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Sechstes Kapitel
Der Sündenfall

Lauro hatte richtig vorausgesehn: es war für ihn und Grazia nicht möglich, die Last der Sünde allein zu tragen. Jedes der sechs Geschwister mußte ein Stück davon auf sich nehmen. Das lag in den äußeren Umständen begründet, doch noch mehr in der inneren Verbundenheit der sechs. Die Sünde löste sich im Volk der Pascarellas auf wie Salz im Wasser. Jeglicher Teil schmeckte nach ihr. Man muß genau unterscheiden. Wohl waren Grazia und Lauro die Hauptschuldigen, doch bedeutete der Ballbesuch nur das allergröbste Merkmal der Sünde sozusagen. Ihr wesentlichstes Element blieb der Betrug, die Verschwörung gegen den Vater, der erste Abfall vom Gesetz. Man hatte zwar auch bisher im kleinen immer wieder das Gesetz umgangen. Dies aber geschah mit Reue und Gewissensbissen um des Lebens willen, da es einfach nicht möglich war, nach dem unerschöpflichen Kodex Don Domenicos in reinem Gehorsam zu existieren. Was hingegen den Ball im Bertolini anbelangt, stand die Sache durchaus anders. Hier war listige Lüge vonnöten, ja mehr, entschlossene Auflehnung, die alle umfaßte, von Annunziata bis Iride. Die zwingenden Einzelheiten der Verschwörung forderten, daß nicht einmal die beiden Kleinen ausgenommen werden durften.

Den ersten und größten Schritt der Auflehnung hatte Lauro unternommen, wobei er gleichsam Mamas Hilfe in Gestalt des versetzten Ringes in Anspruch nahm. Sehr verwunderlich, wie leicht und zwangsläufig sich aus der ersten Ursache (dem Besitz der Eintrittskarten) alle weiteren Folgen abspulten. Es ging wie von selbst.

Annunziata freilich, die sich mit dem verwegenen Plan theoretisch schon vor längerer Zeit einverstanden erklärt hatte, war betäubt von Schrecken, als er nun verwirklicht werden sollte. Doch versuchte sie kein einziges Mal, abzureden, abzuraten. Im Gegenteil. Sie stellte sich Grazia mit einer Leidenschaft zur Verfügung, die man an ihr gar nicht kannte, während die Heldin des Unternehmens ungewöhnlich passiv blieb. Ist es nicht sehr wunderlich, daß Battefiori ein uneigennütziges Geldangebot zur selben Stunde gemacht hatte, da Lauro die Bombe legte? »Geld, Geld!« Gottlob besaß Annunziata soviel Geld, um Grazia, was die notwendigen Auslagen betraf, helfen zu können. Da war vor allem das Kleid:

»Es ist nicht leicht, Grazia, aber du mußt dich endlich für ein Kostüm entscheiden.«

Die erregte Iride, die diesen Gesprächen beiwohnte, vermehrte ihre früheren Vorschläge um einige neue Punkte: Eine Holländerin, wie wärs damit? Oder eine indische Fürstin? Oder eine Nymphe?

Entsetzt wandte sich Grazia von solchen Zumutungen ab:

»Ich werde mich doch nicht verkleiden.«

Diese Antwort schien Annunziatas Herz zu erleichtern. Sie regte eine andere Lösung an:

»Diese modernen Stilkleider wirken fremdartig, fast wie Kostümierungen. Was meinst du dazu?«

Ein kluger Ausweg wahrlich, den Grazia getrost einschlagen konnte. Nichts heikler jedoch als die Herstellung eines solchen stilisierten Abendkleides, das die Restauration einer alt-biedermeierlichen Mode mit dem offenherzigen Schnitt unserer Tage verquicken soll. Hier war weder die gewohnte Hausschneiderin am Platz, noch auch das kleine Konfektionsgeschäft, woher die Schwestern Pascarella sonst ihren bescheidenen Putz bezogen. So traten denn Annunziata und Grazia selbigen Tages noch mit bang klopfendem Herzen durch die furchteinflößende Glastür einer stadtberühmten Firma, die sie bisher nur der Sage nach kannten.

Seitdem das große Ereignis im Zuge war, hatte sich auch Placidos Verhältnis zu Lauro geändert. Diese beiden Geschwister standen sich trotz aller guten Kameradschaft bisher am fernsten. Placidos Geist, der nach Ordnung und Bewußtsein strebte, hatte in Lauro das Dunkle, das Unberechenbare immer gescheut, das hinter der sanften Verhaltenheit des Jünglings lauerte. Jetzt glaubte er mit einem Mal die Kostbarkeit dieses Dunkels zu erkennen. Er selbst, der Grübler und Schreiber, blieb immer im Unentschiedenen stecken, während Lauro ohne alle Reflexion zur Tat vorstieß: Die Geschichte mit dem versetzten Ring! Der Gang in den Palazzo Dallorso! Nie hätte sich Placido zu solcher vermessenen Aktivität aufgeschwungen, er, der luziferische Träumer. Doch hinter Lauros Tun, erkannte er, standen noch weit kompliziertere Eigenschaften als Tatkraft. Er sah plötzlich in Lauro Mama, und zwar auf ganz neue Art. Placido, dessen Herz immer nur voll vom Vater gewesen, hatte sich für seine Mutter, auch zu ihren Lebzeiten noch, sehr wenig interessiert. Er wußte nichts von ihr. Sie war eine sanfte inhaltsleere Stimme, die ihm nichts zu sagen hatte. Nun aber leuchtete die Tote durch Lauro hindurch, er konnte nicht sagen, wieso das kam. Sie war eine andere, als er immer geglaubt hatte. Placido ahnte, wie sehr er Mama unrecht getan. Ihn erfaßte ein wachsendes Verlangen, dem jüngeren Bruder zu dienen. Es äußerte sich in Gesprächen wie dem folgenden:

»Du hast jetzt sicher keine Ruhe, Lauro. Wenn du willst, übernehme ich gerne deine Hausarbeiten. Soviel Latein und Griechisch werde ich noch zusammenbringen. Einverstanden?«

»Aber mit Wonne! Das ist riesig nett von dir. Hier diese Horaz-Ode könntest du mir in hervorragende Verse übersetzen. Ich möchte den Leuten auch einmal imponieren.«

»Wird bis morgen fertig sein. Sag einmal, willst du denn am Dienstag den Smoking anziehn?«

»Herrgott, das ist ja unmöglich! Aber ich habe doch keinen Frack!«

»Ich habe den meinigen zum Schneider getragen. Vielleicht werden dir die Ärmel zu lang sein. Spring heute noch hin, damit er dir sie richtet. Im großen und ganzen wird der Frack ja passen.«

