehrwürdige Hausdiener von Theresienruh, daß sie unten im Gesellschaftszimmer von einer Frauensperson erwartet werde. Es war fünf Uhr vorüber, und die betagten Pensionärinnen des Jungfernheims waren ausgeflogen bis auf ein paar schwer Bewegliche, die in ihren Zimmern hockten. Der Gemeinschaftsraum war leer, und Teta fühlte sich erleichtert, weil niemand ihre Schwester Mila sah, die arme, verkümmerte Närrin, die bei ihrem Kommen auf sie zuflatterte, ihre Hand an sich riß und küßte und mit der Stimme eines elfjährigen Schulkindes den Begrüßungsspruch hersagte: »Ich bitt' auch schön um Verzeihung, Schwesterlein, und sei wieder gut!«

»Warum soll ich auf dich böse sein, Mila«, sagte Teta und zwang die ängstlich Widerstrebende, Platz zu nehmen, »du hast mir ja nichts angetan.«

Mila war von Frau Oberrevident prächtig herausgeputzt worden. Sie trug auf ihrem großen grauen Kopf ein Hütchen mit einem schäbigen Veilchenstrauß, vermutlich eine Reliquie aus einer der Erbschaften; hilflos schwebte es auf dem gedunsenen Scheitel der Unglücklichen. Ein altertümlicher Sonnenschirm in verwaschenem Lila verbesserte den ärgerlich kecken Aufzug nicht. Milas Stirn lag in angestrengten Rumpelfalten. Ihre breiten Lippen über den auseinanderstehenden Zähnen bewegten sich fleißig. Offenbar hatte sie ein Verslein herzusagen. Nach längerer Gedächtnismüh brachte sie auch dieses ungereimte Verslein zustande:

»Ich bitt' schön um Verzeihung, Schwesterlein, weil ich die Schuldige bin allein und nicht die Frau Oberrevident, und ich hab' deinen Koffer aufgebrochen, nur um nachzusehen ... Aber ich bin doch ein armer Trottel und kann nichts dafür. Deshalb sei wieder gut und komm zurück zu uns!«

Nachdem sie diese verwunderlichen Worte heruntergeleiert hatte, blickte sie erlöst und triumphierend um sich. Sie schien sich der schweren Selbstbezichtigung gar nicht bewußt zu sein, sondern nur stolze Befriedigung darüber zu empfinden, daß sie ihr Verslein so gut eingelernt und angebracht hatte. Teta aber sah düster aus dem Fenster auf die blühenden Kastanienbäume. Dieser Mißbrauch einer geistig Armen, das war ein echter Einfall ihrer Schwester Katherina Zikan. Nicht sie, sondern die Zikan war des Neffen würdige und gleichgesinnte Tante. Den armen Trottel schicken, damit er die Schuld auf sich nehme, das entsprach beinahe den schönsten Briefen Mojmirs. Wieviel Scheußlichkeit beherbergte doch ihre Blutsverwandtschaft! Mußte sie nicht auch ihr Teil davor abbekommen haben? Wie recht hatte sie doch gehabt, diese grausliche Sippe immer zu meiden. Jetzt aber füllte sich Tetas Herz mit Abscheu und mit dem gramvollen Argwohn, daß sie auf irgendeine Weise mitverwickelt sei in dieses verwandtschaftliche Greuelwesen und daß nicht sie mit all ihrer Zielstrebigkeit, sondern einzig und allein die Mila in den Himmel kommen werde. Dabei hatte sie noch kaum vor einer Stunde den Gedanken erwogen, das Kabinett der Zikan wieder zu beziehen. Sie atmete schmerzlich auf und sagte laut:

»Nein, Mila, das ist alles nicht wahr. Und du weißt doch, man darf nicht lügen, auch wenn es befohlen wird.«

Milas schwerer Kopf sank vor Entsetzen beinahe auf die Tischplatte.

