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Fünfzehntes Kapitel
Das Blutopfer

Don Domenico hatte den halben Nachmittag und die ganze Nacht wie ein Toter geschlafen und war erst nach sechs Uhr aufgewacht, als das Morgenlicht schon durch die Vorhänge fiel. Das vollkommen abgedichtete Gewebe dieser vielen Stunden hatte kein Alpdruck, kein Traumschmerz, kein jäher Schreckensschrei durchlöchert. Ein gieriger kräftesammelnder Schlaf, der mehr noch als manches andre auf eine gewaltige leibliche und seelische Konstitution hinwies. Lauro und sein Tod wurden von des Vaters Schlaf nicht vorgelassen, sie mußten draußen warten. Auch als Domenico Pascarella die Augen aufschlug, brauchte die schmerzhafte Wirklichkeit eine ganze Minute, um in diese widerständige Natur einzudringen. Er fühlte vorerst nichts anderes als das ungeheure Behagen einer Regeneration, wie sie seinem Körper seit Monaten nicht zuteil geworden war. Dann freilich füllte sich das Bewußtsein mit Lauros Namen, und der zerstreute Vaterschmerz bezog nach und nach alle verlassenen Positionen wieder. Don Domenico sprang aus dem Bett. Man mußte sofort etwas unternehmen! Dies war die erste Regung! Wiederum sollte Tätigkeit alles verschleiern. Er überlegte, in Pantoffeln durch das Zimmer rennend, ob die Reise nach Brasilien nicht dennoch notwendig sei. War es nicht seine Pflicht, die Wahrheit zu erforschen, an Ort und Stelle zu untersuchen, ob ein tödliches Unglück oder Selbstmord vorliege, und gegebenenfalls die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehn? Durfte man es denn so ergeben hinnehmen, daß sein Sohn, ein Sohn Don Domenicos, ein Pascarella Selbstmord beging, etwas Schandbares also und Abnormales tat? Die Pascarellas waren immer normal gewesen, immer unauffällig. Was mußte vorgegangen sein, damit ein junger Sproß in solch furchtbaren Abgrund stürzte? Hatte man ihn vielleicht hineingetrieben? Dieser Herr Doktor Pereira etwa, der sich in seiner Depesche ohne Zweifel aufspielte. Rachsucht und der Trieb, zu beschuldigen, erfaßten den Vater, zwei erprobte Ausfluchtsmittel, um sich einer qualvollen Wahrheit nicht hingeben zu müssen. Es dauerte ziemlich lange, bis die gerechte Vernunft einsah, daß mit all dem Unsinn nichts getan sei und keine Aufklärung und keine Rechenschaft der Welt Lauro vom Tode erwecken könne. Don Domenico lief in das Badezimmer, zog die eiskalte Dusche auf und verharrte unter ihr eine Minute länger als sonst. Die Folge war eine noch schärfere Diskrepanz zwischen körperlicher Erfrischung und seelischer Zerschlagenheit. Auch ein neuer Käfig-Rundlauf behob diesen Widerspruch nicht. Eine leichte Beruhigung trat erst ein, als Vater seinen Kleiderkasten öffnete und aus der vorhandenen Garderobe mit Eifer ein Trauergewand zusammenstellte. Er wählte eine schwarze Krawatte aus und vergaß auch die schwarzen Glacèhandschuhe nicht, die er seit Mamas Todesjahr nicht mehr getragen hatte. Dann erst läutete er dem Diener.

War das aber noch Giuseppe, was da zur Tür hineinstolperte? Nein, das waren nicht mehr die betretungsfreudigen Sbirren-Augen, die dem Herrn einst hündisch-lebhaft zugezwinkert hatten: Eccellenza, ich habe Mitteilungen zu machen. Das rechte tränte halbverschlossen unter einem geschwollenen Lid, das linke stand starr und schreckensgroß offen. Doch auch die straßensüchtigen Lungererbeine, die, stets einem Gesetzesfrevel auf der Spur, Ruggiero so oft auf frischer Fußballtat ertappt hatten, waren nicht wiederzuerkennen, denn sie schlotterten haltlos, und das eine schleppte bedenklich nach. So traurig das auch für einen alten Diener ist, es kann sich nicht lange verheimlichen lassen, daß den armen Giuseppe in dieser Nacht ein kleiner Schlag gestreift hatte. Und niemand wird dies verwunderlich finden, der an Don Domenicos furchtbaren Ausbruch denkt und an jenen Ringkampf, den der Diener des Gesetzes mit seinem Herrn gestern hatte austragen müssen. Jetzt musterte der Herr diesen verwandelten Diener mißtrauisch:

»Was ist mit dir, Giuseppe?«

Der Alte riß sich zusammen, wälzte lange die Zunge zurecht und brachte schließlich einen gaumigen Singsang hervor:

»Nichts, Eccellenza, gar nichts ist mir ... In der Nacht ... Mein alter Rheumatismus ... Schlechtes Wetter kommt ... Ein kleiner Hexenschuß vielleicht, sonst nichts.«

Das schreckensgroße Auge flehte: Nur nicht kündigen, Eccellenza, bitte mich nur nicht wegschicken! Don Domenico aber fuhr Giuseppe empört an:

»Machst auch du noch Geschichten? Bei allem Unglück machst auch du dich noch wichtig!?«