Den eigentlichen Schlachtplan der Sünde jedoch arbeitete weder Placido noch Lauro aus, sondern Ruggiero, der anerkannte Praktikus der Familie. Er hatte ihn auf zwei glücklichen Fügungen errichtet. Die erste war Giuseppes Abwesenheit. Die zweite bestand in der Aufführung einer Oper durch die Stagione von San Carlo, welche im Herzen Don Domenicos gleich hinter »Gioconda« figurierte. Ruggiero selbst war beauftragt worden, zu dieser Vorstellung den bekannten Sperrsitz zu besorgen. Die Dinge lagen demnach überaus günstig. An solchen Abenden pflegte Papa schon ziemlich zeitig nach Hause zu kommen, früher und rascher als sonst zu speisen und knapp nach halb neun Uhr die Wohnungstür hinter sich abzuschließen. Wenn er dann nach Mitternacht heimkehrte, begab er sich leise in den Oberstock, wobei er aber, durch die besondere Art der Wohnung gezwungen, Placidos Kammer passieren mußte. Er achtete stets vorsichtig darauf, daß seine Heimkunft keines der Geschwister wecke. Im Hinblick auf Papas Charakter mußte man freilich gewärtig sein, daß er einmal diese Rücksicht durchbreche und es sich einfallen lasse, den Schlaf Grazias zum Beispiel zu inspizieren. Ruggieros Ordre de bataille sah nun weiter vor, daß er selbst, nachdem Papa das Haus verlassen, zum nächsten Taxistand rennen und dort einen Wagen nehmen werde, der allerdings nicht vor dem Hause (wegen etwaigen Verrats der Nachbarn), sondern an der Ecke Via Concordia halten solle. Zu diesem Vorhaben aber war ein Schlüssel notwendig. Da Don Domenico nämlich in solchen Fällen die Wohnung samt seinen Kindern wie ein Gefängnis abzusperren geruhte, wäre es unmöglich gewesen, zu entwischen. Neben des Hausvaters Schlüssel gab es noch einen zweiten, der (was war natürlicher?) in Giuseppes Verwahrung stand. Dieser hatte ihn vor Antritt seiner Trauerreise der Köchin Priscilla ausgefolgt, so wie ein sterbender Führer im Krieg das Kommando an die nächstniedere Charge weitergibt. Priscilla war mithin ein Schlüsselpunkt des Feldzuges. Ruggiero, Liebling und Augapfel der Köchin, überrumpelte sie durch schmeichlerische Rede. Der Schlüssel geriet in seinen Besitz.

Soweit war alles in Ordnung und begründete Aussicht vorhanden, daß dem Vater Grazias und Lauros nächtliches Verschwinden verborgen bleiben könne. Dennoch lag graue Bedrückung auf allen, im Schlafen und Wachen. Und wenn es auch dem Vater verborgen blieb!? Wurde der Betrug, der Abfall dadurch nicht nur noch unerträglicher!? Brannte ihnen nicht fortan das Lügenmal auf der Stirn? Sie hatten bisher in der Zucht gelebt und in der Angst dieser Zucht. War aber die tägliche Angst nicht besser als der tückisch gebrochene Bund, der die Beziehung zu Papa für ewig verwandeln mußte? Es sei ausdrücklich gesagt, daß weder Annunziata noch Placido, weder Grazia noch Lauro, ja nicht einmal Ruggiero und Iride sich den Tag nach der Sünde vorstellen konnten. Diese allernächste Zukunft lag leer vor ihnen wie eine Nebelwand. So oder so, ob alles herauskam oder nichts, der Aschermittwoch mußte einen gänzlich veränderten Zustand der Familie Pascarella heraufführen. Und das Schrecklichste: Alles kam immer geschwinder ins Rollen. Sie fanden den Mut nicht mehr zum Rückzug.

Der Karnevalsdienstag nahte wie ein Weltuntergang. Um sich ihrer Lage nicht immer bewußt zu werden, sprachen die Geschwister meist nur von Grazias Kleid und von sonstigen Anschaffungen, die noch notwendig waren. Sie stürzten sich in die Äußerlichkeiten der Sünde. Annunziata, doch auch alle anderen bis zu Iride gaben ihren letzten Soldo her. Das köstliche Stilkleid war zartblau. Dazu gehörten dementsprechend abgetönte Schuhe. Dann brauchte Grazia unbedingt einen duftigen Shawl. Ihr langer Hals und der Brustausschnitt konnten unmöglich leer bleiben. Doch auch ein venezianischer Glasschmuck kostet schließlich Geld. Lauro brauchte nicht nur neue Lackschuhe, sondern auch weiße Glacès. Rechnet man die Ondulation, das Taxi, Trinkgelder und unvorhergesehene Ausgaben dazu, so drohte ein bedenklicher Fehlbetrag.

Fragen der Schicklichkeit harrten nicht minder einer Lösung. Durfte ein junges Mädchen, dem bisher das Betreten der Straße ohne geziemende Garde verboten war, plötzlich unbehütet und nur in Gesellschaft eines neunzehnjährigen Bruders auf einem Ball erscheinen? Eine derartige Lotterhaftigkeit riß die Wurzeln der väterlichen Erziehung zweifellos aus dem Erdreich. Doch ganz abgesehn von der Verschuldung gegen Papa (sie war unermeßlich und deshalb gar nicht detaillierbar), durfte diese Verschuldung Grazias gegen Grazia zugelassen werden? Fügte sie sich selbst nicht unheilbaren Schaden damit zu? Wiederum war es Annunziata, die auf ein Auskunftsmittel verfiel: die alte Verwandte und Logenhirtin von San Carlo. Man konnte sie leicht dafür gewinnen, die Rolle einer Schutzdame zu übernehmen. Sie hegte gegen Don Domenico nicht wenig Bitterkeit im Herzen. Ihrer Schweigsamkeit war man sicher. Lauro aber schüttelte mißbilligend den Kopf: »Wozu?« Dieses »Wozu« bedeutete ungefähr: Wollt ihr wirklich die Sünde verwässern? Glaubt ihr, durch schwache Kompromisse die Wahrheit abbiegen zu können? Nein, meine Lieben, trinken wir den Wein, aber trinken wir ihn bis zur Neige!

Damit war auch diese zimperliche Frage begraben.

Am Montag trafen die letzten Kleinigkeiten ein. Ausgebreitet lag nun alles auf Grazias Bett: Kleid, Strümpfe, Shawl bis zur künstlichen Blume und der venezianischen Kette mit tiefblauen Glasglockenblüten.

Der große Dienstag endlich brachte, noch bevor es Abend war, drei Vorfälle von einschneidender Bedeutung. Giuseppes unerwartete Heimkehr zuerst. Der Urlauber trat gegen Mittag gemessen unter die Geschwister, amtsbewußter und schwerhöriger als zuvor. Sein deliktewitternder Blick drohte: So! Ihr habt nun Ferien gehabt. Aber ich spüre, daß bei euch mancherlei eingerissen ist, das ich werde abstellen müssen. Eccellenza kann Gott danken, daß ich wieder auf Posten bin. Aufgepaßt! Ich widme mich mit ausgeruhter Kraft meiner Pflicht.

Damit war Ruggieros Schlachtplan über den Haufen geworfen. Eine kämpfende Truppe aber muß immer auf Überraschungen des Wetters und der feindlichen Bewegung gefaßt sein. Gegen die Tatsache von Giuseppes ekelhafter Gegenwart freilich ließ sich nur schwer eine hilfreiche Finte ausspintisieren. Selbst Ruggiero hatte keinen brauchbaren Einfall. Da begann er in seinen zerfetzten Kriminalschundromanen fieberhaft nachzuschlagen (verbotene Konterbande, unterm Bett aufbewahrt), ob ihm nicht wohl einer der Verbrecher oder Detektive mit einem Ratschlag an die Hand gehn könne, wie man am besten einen Mann los wird. Die Antwort lautete durchwegs auf Knebel, Chloroform, Mord und ähnliche unpraktische Mittel. Die andern Geschwister gingen in entschlossener, schicksalsdumpfer Schweigsamkeit umher, von Zimmer zu Zimmer. Es war sechs Uhr, als Iride über Halsschmerzen zu klagen begann. Grazia zeigte sich darüber mehr als notwendig bestürzt. Sie zwang die Kleine mit beschwörender Stimme, sich sofort ins Bett zu legen. Seit Tagen schon, seitdem auf Arthur Campbells Flehen das leise »Si« in ihr aufgestiegen war, bewegte sich Grazia mit abgestelltem Lebensmotor. Sie, die Trägerin der Sünde, ließ alles mit sich geschehen in ungewohnter Erschlaffung. Nun aber, da ihre kleine Schwester Iride leise jammerte und vielleicht krank war, verdüsterte sich der letzte Lichtschein in Grazias Seele. Am liebsten hätte sie laut aufgeheult.

