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Neuntes Kapitel
Die Schwestern ohne Brüder

Domenico Pascarella hatte gleich nach der Katastrophe den Kindern gegenüber die Absicht geäußert, seine große und kostspielige Wohnung aufzugeben. Der Verwirklichung dieser löblichen Absicht stellten sich aber gewichtige Hindernisse entgegen. Erstens mußte die Miete vertragsgemäß ein Halbjahr nach der Kündigung weiter bezahlt werden. Zweitens war der Hausbesitzer ein Kommittent Don Domenicos und durfte durch einen solchen Schritt nicht kopfscheu gemacht werden. Und drittens war Papa nicht mehr in jenem beweglichen Alter, in dem man sich zu einschneidenden Lebensveränderungen leicht entschließt.

Obgleich also Vater und Töchter darin einig waren, daß die Wohnung zu geräumig sei, ihnen nicht mehr gebühre und bloß ein Provisorium vorstelle, blieb alles beim alten, und Don Domenico traf keineswegs Anstalten, seinen sogenannten Palazzo durch eine Zweizimmerwohnung mit Kabinett und Küche zu ersetzen. Mehr als das Menschenmögliche konnte nicht geschehn. Und für den Hausvater sondergleichen wäre die Übersiedlung in ein fremdes enges Heim das Menschenunmögliche gewesen. So durften sie den Zurückgebliebenen noch weiter zum Leben dienen, die Räume, Zimmer und Gänge, die Möbel alle, vom großen Tisch bis zur Alabasteruhr, die niemand mehr ansah. Die Sala da pranzo, der Salotto, die Stanza della Mammina, jeder Winkel erfüllt vom Atem des Geschlechts, vom Puls der heranwachsenden Herzen. Diese Heimat, eingesprengt wie eine große Grotte in den bürgerlichen Berg des Miethauses, neben, unter, über anderen Grotten, sie blieb die einzige Heimat, die nicht abstrakt war. Wer fühlte sich auf der Straße zu Hause, wer in der Stadt, wer im Staat? Das Vaterland? Nur ein Wort, das der haßerfüllten Außenwelt eine geschminkte Maske vor die sadistische Bürokratenfratze hielt! Derartige Worte hatten die Geschwister äußerst selten aus dem Munde Papas vernommen. Er teilte seinen Thron mit niemandem. Er kannte nur sich und seine sechs Kinder, das Universum im zweiten Stock der Via Concordia. Mit dem anderen Weltall, in welche Unterabteilungen es auch immer zerfiel, wollte er nichts zu tun haben. In diesem Sinne hatte er die Kinder erzogen. Einzig hier war Heimat, in der großen Grotte, wo man beisammen saß, aß, lebte, weinte, lachte, und noch liebte, wo man fürchtete. Auch die Brüder draußen auf dem Ozean hätten es nicht fassen können, daß in der Sala da pranzo andere Stimmen erklingen und andere Menschen herrschen sollten. Freilich, wenn die Schwestern jetzt die verstummten Zimmer durchschritten, sahen sie sich scheu um. Die Wohnung war verwandelt und nicht nur deshalb, weil das laute Leben der jungen Männer fehlte. Das Gesicht der Wände und Dinge war ein anderes geworden. Wie lange noch, schien es zu fragen. Die menschliche Treue erwiderten nur wenige Gegenstände, Lauros Baßgeige in erster Linie.

Der Zustand des neapolitanischen Teiles der Pascarellafamilie erinnerte an den Zustand eines Körpers, an dem eine schwere Amputation vorgenommen worden ist. Der Blutkreislauf mußte sich der neuen Bahn anbequemen. Äußerlich ging das recht schnell vonstatten. Die Schwestern verfolgten in Ruggieros Schulatlas die Fahrt des Colleoni, die der Jüngste mit Rotstift ziemlich genau eingezeichnet hatte. Bis Gibraltar und weiter noch längs der afrikanischen Küste übten sie diese Aufmerksamkeit getreulich, Tag für Tag. Als dann aber die Kontinente zurückwichen und das Uferlose die Brüder aufnahm, wurden sie lässiger und vergaßen schließlich immer öfter, den Atlas aufzuschlagen. Das Naturgesetz der verblassenden Entfernung wirkte sich aus.

Annunziata und Grazia warfen sich auf die Arbeit. Man sollte gar nicht denken, welche Mühe und Sorge der eingeschmolzene Hausstand bereitete. Priscilla fehlte überall und Giuseppe wurde immer unbrauchbarer. Er saß in der Küche und sah mit abschätziger Strenge den noch äußerst zaghaften Kochkünsten der jungen Damen zu. Wenn in zweifelhaften Fällen ihm die Zutaten einer Speise bekannt waren, so teilte er sein Wissen stets in Form entrüsteter Belehrung mit und niemals als einfachen Ratschlag. Baten ihn aber die Mädchen um eine Handreichung oder forderten sie ihn zum Geschirrwaschen auf, so trat sogleich die elastische Schwerhörigkeit in Aktion, wobei ein hochfahrendes, gewissermaßen auch moralisches Nicht-Verstehen sein Haupt erstarren ließ. Stadtgänge und Kommissionen hingegen übernahm er bereitwilligen Gehörs, wenn er sich auch um die höhere Dienstpflicht geprellt wußte, den fußballspielenden Ruggiero oder den schuleschwänzenden Lauro auf frischer Tat zu betreten.

Annunziata und Grazia wechselten in der Besorgung der Küche miteinander ab. Sie wetteiferten in fanatischer Sparsamkeit. Es bildete sich bei ihnen eine beinahe sportliche Form des Geizes aus, dessen Leidtragende freilich nur sie selbst waren. Papa durfte natürlich nicht verkürzt werden. Sein Appetit war trotz den tragischen Umständen eher größer als kleiner geworden, gottlob. Als Objekt der Sparsamkeit kamen also nur die drei Mädchen in Betracht. Sie gewöhnten sich das Essen so gut wie ganz ab. Wenn Papa bei Tisch, finster über seinen Teller gebeugt, diese Enthaltsamkeit bemerkte (es geschah selten genug), dann fanden sich unerschöpfliche Ausreden. Man habe keinen Hunger, wenn man selbst am Herde stehe. Das Prüfen und Kosten sättige zur Genüge. Man neige in erschreckendem Maße zum Übergewicht. Papa möge die moderne Linie der Damen auf der Straße ruhig zum Vergleiche heranziehn. Dazu aber zeigte sich Signor Pascarella wenig gestimmt. Sein Geschmack war seinerzeit üppigere Wege gegangen. Mit mürrischer Gleichgültigkeit antwortete er auf all diese Ausreden:

»So? Gefällt euch das? Und ihr seht doch schon aus wie Hühner, denen man kein Futter streut.«

Ein durchaus treffendes Urteil, für alle drei Schwestern, doch ganz besonders für Iride.

Seine Ahnungslosigkeit wird aber Domenico Pascarella verziehen werden, wenn man an den verzweifelten Kampf denkt, den er nun schon seit mehr als zwei Monaten führte, ohne die Haltung zu verlieren. Es mag befremdlich klingen, aber trotz Furcht und Schrecken kam Don Domenico erst jetzt am Ende des Lebens zum vollen Genusse seiner Energie, die er bisher restlos nur in seinem häuslichen Glück investiert hatte. Niemand möge voreilige Hoffnungen fassen, doch schien die Sache, wenn auch keine Wendung zum Besseren nehmen zu wollen, so auch nicht schlechter zu werden. Für den Augenblick wenigstens blieben die heroischen Anstrengungen, das Gleichgewicht zu halten, nicht erfolglos. Nach wie vor war Don Domenico tagelang unterwegs. Die Zeit war vorüber, da er an seinem Schreibtisch das Kontopapier blau, rot und grün rastriert und den Parteienverkehr großartig Battefiori überlassen hatte. Er konnte nur mehr wenige Stunden in seinem Studio verbringen, wo sich indessen Gennaro Gnolli häuslich niederließ, obgleich seine Aufgabe als Vertrauensmann und Sachverständiger eigentlich beendet war. Doch hatte er durch jene (lichtscheuen) Kredite die Stützung der Firma seiner Meinung nach durchgeführt und sich damit Sitz und Stimme erworben. Gnolli wußte alles. Das bestimmte Don Domenicos Haltung ihm gegenüber. Wie Battefioris Tischhälfte sich einst durch Zeitungsfetzen, Zigarettenreste und Aschenspuren hervorgetan hatte, so war sie jetzt mit einer Menge von Arzneien bedeckt, mit Pillenschachteln, Pastillenbüchsen und Tropffläschchen. Gnolli war oder hielt sich, wie schon gesagt, für einen kranken Mann und probierte demzufolge unermüdlich neue Heilmittel. Eine gewisse Ordnung wurde dabei eingehalten. Am Vormittag wirkte der Advokat auf seine Bronchien, am Nachmittag auf seine Verdauung ein. Glücklicherweise boten die Apotheken Legionen von Hustenpräparaten und Purgativen feil. Gnolli hatte demnach für seine Vor- und Nachmittage ausgesorgt. Pascarella beobachtete dieses Treiben mit den gleichen Blicken, die früher Battefioris Zeitungsverbrauch gemaßregelt hatten. Der Vertrauensmann aber erwiderte diese Blicke mit zerknirschter Bewunderung:

»Sie haben es gut, Don Domenico! Sie sind im Besitze eines gesunden, widerstandsfähigen, jugendlichen Körpers. Was weiß so ein Herkules wie Sie von Schmerzen?«

Hatte nicht Battefiori in ähnlichem Ton von den Wundern glücklicher Vaterschaft gesprochen?

