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Achtzehntes Kapitel
Und wieder ein Sonntag

Und zwar der vierte Sonntag im März. Somit auch die letzte feierliche Versammlung der Familie Pascarella um den großen Tisch der Sala da pranzo. Ruggiero und Iride waren reisebereit, denn ihr Schiff verließ am Einunddreißigsten Neapel. Doch auch Grazia und Arthur hatten ihre Trauung, bei der nur Papa, Placido und Annunziata anwesend sein sollten, auf den fünften April vorverlegt. (Als ein nicht unwichtiger Zug sei hier rasch eingeschaltet, daß nicht Grazia zur anglikanischen Kirche übertrat, sondern Campbell zum Katholizismus.) Am sechsten wollte das Paar unverzüglich nach England verreisen. Arthur mußte in London noch einige Geschäfte abwickeln und dann geziemte es sich ja, daß er die junge Frau seiner Schwester brachte, die an ihm Mutterstelle vertreten und der bisher seine ganze Liebe gegolten hatte. Zum Glück Grazias erwies sich Miß Gwendolin Campbell von Anfang an als keine feindselige Schwägerin, sandte sie doch der fremdstämmigen Räuberin ihres Bruders zum Hochzeitstag ein kostbares Erbgeschmeide.

Wer über die Hochzeitsreise des jungen Paares innerlich am meisten grollte, war Don Domenico. Gerechterweise muß anerkannt werden, daß er einen gültigen Grund dazu besaß: das Reisebüro. Arthur Campbell hatte sich nicht daran hindern lassen, die Durchdringung von Papas Azienda mit seinem Unternehmen noch während des Märzmonates, der großen Saison also, hartnäckig einzuleiten. Das ging folgendermaßen vor sich. Eines Tages erschien er mit einem Stapel prachtvoller Landkarten, die nach Ablauf einer halben Stunde die mürben Wände des Straßenladens mit leuchtenden, weltfrohen Farben bedeckten. Es war ein widerspruchsvolles Bild, als werde etwa ein Gemäuer des Altertums gezwungen, die Affichen von mondänen Festlichkeiten zu tragen. Doch nicht genug damit. Sogar der wurmstichige Ladentisch wurde mit Eisenbahnplänen belegt und erhielt darüber dicke Glasplatten eingeschraubt. Etwas später traf ein freundlich phlegmatischer Jüngling, ein Volksgenosse Arthurs, ein. Mit wohlwollendem Handschlag begrüßte er Domenico Pascarella, den Senior, und erklärte, daß er hiemit unaufhaltsam an seine Aufgabe schreite, diese trübe Höhle in ein glänzendes Fremdenberatungsinstitut umzuzaubern. Nicht einmal der finstere Blick des alten Patrons vermochte seine Energie und seine Organisierungskünste lahmzulegen. Als erstes Opfer, forderte er, müsse die bisherige Einrichtung der Azienda fallen, die vielleicht einen gewissen Wert als Antiquität darstelle, was aber Form und Glanz anbelange, das Publikum verjagen würde. Diesen Star des Reisedienstes hatte Mr. Campbell der Firma Cook einfach weggeschnappt, eine Handlungsweise, die man keineswegs loyal nennen kann. Doch wird man sich im stillen darüber freuen dürfen, daß somit auch auf Arthur Campbells Charakter ein Schatten fällt, und er zum Heil der Familie Pascarella einige Verschlagenheit besitzt.