Zur gleichen Zeit entspann sich folgender Dialog zwischen Ruggiero und Giuseppe:

»Ich bitte um den Schlüssel, Signor Ruggiero.«

»Um welchen Schlüssel, Giuseppe?«

»Um meinen Schlüssel, Signor Ruggiero.«

Ruggiero schaute verdutzt drein, um Zeit zu gewinnen. Giuseppes erlauchte Ruhe und Unerbittlichkeit wich nicht:

»Es ist der Schlüssel, den mir Eccellenza selbst eingehändigt hat. Eccellenza wird wissen warum. Ich habe mich verleiten lassen, ihn der Köchin zu übergeben. Die Köchin aber hat ihn dem Signor Ruggiero ausgefolgt. Man kann von einer Köchin nichts Kluges und Moralisches erwarten. Denn erstens ist sie ein Weib und zweitens eine Köchin.«

»Was phantasieren Sie da, Giuseppe? Sie sind überhaupt viel zu früh nach Hause gekommen. Ihre Familie hätte Sie sicher noch lange gebraucht.«

»Ich habe meine Pflicht. Und zu meiner Pflicht gehört mein Schlüssel.«

Ruggiero simulierte Zorn:

»Geben Sie doch endlich Ruhe damit!«

Giuseppe zuckte die Achseln, als seien zu seinem Bedauern die gütigen Mittel erschöpft und nun müsse der Rechtsweg beschritten werden:

»Eccellenza wird zu entscheiden haben.«

Ruggiero lenkte schreckerfüllt ein:

»Gott weiß, wo der Schlüssel liegen mag. Kann sein, daß ich ihn in der Hand gehabt habe. Suchen Sie ihn doch!«

Nun aber begann Giuseppes Taubheit in tadelloser Weise zu funktionieren. Er deutete durch hochgezogene Augenbrauen an, daß er nichts verstehen könne, und ging. Ruggiero stürzte ihm nach und schrie in sein Ohr, es sei am besten, den Schlüssel gemeinsam zu suchen. Giuseppes Schwerhörigkeit verstand etwas ganz andres. Der Diener nickte zum Zeichen, daß er gesonnen sei, den Wunsch des jüngsten Sohnes zu erfüllen, und brachte eine Schere.

In diesen Augenblick der Not platzte das dritte Ereignis herein. Don Domenico sandte Botschaft, man möge ihn heute abend nicht zum Essen erwarten, sondern ruhig wie sonst schlafen gehn, dahingegen den Giuseppe mit jenen Faszikeln, die auf dem Schreibtisch lägen, unverzüglich in die Azienda senden. Derartige Entschlüsse Papas, die das Programm umwarfen, kamen zwar nicht sehr häufig vor, waren aber nicht im geringsten ein Grund zur Beunruhigung. Eine wilde Freude trat jäh in die Augen der Geschwister Pascarella. Das Schicksal half ihnen mit übermenschlichem Raffinement. (Wie immer in der Geschichte, dachte Placido, wenn es ein Unrecht erleichtern darf.) Von Papa drohte keine Gefahr mehr. Er hatte heute länger zu arbeiten als sonst, würde im Studio einen kalten Imbiß zu sich nehmen und dann geradewegs hinüber in die Oper gehn. Genau so wie vor zwei Jahren. Und Giuseppe? Da es ziemlich warm war, hatte Papa nur seinen leichten Mantel mit. Man konnte den Diener gegen neun Uhr mit dem wärmeren Mantel ins Theater schicken.

Zum Glück stellte sich heraus, daß Iride kein Fieber hatte. Grazia atmete erlöst auf. Es wäre für sie eine unfaßbare Vorstellung gewesen, das Kind krank zurückzulassen. Gott sei Dank, keine Krankheit wars, sondern nur eine Folge der großen Nervosität, die alle peinigte. Die Kleine lag wieder lebhaft da und bettelte die älteste Schwester an, aufstehn zu dürfen, um Grazia beim Anzug zu helfen.

»Bleib liegen«, beruhigte sie Annunziata, »sie kommt ja zu dir, wenn sie fertig ist.«

Da nun die Zeit zu mahnen begann, war Grazia wie ausgewechselt. Ihre Energie schien wiederzukehren. Mit heiterem Eifer, ohne jeden Nebengedanken, vertiefte sie sich in das Werk des Ankleidens. Es währte eine volle Stunde, gelang aber um so trefflicher. Eine neue, eine unbekannte Grazia trat nun an Irides Bett, ah, nein, die richtige, die eigentliche Grazia, die sich entpuppt hatte.

Ein Aufschrei des Kindes:

»Bist du das, Grazia?«

»Gefalle ich dir so?«

Iride setzte sich auf. Ihre großen Augen starrten beinahe schreckensvoll über die Verwandlung ihrer Schwester in eine Göttin:

»Komm näher ... Nein, bleib unterm Licht ... Jetzt dreh dich ... So, so ... Hast du diese weiße Haut immer, Graja ... Und diese Haare, Madonna ... Du müßtest jeden Abend auf einen Ball gehn ... Ah, das Kleid hat unten lauter Spitzen ... Eine herrliche Mode ... Und man sieht doch auch die Beine durch ... Wie sind die Schuhe herrlich ... Ich möchte sie küssen ... Komm her, Graja, und küß mich!«

Draußen ertönte Priscillas fordernde Stimme:

»Signorina Zia!«

Annunziata, die schweigend Irides Begeisterungsausbruch angehört hatte, ging ebenso schweigend aus dem Zimmer. Die Kleine sah nur Grazia. Sie schmachtete:

»Setz dich zu mir aufs Bett, Graja!«

Grazia gehorchte. Ihr Herz aber begann rasend zu klopfen. Es war ja schon spät, mindestens neun Uhr. Und wo blieb Lauro? Sie wagte eine leise Mahnung:

»Jetzt aber mußt du schlafen, Schwesterchen. Vorhin hast du Schmerzen gehabt. Du mußt schlafen.«

In Irides schwarzbrennende Blicke geriet ein neuer Ausdruck, etwas Vorwurfsvolles und zugleich der Quälsucht Ähnliches:

»Ich kann doch nicht schlafen, wenn du ausgehst.«

Es klang wie eine demütige Beschwörung:

»Ach, meine Iride, mach die Augen zu, mir zuliebe, bitte!«

Iride dachte nicht daran. Mit beiden Händen hielt sie die schöne Schwester fest:

»Weißt du noch, was wir immer getan haben, als wir klein waren, Graja?«

Wo bleibt Lauro? Ich sollte zu Placido hineingehen. Hält er sich absichtlich fern? Und Zia? Auch Zia ist hinausgegangen. Merkwürdig übrigens, daß Giuseppe noch nicht zurück ist. Braucht ihn Papa so lange? Der warme Mantel ist heute wirklich unnötig.