Der Colleoni nähert sich dem neuen Kontinent. Tag um Tag schwindet. Die hochberühmte Einfahrt von Rio tut sich auf. Placido, Lauro, Ruggiero stehen schüchtern auf dem Pier der Blumeninsel, der Quarantänestation, und sehen sich um.

Während die Tage der Brüder verschwimmen und dunkel werden wie ein überbelichteter Film, gebietet es die Pflicht, das Leben der Schwestern in der Via Concordia treulich zu verfolgen. Was Iride anbelangt, macht das keine Schwierigkeit. Sie ging täglich in die Schule und half während ihrer freien Zeit den großen Schwestern mit leidenschaftlichem Ehrgeiz bei der Arbeit, indem sie zum Teil noch Giuseppes Obliegenheiten auf sich nahm. Ihre hauptsächlichste Tätigkeit aber: sie wuchs. War sie bis zum Abschied der Brüder sehr klein und kindhaft gewesen, so schien jetzt über ihren Körper eine auffällige Ungeduld zu kommen. Er wuchs bei Tag und Nacht. Schon im Mai waren ihr alle Ärmel, Strümpfe, Röcke zu kurz geworden, wodurch schwierige wirtschaftliche Probleme entstanden, da man ja von Papa unmöglich Geld zur Erneuerung der Garderobe verlangen konnte.

Ein wenig mehr Mühe wird es erfordern, das Augenmerk auf das Leben der beiden erwachsenen Mädchen zu richten.

Die Arbeitstage Grazias waren der Montag, der Dienstag und Samstag. Da die Woche aber aus einer ungeraden Anzahl von Tagen besteht, fielen mithin die vier übrigen auf Annunziata. Selbstverständlich hatte sich Grazia gegen solche ungerechte Verteilung des Dienstes zur Wehr gesetzt, aber Annunziata war davon nicht abzubringen gewesen. Sie sei ja schon seit vielen Jahren an die häusliche Mühewaltung gewöhnt, während die jüngere Schwester sich in die neuen Pflichten erst einleben müsse. Dabei blieb es.

Ihre drei freien Vormittage nützte Annunziata bis auf die letzte Minute aus. Sie kam immer erst knapp vor Papa nach Hause. Santa Maria la Stella blieb ihr natürlich verleidet. Sie mußte sich nach einer anderen bescheidenen Kirche oder Kapelle umsehen. In den ersten Wochen des Unheils hatte sie keine Zeit und Freiheit gehabt, ihrem alten Verlangen nachzugeben. Jetzt aber meldete es sich wieder, die Sehnsucht nach dem, was sie in ihrer inneren Sprache »il torpore«, die Erstarrung nannte. Auf den Knien liegen, bis der ganze Körper brennt, bis die Versteinerung eintritt nach der bittersüßen Schadenfreude an sich selbst.

Sie hatte sich für Santa Maria Avvocata entschieden. Diese kleine Kirche liegt an der Piazza Dante. Sie ist schmucklos und uninteressant, nicht anders als Santa Maria la Stella. Hier verbrachte nun Annunziata viele Stunden ihrer freien Tage, und es kann nicht wundernehmen, daß die wenigen Betschwestern das junge Mädchen für eine der Ihrigen hielten. Annunziata aber betete noch immer nicht. Wenn sie vor dem düsteren Seitenaltar kniete, richtete sie noch immer nicht ihre Gedanken auf Göttliches, sondern versuchte sich mit Mama und Lauro zu vereinen wie früher. Es waren Übungen der Sammlung, die sie vornahm, ohne jemals etwas von ähnlichen Dingen gehört zu haben, Werke der beschwörenden Vergegenwärtigung, jetzt heißer als je, da Lauro in der schwankenden Ferne nur schwer zu errufen war. Auch hatte sie das dunkle Gefühl, daß sich ihre religiöse Aufgabe verdopple, seitdem Lauros Klostertraum zerstört war. Annunziata beichtete deshalb in Santa Maria Avvocata, was sie seit ihrer frommen Frühzeit nicht mehr regelmäßig getan hatte. Zweimal vertraute sie nun dem Gesicht hinter dem Beichtgitter allerlei Sünden an, die keine waren, vielleicht nur aus dem Drang heraus, an heiliger Stätte zu einem Unsichtbaren von Lauro und der Familie zu reden. So lernte sie den Priester Ildefonso kennen.

Die meisten radikal veranlagten Menschen besitzen ähnliche Züge. Da ist fast immer der lippenlose Mund, Augen, die ihr Angriffsziel nicht in Angriff nehmen, sondern an ihm mit der beschatteten Schüchternheit des Fanatismus vorbeischauen; feine, sehr spitze, doch nur mäßig große Nasen; eine bleiche diaphane Wehleidigkeit, die mit gesenktem Blick die Gelegenheit abwartet, selbst erbarmungslos wehe zu tun; neben diesen Merkzeichen manchmal auch noch die Neigung zu leichten Gebrechen, als da sind: kaum sichtbare Verwachsenheit, schiefe Schultern, Hühnerbrust und schwache Rückgratverkrümmung.

In diesem allgemeinen Porträt ist auch das Bildnis des Priesters Ildefonso mit enthalten. Er spielte in dem Viertel zwischen Via Tarsia und Via Carrera die Rolle eines Bezirks- und Sonntags-Savonarola, betätigte sich aber auch wochentags als ein echter »Spürhund Gottes«. Die Nähe der Universitätsklinik, die Nachbarschaft des höhnischen Abfalls und Atheismus also, spornte seine Kräfte an. Immerhin, er meinte es ernst und unterschied sich von den gewöhnlichen Geistlichen durch die Kraft seines Glaubens und seiner Propaganda.

Pater Ildefonso war nicht nur ein scharfer Priester, sondern auch ein scharfer Psychologe, was ja von ersterem nicht zu trennen sein sollte. Sogleich hatte er die zentrale Schwäche jedes Menschenkindes heraus, mit dem sich gerade seine Seelsorge beschäftigte. Man kann es am ehesten durch einen Vergleich ausdrücken. Wie ein Rheumatiker mittels seines Rheumas auf das schlechte Wetter reagiert, so reagierte Ildefonso mittels seines unbändigen Hochmuts auf die sündigen Eigenschaften seiner Schäflein. Dabei ging er von der Überzeugung aus, daß der Hochmut vor allem gebrochen werden müsse, da er der tiefe Schlupfwinkel sei, in dem sich jede andere Sünde verkrieche. Sehr begreifliche Überzeugung eines Hochmütigen, dem ja nichts unerträglicher sein kann als der Hochmut bei anderen. Daß unter solchen Bedingungen die Sünden-Diagnose Priester Ildefonsos oft recht einseitig ausfiel, wird niemand bezweifeln. Um so vielseitiger aber erwies sich die Sünden-Therapie, die er anwandte. Da entwickelte er ein gefährliches Feingefühl für alle Listen, Finten und Ausflüchte, mit denen der Weltsinn das geistliche Gewissen betrügen will. Konnte er diese Finten ertappen, diese Listen aufdecken, war er in seinem Element. In den Schulen, wo er als Katechet lehrte, fürchteten ihn die Kinder. Er verstand es nämlich, aus der kleinsten Kleinigkeit, einem geraubten Federhalter, aus einem kecken Wort, einer nichtigen Lüge, mit bemerkenswerter Meisterschaft lange Inquisitionsprozesse herauszuspinnen. Unter den Frauen des Sprengels besaß er dennoch beträchtliche Anhängerschaft, besonders die Häßlichen, die Grobknochigen, die alten Jungfern und die Kinderlosen hielten zu ihm. Außerdem unterhielt er zu einem strengen Frauenorden gute Beziehungen und war von den Nonnen zum Beichtvater erwählt worden.

Kein Wunder, daß Priester Ildefonsos Aufmerksamkeit sich immer neugieriger auf Annunziata richtete. Ein junges Mädchen, nach Tracht und Haltung den besten Kreisen angehörend, erscheint regelmäßig in der Kirche Santa Maria Avvocata und verbringt lange Zeit regungslos im Gebet vor einem stillen Seitenaltar.