Giuseppe versuchte lebensfreudig zu wackeln und stammelte:

»Ich bin gesund, Eccellenza ... Mir fehlt gar nichts ... Eine kleine Erkältung ... Der verfluchte November ... Sie werden sehn ... Ich habe auch schon das Frühstück gekocht.«

Der Herr ergriff die Kleiderbürste und begann zur strafweisen Belehrung des Dieners seinen Rock wütend zu bearbeiten. Giuseppe vollführte ein paar einknickend mutwillige Sprünge auf seinen Herrn zu und markierte so die Absicht, ihm die Bürste zu entreißen. Don Domenico aber schob ihn fort:

»Sind meine Töchter schon unten?«

Oh, mit welcher Wonne hätte in früherer besserer Zeit Giuseppe die empörungsbebende Mitteilung gemacht (ein unausdenklicher Fall freilich), daß er die Betten Annunziatas und Grazias unberührt vorgefunden habe und daß die jungen Damen seit gestern nicht heimgekehrt seien! Jetzt aber als kranker und schwacher Greis, als feige gewordener Hüter des Gesetzes fürchtete er des Vaters Zorn und lallte nur:

»Nein, sie sind nicht da.«

Don Domenico stieg in die Sala da pranzo hinab. Da niemand das Zimmer gelüftet hatte und die Spuren des gestrigen Verzweiflungsausbruchs nur notdürftig beseitigt waren – auf dem Teppich machten sich der Suppenfleck und ein paar kleinere Scherben noch immer bemerkbar –, so warf sich die stickige unerlöste Atmosphäre dem Eintretenden sogleich auf die Brust. Er stürzte den schwarzen Kaffee in einem Zuge hinunter. Die Verlassenheit begann an seiner Seele zu zehren. Was noch niemals geschehen war, er sehnte sich aus diesem seinem Hause in die Azienda. Ein furchtbarer Richterblick traf Giuseppe, der es wegen seiner kläglichen Gangart nicht wagte, vor den Augen des Herrn in die Küche zu verschwinden:

»Und gerade heute!? Was haben sie sich am frühen Morgen schon in der Welt draußen herumzutreiben, diese Damen!? Können sie den Vater nicht mehr erwarten? Und gerade heute?! Nach all dem Unglück! Wo sind sie? Allzulange schon schaue ich der Unordnung zu. Sie ist schuld an allem. Ja, sehr weit ist es mit uns gekommen, sehr weit, ja ja, sehr weit ...«

Giuseppe hörte nicht auf, in verzweifeltem Gleichtakt zu nicken. Wie es schien, konnte er dieses mechanische Zeichen der rückhaltlosen Bejahung seines Herrn nicht mehr selbsttätig und willkürlich abstellen.

Grazia und Arthur standen schon lange an der Straßenkreuzung der Via Concordia und der Via Monte Calvario. Sie boten den unverwechselbaren Anblick eines Liebespaares im Zenith. Einige Mägde und Klatschweiber des Viertels erkannten die schöne Pascarellatochter und drehten sich mit offenem Mund nach dieser unglaubwürdigen Tatsache um. Campbell redete heftig auf Grazia ein. Der sprachkarge Engländer war nicht wiederzuerkennen. Im übrigen hatte eine Nacht genügt, das gemischte Idiom ihrer Liebe vollkommen auszubilden. Nun war es schon fähig, die feinsten Winkelzüge des Herzens auszudrücken. Unbegreiflich ist es, daß in dieser Morgenstunde Grazia wolkenlos glücklich schien. Von all den schweren Erlebnissen, von den Strapazen des Irrwegs, vom Todesschatten, der sie gestreift, war keine Spur zu finden, ebensowenig wie die Angst vor dem, was in wenigen Minuten ihrer wartete. Arthur Campbell war es, der sie jetzt mit gequälter Miene zurückzuhalten suchte:

»Gut! Ich sehe alles ein, Grazia. Aber ich kann dich nicht von mir lassen. Nicht für eine halbe Stunde, nicht für zwei Sekunden.«

»Es geht ja nicht anders, Arturo.«

»Laß mich statt deiner mit dem Vater sprechen. Ich kann mit ihm umgehn, ganz gewiß. Habe ich dir nicht die Geschichte erzählt, wie ich damals in die Wechselstube kam?«

»Ach, mein Arturo, das stellst du dir viel zu leicht vor. Was weißt du von Papa? Was weißt du von unserem Unglück? Ich muß alles ganz allein auf mich nehmen.«

»Aber wie soll ich hier unten den Gedanken aushalten, daß er dich anschreien wird oder gar schlagen? ... Das kannst du nicht von mir verlangen. Laß mich irgendwo in der Wohnung warten, daß ich eingreifen kann, dich schützen ...«

»Nein, du wirst unten stehn, Arturo! Ich habe gar keine Angst. Was kann mir denn geschehn, wenn du unten stehst? Ich werde mir immer sagen, er steht unten.«

So sehr er auch widerstrebte, sie ging frisch auf das Vaterhaus zu. Als der fatale Abstand schon sehr klein geworden war, machte er einen neuen Vorschlag:

»Könnten wir nicht einfach verreisen? Was meinst du dazu? Du schreibst dann morgen von Rom einen langen Brief ...«