»Aber du mußt dich doch erinnern, Graja! Wir haben dumme Dinge geredet, als wir klein waren. Klatschen haben wir das genannt damals. Chiacchierare. Du sollst jetzt mit mir ein bißchen klatschen. Also fang an! Weißt du noch? Ich kaufe dir ein kleines Häuschen, una casa piccina, piccina ...«

»Una casa piccina, piccina«, wiederholte Grazia gehorsam, während sie vor Herzklopfen umzukommen vermeinte. Iride leierte ihr vor:

»Es ist nicht länger und breiter als unser Arm ... Weißt du nicht mehr weiter? ... In dem kleinen Haus sind zwölf kleine Zimmer ... Nun?!«

Grazia riß sich zusammen. Mit angestrengtem Lächeln führte sie die Litanei fort:

»Und in jedem der kleinen Zimmer steht ein kleiner Tisch. Und auf jedem der kleinen Tische steht eine kleine Obstschale. Und auf jeder der kleinen Obstschalen liegen noch viel kleinere Orangen. Und wenn man jede der kleinen Orangen zerteilt, so kriegt man noch viel, viel kleinere Scheiben. Sie sind so so klein. Und du bist auch noch so so klein, scheint mir, nicht dreizehn Jahre, sondern drei.«

Nachdem ihr Wille erfüllt war, hatte Iride den abschnurrenden Unsinn nur mehr mit halbem Ohr verfolgt. Ihre Hände ließen Grazia los. Sie sank zurück und sah abwesend und altklug drein, als sei ihr Gemüt mit schweren Dingen beschäftigt. Nun stellte sie auch wirklich die Frage aller Fragen:

»Und morgen?!«

Da erschien Lauros Kopf in der Tür:

»Mach dich fertig, Graja! Wir haben tolles Glück. Giuseppe treibt sich noch herum. Ruggiero ist eben um ein Taxi gelaufen.«

»Gute Nacht, Iride!«

Die Kleine erwiderte den Abschiedsgruß nur leise. Sie schien schon entrückt zu sein. Grazia fand Placido in seiner Kammer. Er ging nach seines Vaters Art in beherrschter Erregung auf und ab:

»Genieße diese Nacht, Graja, mit aller Kraft!«

Es klang, als rate er ihr, die Sünde nicht vergeblich sein zu lassen. Sie aber senkte den Kopf und legte zwei Finger an die Nasenwurzel, wie um eine plötzliche Klarheit festzuhalten:

»Es ist ein Wahnsinn, Placido. Das Ganze sinnlos und verrückt. Sag ein Wort und ich bleibe zu Hause!«

Seine Worte kamen wie geschmiedet:

»Was du tust, was wir alle tun, ist kein Unsinn, sondern durch Vernunft gerechtfertigt. Ich habe unsern Entschluß sehr scharf durchgedacht. Das Verbot der Welt ist für Annunziata und mich vielleicht erträglich, für dich auf keinen Fall. Du gehörst in die Welt. Was heute geschieht, wird ein Anfang sein.«

Sie hatte von ihrem Placido andere Worte erwartet. Diese vernünftige Zweckbegründung der Sünde erkältete sie. Gehörte sie wirklich in die Welt? Ein Wort von ihm, und es wird ungeschehen bleiben, trotz Kleid und Schuh und Glasblumen. Sie sah ihn sehr streng an:

»Und du?«

»Ich bleibe die Nacht auf, um euch zu erwarten ... Vielleicht kann ich sogar etwas arbeiten ...«

Grazia hatte gedacht, sie würde in dieser Stunde von Placido mit Kuß und Umarmung Abschied nehmen. Jetzt aber reichten sie einander nur die Hand. Es war eine kaum erklärbare Enttäuschung. Sie litt, weil er sie gehen ließ. Und er litt – obgleich er es selbst so wollte –, weil sie ging.

 

Vomero heißt der vornehm-abgesonderte Stadtteil, zu dessen Höhe die altberühmte Drahtseilbahn führt, die man Funicolare di Montesanto nennt. Kein Mensch aber sagt in Wirklichkeit etwas anderes als »Funicoli«. Und welches Ohr erinnert sich nicht des peitschenden Gassenhauers, der vor vierzig Jahren etwa entstand, als man die Drahtseilbahn baute: »Funicoli Funicola«? Es klang und klingt noch immer in hundert Verwendungen und Verballhornungen wie ein lustiger Tobsuchtsanfall der Natur gegen die Technik: »Funicoli Funicola!«

Während der Fußgänger die Funicolare benützt, erreichen Wagen und Automobile auf aufsichtsgesegneten Schlangenstraßen die Quartiere des Vomero, der durch den Riesenpark der Villa Floridana und Villa Lucia mit reiner Luft, Vogelgesang und dem köstlichen Geruch verbrannten Holzes genährt wird, der für Italien so charakteristisch ist. In die abgeschlossene Welt des Vomero ist indes eine zweite, nicht minder verschlossene eingekapselt, die man ruhig die »britische Welt« nennen darf, obgleich sie keinen festen Bevölkerungsstand hat und ihre Einwohner täglich wechseln. Die großen Festungen dieses Touristendominiums sind Hotel Bertolini, Parkers Hotel und Macpherson's House, an welche luxuriöse Burgen sich eine Menge Pensionen erster und zweiter Klasse anschließen bis zu den fatal möblierten Mietzimmern für weltfahrende Kleinbürger. Allmorgendlich öffnen die Prachtburgen ihre Tore und entlassen das reisige Volk, auf daß es durch Stadt und Land streife. Das Hauptkontingent stellen einschichtige alte Damen, ledergefältelte Gesichter, ausgetrocknete Figuren von unbeirrbarer Häßlichkeit und Bewegungsenergie. Die graubraune Einförmigkeit dieser Truppe wird durch das gesunde Bild einiger älterer Herren durchbrochen, die wie frische Schäfte im welken Herbstgras wirken. Sie zeichnen sich meist durch hohen Wuchs aus, durch humoristische Augen und eine eigene Art selbstvergessener Eleganz. Um die Schultern hängt ihnen ein Binokel, das jedoch nur die Rolle des Salonsäbels für den Offizier etwa spielt; es bedeutet ein Symbol der Wanderung zu schönen Aussichtspunkten. Dem reisenden Briten genügt dieses Sinnbild im Gegensatz zu gewissen anderen Italienfahrern, die mit Tropenhelm, Nagelschuh, Eispickel, Rucksack und Riesenfeldstechern bis an die Zähne bewaffnet sind, als gelte es, auf demselben (gemäßigten) Breitengrad nebst den vorgeschriebenen Kunstwerken auch Löwen, Alpengemsen und Eisbären zu erjagen. Junge Leute kommen seltener vor. Aber unter den wenigen gibt es Standardexemplare der Gattung, Gestalten, in denen sich die Menschheit nicht nur selbst übertrifft, sondern ihrer eigenen Entwicklung voraneilt. Hohe Mädchen, keine erhungerten Modelinien, sondern berückende Ebenmäßigkeiten mit weitem Herrscherlächeln, als lebten sie schon in der Zeit, wo ein Trip nach Neapel oder auf Venus und Mars keine Frage der Möglichkeit mehr ist, sondern nur des Aufwands. Man muß sich nach ihnen umdrehen und traurig-begeistert starren, bis sie verschwinden. Die alten Damen aber, die am nächsten Morgen die Hotels verlassen, tragen Papiersäcke mit sich, in denen je ein halbes Brathuhn, drei Scheiben Mortadellawurst, ein Stück Käse, zwei Brötchen und zwei Orangen verpackt sind. So verproviantiert ergießen sie sich mit Autobus und Eisenbahn über die Landschaft, nach Pozzuoli mit seiner Solfatara, nach Bajä und Capo Miseno, das hinüberwinkt zur geliebten Inselschwester Ischia. Sie marschieren am Kraterrand des Vesuvs, sie schaukeln in die Blaue Grotte, sie wandeln durch die Gemächer der pompejanischen Häuser und streifen raschen Blicks die unzüchtigen Wandmalereien. Sie dringen vor bis nach Sorrent und Amalfi, um nach getaner Arbeit am Abend heimzukehren und sich, beruhigt über die Mühen des Lebens, dem traumlosen Schlafe anheimzugeben.