Eines Tages, als Annunziata sich schon erhoben hatte, trat Pater Ildefonso mit gesenktem Blick auf sie zu:

»Ich habe eine Frage an Sie zu richten, meine Tochter.«

Er sah vorsichtig hinter sich, ob niemand in dem menschenleeren Raum ihn beobachtete, dann winkte er dem Mädchen leicht und schritt mit schamhaft gekrümmtem Rücken und wehender Soutane voran. In einer engen Rumpelkammer neben der Sakristei bat er die Dame, auf einem schlissigen Kanapee Platz zu nehmen, während er sich selbst in weitester Entfernung auf einen Holzschemel setzte:

»Sie kommen täglich in diese meine Kirche ...«

Annunziata, die nicht wußte, wie sie so plötzlich in das staubige Verlies geraten war, wehrte ab:

»Nein, nicht täglich, nur dreimal in der Woche.«

»Immerhin ungewöhnlich ...«

Er hob den Kopf mit einem Ruck. Annunziata sah nichts als die zwei blitzenden Flächen der uneingefaßten Brille. Noch einmal:

»Es ist ungewöhnlich. Ich meine, Ihre Frömmigkeit ist ungewöhnlich ...«

Annunziata fühlte sich verpflichtet, diese Meinung, die ihr unangenehm war, sofort richtig zu stellen:

»O nein, Hochwürden, ich bin gar nicht fromm.«

»Darüber brauchen Sie selbst kein Urteil zu haben.«

Nach diesen fast nur gemurmelten Worten schaltete Priester Ildefonso ein langes Stillschweigen ein, wie immer, wenn er eine Seele zu zermürben dachte. Und wirklich, Annunziatas Mund wurde trocken, der Staub benahm ihr den Atem, sie preßte die Knie aneinander, das schmutzige Kanapee, auf dem sie saß, schien sie wie ein Martermöbel mit unsichtbaren Riemen zu fesseln. Die Brillengläser schössen hie und da kleine Pfeile ab, die wie Mückenstiche brannten. Als das Gefäß des unbehaglichen Schweigens bis zum Rand voll war, fielen ein paar Worte tropfenweise:

»Ich werde jetzt etwas sagen ... meine Tochter ... wenn Sie es erlauben ... Es ist Ihre Sache ... natürlich ... ob Sie mir Rede stehn wollen oder nicht ...«

Länger hielt sie es auf dem Kanapee nicht aus. Sie setzte sich auf das Fragment einer Kirchenbank und sah ihn erwartungsvoll an. Seine Stimme bekam einen hohlen Metallton, gekränkt und herrisch zugleich:

»Ich nehme an, Sie werden im ledigen Stande verharren, meine Tochter!«

Annunziata stand schnell auf und bekannte hell und fest, als müsse sie einen zudringlichen Angriff zurückweisen:

»Ich werde nicht heiraten!«

»Ich habe es gewußt«, gestand der Priester mit dem bitter befriedigten Ausdruck eines Mannes, dem beim besten Willen auf Erden kein Irrtum mehr unterlaufen kann. Mit einem müden Wink forderte er sie auf, wieder Platz zu nehmen.

Annunziata gehorchte, um einer zweiten, noch schärferen Schweigenstortur unterworfen zu werden. Pater Ildefonso saß regungslos wie sie. Als er dann wieder zu reden begann, sah er zu Boden und beendete damit das verwirrende Reflektieren seiner Brille:

»Ich weiß auch den Grund.«

Annunziata wurde von einem wilden unmotivierten Herzklopfen befallen. Wie ein Schwerkranker vor der ärztlichen Kapazität, wie ein Geheimgläubiger vor dem Wahrsager oder Sterndeuter, erwartete sie jetzt, die Entscheidung über ihr Leben zu hören. Vergebens sagte sie sich, es ist doch nur eine unverbindliche Unterhaltung, weiter nichts. In solchen Momenten der Anspannung pflegte ihr rechtes Auge starr zu werden, so daß sie leicht zu schielen begann. Sie spürte es und legte die Hand auf die Augen, als könne sie auf diese Weise den kleinen Schaden verbessern. Priester Ildefonso schien einen neuen Weg einschlagen zu wollen:

»Ich frage nicht nach Ihrem Namen.«

»Bitte sehr, Pascarella Annunziata, Hochwürden.«

»Es war nicht nötig.«

Ein leiser Tadel. Neue Stille. Dann:

»Der Grund liegt in Ihnen und über Ihnen, meine Tochter. Es ist ein sehr würdiger Grund!«

Er hob mit einer fast routinierten Bewegung zwei Finger in die Richtung des Himmels.

»Wie? Ich weiß davon nichts«, flüsterte Annunziata, deren Puls sich quälend verlangsamte, so daß ihre Glieder immer kälter wurden. Des Priesters Stimme klang nachsichtiger:

»Ich habe schon einmal bemerkt, daß Sie darüber selbst kein Urteil zu haben brauchen.«

Annunziata spürte die Pflicht, etwas zu erklären, was ihr selbst nicht klar war, aber mit dem Entschluß, nicht zu heiraten, eng zusammenhing. Es kam nur ein Stammeln heraus:

»Die Verhältnisse ... Unsere Familie ...«

Der Geistliche erhob sich jäh. Sein kurzes, in die Stirn gekämmtes Haar schien sich elektrisch zu sträuben:

»Die Verhältnisse? Die Familie? Nein, nein! Ich kenne das! Es ist der Hochmut!«

Sie verstand das Wort nicht, doch sie verstand die schmalen weißen Finger, die auf ihre Brust zielten:

»Sie stammen aus erstklassigem Hause, meine Tochter, nicht wahr? Sie haben die beste Mama, den angesehensten Papa, liebevolle Geschwister, nicht wahr? Ich habe es jüngst ja erfahren« (Anspielung auf die Beichte). »Für die Familie muß man leben und leiden, nicht wahr, für die Seinen Opfer bringen, wie? Ihr Hochmut heißt Familie, Signorina. Bitte, bleiben Sie nur sitzen. Ich bin noch nicht fertig.«

In der Familie haßte Priester Ildefonso eine Todfeindin. Wo es nur anging, eröffnete er den Kampf gegen sie, weshalb er sich gar manchen Verweis von seinen Oberen schon hatte gefallen lassen müssen. Er gab aber den Guerillakrieg nicht auf und konnte auch Erfolge verzeichnen, da ein oder das andere seiner Beichtkinder das Vaterhaus verlassen und den Schleier genommen hatte. Annunziata wußte natürlich nichts von dieser Eigenheit des Paters. Ach, vielleicht komme ich zu spät nach Hause. Mit dem Gedanken an Papa suchte sie die Hammerschläge zu übertäuben, die Ildefonso jetzt gegen ihr Gemüt zu führen begann:

»Jeder Mensch ist ersetzbar, lächerlich ersetzbar. Bilden Sie sich ja nicht ein, daß die Ihrigen Sie wirklich brauchen. Das ist ein törichter Hochmut, den Sie überwinden müssen. Was die Familie anbetrifft, sind wir alle überflüssig. Einer stirbt, die Hinterbliebenen jammern, und übers Jahr erinnern sie sich nicht mehr an sein Gesicht. Das sage ich Ihnen, mein Kind, weil ich genau weiß, wie es sich mit Ihnen verhält. Hören Sie mich an! Für den Himmel sind Sie nicht überflüssig.«

Er mußte nicht deutlicher werden. Annunziata begriff. Sie verschränkte die Finger ineinander, ohne den Priester anzusehen. Er hatte die Schlüsselgewalt über ihre Seele an sich gerissen. Ihr Leben, wie es war, erschien ihr in diesem Moment zum erstenmal als hoffnungslose Öde ohne Maß. Sie sah keine Möglichkeit, es weiter zu tragen. Sie fühlte sich niedergedrückt bis zur Ohnmacht. Ihr war zumute, als habe sie der Mann dort erwürgt. Und sie mußte ihm recht geben.

War Grazia, ihre Schwester, ein Geschöpf des Sonnenlichtes, mit allen unzuverlässigen Spiegelungen und Brechungen der Farben behaftet, so muß Annunziata eine Mondesnatur genannt werden, monoton und vestalinnenhaft. Vestalinnen hüten das Feuer und rühren sich nicht. Annunziata war überaus schwerfällig und somit als erste der Herrscherkraft Papas zum Opfer gefallen, der ihr, der widerspruchslos Dienstbaren, die ganze Last des Haushaltes aufgebürdet hatte. Von allen Geschwistern war sie am wenigsten fähig, sich eine Änderung ihres Zustandes, einen Umsturz des Lebens vorzustellen. Nun aber hatte der harte Priester durch seine Worte und mehr noch durch seine Suggestion in Annunziata so etwas wie einen Kurzschluß herbeigeführt. Sie wußte nicht, was geschehen war, aber statt des ruhigen Lichtes wogte in ihr eine graue leere Dunkelheit.