Das Verhalten Don Domenicos läßt sich leicht vorausberechnen. Er floh vor der frechen Modewelt, die in seine Hürde unbekümmert eindrang, an den Schreibtisch im Studio. Dort heftete er starr den Blick auf die Battefioriseite und suchte mit der Frage fertig zu werden, warum ein raffiniert verzahntes Schicksal ihn höhnisch im Alter zu dulden zwang, was er so viele Jahrzehnte lang verachtet hatte. Seine Hand tastete dann nach einem weißen Kanzleibogen. Grimmig begann er ihn, im Angedenken besserer Zeiten, grün, blau und rot zu rastrieren. Während dieser Tätigkeit beschloß er, von morgen an seine Azienda zu meiden. Placido hatte den Wunsch ausgesprochen, an der neuen Arbeit mitzuwirken. Mag der Sohn nun seinen Schreibtisch einnehmen. Don Domenico überließ dem neuen Geschlecht gern seinen Platz. Das klingt sehr einfach, erwies sich aber mit Rücksicht auf die beteiligten Personen als ziemlich verwickelt. In den nächsten Monaten tauchten eine Menge Streitfragen, Kompetenzzweifel, Empfindlichkeiten und Reibereien auf, deren Ursachen allzumal in der Natur des alten Prinzipals lagen. Doch genug von diesen Zukunftsblicken! Kein Maler kann dazu verhalten werden, der Ausführlichkeit halber auch noch den Rahmen seines Bildes zu bepinseln. Viel wichtiger ist das Verhältnis Papas zu den Kindern und der Kinder zu Papa, wie es sich in diesen Märztagen herausbildete. Am komischesten benahm sich Ruggiero. Mit dem gleichen fast erbitterten Eifer, mit dem er früher die Hand des Vaters geküßt und ihm Rock und Hut entrissen hatte, hütete er nun seine Schritte und half ihm, wo er ging und stand. Stieg Don Domenico zum Beispiel die Treppe hinab, war Ruggiero zur Stelle, um ihn zu stützen: »Achtung, Papa! Nicht fallen!« Bei Straßenübergängen faßte er seinen Arm und lenkte umsichtig den Vater zum anderen Ufer. Er behandelte ihn wie ein Kind oder wie einen Greis, was nicht die Dankbarkeit, sondern den Groll des Betroffenen erregte. Iride hingegen erwies sich als ganz und gar untreu. Ihr magerer Leib saß wohl noch am häuslichen Tisch, doch ihre glühenden Augen waren ihm schon nach Brasilien vorausgeeilt. Sie verbrauchte alle Kraft, um ihre Erregung zu bemeistern, die sie hin und her riß. Konnte Papa, angesichts ihrer elenden Gesichtsfarbe, nicht noch im letzten Augenblick die Erlaubnis zurückziehen? Wie ein Kind, das sich, um nicht schlafen gehn zu müssen, unsichtbar zu machen meint, wenn es in Gesellschaft der Erwachsenen die Augen schließt, so machte sich Iride unsichtbar, um vom Schicksal nicht ins Bett gejagt zu werden. Auch mit Grazias Treue war es nicht weit her. Die Via Concordia wurde ihr täglich eine fremdere Stätte. Sie und Arthur waren von früh bis abends unterwegs, um eine Wohnung zu suchen, und wenn sie zu spät zu Tische kamen, hatte Papa deshalb keine Handhabe mehr, sie niederzuschmettern. Was Annunziata anlangt, so war zu ihrem Glück die Arbeitsmenge so angewachsen, daß ihr kein freier Gedanke übrig blieb. Für einen so verwöhnten Gast wie Arturo genügte ihrer Ansicht nach die übliche Hauskost nicht. Ihr oblag es also, jeden Tag für einen abwechslungsreichen Küchenzettel zu sorgen. Die obligate Pasticcia di maccheroni wurde von neuartigen Gerichten verdrängt. Iride mußte für die Reise equipiert werden und auch Grazia konnte doch nicht ohne jede Ausstattung in die Ehe gehn. Die Lösung all dieser schwierigen Probleme, der Ausgleich zwischen Aufwand und beschränkten Mitteln, blieb einzig und allein Annunziatas erprobter Technik überlassen. Und Placido? Er war zu Beginn des Monats zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Dennoch sprang er noch immer steif auf, wenn Papa sein Zimmer betrat, und blieb mit gesenktem Kopf stehn, als erwarte er ein gerechtes Strafurteil. Seine Rede dem Vater gegenüber war noch immer: »Ja, Papa« und »Nein, Papa«. Nie ergriff er das Wort zuerst. Doch auch Don Domenico wußte mit Placido nichts zu reden, obgleich sich in seinem Herzen eine heimliche Neugier für das verschlossene Geistestreiben des Sohnes entwickelte. Er war aber bekanntlich nicht der Mann, bei guter Gelegenheit ein Gespräch folgendermaßen zu eröffnen: Ich habe, mein Sohn, von deinen schriftstellerischen Bemühungen gehört. Nun, auch ich, das kannst du mir glauben, habe mir in meiner Jugend über mancherlei den Kopf zerbrochen. Du könntest mir eigentlich einmal irgend etwas von deinen Sachen zu lesen geben. – Noch weniger jedoch war Placido der Mann, um der Partner eines solchen Gespräches zu sein. Ein derartiges Interesse Papas für das Geheimnis seiner Seele hätte ihn nur in tiefe Bestürzung versetzt und seine heftige Abwehr hervorgerufen. Glücklicherweise lag solche phantastische Annäherung außerhalb jeder Wirklichkeit. Ach, wie fremd war dem Vater dieser Nächste der Nächsten! Er zweifelte immer weniger, daß Placido dasjenige seiner Kinder war, das ihn am tiefsten liebte. Beide aber, der Vater und der älteste Sohn, hegten eine gewisse Furcht vor der Zukunft, die es so fügen mußte, daß sie sich einsam oft am Tische gegenübersitzen würden in lastendem Schweigen.