Dies die Haupteinwohnerschaft des schönen Hotels Bertolini. Heute, am Abend der großen Festa di ballo, kam sie kaum zum Vorschein. Das Komitee, an dessen Spitze jener Gia-Gia genannte Duca Dallorso stand, hatte nur wenige Karten an Fremde abgegeben. Es schien eine gewählte Gesellschaft zu sein, wenngleich dieses schmückende Beiwort durch drei Einschränkungen in Frage gezogen werden kann. Erstens: Ist eine wirklich gewählte Gesellschaft in dem neutralen Raum einer Hotel-Hall überhaupt zuständig? Zweitens: Ist sie bei einer Anzahl von dreihundertundfünfzig Gästen möglich? Und drittens: Bedeutet der Besuch einer Festa di ballo in der Karnevalsnacht nicht schon an sich eine ungewählte Handlung? Mag die Antwort lauten wie immer, auf Grazia jedenfalls warf sich der Anblick des wogenden Saals, das Jaulen und Pochen der Musik wie eine tödliche Springflut. Sie preßte Lauros Arm. Die beiden verzweifelten Kinder rührten sich nicht vom Eingang fort.

Das also war die Welt, um derentwillen sie die verstörende Sünde auf sich geladen hatten! Papas Gesetz wuchs gigantisch. So hart es auch war, wollte es ihnen nicht wohl in jeder Mahnung und in jedem Verbot? Sah es nicht alles voraus? Und was hatten sie selbst vorausgesehn? Nichts! Eitle Bilder, leere Vorstellungen, die keiner Wirklichkeit entsprachen. Der Versuchung erliegen wollen, nichts andres wars gewesen! Und nun? Daß die ganze Welt eine übermächtige Summe bösgesinnter Fremdheit war, genau wie Papa es predigte, daran hatten sie in ihrer Verblendung nicht gedacht. Wozu also das furchtbare Erwachen, das ihrer wartete und jetzt schon, während Luxus, Lachen, Geklirre, Musik sie umschwirrt, ein unbegreifliches Vorweh in ihre Seele senkte? Umkehren, umkehren, flehte es in Grazia. Sie schämte sich aber vor dem Bruder. Ihre Augen liefen die Menge ab. Ah, wie konnte es gelingen, unter diesen Hunderten Campbell herauszufinden? Ihr Selbstgefühl stürzte unter den Nullpunkt. Jetzt glaubte sie nicht einmal daran, daß der Engländer nach ihr Ausschau halten werde. Welche Freude hatte sie zu Hause mit dem neuen Kleid gehabt! Nun aber, angesichts des abgefeimten Toilettenprunks ringsum, erschien es ihr dürftig und geschmacklos. Und ihr Gesicht? War es nicht blaß, stumpf, fad, dienstbotenhaft? Drückten sie nicht all die herrlichen Frauen, denen das geistreiche Wort flüssig von den Lippen klingelte, für ewig in eine Ecke, wo sie kein Campbell finden würde? Oh, umkehren jetzt! Oh, büßen jetzt!

Sehr ähnliche Dinge gingen in Lauros Seele vor. Auch er wäre am liebsten umgekehrt. Was ihn am meisten quälte, war seine weiße Frackweste, Placidos Leihgabe. Sie zeichnete sich nicht nur durch einen provinziellen Schnitt aus, sondern saß auch schlecht und kroch in unbewachten Momenten immer höher. Dazu kam noch die Schreckenserkenntnis, daß seine allzu schmale Binde der Mode nicht entsprach. Auch trug er, weil das Geld nicht mehr gereicht hatte, keine Seidenstrümpfe an den Füßen, ein entehrendes Gefühl jetzt. Erschüttert dachten beide, Grazia und Lauro, an die Opfer ihrer Geschwister, mittels derer sie sich so unvollkommen herausstaffiert hatten. Welche Niederlage!

Zuerst faßte sich Lauro. Mit entschlossenem Schritt wie ein Blinder, der die Straße überquert, trat er unter die Menge, mitten in die feindliche Welt, zu der übermächtigen Summe bösegesinnter Fremdheit. Zitternd, sie könne ihn verlieren, folgte Grazia. Was blieb ihr anderes übrig? Unzählige Gesichter überschnitten einander: Hier eine scharfe Nase, dort ein Monokel, eine spieglige Glatze, ein fetter Scheitel, eine bleichgepuderte Wange, ein schwankender Haarschmuck, ein Dreispitz auf weißer Perücke. (Im übrigen gab es auffällig wenig Verkleidungen, obgleich das Fest als Kostümball angekündigt war.) Zu diesen sich überschneidenden Gesichterteilen gehörten kalte Augen, die einander zublinkten, Augen, die in hochmütigem Einverständnis standen. Nur Grazia und Lauro Pascarella, die unzureichenden Eindringlinge in dürftiger Kleidung, waren ausgeschlossen, ja ausgestoßen aus der Gemeinschaft strahlender Elitewesen. Niemand, weder Mann noch Frau, gönnte Grazia einen Blick. Sie wußte genau, daß es etwas anderes war als ein gewöhnliches Nichtbemerktwerden. Man hielt ihr das Nichtbemerken gewissermaßen hin, man sah sie eigens nicht an. War es die Farbe ihres Kleides? Und sie hatte die aquamarinzarte Tönung für besonders vornehm gehalten. Wie lange wird das so noch weitergehn? Ein Frack, ein Ballkleid, ein Frack, eine Uniform, ein Kostüm, ein Ballkleid, ein Frack und wieder ein Frack. Grazia sah, daß Lauro einen der Fräcke grüßte. Verbindlich schlängelte sich das Herrchen heran. In seinen müden Augen stand zu lesen, daß er niemanden erkennen und alle begrüßen müsse: »Meine Schwester Grazia«, stellte Lauro vor und fügte hinzu »Pascarella«, als sei dies für Gia-Gia ein Anhaltspunkt. Dieser konturierte mit einem erstaunten Blick Grazias Gestalt, bot ihr ohne Umstände den Arm und führte sie zu einer Gruppe von Uniformen, Fräcken und Ballkleidern, die vor einer Mauer von Blattpflanzen stand und von dem übrigen Fest wie durch einen unsichtbaren Wassergraben abgeschieden erschien. Noch war die Gruppe vom sanften Wind manierierten Hochmuts leicht bewegt, der sich aber sofort legte, als Gia-Gia seine Dame präsentierte.