Man sollte meinen, Priester Ildefonso werde jetzt einlenken und ein paar tröstliche Worte für sie finden. Es geschieht etwas andres. Er steht auf und blickt nach seiner Art schamhaft oder gekränkt an ihr vorbei:

»Ich glaube, es war meine Pflicht, Ihnen einen Weg zu weisen, der für Sie zweifellos der richtige ist.«

»Das ist alles sehr neu«, murmelt sie unbestimmt mit dem Rest ihrer Abwehrkraft gegen diesen magnetischen Menschen, der ihr jetzt die Tür zur Sakristei öffnet:

»Sie haben mir selbst gestanden, meine Tochter, daß Sie an Braut- und Mutterschaft nicht denken. Es ist Ihnen Ernst. Wollen Sie Ihr Leben verschwenden? Wartet nicht eine Brautschaft Ihrer, mit der Sie sich ein ewiges Verdienst erwerben?«

Annunziata geht nach Hause, eilig und zusammengefaßt wie immer. Sie liebt nicht die großen Straßen und verläßt schon deshalb bei der Via Scura die flutende Via Roma. Merkwürdig, sie ist ein gutgewachsenes Mädchen von siebenundzwanzig Jahren und kein Mann dreht sich um und blickt ihr nach. Könnte ein verborgenes Auge am frühen Morgen beobachten, wie sie, dem väterlichen Gesetze treu, ihren nackten Körper mit kaltem Wasser abreibt, es müßte erkennen: Ihre Glieder sind zart, Hals und Brüste reizend, ihr Gesicht eigenartig. Und doch kommt all dies Schöne nie zur Geltung. Nicht einmal für Irides, ihrer Schlafgenossin, lauernde Augen ist sie schön. Es wäre aber ein vermessenes Unterfangen, an das Geheimnis der Schönheit rühren zu wollen, das zwischen Erscheinung und Reiz, Körper und Strahlung, Außen und Innen, Geben und Empfangen noch immer unenträtselt schwebt.

 

Hätte nach vielen Jahren jemand – Placido etwa – Grazia gefragt, was sie in diesen Wochen des Unglücks, des Abschieds und der Trennung für Mr. Arthur Campbell empfunden, sie würde ohne Zweifel geantwortet haben: Ich glaube, nichts! Diese Antwort hätte sogar zum Teil der Wahrheit entsprochen. Es soll jedoch keineswegs verschwiegen werden, daß Grazia nicht nur Campbells Adressen-Medaillon ständig in ihrem Täschchen trug, sondern das Unterpfand nachts auch immer bei sich liegen hatte. Sooft sie es ansah und berührte, erschrak sie vor seiner unwirklichen Wirklichkeit oder wirklichen Unwirklichkeit. Nicht anders erging es ihr mit der ganzen Festa di ballo im Hotel Bertolini. Die Erinnerung daran gehörte einer fremdartigen Lebensschicht an, die zwar bis zu einem gewissen Grade real war, aber man weiß nicht, hat man es erlebt oder vielleicht nur gelesen. Aus all dem Schwimmenden aber ragte eines, scharf und schmerzhaft deutlich: der Bertolinigarten mit der müden Bewegung der Zypressenwipfel, die dem unablässig verneinenden Wink warnender Finger glich. Und auch die brennenden Worte, die keiner Sprache recht angehörten, verwandelten sich in Grazias Halbschlaf zu immer neuen Variationen. Sie hatte aber oder nahm sich keine Zeit zu ausgiebigen Erinnerungen. Ein unruhiger Tätigkeitsdrang beherrschte sie. Für Placido und die Brüder mußte etwas geschehen. Doch was und wie? Das erste war ein Besuch bei ihrem früheren Gesangslehrer, Maestro Capironi.

Nicht ohne Furcht betrat sie die Wohnung des Maestro in der Via Montedoncelli. Sie verging sich ja damit gegen Papas Gesetz, das, wenngleich durch den gegenwärtigen Notstand modifiziert, in keiner Beziehung aufgehoben war. Die Dienerin führte sie in das Arbeitszimmer Capironis. Hier hatte sie im vorigen Jahre die Freude des Gesangsstudiums genossen, ehe Papa sein Interdikt erließ. Grazia huldigte gewiß keiner der verpönten »Vordringlichkeiten«. Allen Ehrgeiz, alle Ruhmbegier, die sie besaß, hatte sie auf Placido konzentriert. Von ihm erwartete sie Glanz und Sieg des Namens Pascarella. Das genügte ihr. Dennoch waren die Gesangsstunden bei Maestro Tullio Capironi unvergeßlich reizvoll gewesen, ja fast ein Rausch. Dort am Piano saß er immer und sah den Schüler aufmerksam aus seinen liebenswürdig angeekelten Augen an. Seine linke Hand arpeggierte einen Akkord, sein zierliches Ohr neigte sich dem Ton schlürfend entgegen, den Grazia anschwellen ließ.

Die Wonne des Gesanges kann nur derjenige recht begreifen, dem die Natur eine schöne vibrierende Stimme geschenkt hat. Ein guter Meister weiß sie aus den quetschenden Engpässen der Kehle rechtzeitig zu erlösen, und es kommt nach ein paar Übungsstunden der Augenblick, da der Anfänger vor dem Wunder, das ihm innewohnt, selbst erschrickt. Denn nicht mehr ist es gaumige Anstrengung, gepreßter Atem, was er hervorbringt, sondern mühelos mächtig erfüllen ihn mit einem Male die Töne seines Stimmumfangs wie himmlische Wesen, wie Genien, die sich von ihm loslösen und in die Weite schweben. Es ist das ein erstaunliches, kaum mitteilbares Glück und ein erregender Stolz. Der echte Sänger fühlt sich wie ein Gott, der hold schöpferisches Strömen in den Äther sendet. Hier in diesem Zimmer hatte Don Domenicos Tochter das Geheimnis der Gesangeswonne kennengelernt.

Maestro Capironi war nicht zu Hause. Sie blickte umher und grüßte die vielen Widmungsphotographien an den Wänden. Die ganze italienische Musik war versammelt. Nicht nur die großen Sänger, sondern auch die großen Meister von Verdi, Catalani, Ponchielli bis zu Cilea und Puccini. Ein helles Blatt unter Glas und Rahmen lockte Grazia an. Sie trat näher und erkannte eine Selbstkarikatur des Caruso, in welcher der berühmte Tenor seine leibliche Fülle und sein Gesicht mit gesträubtem Schnurrbart in lustigen Strichen verhöhnte. Grazia starrte die Zeichnung lange an und suchte sie mit jenem anderen Caruso zu vergleichen, mit jenem ausdruckslosen Ding im Frack, dem sie gemeinsam mit Placido am Tage des Abschieds begegnet war. Je spöttischer aber die Karikatur lachte, um so bildloser wurde die Mumie. Als Tullio Capironi ins Zimmer trat, hatte sich Grazia von der Zeichnung noch immer nicht getrennt. Sie erschrak:

»Verzeihen Sie, Maestro! Ich bin wieder einmal zu Ihnen gekommen.«

Die Maske Karls des Fünften mit den zynisch erschöpften Augen zeigte keinerlei Überraschung:

»Also dein alter Narr zu Hause scheint wieder zur Besinnung gekommen zu sein, eh?«

Capironi legte seinen Arm um Grazias Hüfte. Er hatte sehr große und sehr runzlige Hände. Sie wehrte die sachliche Zärtlichkeit des alten Mannes nicht ab:

»Ah, es ist bei uns so viel vorgefallen, Maestro ...«

Vorsichtig gab sie einiges von dem Unheil preis, das über die Kinder Pascarella hereingebrochen war:

»Ich weiß nicht recht, wie Sie mir helfen könnten, Maestro, aber ich bin hier, um mich mit Ihnen zu beraten ...«

Capironi setzte sich, als habe er genau verstanden, ohne weiteres Wort, an das Pianino und schlug die starken Akkorde an, mit denen er die Vocalisen seiner Schüler einzuleiten pflegte:

»Was meinst du, ragazza mia, wollen wir beginnen?«

»Ach es geht ja nicht, Maestro! Ich darf nicht. Sie wissen, Papa verbietet es.«

»Papa, Papa!? Bist du denn mit dem alten Narren nicht fertig? Auch jetzt noch nicht, nach all diesen netten Geschichten? Du hast Talent, mein Kind, soweit sich so etwas voraussagen läßt. Wenn du sehr fleißig bist, kannst du vielleicht in sechs Monaten schon die erste Partie studieren.«

»Ah, Maestro, nein! Sie müssen das begreifen. Jetzt gerade geht es nicht. Jetzt gerade darf ich Papa nicht betrügen.«

»Ach so? Ich habe nicht gewußt, daß ich das erst klarstellen muß. Ich unterrichte dich natürlich unentgeltlich.«

Grazia lächelte krampfhaft:

»Sie sind sehr gut zu mir, Maestro. Aber bitte, verstehen Sie mich doch. Ich bin nicht meinetwegen hierhergekommen. Sie müssen nämlich wissen, daß meine drei Brüder schon vor vielen Wochen nach Rio de Janeiro gefahren sind. Ja, um die Familie zu verkleinern und für Papa Geld zu verdienen. Sie sind alle noch so schrecklich jung. Placido einundzwanzig und Ruggiero erst siebzehn. Ich habe solche Angst um die Jungen, Maestro. Sie haben keine Ahnung von der Welt. Denken Sie doch nur daran, wie uns Papa erzogen hat! Vielleicht hungern die Brüder jetzt, während ich mit Ihnen spreche, vielleicht sind sie schlechten Menschen in die Falle gegangen. Nachricht von ihnen ist noch immer nicht eingetroffen. Da habe ich an Sie gedacht, Maestro. Sie sind doch überall in der Welt herumgekommen, Maestro. Sie kennen gewiß auch in Rio zuverlässige Leute, Kollegen, denen Sie die Brüder anempfehlen könnten, Maestro, damit sich irgend jemand ihrer annimmt in ihrer Gottverlassenheit ...«