»Schwesterlein, Schwesterlein, sag's nur ja nicht der Frau Oberrevident, daß es nicht wahr ist«, klagte sie mit der seltsamen Logik all derjenigen, welche kein eigenes Leben haben und deshalb auch keine eigene Wahrheit und keine eigene Lüge. Es gab für Mila nur einen einzigen Beweggrund: die Furcht. Und diese Furcht war gar nichts Widriges, sondern sogar ein Halt, eine Kraft, die der geistig Zurückgebliebenen zur Lebensfähigkeit verhalf und ihre Arbeitsleistung über das gewöhnliche Maß hinaushob. Aus demselben Grunde erliegen sklawische Völker den Diktaturen, ohne sich dabei besonders unwohl zu fühlen. Mila streckte jetzt der Schwester ihre großen verbeulten Arbeiterhände entgegen.

»Komm zu uns, Schwesterlein, komm gleich mit mir!« flehte sie. »Und ich werd' auch immer zu dir halten! Komm gleich, sonst fürcht' ich mich!«

Teta schüttelte den Kopf. Auch das unvorsichtig kühne Versprechen, Mila werde immer zu ihr halten, konnte sie nicht umstimmen.

»Ich werd' besuchlich zu euch kommen, schon übermorgen«, sagte sie, damit kein offener Bruch herrsche zwischen ihr und der gefährlichen Staatsbeamtenwitwe und damit Mila nicht ganz mit leeren Händen heimkehre. Die Schwachsinnige aber schielte verzweifelt, und der mächtige Kopf mit dem lächerlichen Veilchenhut wackelte an dem dünnen Halsstengel hin und her. Um ihr einen Trost zu bieten, führte Teta sie in eine kleine Konditorei um die Straßenecke und ließ ihr ein Fruchteis und eine Schaumbäckerei auftischen. Ein überschwenglich gieriges Glück rötete sogleich die Wangen des armen Trottels. Schon war alles andere vergessen. Mit der zitternden linken Hand schützte sie furchtsam den Teller, damit ihr niemand etwas von diesem herrlichen Lebensgenuß wegesse.

Teta aber betrachtete sie mit einem tiefen Gram, der ihrem bisher so friedlichen Herzen ganz neu und fremd vorkam.

Schlimmer aber als Tetas weltliche war ihre geistliche Verstörtheit. Das Gift des Betruges hatte auch diesen, bisher so gesicherten Teil ihres Lebens nicht verschont. Wie ein winziger Tintenspritzer auf einem Löschblatt breitete es sich in ihrem Gemüt immer weiter aus. Nicht so sehr die verführerische Schlangenrede des Neffen trug Schuld – sie konnte deren Sinn nicht ganz wiederherstellen –, wie die nackte Tatsache der Zulassung, daß Gott nämlich einen solchen Hohn und eine solche Schändung straflos duldet, während er unschuldige Kinder wie Philipp und Doris ohne Bedenken vernichtet.

Die Magd hatte fast sechzig Jahre lang keine einzige Morgenmesse versäumt. Diese sechzig Lebensjahre waren gleichzeitig sechzig volle Kirchenjahre. Das Kirchenjahr ist ein übernatürlicher Spiegel und eine liebliche Entsprechung des Erdenjahres. Wie in diesem Baumblüte, Ährenschnitt, Weinlese und Schneefall ihre Zeit haben, so in jenem der schöne Wandelgang der Feste, der sich unaufhaltsam wiederholt. Und wie der natürliche Mensch mit Leib und Seele am Ablauf des Erdenjahres teilhat, so der Frommgläubige am ewig gleichen Reigen des Kirchenjahres. Beide blühen und reifen und welken in den verschiedenen Phasen des irdischen und überirdischen Sonnenumlaufs mit.