Und dies war der Augenblick, in dem sich die Welt für Grazia mit einem Schlage verwandelte. Wie ein geringer chemischer Zusatz eine Flüssigkeit blitzschnell umfärbt, so ward aus der Riesenwoge bösgesinnter Fremdheit eine schmeichelnde Flut beglückender Sympathie. Kein gleichgültiges, kein überhebliches Gesicht mehr, kein kaltes Auge, kein Ruf, keine Rede über sie hinweg. Alles umdrängte sie reizend, Fräcke, Uniformen und selbst die Ballkleider, alles neigte sich ihr zu wie einer staunenswerten Entdeckung. Lichter berückter Neugier funkten in den Männerblicken, die an ihr emporschlugen. Grazia war nicht mehr so jung, um diese Wirkung nicht zu kennen. Doch bis nun hatte sie es immer wieder vergessen. Das kam daher, weil sie fast den ganzen Tag zu Hause saß. Jetzt aber trug es sie mit verhundertfachter Kraft wie Wasser, das bei jedem Schritt tiefer wird und den Schwimmer schließlich emporhebt. Sie, die noch vor wenigen Minuten sich selbst für häßlich, blaß, dürftig, schlecht angezogen gehalten hatte, sie wiegte sich nun in tiefer Sicherheit. War nicht alles entzückt von der Meerfarbe ihres Kleides? Immer wieder traf entzücktes Lob ihr Ohr. Sie hörte es an wie im Schlaf. Sie wachte kaum soviel wie zum Träumen nötig ist. Der Tanz (sonst nur bei Priscillas Grammophon geübt) fiel ihr so leicht, als treibe sie Tag für Tag keine andere Beschäftigung. Sie tanzte mit vielen Fräcken. Einer nahm sie dem andern fort. Manchmal flüsterten ihr die schwankenden Gesichter, die sie gar nicht wahrnahm, wilde Beteuerungen zu. Sie lächelte versunken. Ihre Sicherheit war so groß, daß es ihr überflüssig schien, zu reden. Sie mußte sich nicht bemühen. Sie hatte nur zu sein.

Grazia wußte selbst nicht, wie lange dieser schwebende Zustand dauerte. Es ist unglaubwürdig, dennoch, sie hatte sich niemals so zauberhaft allein gefühlt wie in den Armen der vielen Fräcke, die sie entweder ritterlich zart führten oder mit unverhohlener Leidenschaft an sich zu drücken suchten. Es war eine besondere, eine umbrandete Art von Einsamkeit, von grenzenloser Bejahung umbrandet, wie sie dereinst eine Königin empfinden mochte, wenn sie durch die schweren Vorhänge von fern die einmütige Huldigung des Volkes vernahm. Das stimmte nicht nur bildlich. Grazia war in der Tat zu einem königinnenhaften Mittelpunkt geworden, soweit das in einer großen Menge und bei so vielfältiger Gruppierung möglich war. Die Fräcke umdrängten sie in immer größeren Schwärmen. Dabei blieb ihr Bewußtsein sonderbar leer, wenn sie auch nicht immer schwieg, sondern artig, ja sogar heiter auf Fragen Rede stand, selber sprach und lachte. Hätte aber jetzt jemand die Namen Placido, Annunziata, Iride, Ruggiero erwähnt, so hätte sie nicht ohne Mühe die Geschwister in sich aufrufen müssen. Selbst der letzte Rest des Sündengefühls schwand nun. Eines nur machte sich mehr und mehr bemerkbar, wie ein Stäubchen im Auge immer heftiger brennt: Wo ist Campbell? War er abgereist? Warum hatte er ihr Versprechen gefordert? Mitten während des Tanzes dankte sie dem betreffenden Frack und trat aus dem Ring. Sie wollte Lauro aufsuchen. Da glitt er vorüber. Der zukünftige Franziskaner hatte die Schüchternheitserstarrung und seine schlechtsitzende Frackweste überwunden und tanzte. Auch er, der schöne Mensch, fand ohne Zweifel Erfolg und Zuneigung in Menge.

Rings um den Saal liefen Nischen und Logen, wo sich einzelne Gesellschaften des Festes beim Champagner zusammengefunden hatten. Grazia schritt die Linie ab. Mr. Arthur Campbell aber kam ihr ganz woanders entgegen, aus der Mitte des Saales. Er sagte in rauhem Englisch, so, als sei er überzeugt, sie werde diesen wichtigen Satz nie entziffern:

»Ich schaue Ihnen schon länger als eine Stunde beim Tanzen zu, Signorina Grazia, um mich zu prüfen ...«

Grazias inneres Leben, das in den letzten Tagen und Stunden so viele Stationen durchlaufen hatte, stand vor einer neuen Wendung:

Ich kenne ihn eine Ewigkeit und sehe ihn das erstemal. Mit dieser Verwunderung begann es. Und wirklich! dieser Campbell heute war durchaus ein anderer als der Campbell im Foyer von San Carlo oder gar jener Campbell, der an der Ecke der Via Concordia stundenlang, ja vielleicht tagelang auf Grazia gelauert hatte. Wie jede Wesenheit auf Erden erst durch Vergleichung ermessen werden kann und nur durch Vergleichung ihren Rang bekommt, so wurde auch Arthur Campbell erst durch die Folie dieser Festa di ballo zu dem, was er war. Körperlich sogar. Es gab hochgewachsene Herren hier in Menge, aber in Campbells Wuchs lag eine beherrschende Freiheit, die ihn für Grazia sternenweit von den andern unterschied. Viele Frackträger zeichneten sich durch exquisite Haltung aus, aber es war eben Haltung, während Campbells gelassene Art aus einer Tiefe drang, die von sich nichts zu wissen schien. Und der Kopf vor allem! Man mußte immer auf dieses vollweiche Haar schauen, das sich zwischen Grau und Blond nicht entschied. Doch gerade die Unentschiedenheit der Farbe war in Grazias Augen schmerzlich hinreißend. Auf Campbells Gesicht lag sonst oft eine launige Bereitschaft zum Spaß. Die war heute ganz und gar verschwunden. Er mußte in den letzten Tagen sehr gelitten haben. Und siehe, sein Schmerz, den sie ahnte, streichelte ihr mit wohltuenden Geisterfingern über die Nackenhaut, daß sie erschauerte und sekundenlang die Augen schloß. Und wieder war Campbell ein Baum und sein Schatten. Grazia aber stand bewußtlos geborgen in der Hut des Schattens.

Dann öffnete sie die Augen in eine Welt des Grauens. Was waren das für Gesichter? Und mit diesen Männern hatte sie getanzt?! Eingefallene Wangen, scharf witternde Nüstern, zynische Lippen, entkleidende Augen, lasterhaft, lüstern, heillos. Bräunliche, graue, olivegelbe Gesichtsfarben unter dem schwarzen, oftmals gekräuselten Haar! Feiste, bläulichstrotzende Backen unter gemeinen Glatzen! Wie ein Fürst des Lichtes war Campbell herabgestiegen in eine buhlerische Unterwelt. Das Merkwürdige und sehr Tiefe geschah, daß Grazia in diesem Augenblick, durch ihre Hinneigung zu dem Engländer geblendet, ihre eigene Rasse mit ungerecht gehässigen Augen sah und verabscheute.