Capironi schlug den Deckel des Klaviers zu:

»Viel zu spät kommst du, meine Liebe. Du scheinst nicht zu wissen, daß Tullio Capironi heute eine Null ist, unwiderruflich eine Null. Vor zwanzig Jahren, jawohl, da habe ich im Teatro Colon und auch in Rio die Stagione dirigiert. Damals hatte ich auch Kollegen, die mich zwar haßten, aber achteten, Mugnone und Vigna. Doch heute, meine Liebe? Heute machen sich da drüben die jungen Leute breit, und sie haben recht. Wenn du einen dieser Herren, den Marinuzzi oder Serafin, nach dem alten Capironi fragst, wird er lange nachdenken: Ja, ja, ich erinnere mich dunkel, das ist so einer, der in den Nestern mit der Banda di campagna und ausgebrüllten Veteranen die Traviata aufführt. An so große Herren kann sich ein Capironi nicht heranwagen, ragazza mia. Ich darf keine Empfehlungen geben. Meine Empfehlungen würden übrigens keinem Hund helfen.«

Maestro Capironi ließ sich, was diesen seinen Lebensschmerz anbetraf, nur äußerst selten gehn. Jetzt schämte er sich, daß er vor Grazia so bitter geworden war. Aus diesem Grund ging er in eine heftige Tonart über:

»Was brauchen junge Menschen überhaupt Empfehlungen? Sie werden es ohne Empfehlungen dort weiter bringen als hier. Rio ist eine herrliche Stadt. Nirgends gibt es schönere Frauen und liebenswürdigere Männer. Könnte ich, ich ginge gleich hinüber. Santa Madonna, ihr seid ja alle wieder so weichlich, als ob es nie einen Krieg gegeben hätte. Ich sage dir, der Urwald und der Amazonas sind liebliche Orte gegen Karst und Isonzo dazumal. Also, was willst du? Nur keine Angst!«

Und weil ihm diese Tonart nun doch leid tat:

»Wenn du es verlangst, werde ich dem Generalkonsul, dem Eccheverria, schreiben. Aber den kennt dein Alter, der Pazzo assurdo, auch.«

Wenigstens etwas! Grazia hob die Hände:

»Bitte, Maestro, tun Sie es für mich! Schreiben Sie an Signor Eccheverria! Ich werde ruhiger sein.«

Er schaute diese liebende Schwester aus seinen glaubenslosen Augen an, die manchmal wie unerschütterliche Storchaugen unter den verknitterten Lidern hervorstarrten:

»Und du? Was geschieht mit dir? Du bist jetzt ein bildhübsches Mädchen und eine schlechte Partie.«

»Was mit mir geschieht? Mein Gott«, sie lachte übertrieben, »soll ich auch noch an mich denken? Das wäre zuviel. Natürlich werde ich etwas beginnen müssen. Ich möchte Sprachen lernen. Englisch!«

»Nun und? Warum lernst du nicht Englisch?«

»Das ist nicht so einfach, Maestro. Ich kann doch von Papa kein Geld erbitten, jetzt, wo er jede Lira braucht.«

»Englisch?« Capironi schnalzte mit dem Finger: »Da bist du doch nicht vergebens zu mir gekommen. Es freut mich. Ich habe eine englische Schülerin. Sie wohnt in einer Pension am Parco Margherita. Die Dame spricht kein Italienisch. Ihr könntet eure Wissenschaft gut austauschen. Warte!«

Der Maestro zog aus der abgeschabten Brieftasche eine Visitkarte und warf mit einer Schrift, die nicht minder verwüstet war als sein Gesicht, ein paar Worte drauf. Damit entließ er Grazia:

»Komm wieder, sooft du willst und kannst, meine Teure! Schade um deine Stimme!«

Grazia machte sich sogleich auf, um Capironis Schülerin zu besuchen. Der Gang sollte nicht vergeblich sein. Sie lernte in Miß Violet Friggs eine etwa achtundzwanzigjährige Persönlichkeit kennen, deren brandrotes Haar auffällige Pracht entfaltete. Ohne Zweifel erregte die Italienerin in der ersten Sekunde das Wohlgefallen der Britin. Nicht nur wurde schon für den gleichen Nachmittag eine gegenseitige Unterrichtsstunde vereinbart – Miß Violet umarmte beim Abschied Grazia aufs herzlichste. Zur festgesetzten Zeit empfing sie sie dann in einem grünen Hauskleid, das zu ihrem Haar in anmutige Übereinstimmung gebracht war.

Die Stunden entwickelten sich durchaus zum Vorteil der Italienerin. Die Ursache dafür lag weniger in Fräulein Friggs' Phlegma als in der unerwarteten Leidenschaft Grazias, die sie der englischen Sprache entgegenbrachte. Miß Violet hatte behagliche Plauderstunden mit dem schönen jungen Mädchen erhofft. Grazia aber erschien, täglich ernster, mit Grammatik und Übungsbuch bewaffnet. Sie brachte schriftliche Aufgaben, forderte strenge Korrektur der Fehler, stellte unaufhörlich Fragen nach Wortgebrauch, Satzbau, Aussprache und zog die Engländerin rettungslos in den Strudel ihrer Energie. Obgleich um viele Jahre jünger und unerfahrener als Violet Friggs, gab sie doch den Ton an und drängte die andere, ohne sich dieses Egoismus bewußt zu werden, in die Rolle der Dienenden. Die einseitige Besessenheit machte Grazia im Verhältnis zu Miß Violet eigensüchtig wie einen Mann. Diese aber war so geschaffen, daß nichts auf sie eine stärkere Wirkung auszuüben vermochte, als eine derartige Verbindung von schwebendem Mädchenreiz und zielbewußter Kraft. Die Stunden fanden zumeist an Grazias dienstfreien Tagen um fünf Uhr zur Teezeit in Miß Friggs' Pensionszimmer statt. Die Engländerin bestellte ihren Tisch mit guten Dingen, um Grazia zu erfreuen. Eigens für diese Zusammenkünfte besorgte sie in der Pasticceria von Luigi Caflisch, Via Chiaja, jedesmal frische Petits-fours. Grazia aber hielt das für keine Aufmerksamkeit ihr gegenüber, sondern für die gewohnte Lebensform eines Paradiesvogels. In ihren Augen war die Friggs, obgleich sie nur eine Pension und keinen Palazzo bewohnte, unermeßlich reich und luxuriös. Sie kam nicht im entferntesten auf den Gedanken, daß die vielen duftigen Gewänder, in immer neuen Farbtönen zur roten Haarwolke abgestimmt, für sie berechnet sein könnten, für sie, die stets in demselben billigen Fähnchen erschien. Einmal, während des Teetrinkens, rückte Miß Violet ganz nahe an Grazia heran und umkrampfte mit heißen Fingern ihre Gelenke:

»Ja, es ist wahr, was ich immer gehört habe. Ihr Italienerinnen seid eiskalt!«

Ein Blick traf sie, so erschrockener Verwunderung voll, daß sie sogleich wieder in die übliche Konversation verfiel. Grazia aber, die ihrer strebsamen Kälte der Britin gegenüber plötzlich inne ward, empfand eine sonderbare Beklemmung, aus Schuldgefühl und abweisendem Unbehagen gemischt. Sie nahm sich vor, in Zukunft weniger Wissensgier und mehr Freundwilligkeit zu zeigen. Vielleicht könnte sie der Miß Gleiches mit Gleichem vergelten und ihr auch einiges Aufschlußreiche über sich und die Ihren erzählen. Als sie aber damit begann, blieb der Bericht im Allgemeinen und Halbwahren stecken. Es zeigte sich hier wie immer, daß sich über das Pascarellawesen keine wahrheitsgemäße Aussage machen ließ, daß dieses abgestimmte Leben andern nicht verständlich werden konnte, und daß den einfachsten Mitteilungen plötzlich Schranken entgegenstanden, die Papas Gesetz errichtet hatte.

 

Man sieht, wieviel Dunkelheit sich zwischen Don Domenico und seinen Kindern einerseits, und zwischen den Kindern untereinander ansammelt. Er selbst, der Herr, von dem Gigantenkampf um seine Bürgerehre in Anspruch genommen, verschwindet wie hinter einer Wolke. Die Söhne sind von der Ferne verschlungen. Seit dem dreißigsten März, seit nahezu zwei Monaten also, hört man nichts mehr von ihnen. Iride, vom ehrgeizigen Willen beseelt, die Arbeit der großen Schwestern vollwertig zu unterstützen, leidet oft an Schwindelanfällen. Sie sagt niemandem ein Wort davon. Aber wenn Annunziata und Grazia nicht zu Hause sind, sitzt sie stundenlang starr am Fenster und weiß selbst nicht, ob sie schläft oder ohnmächtig ist. Als sie vor ein paar Wochen in der Schule bewußtlos hinschlug, sagte die Lehrerin: »Das kommt vom Wachsen.«

In Annunziata kohlen und qualmen die hypnotischen Worte des Priesters Ildefonso weiter. Seit jener Unterredung geht sie auch nicht mehr in die Santa Maria Avvocata. Sie läuft an ihren freien Vormittagen ziellos durch die Straßen, bleibt vor manchem Kirchenportal stehn, tritt aber nicht ein.