»Aber das wäre doch schäbig und feig von mir!«

Er umklammerte inbrünstig ihre Hand:

»Du hast recht, Grazia, es war eine sehr gemeine Idee und ich schäme mich. Ich danke dir, daß ich mich vor dir schämen darf.«

Sie nahm ihm leise die Hand fort, als dränge sich nun endlich im magnetischen Kraftfeld des Hauses das Trennende unabweislich zwischen ihn und sie:

»Da sind wir ... Ich gehe jetzt hinauf ...«

Trotz diesen Worten aber rührte sie sich nicht und sah ihn an, indem sie an ihm vorbeisah:

»Gestern, Arturo, nein, ich werde das bis an mein Lebensende nicht verstehn. Aber heute, aber jetzt kommt alles wieder zurück. Das Schwere! Lauro! Und Iride! Und Papa ... Sei mir nicht böse, Arturo.«

Er folgte ihr in den Hausflur, er flehte:

»Willst du mich nicht doch mitnehmen, Grazia?«

»Warte hier, mein Arturo! Ich komme zurück. Wenn es auch lange dauern sollte, ich komme zurück.«

Sie entschwand ihm in der Novemberdunkelheit des fremden Hauses und der fremden Familie wie im Tod. Als aber Grazia ihrerseits den Geliebten nicht mehr sah, entfernte sich das Heimische wieder von ihr, alles, was sie vorhin für so nahe erachtet hatte. Der Hausflur war ihr unbekannt, die Treppe, die vertrauten, tausendmal gestreiften Türen. Aus der Dämmerung des Vorzimmers hatte sich ihre eigene Kindheit verloren. Während dieses schweren Ganges beherrschte sie mehr eine peinliche Stimmung als ausgesprochene Furcht. Das fremdblickende Vaterhaus verkündete ihr, daß Campbells kleines Hotelzimmer binnen einer Nacht ihre Heimat geworden war. Es kann als ein Sinnbild dieser neuen Fremdheit und natürlichen Untreue angesehen werden, daß sie an die Tür der Sala da pranzo klopfte, ehe sie die Klinke niederdrückte. Papa empfing sie mit höhnischer Reverenz:

»Daß du mir die Ehre gibst! Ich bin dir aber wirklich dankbar. Am heutigen Tag! Nach all dem, was geschehn ist. Zu gütig von dir!«

Grazia wagte keinen Schritt ins Zimmer und klebte am Eingang regungslos fest:

»Papa, ich habe mit dir dringend zu reden.«

Er neigte, noch immer wütend verbindlich, sein Haupt:

»Ich nehme gerne an, daß wir miteinander dringend zu reden haben.«

Sie krampfte instinktiv ihre Hände ineinander, als könne der geschlossene Lebensstrom ihre Kräfte steigern:

»Vorerst aber bitte ich dich innigst, Papa, deine Ruhe zu bewahren.«

Don Domenico schob sich ein wenig vom Tisch, eine Bewegung, die er in dramatischen Momenten bei den häuslichen Mahlzeiten niemals verabsäumte. Grazia aber sprudelte ihr Bekenntnis monoton herunter. Je schneller, desto besser:

»Ich habe mich gestern abend verlobt, Papa. Er heißt Arthur Campbell, ein Engländer. Du kennst ihn und hast mir ihn im Foyer von San Carlo in der Pause der Gioconda selbst vorgestellt. Du erinnerst dich gewiß. Er hat seine Fabrik in England verkauft, um nach Neapel zu ziehn und bei mir zu bleiben. Er ist etwas über vierzig Jahre alt und ich liebe ihn.«

Papa stand auf, schob den Stuhl an den Tisch zurück und näherte sich Grazia mit runden forschenden Augen:

»Ich glaube, du hast den Verstand verloren.«

Sie spulte das Ungeheuerliche auch weiter noch im Leierton ab:

»Nein, Papa, alles was ich sage ist wahr. Wir sind nicht nur verlobt, wir sind schon Mann und Frau. Ich will dich mit keinem Wort anlügen, Papa. Hätte ich Arturo gestern nicht wiedergefunden, das mußt du mir glauben, ich wäre ganz gewiß heute nicht mehr am Leben.«

Don Domenico wich vor Grazia weit zurück, bis zum Fenster, dort hielt er sich an der Schnalle fest:

»Dann bin ich toll.«

Sie wechselte vom Anfang bis zum Ende dieser überlangen Minuten ihren Standort nicht:

»Ich bitte dich noch einmal flehentlich, Papa, bleib ruhig! Es wird mir entsetzlich schwer, an diesem Tag so mit dir sprechen zu müssen. Auch ich vergesse Lauro keinen Augenblick. Gerade deshalb ist ja für mich alles so gekommen ... Oh, versteh mich doch, Papa, um Gottes willen!!«

Don Domenico dämpfte seine Stimme zum halblauten Richterton, wie er ihn einst für minder grobe Verbrechen in Gebrauch gehabt hatte:

»Geh in dein Zimmer! Von dort rührst du dich nicht fort. Wenn du wieder gesund bist, meldest du dich bei mir!«

Grazia senkte den Kopf tief auf die Brust, damit er ihr Gesicht nicht sehen könne:

»Ich werde nicht in meinem Zimmer bleiben, Papa, sondern von hier fortgehn, ob du es willst oder nicht.«

Er schnellte sich ab und stürzte auf sie los. Beim Tisch angelangt, hielt er aber inne und legte die Hand auf die Stirn:

»Mein Sohn Lauro hat Selbstmord begangen ... Iride liegt im Krankenhaus ... Was willst du von mir? ... Ich bitte dich, Grazia, mach jetzt Ernst!«

Sie hielt das Kinn noch immer fest an die Brust gedrückt und sah nicht auf:

»Es ist Ernst, Papa!«

Der schwere Mann krachte auf den Sessel nieder und stöhnte vor sich hin:

»Meine Kinder vernichten mich.«

Hätte er jetzt nur einmal aufgeschluchzt, wer weiß, was geschehen wäre. Sicherlich hätte sich Grazia ihm weinend zu Füßen geworfen. So aber flehte sie nur zaghaft:

»Arthur Campbell steht unten. Darf ich ihn heraufrufen, damit er mit dir sprechen kann, Papa?«

Statt tränenschwerer Blicke wandten sich ihr die Kugelaugen eines großen gereizten Meertieres zu:

»Wer steht unten?«

Erstickte Antwort, doch nicht ohne Renitenz:

»Er! Erlaub mir, Papa, daß ich ihn rufe. Wenn du ihn siehst, wenn du mit ihm redest ...«

Don Domenico wurde blutrot bis unter die weißen Haare. Sein Gesicht schwoll auf. Er stierte die Tochter wie ein Betrunkener an, aber schrie nicht:

»Und ich soll dieses Schwein noch zu mir bitten!? Hier in meinem Haus, in meinem Zimmer soll dieses bejahrte Schwein stehn?! Und du stehst auch noch hier, du!?«

Er unterbrach sich, indem er mit beiden Händen die Schläfen preßte, als wolle er Grazias Geständnis aus dem Hirn quetschen:

»Zwanzig Jahre hat sie bei mir gelebt und ich habe immer für sie gesorgt und nichts außer acht gelassen ... Er steht unten ... Du hast die Gehorsame gespielt ... Ja Papa, hin, ja Papa, her ... Und alles, alles Betrug ... Unfaßbar ... Ich habe deiner Anständigkeit vertraut, du aber hast dich mit hundert Männern herumgetrieben und abgeschmiert, du hast deinen Vater, mich, mich, lächerlich gemacht, wie die letzte Vorstadtschlumpe, wie die niedrigste Bagascia ihren Vater nicht lächerlich macht ... Er steht unten ... Warum stehst du noch hier? Warum hast du dich nicht auch umgebracht?«

Grazia stieß, sich zurücklehnend, an die Tür, die mit einem dumpfen Laut für sie Partei nahm:

»Sag das nicht, bitte, sag so etwas nicht, Papa!«

In den Vater aber drang jetzt eine Drachenhaftigkeit ein, von der er nichts wußte. Seine blutunterlaufenen Augäpfel waren bloßgelegt, seine langgezogenen Schnurrbartspitzen zitterten. Gierige Wut erfüllte ihn, die Seele seiner Tochter zu vernichten:

»Ich könnte dir nachtrauern. So aber werde ich mich nur ekeln, wenn ich an dich denken muß.«

Grazias Körper brannte vor Trockenheit. Unter ihren Lidern war alles Feuchte versiegt:

»Du weißt nichts, Papa, von uns allen weißt du nichts, sonst könntest du nicht so sein ...«

Der Drache, der sich Don Domenicos bemächtigt hatte, versuchte zu lachen:

»Es stimmt! Nichts weiß ich von euch! Ihr seid ja Engel, alle Engel!«

Schwäche schien ihn zu überfallen. Sein Atem wurde lauter und seine Stimme gepreßter:

»Gott ist mein Zeuge! Ich habe nur für euch gelebt, Tag und Nacht ... Warum stehst du noch hier? Ich kann mich nicht länger aufregen. Siehst du es nicht? Es ist zu viel.«

Grazia machte eine Bewegung über das unsichtbare Drahtverhau hinweg:

»Papa, ich verspreche dir, bis Mittag in meinem Zimmer zu bleiben, damit du nachdenken kannst.«

Don Domenico stemmte sich mühsam empor:

»Ich verzichte auf deine Anwesenheit. Du brauchst überhaupt nicht mehr in dein Zimmer zu gehen. Deine Lumpen schick ich dir nach, wohin du willst.«

Grazia fühlte kaum mehr, daß sie es war, die sprach:

»Das kann doch nicht das Ende sein, ohne daß du die Wahrheit kennst und gerecht bist ...«

»Die Gerechtigkeit kommt nach, verlaß dich drauf. Ein Glück, daß du nicht großjährig bist! Ich will dafür sorgen, daß die Polizei dich und das Schwein von Verführer einsperrt!«

Da schrie Grazia laut auf:

»Nein, das wirst du nicht tun! Das ist zu gemein!«

Don Domenico tappte zur Kredenz, um irgendein Wurfgeschoß zu finden. Sie aber hatte schon die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen. Nicht einmal an Annunziata vermochte sie zu denken. Campbell erwartete sie unten am Treppenende. Ihre kurze Abwesenheit schien ihn mehr mitgenommen zu haben als alle schwierigen Erfahrungen seines bisherigen Lebens:

»So schnell, Grazia?«

Sie lief gehetzt an ihm vorüber und hinaus:

»Komm, ich bitte dich! Frag nicht und komm!«

Trotz seinen langen Beinen konnte er ihr kaum folgen. Erst in einer entfernteren Nebengasse bekannte sie:

»Ich kann nicht bei dir bleiben! Es ist aus zwischen uns. Frag nicht! Es war so furchtbar. Ich habe mich geirrt. Ich bin nicht stark genug. Ich bin nicht frei genug. Ich werde dir ewig dankbar sein, Arturo, aber ich will nicht länger leben.«

Nur solche abgerissene, wirre Sätze und gar nichts Vernünftiges brachte Campbell aus Grazia heraus. Und es war ein ziemlich langer Weg. Auch er war völlig verstört, als sie endlich das Hospital erreicht hatten.

 

Annunziata hatte die Nacht im Novizinnentrakt jenes Frauenklosters verbracht, wohin sie von Priester Ildefonso noch gestern persönlich geleitet worden war. Sie durfte ein eigenes Zimmerchen bewohnen, ein winziges Mittelding zwischen Zelle und Mägdekammer. Man benahm sich mit Güte und Rücksicht zu ihr. Ein junges Ding klopfte von Zeit zu Zeit und fragte nach ihren Wünschen. Die längste Nacht ihres Lebens brach an. Sie verharrte stundenlang auf dem Betschemel und flüsterte alle Gebete und Sequenzen, die sie kannte, in unaufhörlicher Reihenfolge. Sie hoffte durch eine äußerste Anspannung all ihrer Kräfte die Qual zu überwinden. Es mußte einen Punkt geben, den es zu erreichen galt, damit alles Persönliche zerschmolz und zerging. Sie preßte die Stirn auf das Pult. Sie rang mit verzweifeltem Willen gegen einen ungeheuren Strom, der stärker wurde, je weiter man in ihm vorzudringen meinte. Wie alt müßte sie werden, um jenen Punkt zu erreichen? Der Widerstand des Göttlichen warf sie spielend immer wieder zurück. Es war schon elf Uhr geworden, ehe sie nachgab. Sogleich trug sie der Strom, auf weichen gütigen Armen jetzt, weit hinter ihren Ausgangsort. Sie fand die ersten Tränen seit der Todesnachricht. Ein menschliches, ein weibliches Weinen, das sich nicht sättigen ließ. Annunziata weinte um Lauro, sie weinte aber auch um Iride, um Papa und um sich selbst. Heimweh und Bangigkeit ohne Ende lösten jedes Streben in ihr auf. Sie hatte eine sanfte Niederlage an einer Welt erlitten, die hartnäckigere Kräfte zu besiegen wußte als die ihren.

Am nächsten Morgen suchte sie um eine Audienz bei der Badessa, der Oberin, an, die ihr gewährt wurde. Annunziata hatte jedoch bis gegen Mittag zu warten. Dann stand sie in einem engen Kanzleiraum einer männlich alterslosen Frau in Nonnenkleidern gegenüber, die am überhäuften Schreibtisch mit einem mächtigen Blaustift Zahlenreihen kollationierte. Geistige aber müde Augen musterten Annunziata durch goldgefaßte Brillen, ohne sie zum Sitzen aufzufordern. Durch die erstaunte Regungslosigkeit der Badessa irritiert, begann sie einiges über den Zusammenbruch der Familie Pascarella zu stammeln, über Papas Verlassenheit, über Irides Krankheit und über die eigene Sorge, die seit ihrer Entfernung vom Hause ins Unerträgliche wachse. Schließlich bat sie, sich heute tagsüber nach den Ihrigen umsehen zu dürfen, die sie sogleich nach Empfang der Todesnachricht aus Brasilien ohne ein Wort verlassen habe. Die geistigen Augen verfolgten Annunziatas Worte mit abgehärteter Teilnahme und gewährten schon den Wunsch, ehe sich noch der breitgeschnittene Mund zur Rede auftat:

»Aber bitte, mein Kind. Sie sind durchaus frei. Wir haben Ihnen auf Ihr eigenes Ansuchen hin eine Zufluchtsstätte geboten, weiter nichts. Sie können gehen und kommen, wie es Ihnen paßt, nach Maßgabe der Hausordnung natürlich.«

»Hochwürdige Mutter! Ich werde über jeden Gang Rechenschaft ablegen.«

»Das ist ganz und gar nicht notwendig, mein Kind, so gerne ich Ihnen auch wöchentlich einmal eine halbe Stunde weihen will, und zwar am Freitag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr. Sie haben hier vorläufig keine Pflichten. Gehen Sie mit sich zu Rate!«

»Ich danke, hochwürdige Mutter.«

Da kein Wort der Verabschiedung erklang, zog sich Annunziata vor den Augen hinter der goldenen Brille mit einem tiefen Knicks zurück. Die Stimme der Badessa aber, die ein wunderschönes Toskanisch mit klar-gesangvollen Vokalen sprach, hielt sie zurück:

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, meine Tochter, daß für jede Entwöhnung der Rückfall das gefährlichste Gift ist!«

Annunziata wollte die Tränen verbeißen. Es gelang nicht ganz:

»Es ist in den letzten Tagen zu viel Leid über uns gekommen, hochwürdige Mutter.«

»Ich weiß das, mein Kind, es ist eine schwere Prüfung.«

Die knochige Willenshand machte eine sonderbare Bewegung, trostreich und wegwerfend zugleich:

»Alles, was in diesem Hause halbwegs einen Wert hat, ist überwundener Schmerz.«

Sie hob den mächtigen Blaustift und kehrte zu den Ausweisen zurück, die von der Klostergutsverwaltung ihr alltäglich vorgelegt wurden.