 

Der Sonntag! Es ist fünf Uhr nachmittags wie einst. Alle sind versammelt und erwarten Papa, der jeden Augenblick von seiner Promenade heimkehren muß. Helles Märzlicht liegt in der Sala da pranzo. Es erübrigt sich also der alte Brauch, Papa nicht mit brennenden Lüstern, sondern in demütiger Finsternis zu empfangen. Plötzlich werden alle still. Denn draußen knirscht des Vaters Schlüssel seine alte Melodie. Sie eilen ihm entgegen: Ruggiero, Iride, Placido, Grazia, Annunziata, und in einigem Abstand Arthur Campbell. Papas Hand küßt niemand mehr, dahingegen küßt der Vater jedes der Mädchen flüchtig auf die Stirn, ehe er sich in den Oberstock mit leisem Türendonner begibt, um sich für die geheiligten Stunden zu rüsten, die er unter seinem Volke verbringen wird. Don Domenico hat sich in den Wochen seit der Rückkehr seiner Söhne unzweifelhaft erholt. Seine Gestalt ist zwar eingegangen und sein ehemals breites Gesicht sehr klein geworden, doch der ausgezogene Schnurrbart hat wieder strenge Spitzen und das weiße Haar auf dem kugelrunden Katerkopf steht kriegerisch zu Berge. An der rötlich gesunden Hautfarbe dürften aber die abendlich gefärbten Sonnenstrahlen schuld sein, die durch die Fenster langen. Der Nachmittag geht unter sachlichen Gesprächen rasch zu Ende. Da die Familie in diesen Tagen auseinandergerissen wird, gibt es viel zu bereden und zu bereinigen. Die Sitzordnung ist die alte. Arthur nimmt Lauros Platz ein. Als die Stunde des Pranzo da ist und Giuseppe den ersten Gang aufträgt, sind die praktischen Themata alle erledigt. Don Domenico gibt sich, wenn auch weit mäßiger als einst, mit stummer Versonnenheit dem Essen hin. Giuseppe hat seine verächtlich erlauchte Serviermiene vom Schicksal restlos zurückerstattet bekommen, die Sicherheit seiner Hände und Beine jedoch nicht. Die Schüsseln zittern und schwanken in seiner Hand, als müsse er sie bei schwerem Seegang herumreichen. (Der freche Ruggiero hat übrigens Papa vor einigen Tagen darauf aufmerksam gemacht, daß der Diener pensionsbedürftig sei.) Seit Campbell im Hause verkehrt, trägt Giuseppe beim Servieren weiße Zwirnhandschuhe. Damit gibt er erstens der Hochachtung gebührend Ausdruck, die er für den Engländer empfindet, und zweitens glaubt er auf diese Weise seine Zittrigkeit besser verbergen zu können. In seinen alten Sbirrenaugen schimmert eine gekränkte Abgeklärtheit: Bitte, ich trete den verderblichen Neuerungen nicht mehr entgegen. Ich schaue und schweige. Da Papa nicht spricht, geht die Mahlzeit nach alter Sitte in ehrfürchtiger Stille vorüber. Dann steht vor dem Hausherrn die Weinkaraffe und vor Arthur, durch Grazias Protektion, ein Glas Whisky-Soda. Und nun beginnen die Merkwürdigkeiten dieses Abends.

Genau zur Stunde, in der Don Domenico an den heiligen Sonntagen der Vergangenheit die Vermahnung über das Pascarella-Schicksal und die Feindschaft der Welt an seine Kinder zu richten pflegte, fällt ihm ein Vorkommnis aus seiner eigenen Kindheit ein und er hebt an, es zu erzählen. Mag sein, daß die dürftige Geschichte ihm selber fesselnd oder humorvoll erscheint, er spinnt sie jedenfalls mit manchen Einzelheiten aus. Sein Erzählerton klingt dabei behaglich verschlafen. Den Kindern bleibt das Herz stehn. Wohl hat Papa schon früher dann und wann von der ältesten Zeit gesprochen, aber dies ist immer nur Stammesgeschichte gewesen und niemals persönliches Erlebnis und nachklingende Kindheitserinnerung. Für seine Söhne und Töchter ist Papa der Vater ohne Kindheit. Sein Leben neigt sich wohl dem Ende zu, aber seine Anfänge verschwinden in der Ewigkeit. Jetzt aber wecken seine Schilderungen, die ein ganz unbekanntes Lächeln begleitet, einen kleinen Domenico aus dem Schlaf, ein Büblein in halblangen Hosen, das die Pferdeställe seines sagenhaften Großvaters besichtigt und allerlei verbotene Dinge tut. Die Einheit dieses Kindes mit Papa erfüllt die Geschwister mit weher Erschütterung, als sei sie schon der Schatten des Todes. Nichts anderes als diese Erschütterung ist die Ursache, die dem Brasilianer Ruggiero den Mut zu jenem unerhörten Wagnis einflößt, das Placido dazu zwingt, seinen Kopf tief über das Tischtuch zu beugen:

»Weißt du, Papa« – dem Kühnen verdorrt die Zunge im Munde nicht –, »was ich dort drüben am meisten entbehrt habe? Deinen Gesang! Und ich werde ihn immer entbehren ...«

Hier stockt er. Denn alle sitzen versteinert. Nur Iride, die sich bisher höchst unauffällig verhalten hat, erhebt plötzlich die Stimme:

»Papa, Papa, wer weiß, ob wir uns wiedersehn!«

Irgendein taktloser Dämon hat sie gezwungen, diese grausamen und sentimentalen Worte auszustoßen, in denen sich eine jähe Ahnung losringt. Papa aber beachtet sie nicht, denn Grazia steht auf und hebt die Hände in einer flehenden Gebärde:

»Papa! Arturo hat dich nie gehört ...«

Ein großes Stimmengewirr setzt ein, an dem sich nur der erschrockene Placido nicht beteiligt. Don Domenicos Blick aber umläuft forschend die Runde. Sein Schnurrbart fängt zu zucken an. Papa schmunzelt. Papa sieht zur Tür hin. Papa spricht:

»Ruggiero, schau, ob die Türen gut geschlossen sind!«

Ein Auffahren und Durcheinanderstürzen wie noch nie. Ruggiero und Iride werfen sich auf die Doppeltür und drehen den Schlüssel zweimal um. Die anderen eilen in den Salotto mit bleichen, aufgeregten Gesichtern. Arthur Campbell gerät durch die selige Verstörtheit der Geschwister in eine betretene Stimmung. Er versteht nichts und kommt sich wieder einmal wie ein Barbar vor, den das Schicksal in einen Mysterientempel verschlagen hat. Zur Verlegenheit aber bleibt ihm keine Zeit, denn die heiße Hand der Geliebten zieht ihn in den Salotto. Grazia öffnet das Pianino, Annunziata entzündet die roten Galakerzen und Placido holt wie einst den Klavierauszug der Gioconda aus dem Kasten. Annunziata jedoch, deren Hand schon auf den Tasten liegt, wird von solchem Herzklopfen befallen, daß der erste Akkord, der zu dem Monolog des Schurken Barnaba überleitet, nur als klimpriges Arpeggio herauskommt.

Don Domenico hingegen scheint wieder die Sicherheit und Kraft selbst zu sein. Er tritt in die Mitte des Salotto, wölbt die Brust, stellt einen Fuß vor den andern und legt den Kopf zurück. So bietet er, trotz allen Schmerzen und Erniedrigungen, den Seinen, die ihn in fieberfröstelnder Erwartung anstarren, ein Bild löwenhafter Bereitschaft dar wie in den Tagen seines Sonnenglanzes. Der einzige Unterschied ist nur das »Trotz allem«, das in des Vaters Haltung liegt. Die allgemeine Erregung teilt sich bei seinem Anblick auch dem Neuling mit.

»O monumento!
Regia ...«

Die ersten Töne klingen rauh und heiser. Don Domenico winkt ab. Er hat vor undenklichen Zeiten das letztemal gesungen. Die Stimme muß erst in Ordnung gebracht werden. Er räuspert sich lange und inbrünstig, um die Kehle frei zu bekommen. Dann gibt er der Begleiterin von neuem das Zeichen zum Anfang. Rein und fest kommt der Akkord. Rein und berauschend strömt die Stimme in den Raum:

»O monumento!
Regia e bolgia dogale! Atro portento! ...«

Doch kaum ist die letzte Schwingung dieser Phrase verklungen, geschieht das Furchtbare.

Neben dem Klavier lehnt wie immer in seiner grünen Hülle Lauros Kontrabaß, einem großen und guten Geschöpf der Vorwelt ähnlich. Es scheint, als hätten ihn die vielen Menschen und Annunziatas Akkorde geweckt, denn aus seinem mächtigen Leib dringt ein langer, ächzend abschnurrender Laut, Wehruf und zorniges Ruhegeheiß zugleich. Nichts ist geschehn, nur die vierte Saite hat sich, durch das Klavier in Schwingung versetzt, völlig entspannt.

In dem erstarrten Salotto sehn einander nur gelbe Totengesichter an. Papa hält sich an Ruggiero fest. In dem tiefen brummenden Jenseitston hat Lauro gesprochen. Alle Geschwister verstehn die Verkündigung:

Das Zeitalter des Gesanges und Gesetzes ist nun zu Ende!

Welches Zeitalter aber hat begonnen?

 

Ende


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