Grazia ist von ihren englischen Studien und der dazu gehörenden Lektüre ausgefüllt. So oft es aber geht, wandert sie in den verwilderten Garten der Villa am Posilipo, wo sie einst so manche Freitag-Morgenstunde an Placidos Seite verbracht hat.

Es war wiederum ein Freitag, als sich in diesem Garten auf der Steinbank mit dem weiten Rundblick etwas Unheimliches ereignete. Wenn es auch nur ein inneres Ereignis war und ein schattenhaftes dazu, so verstörte es Grazia doch nicht wenig. Sie sah aufs Meer hinaus, das glatt lag und aus hundert spiegelnden Brennpunkten zum leeren Himmel lohte. Ihre Gedanken waren bei Placido – unordentliche Gedanken freilich, die sich nicht sammeln ließen. Sie versuchte das Bild des Bruders herzurufen. Zu ihrem Schreck aber war es ihr minutenlang ganz unmöglich, sich an Placidos Aussehn zu erinnern. Als wäre der Herznerv ihres Gedächtnisses gelähmt, vermochte ihr Geist es nicht, den Bruder aus sich herauszubilden. Dahingegen drängte sich ein andrer mit unabweislicher Kraft zwischen sie und Placido. Nein, es war Arthur Campbell nicht, oder zumindest nicht ganz, es war ein Dritter, aus Placido und Campbell zusammengeschmolzen. Irgend jemand, zu dem sie durchaus keine Stellung nehmen wollte, den sie aus ihrer Seele, die ihn erschaffen hatte, ungeduldig fortwünschte. Dabei nahm dieses übereinander photographierte Gesicht immer deutlichere Wirklichkeit in ihr an, in die sich auch noch einige Züge von Lauro mischten. Grazia konnte den peinigenden Zwitter erst loswerden, als der Posilipo weit hinter ihr lag und sie die Straßenbahn bestieg.

Am selben Abend machte sie zum erstenmal von dem Schlüsselrecht Gebrauch, das ihr Placido nach dem Abschiedsbesuch auf dem Camposanto erteilt hatte. Als Annunziata und Iride schon schliefen, schlich sie im Nachthemd in Placidos verlassenes Zimmer und schloß mit feierlich bewegter Hand die Schreibtischlade des Dichters auf. Bis auf einige Hefte, die übereinander lagen, zeigten die Manuskripte große Unordnung. Grazia sortierte zuerst das unbeschriebene Papier von den losen Blättern, Zetteln und Fetzen, die Placidos eilige Handschrift trugen. Das unverbrauchte Kanzleipapier ergab einen ansehnlichen Stoß und wirkte wie das Sinnbild einer wartenden Geisteszukunft. Die Schwester setzte sich zurecht, um zu lesen. Doch plötzlich zögerte sie. Es kam ihr wie gemeine Neugier vor, wie schamlose Zudringlichkeit, in den Schriften des Bruders zu stöbern, ohne jede Bemühung, ohne jede Gegengabe ihrerseits. Da richtete sie ein paar Blätter des frischen Papiers her, legte einen Haufen der losen Notizen neben sich, ergriff zärtlich Placidos Federstiel und begann mit kindlich kalligraphischer Schrift des Bruders Expektorationen abzuschreiben. Ihr Kopf lag schief über ihrem linken Arm. Ganz der Arbeit hingegeben, merkte sie nicht, daß ihr eine Haarsträhne in die Stirne hing, daß ihre nackten Füße auf dem Steinboden ausfroren, und daß gegen vier Uhr der Tag zu grauen begann. Sie brachte in dieser Nacht, ohne abzusetzen, die Abschrift von etwa vierzig kurzen Betrachtungen, Sentenzen und Skizzen zustande. Einige davon galten der Wesenserkenntnis Don Domenicos, der Geschwister, sowie des Autors eigener Selbstschau. Sie dürfen in dieser Geschichte nicht fehlen, wenngleich sie an literarischem Wert den Gedichten und allgemeinen Gedankenreihen, die Grazia in der Schublade fand, gewiß nachstehen.

Aus Placidos Aufzeichnungen

1

Papa und wir: Es gibt unermeßlich flüchtige Augenblicke, in denen alles, was zwischen Papa und uns vorgeht, eine andre Bedeutung erhält. Ich kann es nicht besser definieren als durch den Ausdruck: »Andere Bedeutung«. Denn könnte ichs, würden mich jene unermeßlich flüchtigen Augenblicke der Ahnung nicht überfallen.

2

Papa und ich: Es gibt niemanden, von dem ich weniger wüßte als von ihm. Daß ich seine Gewohnheiten kenne, seine Stimme, seine Art zu essen, macht ihn mir noch fremder. Der Nächstbeste auf der Straße kommt mir oft bekannter vor als er. Gut, ich kann Papas Zufriedenheit und seinen Unmut vorausberechnen. Aber das geschieht aus Furcht, und ich gleiche darin einem Sklaven oder einem Hund. Durch das, was ein Hund von seinem Herrn weiß, wird der Herr dem Hund verhüllt und nicht erhellt. Wird jemals der Tag kommen, an dem ich gleichmütig bleibe, wenn Papa ins Zimmer tritt? Am nächsten bin ich ihm in der Nacht, wenn ich plötzlich erwache und weiß, daß er im Zimmer über mir schläft. So alt ich bin, ich spüre das gleiche tiefe Beschütztsein wie einst als Kind, und Dankbarkeit, ja Zärtlichkeit für ihn erfüllt mich. Ich kann es sagen ohne zu lügen: In solchen Stunden glaube ich sein wirkliches Wesen zu verstehen. Es ist eine Eigenart seines wirklichen Wesens, daß er es nie enthüllt.

3

Papa und mein Geheimnis: Es ist mir völlig unverständlich, wodurch Papa von meinen Schreibereien Wind bekommen hat. Giuseppes Spionage? Nein! So unordentlich ich auch sonst bin, den Schreibtisch lasse ich nie unversperrt. Jedenfalls bedeutet meine schriftliche Arbeit für Papa nicht nur eine der verhaßten Vordringlichkeiten, wie etwa das Singen bei offenem Fenster, es bedeutet für ihn Ärgeres, Aufrührerei. Dadurch, daß ich denke, Philosophen lese, Gedichte mache, habe ich einen Standpunkt gewonnen – ach nur einen Punkt –, wohin er mir nicht folgen kann. Hier bin ich ihm überlegen und er vermutet, daß ich mich in dieser Richtung nicht um der Wahrheit, sondern um der Überlegenheit willen entwickle. Es ist also ein sehr gesunder Widerstand, den er mir leistet, so schwer ich auch unter ihm leide. Soll aber die Objektivation des Lebens leicht erkauft werden? Ist es denn nicht ein häßlicher Verrat, daß ich hier sitze und Papa unter meine überhebliche Lupe nehme, als wäre ich Gott weiß wer?

4

Die Heimat: Papa hat uns so viel Heimat geschenkt, daß ich in ihr oft vor Fremdheit erschauern muß. Alles steht in unverrückbarer Ordnung auf seinem Platz: der große Tisch, das Klavier, die Schränke, der Küchenherd. Diese Gegenstände scheinen nicht im Jahre 1895, als unsere Eltern heirateten, gekauft worden zu sein, sondern seit jeher zu existieren. Manchmal wandre ich – wenn Papa und die Geschwister nicht zu Hause sind – durch unsre heimatliche Wohnung wie durch eine Landschaft, und mich bewegt unfaßbare Trauer. Ist Heimat nichts anderes als der langhingezogene Abschied von ihr, der sich in jeder Sekunde wiederholt, so wie eine Linie aus einer unendlichen Reihe von Punkten besteht? Besitzen wir die Heimat erst dann, wenn wir sie verloren haben? Der Feldherr weinte auf den Trümmern Karthagos. Ich weine mitten in der wohlbestellten und ragenden Ordnung, die durch nichts bedroht wird.

5

Die falsche Frage: In früherer Zeit habe ich mich dann und wann gefragt: »Ist Papa böse?« Es war die rückständigste Frage der Welt, denn sie stammte aus der Selbstverteidigung meines Behagens, das durch die Energie unseres Vaters gestört wird. Papa ist zu uns gütiger als gut und böser als böse. Warum? Er ist unlöslich verbunden mit uns Kindern, er steht und fällt mit uns.