Wenn Teta auch die Tiefe der Messe nicht verstand, alles Äußere war ihr während dieser sechzig treuen Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. Eine solche Beherrschung des Äußeren bedeutet aber zugleich in hohem Maße eine Teilhabe am Inneren. So begreift ein Bauer das Geheimnis des Wachstums, ohne etwas von den Gesetzen der Biologie jemals vernommen zu haben. Teta wußte zum Beispiel, daß der erste Sonntag nach Ostern »Weißer Sonntag« hieß, daß sein Heiliger der Märtyrer Pankratius war, und sie müßte gar nicht erst zum Hochaltar hinschauen, um sich zu überzeugen, daß die Tagesfarbe der Priestergewandung schneeweiß leuchtete. Ja, Weiß blieb die Farbe bis zum Auferstehungstage, um dann in der Pfingstvigil vom brennenden Rot des Liebesgeistes abgelöst zu werden. Wie freute sie sich alljährlich auf dieses Rot, ihre Herzensfarbe, die den sommerlichen Kirchenraum in ein entzückendes und beunruhigendes Feuer kleidete. Durch sechzigjährige Erfahrung kannte sie jede Klangschwebung des liturgischen Gebetes und hätte jegliche der lateinischen Floskeln, die sie nicht verstand, Silbe für Silbe wiedergeben können. Aus den jeweiligen Predigten waren ihr geläufig Evangel und Epistel des Tages, und sie begrüßte die einzelnen Abschnitte des Heilsweges mit freundlich-stolzem Wiedererkennen, wie sie alljährlich die hundertjährigen Linden auf Grafenegg in ihrer Blüte und in ihrem bunten Herbstkleide begrüßt hatte. Dies alles war gewissermaßen ihr höheres Leben, ihre Kunst, ihre Liturgie, ihre Schönheit, ihre bleibende Festesfreude, ihr süßes Aufgehobensein.

Mit einem Male aber hatte sich's verwandelt. So erlebt vielleicht ein Wald- und Blumenfreund, von einer schleichenden Krankheit befallen, da die geliebtesten Bäume ihn plötzlich grau und gleichgültig anstarren. Dann denkt er erstaunt: Was ist nur los? Die Natur spricht nicht mehr zu mir. – Zu Teta sprach jene andere Natur nicht mehr, in der sie sich ein ganzes Leben lang friedlich und sicher ergangen hatte. Jetzt saß sie trüb, gleichgültig, ja grimmig in der Kirche, inmitten der anderen Pfleglinge von Theresienruh, konnte sich öder Nebengedanken nicht erwehren, preßte ihr Täschchen diebsfürchtig an die Brust, fühlte sich scheel beobachtet und vergaß sogar – entsetzliche Folge der Vergiftung durch den Neffen –, bei der Wandlung niederzuknien. In der Nacht lag sie dann wieder schlaflos und zerpeinigte ihr Gehirn und wußte nicht ein noch aus. Der Tod kam näher. Jahrzehnte waren in Rauch aufgegangen. Und sie war weniger bereit als nach ihrer ersten Kommunion.

Teta wußte, daß es nur einen Weg gab, sich aus diesem abgleitenden Zustand zu retten, der unweigerlich zum untersten, zum feuerpeinlichen Abgrund führte. Sie mußte als Mitschuldige, als Hehlerin des Neffen eine volle Beichte ablegen. Sie mußte ohne jede Scham ihr Innerstes einem Geweihten anvertrauen. Von ihren Hausgenossinnen aber sollte keine etwas davon ahnen. Für diesen Zweck erwählte sie zu später Tagesstunde eine kleine mittelalterliche Kirche in der inneren Stadt, die immer erst nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde.

Draußen herrschte ein sommerlich bewegter Mainachmittag. Herinnen war's dunkel, leer und frostig fast. In einem Beichtstuhl schimmerte ein schwaches Licht. Teta sah, wie beim Schall ihrer klappernden Schritte ein junger, schmaler Priester in den Beichtstuhl huschte. Sie glaubte, im fahlen Dunkel sein Gesicht wahrgenommen zu haben. – Hätte ich, fragte es quälend in ihr, hätte ich in diesem da auch den Neffen erkannt? – O wie gern, o wie dankbar hätte sie in diesem da den Neffen erkannt! Hinter dem grünen Vorhang des Beichtstuhls räusperte es sich mahnend. Teta kniete hin, murmelte ihre Formel.