 

Der Zustand Irides hatte sich durchaus nicht gebessert. Alle Heilversuche mit Bestrahlung und intravenösen Injektionen waren ohne Erfolg geblieben. Bei der letzten Blutanalyse am heutigen Morgen hatte es sich gezeigt, daß die Leukozyten nicht etwa zurückgegangen waren, sondern sich beängstigend vermehrt hatten. Das Kind lag mit fürchterlichen Kopfschmerzen in lethargischer Mißlaune auf dem weißen Metallbett. Iride fühlte sich gänzlich verlassen. Was war geschehen? Seit zwei Tagen hatte weder Papa noch Grazia sie besucht und selbst Annunziata war nur einmal flüchtig aufgetaucht und wollte nicht reden und nichts erzählen. Wenn Iride auch keine Ahnung von dem Entsetzlichen hatte, so schien doch Lauros Tod auf verborgenem Weg in ihren Organismus eingedrungen zu sein und die Kampfstellung des weißen Blutfeindes verstärkt zu haben. Als am heutigen Tage Grazia endlich wieder bei ihr eintrat, sammelte sich in der Kleinen alle Bitterkeit über die Vernachlässigung, sie sagte kein Wort und stellte sich, um die Schwester zu erschrecken, noch apathischer, als sie in Wirklichkeit war. Grazia konnte sich nicht beherrschen, warf sich vor dem Bett hin und wühlte ihren Kopf in die Decke:

»Iride mia! O meine kleine Schwester!«

Dieses Versinken Grazias im eigenen Schmerz verletzte den Krankenegoismus in Iride. Sie streckte sich ablehnend steif aus:

»Mir geht es gar nicht gut, Graja, absolut gar nicht gut. Ihr werdet schon sehn!«

Grazia erschaute ganz aus der Nähe das papierweiße Gesichtchen, das im schlechtgekämmten Haarrahmen verloren stak wie eine vergilbte Miniatur:

»O Iride! Du weißt ja nichts. Hab doch nur noch ein bißchen Geduld!«

Iride unterbrach sie spitz und mit altkluger Schadenfreude:

»Geduld, bis ich tot bin wie die Tadolini. Ihr werdet schon sehn, du wirst schon sehn!«

Jetzt erst bemerkte die Kleine Arthur Campbell, der an der Tür mit einer Schüchternheit stand, die seiner hochgewachsenen Figur und seinen Zügen nicht entsprach. Wer war das? Wo hatte sie den nur gesehn? Ein neuer Arzt? Aber er trug ja keinen weißen Kittel. Irides Gesicht verzog sich feindselig. Grazia bekam Herzklopfen bis in den Hals hinauf. Sie erhob sich und lächelte bittflehend zu der Schwester nieder:

»Das ist Arthur Campbell, ein Freund, Iride ... Du kennst ihn ja. Erinnerst du dich nicht? In San Carlo ...«

Campbell ging artig auf das Bett zu. Er behandelte von allem Anfang an Grazias kleine Schwester mit gravitätischer Wohlerzogenheit als erwachsene und vollgültige Dame. Sein stockendes Italienisch schnellte ruckweise die englisch gefärbten Laute ab:

»Ich freue mich sehr, Signorina Iride. Habe von Signorina Grazia schon viel gehört. Wie geht es Ihnen?«

Iride schien sich ihre Gedanken zu machen, ehe sie das Gesicht stumm zur Wand kehrte. Trotz dieser verächtlichen Behandlung zog Campbell zwei Stühle für Grazia und sich zum Bett, wobei er sichtbar seine Verlegenheit überwand:

»Verzeihn Sie, Signorina Iride, daß ich mit Ihrer Schwester hierher gekommen bin und daß ich ein bißchen bei Ihnen bleibe ...«

Iride fuhr unvermittelt herum und schaute den Engländer mit Papas gereizten Augen an:

»Ich habe Kopfschmerzen.«

Er nahm diese Zurechtweisung freundlich entgegen:

»Es tut mir leid, daß ich gesprochen habe, Signorina. Ich werde warten, bis es Ihnen besser geht. Bitte, kümmern Sie sich nicht um mich.«

Eine barmherzige Schwester war eingetreten und meldete, daß der Herr Professor und Primarius »jemanden von den Herren Angehörigen« zu sprechen wünsche. Da Grazia daraufhin mit der Pflegerin aus dem Zimmer ging, blieben Iride und Arthur notgedrungen allein. Er ließ sich behutsam auf den Sessel nieder, während sie bösartig die Wand anstarrte.