6

Die Straße: Die Hellenen erzählten, daß es eine ganz gut geebnete Straße gebe, die vom Meere ins Gebirge und von da tausend Meilen weit bis zum Eingang des Hades führe. Man müsse sie nur unaufhörlich zu Ende gehen und habe dann lebendigen Leibes und Geistes alles erlebt und erkannt, selbst das Totenreich. Gefährte freilich und Reiter dürften nicht verkehren, und so sei noch niemand auf dieser Lebensstraße bis zur Pforte der Unterwelt gelangt. Ich aber fürchte, daß die vielen Osterien und Einkehrhäuser, die den ersten Teil der Strecke zieren, viel mehr Schuld an der mangelnden Wanderbereitschaft tragen als die zu überwindenden Schwierigkeiten. Hier gibt es einen besonderen Wein, dort vorzügliche Langusten. In größeren Wirtschaften treten Tänzer auf, und die kleinsten noch bieten gewiß ein Grammophon. Täglich machen sich Leute auf, aber schließlich kehrt jeder zur heißen Mittagsstunde oder am Abend ein, selbst der Habenichts. Und noch eines! Bei diesem Unternehmen steht der Rekord im umgekehrten Verhältnis zum Ruhm. Je weiter einer auf der Straße vorwärtsdringt, um so sicherer wird er vergessen. So bleibt uns zum Trost die Ungewißheit, ob nicht dieser oder jener verschollene Heros das Ziel dennoch erreicht habe.

7

Eine einzige Ablenkung kann alles verderben. Gilt dieser Satz fürs Leben nicht, fürs Denken und für die Gedichte gilt er bestimmt. Meine Gedichte sind leider nichts als Ablenkungen. Auf der griechischen Straße kehre ich meist schon in der ersten Osteria ein, lang ehe es noch heiß wird. Papa hat keine Ahnung, was es bedeutet, Herr über die Sprache sein zu wollen. Die Worte sind wie eine Herde, die in dumpfer Schar dem Leithammel nachdrängt, der Phrase. Die Worte scheinen den Dichter zu fürchten. Sie hüpfen nur denen liebenswürdig zu, die nichts von ihnen wollen. Werde ich je die große Geduld bekommen, ein Jahr lang über einen einzigen Vers nachzudenken? O Ungeduld, du bist des Geistes tiefste Schuld! Eine einzige Ablenkung kann alles verderben. Gilt dieser Satz wirklich nicht fürs Leben? Er gilt, er gilt!

8

Fluch der Sprache

Erlogenes klingt im Worte wie Erlittnes,
Erschlichenes nicht anders als Erschrittnes.

9

Kleiner Trost: Ich kann vielleicht Besseres tun, als ich tue, ich kann aber nicht besser sein, als ich bin, doch kann ich wahrer werden, als ich war.

10

Der Schmelzakt: Dichten heißt, das Universum der Dinge zum Universum der Sprache umschaffen. Das Wichtigste dabei ist der Schmelzakt beider Materien, der Dinge und der Worte, im Dichter selbst. Damit er gelinge, ist höchste Glut nötig und höchster Druck bei höchster Besonnenheit. Um dieser fast unmenschlichen Verbindung willen wurde der echte Dichter von den Alten als Halbgott verherrlicht.

11

Meine Geschwister und ich: Wir sind eine große Familie. Unser sind sechs. Ich wähle dieses Thema, nicht weil ich uns für ungemein interessant halte, sondern weil ich kein anderes stärker erlebt habe. Und doch, wie schwer fällt es mir, auf diesem heimlichen Blatt über meine Geschwister etwas zu schreiben, obgleich es ja nur ins Leere gesagt ist! Es kommt mir vor wie Untreue und Hinterlist. Ich schleiche mich an sie heran und schrecke mit wehem Herzen zurück vor ihrer Wirklichkeit, ihrem Wert und ihrer Unschuld. Am meisten Scheu erfüllt mich, wenn ich Annunziata und Lauro ins Auge fasse. Dafür gibt es freilich eine Erklärung. Wir Sechs zerfallen in zwei natürliche Gruppen. Annunziata und Lauro bilden die eine, weil sie die ausgesprochenen Kinder von Mama sind. Ich will damit durchaus nicht sagen, daß sie Papa ferner stehen als wir vier anderen. Das wäre eine lächerliche Fälschung, wenn man bedenkt, wie vertrauensvoll sich Papa auf Annunziata stützt und wie gehässig er sich zu mir verhält. Zu Lauro hat er eine beinahe respektvolle Stellung, vielleicht weil er in ihm der armen Mama immer wieder begegnet. Trotzdem sind Annunziata und Lauro zwei verwaiste Wesen. Wenn man zufällig in ein Zimmer tritt, wo sie im Dunkeln sitzen, brechen sie ihr Gespräch mitten im Satz ab. So benehmen sich zwei Waisenkinder in der Fremde. Vor einigen Tagen hat mir Grazia eine der Tierphantasien gezeigt, die Lauro modelliert. (Er selbst würde mich, was ich vollkommen verstehe, nie einweihen.) Lauro ist viel mehr Künstler als ich. Das sage ich nicht, weil mir das verrückte Tierchen gefällt, sondern weil ich ihn für freier und großmütiger halte, als mich. Er ist selbst gegen Papa frei, und wie er sich zu Grazia wegen des Balles am nächsten Dienstag benimmt, ist wahrhaft großartig. Ich verstehe Annunziata, daß sie Lauro hoch über ihre anderen Geschwister stellt. Vielleicht werden die beiden einst in ihrem Alter zusammenziehen und -leben. Solange sie einander haben, kann ihnen nichts geschehen. Und jetzt müßte ich über Grazia schreiben. Aber ich habe meine Objektivität überschätzt. Ich kann es nicht. Merkwürdig, daß Grazia gar nicht zu wissen scheint, wie nahe sie dem Herzen unsres Vaters ist. Die Nächste ohne Zweifel. Denn seine Neigung zu Iride scheint nur oberflächlich zu sein, ist sie doch von uns die Jüngste und Zarteste. Iride weiß auch gar nicht mehr genau, wer Papa ist. Ich fürchte, daß ihre Anlage zur Eitelkeit und zum Übersieden nicht genug gebändigt wird. Gerade umgekehrt steht es mit Ruggiero. Papa läßt ihm nicht das geringste durchgehn, und doch haben Schimpf und Züchtigung in diesem Falle nichts Tragisches an sich. Ruggiero ist auf kindlicher Stufe sein Ebenbild. Ich glaube, wenn Papa an einen Stammhalter denkt, so sieht er immer nur ihn. Und ich? Vorhin habe ich mich den Kindern Papas zugezählt. Darf ich das? Gehöre ich nicht ebensowenig auf die eine wie auf die andere Seite? Oft komme ich mir unter meinen lichten Brüdern und Schwestern wie ein kaltes dunkles Wesen vor, das nirgendwo zu Hause ist. Ich sitze unter ihnen, teilnehmend an all ihrem Treiben, doch dies ist nur Schein, denn mein Verrätergeist belauert sie von fern. O meine sehnsüchtig geliebten Geschwister, ihr wißt nicht, daß ein dunkler und kalter Gast unter euch lebt.

12

Papas Gesang: Einmal werde ich vielleicht alt sein, siebzig Jahre, und dann sitze ich gerne auf einer Bank am Meeresufer. Doch ich sehe das Meer nicht, mag es auch die Mittags- oder Abendsonne mit dem herrlichsten Gold überziehen. In meinem Herzen geht etwas anderes auf als das goldene Meer. Alles habe ich vergessen, nur dieses nicht. Nach einem halben Jahrhundert finde ich uns Kinder wieder im Salotto und wir lauschen mit tiefgesenkten Köpfen Papas Gesang. Ich höre deutlich den Monolog des Barnaba oder die Arie des Renato. Möge mich in meiner nahen Todesstunde der sternenferne Hauch dieses Gesanges berühren! War denn Papas Stimme damals vor undenklichen Zeiten so schön, und hat er wirklich so trefflich gesungen? Ach, ich weiß es nicht mehr, doch seine Gesangskunst werden gewiß die beruflich ausgebildeten Sänger übertroffen haben. Was also war dann der Zauber? Papa überwand seine tiefe Scham, um uns, den Kindern, an großen Feiertagen das Innerste seines Herzens zu offenbaren. Und dadurch entriegelte er unser eigenes Herz. Das war der Zauber von Papas Gesang. Unsere italienische Sprache muß an einen Mann seiner Art gedacht haben, als sie die beiden Worte gleichsetzte, Gesang und Zauber, canto e incanto.