Dann aber, als sie sich sammeln und anklagen wollte, merkte sie gleich, daß sie ganz und gar Unmögliches sich zugemutet hatte. Ihr Geist war leer an passenden Worten. Allzu selten, allzuwenig hatte sie in ihrem Leben gesprochen. Ohne rechte Übung war sie, ohne die notwendige Ausdrucksweise, um diese verzwickte, verwickelte, schmachvolle und widerwärtige Geschichte in schneller Erzählung würdig darstellen zu können. Wo fängt man richtig an? Wo hört man auf? Was muß man preisgeben? Was darf man verschweigen? Ihr Gemüt gähnte schwarz und verstockt. War es wirklich nur der Mangel an rechten Worten? – Das Täschchen wurde immer schwerer, als wachse das Gewicht der Briefe darin zur Steineslast. Und wieder ein schwaches Räuspern hinter dem Vorhang. Sie stammelte irgend etwas. Die Stimme im Beichtstuhl murmelte beruhigend: »Lassen Sie sich nur Zeit, meine Tochter.«

Welche Stimme! Sie zerschnitt Tetas Herz. Genau dieselbe Stimme mußte der junge Geweihte auf ihrer leider vernichteten Fotografie besitzen, nach der sie sich an jedem Morgen und Abend sehnte. – Nur die Stimme? War nicht auch das unsichtbare Gesicht dasselbe? – Nun kniete sie vor dem Unwirklichen, sollte beichten und vermocht's nicht. Gleichzeitig aber erscholl ein langer hallender Schritt in ihrem Rücken und näherte sich dem Beichtstuhl. Bange Furcht, ja ein jäher Verfolgungswahn warf sich über die Verstörte, der Wirkliche und Leibhaftige könne um ihres Geldes willen ihr nachgereist sein und sie mit Hilfe der Schwester Zikan aufgespürt haben. Und jetzt ist er hier in dieser dunklen Kirche und hat sie im Beichtstuhl entdeckt und wartet dort hinten am Taufbecken, um sie abzufangen. Sie sah deutlich hinter ihren geschlossenen Lidern den frühlingsfrohen Panamahut mit dem weiß-roten Band, den der unverschämte Gotteslästerer auf dem Kopf behielt. Sie aber war unrettbar eingeklemmt zwischen dem Unwirklichen im Beichtstuhl und dem Wirklichen hinter ihrem Rücken. Da stöhnte Teta laut auf: »Mit Erlaubnis ... Wenn ich bittlich sein darf ... Ich kann nicht ...«

Die abgeblendete, aber warme Stimme hinter dem Vorhang beruhigte:

»Das kommt vor, meine Tochter. Gehen Sie eine Weile an die frische Luft. Ich werde warten, bis Sie zurück sind. Aber Sie müssen heut nicht zurückkommen. – Vielleicht fällt es Ihnen morgen oder in den nächsten Tagen leichter. Warten Sie auf den richtigen Augenblick und kommen Sie erst dann zurück.«

Diese Stimme! Teta spürte ein kurzes Würgen in der Kehle. Sie erhob sich verwirrt, blickte umher, ob der Verfolger mit dem Panamahut ihr nicht wirklich auflauere. Ihr Kopf dröhnte. Was war geschehen? Sie hatte die Fähigkeit verloren, zu beichten, und daher auch in den reinen Stand zu kommen, das Heilige Altarsakrament zu empfangen. Wenn der Tod sie jetzt ereilte, war sie vogelfrei.