Der Primarius erklärte Grazia nach kurzer Einleitung, daß es mit Iride nicht gut stehe. Die bisher angewandten Kuren hätten nicht gefruchtet und deshalb sei er, im Einvernehmen mit Doktor Platania, zu dem Entschluß gelangt, einen radikalen Weg zu beschreiten. Er setze die besten Hoffnungen auf eine Bluttransfusion. Bei einer solchen Bluttransfusion handle es sich, damit die Signorina den genauen Vorgang erfahre, um die Einflößung einer beträchtlichen Menge frischen und gesunden Blutes in die Gefäße der Patientin und mithin um eine Reaktivierung der geschädigten Blutpartie. Der Eingriff bedrohe den Blutspender wohl nicht mit Gefahr, stelle aber doch eine ziemlich starke Inanspruchnahme vor, deren Folgen je nach körperlicher Verfassung länger oder kürzer sich bemerkbar machen könnten. Blutspender habe die Poliklinik mehr als genug zu ihrer Verfügung, arme Leute, die sich auf diese Weise einen Verdienst schafften. Der Vater der Patientin müsse in diesem Falle dann die Kosten tragen. Er aber, der Primarius, vertrete den Standpunkt – obgleich Erfahrung und Wissen auf diesem Gebiete noch lange nicht hinreichten –, daß ein Familienmitglied als Blutspender jedem Fremden vorzuziehen sei. Das alles gebe er hiemit zu bedenken. Grazia bedachte sich nicht lange:

»Ich bin bereit, Herr Professor.«

Der Primarius warf einen langen Blick auf Grazia und einen kurzen auf die Vormerkung, die er in der Hand hielt:

»Sie sind die Schwester?«

»Ja! Pascarella Grazia.«

»Schon einundzwanzig Jahre alt?«

»Gewiß! Kann der Eingriff noch heute vorgenommen werden? Ich möchte dringend darum bitten.«

»Heute nachmittag um drei. Mein Assistent wird ihn durchführen. Sie müssen vorher untersucht werden, Signorina.«

 

Domenico Pascarella saß noch immer an dem großen Familientisch, an der vereinsamten Stätte seiner Herrschaft, und glotzte vor sich hin. Lauro war tot und Grazia war tot! Ärger! Er schüttelte mit einem verständnisleeren Lächeln minutenlang den Kopf. Grazia, sein gutes Kind! Und dieser unfaßbare, allerschmierigste, allerabgefeimteste Betrug ihm! Immer brav sein, madonnenhaft rein scheinen, in der Küche arbeiten, unermüdlich fürsorgen, alltäglich mit holder Scheu zu Tisch treten, und zugleich schweinisch buhlen, eine geile Hündin in Chambres garnies, Pascarellas Tochter, sich entblößen in klebrigen Mietzimmern, alles entblößen, die Brüste, den Schoß, und er, der Vater, hat stets erschrocken die Tür zugeworfen, wenn er durch Zufall seine Töchter beim Ankleiden überraschte. Und dieser englische Verbrecher, ein lüstern-abgelebter Bursche, der notorische Geschlechtswegelagerer, angesteckt gewiß, syphilitisch, er raubt ihm sein Kind, und Italien mit all seinen Großmäulern erklärt an England nicht den Krieg. – Er, der Vater, hatte seine Tochter ja nicht für sich behalten wollen. Wäre die Zeit gekommen, sie hätte heiraten dürfen. Aber hierin, in dem innersten Ring der Ehre gleichsam, forderte sein Gesetz die strengste Erfüllung. Den Vorgang einer Eheschließung hatte sich Don Domenico so und nicht anders gedacht: Eines Tages kommt ein anderes Familienoberhaupt, ein zweiter Stammesregent und Don Domenico, zu ihm und erklärt: Signor Pascarella, Sie haben eine liebliche und makellose Tochter. Ich weiß es genau, obgleich man Signorina Grazia weder auf der Straße noch auch bei überflüssigen Gesellschaften antrifft. Sie haben sie erzogen, wie man es von Ihnen erwarten konnte. Mein eigener Sohn ist gesund, um drei Jahre älter als Ihr Fräulein Tochter und kann schon heute durch seinen Beruf eine Familie standesgemäß ernähren. Es wäre für uns eine hohe Auszeichnung, dürfte unsere altbekannte Familie mit der verehrten Ihrigen verwandtschaftliche Bande knüpfen. Auf eine derartige Ansprache hin würde Don Domenico eine huldvolle aber unbestimmte Antwort erteilen. Denn vorerst muß ja die Wertigkeit der Gegenfamilie geprüft werden, das Karat, der Goldgehalt dieser Sippe. Nicht der tatsächliche Goldgehalt, das Vermögen, o nein, Don Domenico denkt ans Geld zuletzt. Er forscht nach dem generativen Goldgehalt des ehewerbenden Geschlechtes, nach seiner Würde, seinem Alter, seiner körperlichen und moralischen Untadelhaftigkeit. Erst wenn Auskunftsbüro und heimliche Umfrage die Ebenbürtigkeit des Gegenschwähers erwiesen haben, wird der gesellige Abend im Hause, Pascarella vereinbart (der erste und einzige, so lange das Gedächtnis reicht), wo Vater und Sohn der freienden Partei an dem geheiligten Tisch der Sala da pranzo empfangen werden.