Arthur Campbell führte sie an den Tisch, den er in einer Loge hatte reservieren lassen. Sie war sehr durstig und merkte es kaum, daß sie zwei Gläser Champagner in einem Zuge austrank. Dann tauchte Lauro auf. Er war wie ausgewechselt. Sein Gesicht glühte bis unter die Haare. Er lachte, machte Scherze, redete Unsinn. Diese Ausgelassenheit war Grazia unheimlich und nicht ganz angenehm. Sie wäre so gerne allein mit Campbell geblieben. Als dieser aber in Lauro ihren Bruder erkannte, zog er ihn auf einen Stuhl und schenkte ihm ein. Der Junge trank gierig. Plötzlich begann er englisch zu sprechen. Es waren nur ein paar holprige Wendungen, aber immerhin englisch. Grazia starrte ihn an. Sie hatte keine Ahnung von seinen Kenntnissen. Die Überraschung war Lauros Metier von jeher. »Nun haben wir einen Dolmetsch, Signorina Grazia«, meinte Campbell. Leider drängten sich jetzt einige Fräcke an den Tisch heran. Man hatte Grazia allzulange vermißt. Sie lehnte schroff jeden Tanz ab. Der Engländer saß steif da und schwieg. Immer wieder wagten sich Frackgruppen mit neuer Aufforderung herbei. Sie wurden von Mal zu Mal unhöflicher, während Campbell zusehends versteinerte. Nun saßen sie allein, da eine der Gruppen Lauro mit sich gezogen hatte. Sie begann durch sein Leiden zu leiden, so tief war sie schon in ihm verfangen. Warum sprach er nichts? Warum sah er sie so an? Warum tanzte er nicht mit ihr? O Gott, die Zeit verging. Wie spät war es schon? Das Heulen und Pochen der Musik verwandelte sich in einen pathetischen Tusch. Gia-Gia erschien, von Würdenträgern umgeben. Die Schönste des Festes würde jetzt gewählt und prämiiert. Der Preis sei ihr sicher. Sie bekam die flehenden Augen eines Opfers:

»Bitte lassen Sie mich! Ich möchte hier sitzenbleiben.«

Gia-Gia wollte davon nichts wissen. Die andern Fräcke plapperten auf sie ein. Da machte der Engländer eine gar nicht vorwurfsvolle oder ironische Handbewegung, als bitte er sie aufrichtig, sich den Schönheitspreis nicht entgehen zu lassen. Sie wendete den Kopf mit verzerrtem Mund zur Seite und verblieb so, bis die Herren gingen.

Als nach der Pause wieder ein normaler Tango anhob, sagte sie, ohne Campbell anzusehn:

»Wollen Sie mit mir wirklich gar nicht tanzen?«

Er nahm sie beim Arm und zog sie in den Ring. Nach einigen Schritten aber schon erklang seine Stimme schwer und langsam, damit Grazia ihn ja verstehe:

»Ich warte seit vielen Stunden, daß ich mit Ihnen sprechen kann.«

Eine unbestimmte Geste ins Freie, ins Weite. Und dann ein skandierter italienischer Übungssatz, zweifellos die Frucht des roten Wörterbüchleins:

»La notte è bella e calda.«

 

Schön war die Nacht. Die Wärme freilich entpuppte sich als optimistische Übertreibung. Es ging ein leichter aber frischer Wind. Grazia spürte nichts von ihm, trotz ihrem zarten Kleid und den entblößten Armen. Sie hielt nach ihrer Art den Kopf gesenkt und etwas vorgeneigt, so, als wolle sie nicht erkannt werden und irgendwelchen Verfolgern entgehn. (Nicht nur jetzt, sondern oft auf der Straße und beim Passieren belebter Orte nahm sie diese Gebärde der Scham und Fluchtbereitschaft an, vielleicht eine Folge von Papas Gesetz.) Bertolinis Hotelgarten, der prächtige Parco Griffeo, war aber ganz menschenleer und nur durch die Zeugenschaft hoher Pinien und durch das Wehen des Gezweiges belebt. Die müde Bewegung der schmalen Zypressenwipfel glich dem unablässig verneinenden Wink warnender Finger. Ein halber Nachmitternachtsmond arbeitete wie mit ätzenden Säuren an der Entkörperung der Dinge. Sie traten auf eine freie, von Kletterwuchs umwucherte Bastion. Die Welt war ein photographisches Negativ geworden. Das Meer stand ganz schwarz und linker Hand schien der Vesuv über Nacht um fünfhundert Meter gewachsen zu sein. Gewaltig ragte der Berg, in der Kraterwolke blakten rote Zungen. Auch ihn sehe ich zum erstenmal, staunte Grazia. Ihre Augenbrauen waren hochgezogen, ein Ausdruck angespannter Konzentration. Ihr ganzer Körper wußte in jeder Nervenbahn: Das ist die wichtigste Stunde meines Lebens. Des Engländers sonst so frische Backen waren fahl, und nicht nur durch das Hexenlicht der hellen Nacht:

»Ich werde jetzt in meiner Sprache sprechen, Grazia, und Sie werden mich verstehen!«

Sie nickte eifrig, mit runden Augen. Mochte er nicht Englisch sprechen, sondern Chinesisch oder Indisch. Sie würde ihn verstehn. Sie hörte ihn doch nicht nur mit Ohr und Gehirn. Seine Stimme versuchte, die Bewegung zu unterdrücken:

»Ich reise morgen ... nein, schon heute abend ... Verstehn Sie, Grazia?«

Sie nickte noch eifriger, mit festgeschlossenem Mund, zuvorkommend, ja fast servil, wie um zu beweisen, daß keine Pore ihres Wesens sein Wort nicht verstehe. Ganz überflüssig, daß er jetzt zur Sicherheit noch das italienische Wort »partire« hinzufügte. Was war das »Reisen«? Und was hieß das »Morgen« oder »Heute abend«? In wenigen Stunden schon würde Papa die Strafe des Todes oder der Vertreibung über sie verhängen.

Campbells Augen kamen ihr näher. Seine Worte holten einzeln aus:

»Ich sollte schon längst verreisen ... Habe mein Ticket nach London bereits in der Tasche gehabt ... Aber dann sah ich Grazia ... Im Teatro San Carlo ... Ich habe mein Ticket, mein biglietto, verfallen lassen ... Do you understand?«

»Comprendo, comprendo tutto.«

Sie sagte das ungeduldig, als wünschte sie mehr Vertrauen in ihre Gefühlskraft, die ihn jenseits der Sprache verstand. Ihr »comprendo tutto« erleichterte ihm die Aufgabe unendlich:

»Die letzten Tage waren ziemlich schwer, Grazia ... Es ist dumm, wenn ein grauhaariger Mensch von sich selbst spricht und von solchen Sachen ... Verzeihn Sie, Grazia ... Scusi ... Am liebsten hätte ich meine Zimmertür von innen abgesperrt und den Schlüssel aus dem Fenster geworfen ... Aber es ist mir glücklicherweise auch ohne dieses Mittel gelungen, nicht mehr an die Via Concordia zu kommen ...«

Er hatte ziemlich schnell gesprochen, dafür aber das Absperren und Schlüsselfortwerfen mimisch angedeutet. Sie sah ihn noch immer mit regungslosen Augen an, denen nicht das leiseste entgangen war. Er ließ ihr einige Sekunden Zeit, damit sie sich für die Schwierigkeiten des nachfolgenden Bekenntnisses vorbereiten könne:

»Daß Sie Ihr Versprechen ... Ihre promessa ... gehalten haben, Grazia, hat mein Leben verändert ... In meiner Situation ist das so ... You comprendere ... Aber hätten Sie Ihre promessa nicht gehalten, wäre mein Leben auch verändert ... Deshalb habe ich ein Schiffsticket für einen Steamer genommen, der heute abend nach Captown geht ... Sehr weit ist das ... Am Ende Afrikas ...«

»Captown«, wiederholte Grazia wie eine fleißige Schülerin, »il Capo della Buona Speranza.«

Campbell berührte mit seiner großen Hand ihren nackten Arm wie Feuer:

»Ich tue das für mich und für Sie, Grazia ... Doch nicht wegen Afrikas, das ich seit meiner Jugend liebe ... Damals mußte man noch mit Expeditionen reisen ... Jetzt geht die Eisenbahn durch die Steppe ... Sie werden nicht glauben, daß ich nach Afrika reise, um Sie zu vergessen, Grazia.«

In dem Mädchen ging nun etwas sehr Ungewöhnliches vor. Sie glaubte kaum Worte gehört zu haben. Ihr Bewußtsein schien mit dem seinen völlig verschmolzen zu sein. Sie saß dicht neben ihm in einem fremdartigen Eisenbahnabteil und blickte auf die vorüberziehende Steppe. Vielartige Tiere unternahmen ein Wettrennen mit dem Zug. Giraffen waren darunter mit Hälsen, länger als Telegraphenstangen. Das Bild war bis ins Einzelne peinlich durchgeführt. Grazia trug ein Reisekleid aus festem Loden und an den Beinen Knopfgamaschen. Mein Gott, warum saßen sie nicht wirklich in diesem Zug, warum stand Campbell im Frack vor ihr? Wo war sie denn? Welche Sprache hörte und verstand sie? Von neuem ertönte die Sprache:

»Ich hatte mir vorgenommen, Grazia, Sie zu fragen, ob ich Ihnen schreiben darf ... Scrivere ... lettera ... Ganz schlecht ... Es geht nicht ... You comprendere ... Ich habe kein Recht, ich muß verschwinden ... Es war verrückt ... Sie sind ein junges Kind ... Ich habe nichts zu suchen bei Ihnen ...«

Warum sagt er das? Warum ist er voll Bedenken, voll von morgen und übermorgen? Diese Minute ist doch alles! Er hat sein Ticket für sich? Warum nicht auch für mich? Er glaubt nicht, daß ich mit ihm ginge, so wie ich bin, vielleicht. Papa wäre dann nur mehr ein fremder Herr für mich. Ach, in einigen Stunden stehe ich vor Papa und mein Leben wird Strafe sein. Da entrang es sich ihr befehlend, ja barsch:

»Mi lasci una cosa sua!«

Er fuhr mit der Hand an sich herab: »Grazia ...«

Sie wurde noch strenger:

»Nur nichts Kostbares ... Das mag ich nicht ... Etwas Gewöhnliches ... Was Sie bei sich tragen ...«

»Nein, es ist nichts«, beschwor er sie, »ich habe es vorbereitet ... Wollte aber nicht ...«

»Nichts Goldenes«, wehrte sie ab, als sie in seiner Hand etwas schimmern sah.

»Es hat keinen Wert, es ist kein Geschenk ... Sehn Sie, Grazia ... Ein kleines Medaillon für Photographien ... Von meiner Schwester ... Sorella ... Ich habe eine viel ältere Schwester ... Sie ist meine ganze Familie ... Ich trage das immer bei mir ...«

Grazia hielt das Medaillon zweifelnd in der Hand. Er schloß ihre Finger fest um die Gabe:

»Es ist nichts drin ... O nein ... Keine Photographie von mir ... Nur meine Visitkarte ... Nun haben Sie meine Adresse ... Ich will nichts ... Nicht einmal Ihren Handschuh ... Ich habe Grazia verloren ... Sie können mich nicht verlieren, Grazia ...«

Und wieder Wort für Wort herausgepreßt wie am Anfang:

»Sie können mich nicht verlieren, Grazia, wenn Sie nicht fortwerfen diese Visitkarte! You comprendere?!«

Langsam und gewissenhaft versenkte sie das Medaillon in ihr Täschchen. Sie wurde gar nicht fertig damit. Wann wird er sie an sich ziehen? Sie wartete. Campbell aber rührte sich nicht. Da hob sie die Arme ihm entgegen. Nur halb, abgebogen, unausgesprochen. Weiter geriet nichts. Ein Haufen von Fräcken durchforschte Park und Terrasse. Durch geöffnete Türen fegte Musik. Lauros Stimme: »Graja, Graja!« Sie gab sich zu erkennen.

Lauro trug wie die anderen eine Papiermütze auf dem Kopf und näherte sich im Tanzschritt. Im Saal hatten allerlei Bescherungen stattgefunden. Ratschen, Kindertrompeten, Gesichtslarven, Luftballons und andres Spielzeug verkündeten die programmgemäße Lust des Karnevals, der doch schon längst in Sack und Asche ging. Grazia blieb es keinen Augenblick verborgen, daß Lauros Trunkenheit ihre Geheimnisse hatte. Wie spät es sei? Drei und mehr!

»So laß uns gehn, Lauro!«

Er sah sie schimmernd an wie ein Fiebernder:

»Hast dus wirklich so eilig, Graja?«

»Ich möchte jetzt gehn ...«

Lauro neigte sich dicht zu ihrem Ohr. Er roch nach dem blanken Whisky, den man in Gia-Gias Runde trank:

»Willst du Papa so schnell in die Arme laufen? Er steht hinter der Tür. Wir sperren leise auf und er fährt los. Das hat noch Zeit, Graja ...«

Und er lachte, als sei sein Vater nicht Don Domenico, sondern ein harmloser Wüterich, dessen Rasereien man nicht ernst zu nehmen braucht. Indessen war Arthur Campbell ins Hotel gestürzt und kam mit seinem Mantel zurück, den er der frierenden und ganz erblaßten Grazia um die Schulter legte. Lauro hatte seine Zunge nicht mehr vollständig in Gewalt:

»Es hat keinen Sinn, keinen Sinn, jetzt zu gehn, Graja ...«

Grazia zog Campbells dunkelgrauen Ulster, den sie seit Ewigkeiten zu kennen meinte, mit Rührung fest um ihren Leib. Dann wandte sie den Kopf gehorsam zu ihm hin, als sei er der Richter und Herr. Aus den geöffneten Türen aber strömte jetzt eine Flut von Fräcken und Frauen. Manche trugen Lampions auf Stangen. Ungehörig viel Licht und Lärm war auf einmal da.

»Noch nicht gehn, Grazia, noch bleiben, Grazia, es ist das letzte Mal.«

Mit großer Anstrengung versuchte Arthur Campbell unter den vielen Menschen wieder der alte zu sein. Immer mehr Lampions und Lichter! Wie von einer kranken Sonne hinter dichtem Gezweig waren alle Gesichter gefleckt und verzerrt.

Grazias Finger fuhren krampfhaft zwischen die seinen. Dann schloß sie die Augen, damit sie so lang wie möglich in seinem Schatten weilen dürfe. Wie eine Blinde ließ sie sich von ihm führen.


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