 

Der erste Brief der Brüder aus Rio de Janeiro traf zu Pfingsten ein. Es war einer der letzten Maitage. Quälende Hitze herrschte. Die Fenster der Sala da pranzo standen weit offen. Giuseppe schlich gebeugt umher und beaufsichtigte geringschätzig die Tätigkeit Irides, die den Tisch zum Abendessen deckte. Manchmal zupfte er am Tuch und rückte mit den Gedecken, um sich kritisch bemerkbar zu machen. Als es draußen schrill läutete, hörte er nichts und wartete, ob Iride ihm nicht den Gang zur Wohnungstür abnehmen werde. Erst als es neuerdings und noch länger schellte, summte er beleidigt in sich hinein und schickte sich mit tragischer Langsamkeit an, zu öffnen. Er brachte den Brief, wog ihn aufmerksam prüfend in der Hand und legte ihn dann mit nachdrücklicher Gebärde auf Don Domenicos Teller, was heißen sollte: Hierher gehört der Brief und nirgendwo andershin. Iride stürzte in die Küche und rief die Schwestern herbei. Alle drei umstanden Papas Platz und ließen erregt den Brief von Hand zu Hand wandern. Er war adressiert an Signor Domenico Pascarella. Ihn zu öffnen, lag also jenseits aller Möglichkeit. Ach, wenn Papa nur schon käme! Doch gerade heute kam Papa nicht. Es vergingen zwei martervolle Stunden, ehe sein Schlüssel draußen knirschte. Iride konnte die Tränen der schmerzhaften Spannung nicht länger zurückhalten. Sie schrie, wobei sie den altheiligen Ritus der Begrüßung vergaß:

»Ein Brief, Papa, aus Brasilien! Komm schnell!«

Don Domenico drehte den Brief nach allen Seiten und warf ihn schließlich auf den Teller zurück. Dann setzte er sich ächzend hin und entfaltete die Serviette. Er war verschwitzt, die Krawatte saß verschoben, seine weißen Haare, lange nicht mehr geschnitten, starrten aufrecht, in borstigen Büscheln. Gott weiß, was für einen Tag er hinter sich haben mochte. Vor längerer Zeit schon hatte er all seine Angestellten bis auf den Kassier und einen Praktikanten entlassen. Neben seinen Kämpfen und Reisen lastete also auch noch niederdrückende Büroarbeit auf ihm. Und Gnolli? Der lungerte in der Azienda herum und störte, ohne daß man ihn loswerden konnte. Die Augen der Mädchen, starr auf den Teller gerichtet, sahen nichts. Sie bemerkten nicht einmal, daß Papa es heute vor Müdigkeit unterlassen hatte, sich die Hände zu waschen und den Hausrock anzuziehen. In Grazia stieg ein drohendes Zorngefühl auf: Wenn er jetzt den Brief nicht öffnet! Wenn er zuerst auftragen läßt! Wenn wir warten müssen!

Der Vater aber nahm sein Messer, durchschnitt bedächtig den Umschlag und reichte Iride die Blätter: »Lies vor!«

Die Stimme der Jüngsten gickste und überschlug sich vor Eifer. Grazia und Annunziata forderten mit nervösem Tadel immer wieder Deutlichkeit, Langsamkeit, und riefen jeden Augenblick, ohne Rücksicht auf Papa:

»Noch einmal! Aber lauter! Hörst du?«

Der Brief, obgleich von allen drei Brüdern unterfertigt, zeigte in den meisten Sätzen unverkennbar Placidos wohlüberlegten Stil. Er berichtete eingangs von der glücklich überstandenen Seereise und vom gegenwärtigen Wohlbefinden der Jünglinge. Sie seien noch immer im Auswandererhaus der Ilha das flores, der Blumeninsel, untergebracht, wo sie bis auf weiteres wohnen dürften. Diese Herberge habe den Vorteil, daß sie samt Verköstigung vom Bundesstaate Rio de Janeiro den Arbeitsuchenden unentgeltlich zur Verfügung gestellt werde, bis sich für sie etwas finde. Für Leute ihres Schlages freilich sei es nicht leicht, irgendwo schnell anzukommen. Immer die gleiche Geschichte spiele sich ab: »Zeiget eure Hände! Aha, ihr seid feine Herren! Was soll man denn mit so feinen Herren anfangen? Schaut zu, daß ihr in Rio, in São Paulo oder in einer andern Stadt angestellt werdet, am besten bei einem Konfektionär, in einem Warenhaus oder Büro.« Täglich gingen von der Auswandererstation Transporte in die verschiedensten Staaten und Kolonien ab, nach Santa Catarina, nach Espirito Santo, nach Paraná. Doch die Kolonisten, die ein Stück Land am Urwald vom Staate geschenkt bekämen, seien zumeist mehrköpfige Familien, die keinen Anschluß wollten. Und die schwere Fron der Kaffeepflücker und anderer Erntearbeiter könne man mit Rücksicht auf die eigenen Körperkräfte guten Gewissens nicht auf sich nehmen. Zwar habe Ruggiero schon einmal auf dem Transportschiff einer Kaffeepflückerpartie Unterschlupf gefunden, doch sei es dem ernsten Einspruch Lauros und Placidos gelungen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Man dürfe nichts erzwingen wollen und es empfehle sich, mit Geduld zu warten, bis das Richtige auftauche.

»Indessen«, hieß es weiter, »studieren wir Portugiesisch und fahren täglich mit dem kleinen Dampfschiff der Ilha das flores in die Stadt, um uns nach einer Arbeitsgelegenheit umzusehen. Es ist jetzt eine schlechte Zeit, der Winter, darum schickt man uns überall fort. Im nächsten Monat schon wird es viel besser sein, so versichert man uns auf dem Arbeitsamt der italienischen Kolonie. Leider ist der Generalkonsul Eccheverria verreist, so daß wir den Empfehlungsbrief nicht abgeben konnten. Die anderen Herren auf dem Konsulat haben wenig Zeit, sich mit uns zu befassen, da in den Vorzimmern täglich mindestens hundert Leute auf Hilfe warten. Trotz diesen Erfahrungen, die gar nichts Besonderes sind, und die jeder Fremde hier durchmacht, fühlen wir uns überaus wohl, haben keine Not und Angst und hoffen von einem Tag zum andern. Es ist unbeschreiblich schön hier, und wir genießen jeden Morgen den herrlichen Anblick von neuem. Damit Ihr wenigstens eine blasse Vorstellung habt, legen wir drei Ansichtskarten bei. Wüßten wir nur, daß es Euch ebenso gut geht wie uns, daß Ihr ebensoviel freudigen Mut in Euch besitzt wie wir, dann wären wir zufrieden. Aber wenn wir an Euch denken, und wir denken immer an Euch, dann wird uns schwer ums Herz.«

Die Schwestern fühlten sofort, daß nur der Schlußsatz die ganze Wahrheit enthielt, zu der die fröhliche Stimmung, von der in dem Briefe mehr als einmal die Rede war, in heuchlerischem Gegensatz stand. Don Domenico eröffnete das Gespräch mit der Feststellung, er habe es ja immer wieder gesagt, daß Argentinien das Richtige sei und nicht Brasilien. Die großen Herren aber hätten ihm die Erlaubnis in einem Zeitpunkt abgelistet, wo er, durch Sorge und aufreibende Arbeit festgebunden, seinen Willen nicht durchgesetzt habe wie sonst. So sei alles gekommen, wie es ohne seine Leitung eben kommen mußte. Ihn treffe keine Schuld. Ein sonnenklarer Beweis dafür, wie fehlerhaft sich das Leben entwickle, wenn er nur eine Sekunde lang die Augen abwende. In seinem Tonfall lag grimmige Befriedigung. Doch verzehrte er sein Essen sichtlich ohne Appetit.

Später stand er auf und begann seinen stiefelknarrenden Rundgang um den Tisch. Die Mädchen flüsterten miteinander, eine Respektlosigkeit, die noch vor wenigen Monaten niemand gewagt hätte. Die Entwicklung des Lebens bröckelte von der strengen Orthodoxie täglich ein anderes Stück ab. Nach der Sitte des Willkomms verfiel nun auch die schweigende Ehrfurcht bei Tisch. Don Domenico, von seinen Gedanken geplagt, die ihm so viele traurige Bestätigung brachten, schien das Schwesterngeflüster gar nicht zu bemerken. Auf einmal aber blieb er stehn und pflanzte sich dicht vor Grazia hin, als wolle er nicht die Brüder, sondern sie (die doch so verzweifelt gegen die Brasilienfahrt gekämpft hatte) zur Verantwortung ziehn:

»Ihr glaubt alle, es sei eine gar so einfache Sache, sich ohne mich ein Leben zu schaffen. Da habt ihr es nun!«

Grazia mußte wiederum eine rasche Zornwallung unterdrücken. Papa aber schloß grollend:

»Meine Herren Söhne werden jetzt erst sehn, was ihr Vaterhaus ist.«

Dann ging er schlafen. Doch der Donner, den er sonst mit dem Zuschlagen der Türen im oberen Stockwerk verursachte, ertönte heute nur schwach und unentschieden.

Die Schwestern saßen noch bis ein Uhr nachts beisammen. Ein einziger Gedanke folterte ihr Hirn: Geld verschaffen! Eine Summe aufbringen und nach Rio senden, um die Brüder vor Elend und Untergang zu retten! Aber wie Geld verschaffen? Sie ließen all ihre Bekannten vorüberziehen, sie träumten von der Lotterie, sie wühlten in jeder entferntesten Möglichkeit. Nichts! Kein Weg zeigte sich. Man konnte aus dem Fenster springen und sich töten, doch Geld schaffen konnte man nicht in dieser Welt.


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