Teta schlich aus der Kirche. Draußen empfing sie blaugoldnes Zwielicht. Die Bogenlampen surrten schon auf. Menschen eilten über den kleinen Platz. Ihre Gesichter waren allzumal finster und unangenehm. Nicht nur Teta war verändert, sondern die ganze Menschheit. Sie spürte es mit einem sonderbaren Erstaunen. Bevor sie diese Niederlage im Beichtstuhl erlebt hatte, waren Welt und Menschen ihr anders erschienen als jetzt. Auf der Plattform vor der kleinen Pforte sah sie etwas zu ihren Füßen schimmern. Es war ein Silberstück, ein Schilling. Sie hob ihn auf. Gott hatte ihr, der schlechten Magd, gewissermaßen ein verächtliches Trinkgeld hingeworfen. – Wofür? Weil sie dreißig Jahre lang nicht ihre Pflicht erfüllt hatte? – Die Hand krampfhaft um den Schilling geschlossen, ging sie die Kirchenstufen hinab, über den Platz, bis zur nächsten Straßenecke. Dann aber kehrte sie um, weil sie die gefundene Münze, Gottes verächtliches Trinkgeld, aus einem heimlichen Stolz nicht annehmen, sondern in die Armenlade der Kirche stecken wollte. Während sie aber zurückging, wurden ihre Beine immer schwerer und schmerzhafter, und ihr Herz drohte zu versagen. Die zwölf Stufen der Freitreppe bedeuteten jetzt eine kaum überwindliche Bergpartie. Als sie aber dann die kleine Holztür im Kirchenportal keuchenden Atems wieder aufstieß, da war ihre Hand so schwach und leblos geworden, daß ihr der Schilling entfiel. Er verrollte spöttisch unter dem Spalt der Schwelle. Teta bückte sich, um ihn zu suchen. Während sie sich aber bückte, wurde ihr ganzer Körper so schwach und leblos, daß sie hinfiel. Es war ihr selbst nicht klar, ob sie über irgend etwas ausgeglitten war oder sich hatte einfach fallen lassen. Da lag sie nun auf den mächtigen Steinfliesen der Plattform und atmete schwer. Dort unten eilten die Menschen mit finsteren und unangenehmen Gesichtern über den Platz. Keiner sah zu ihr hin. Keiner half ihr. Keiner sollte ihr helfen. Zuerst hatte Gott ihr ein Trinkgeld hingeworfen. Dann aber hatte Gott sie selbst hingeworfen, wie man etwas fortwirft, das keinen Wert mehr hat. Und die alte Welt war zu einer neuen Welt geworden, das erste Mal in Tetas langer Laufbahn. Und diese Welt war voll von Katis und Milas, und Mojmir herrschte über sie, und es war kein Platz mehr in ihr für ein eigenes Zimmerchen. Die Unterbrechung zwischen Tod und Tod, die man Leben nennt, hatte jeden Sinn verloren. Hier lag Teta und wollte sich nicht erheben, denn es war gut, die Erde zu berühren wie ein Tier. Aus der Kirche trat eine Dame. Sie reichte der Magd eine Münze. Sie hielt die Hingestürzte für eine verkrüppelte Bettlerin, die sich auf ihren Beinen nicht fortbewegen kann. Auch dieses Geldstück fiel daneben und verrollte irgendwo ins Nichts. Endlich raffte Teta sich auf. Schwankend stand sie da, das Gesicht gegen die Laibung des Portals gewandt. Ihr Blick ruhte lange auf einer Ankündigung hinter Glas und Rahmen, die dort in Augenhöhe hing:

»Anmeldungen zur diesjährigen Pfingstpilgerfahrt nach Rom werden bis spätestens zum zehnten Mai in der Pfarrkanzlei entgegengenommen. Reisekosten pro Person Schilling 200 oder 400, letztere mit längerem Aufenthalt in Venedig, Bologna, Florenz, Siena und so weiter.«

Während Teta an diesen Zeilen noch las, stieg mit Macht aus ihrer fernsten Erinnerung eine Geschichte auf, die sie von Großmütterchen gehört hatte, von derselben, die ihr als Mittagshexe unter dem Birnbaum in Hustopec erschienen war. Ein ganzes mährisches Dorf hatte durch ein schweres Verbrechen Sünde auf sich geladen und war insgesamt mit Weib und Kind zur Buße nach Rom gepilgert, und zwar zu dem damaligen Heiligen Vater, der Pius hieß wie der heutige. Diese Geschichte von der härenen Wallerschar und jenem ganz verlassenen Dorf, in dem fast ein ganzes Jahr lang nicht gesät und gemäht wurde, hatte tiefen Eindruck auf ihre Kindheit gemacht.

Bereits am nächsten Tage meldete sich Teta zu der angekündigten Pfingstpilgerfahrt nach Rom. Man fragte sie, ob sie die bescheidenere oder die kostspieligere Reiseform zu wählen gedenke. Letztere dauere einige Tage länger und schließe die ausführlichste Besichtigung der Heiligtümer und profanen Sehenswürdigkeiten Italiens ein. Teta entschied sich zu der teureren Form, nicht wegen der ausführlichen Besichtigung, sondern um des deutlicheren Opfers willen. Denn wo das Opfer ist, dort wohnt noch immer die Hoffnung. Das wußte Teta seit einunddreißig Jahren.


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