Daß die beiden jungen Leute sich dem prädestinierten Ablauf der Dinge widersetzen könnten, hat Don Domenico niemals in Betracht gezogen. Das Gesetz in großartiger generationenumspannender Weitsicht legt wenig Wert auf Glück und Unglück zufälliger Individuen. – Doch jetzt? Selbst wenn sich Grazia nicht als niedrige Buhlerin gezeigt hätte, selbst wenn der Verrat nicht so unermeßlich wäre wie er ist, selbst wenn ihre Sünde nur darin läge, daß sie hinter dem Rücken des Vaters einen Mann gewählt, so könnte auch diese Todsünde ihr nicht vergeben werden.

Nein, er durfte ihr nicht einmal solchen milderen Grad der Todsünde zubilligen. Sie war nichts als eine Bagascia und er hatte sie nicht zu hart behandelt. Nun schwört er sich zu, daß er die Angst vor der Schande überwinden und das unzüchtige Paar der rächenden Behörde ausliefern werde, die seiner juristischen Meinung nach gegen solche Fälle unnachsichtig vorgeht wie gegen Kapitalverbrecher. In neuer Aufwallung bearbeitet Don Domenico den häuslichen Tisch mit rasenden Fäusten. Es hilft ihm aber nichts. Die Einsamkeit wird nicht kleiner. Da beginnt er nach Annunziata zu schreien. Sie ist die Letzte, die ihm geblieben ist, sie das stillste, das gehorsamste, das treueste seiner Kinder. Wo ist Annunziata? Warum kommt sie nicht zurück? »Annunziata, Annunziata!« (Es muß nicht eigens erwähnt werden, daß der Vater die geschwisterliche Abkürzung »Zia« niemals in den Mund nahm.) Obgleich er weiß, daß die älteste Tochter nicht zu Hause ist, beginnt er sie doch zu suchen, um seine Einsamkeit niederzukämpfen. Wo bleibt Annunziata? Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Er wehrt sich gegen eine innerste Ahnung, daß er nun auch das Allerletzte verloren hat. Laut rufend stößt er die Küchentür auf. Dann kehrt er in die Sala da pranzo, in den Salotto zurück, er rüttelt selbst an der versperrten Stanza della Mammina und erinnert sich nicht, wann er den Schlüssel abgezogen hat. Endlich steht er in den Zimmern der Kinder. Placidos Kammer, ausgestorben! In Lauros und Ruggieros Stube zeigt die Raumhälfte des Toten noch Reste von Leben, furchtbar, wie zum Hohn! In Grazias schmalem Zimmer verweilt der Vater am längsten. Hier steht alles rührend an seinem Ort: die Flaschen auf dem Waschtisch, Kämme, Bürsten, Manikurzeug, Nähschatulle auf der dürftigen Spiegeltoilette. Don Domenico kämpft gegen seine schwere Erschütterung an. Sie läßt sich nicht niederstampfen. Er tritt zu Grazias Bett, reißt das Kopfkissen heraus und preßt es an sein Gesicht. Grazia will er wiederfinden, sein reines Kind. Und er findet sein reines Kind in dem leichten Duft dieses Kissens, in dem fernen Schlafgeruch von Nächten ohne Niedrigkeit. Grazia streichelt ihn mit dem bleichen Echo ihres verbannten Leibes. Doch schon wird er wieder geweckt. Ein großes und ein kleines Auge stiert ihn an. Das Wrack Giuseppes hat sich ihm nachgeschleppt. Domenico Pascarella schleudert das Kissen aufs Bett zurück:

»Ich kann nicht länger warten! Höchste Zeit! In die Azienda! Auf! Du kommst mit!«

Der Diener bändigt all seine Kräfte und hüpft dem Herrn, um die gesunde Leichtigkeit seiner Beine augenfällig zu bewähren, an einem Stöckchen seltsam nach. In Don Domenico ballt sich alle Unerbittlichkeit, die er besitzt, schwarz zusammen. Doch das Schicksal, dem er entgegeneilt, ist noch weit unerbittlicher.

 

Als Grazia aus dem Studio des Primarius ins Krankenzimmer zurückkehrte, schien der volle Friede zwischen Arthur und Iride noch nicht geschlossen zu sein. Einen Fortschritt aber bildete es immerhin, daß Irides Augen dem Engländer mißtrauisch aber gespannt zuhörten. Campbell erzählte etwas. Die Worte kamen nicht mehr im Gänsemarsch, sondern einzeln in großen Abständen, erschöpft von ihrer Mühe. Nur Grazia und die Liebe gaben ihnen Leben. Vor anderen Partnern verschrumpften sie zu fehlerhaft eingelernten Vokabeln. Er hatte gewiß von Afrika gesprochen, da ihm Iride geringschätzig entgegenhielt:

»Das ist alles gar nichts gegen Brasilien. Auf der Fazenda meines Bruders Ruggiero wachsen die kostbarsten Orchideen im Urwald in der Luft.«

Grazia ließ sich still nieder. Campbell hütete sich, die Überlegenheit der brasilianischen Flora anzuzweifeln. Über Iride aber kam einer der Wildheitsanfälle, die in letzter Zeit sehr selten geworden waren. Sie setzte sich mit einem Ruck auf und schnitt eine gehässige Grimasse. Grazia erschrak über die plötzliche Ausdrucksähnlichkeit mit Papa heute morgen. Die Kleine höhnte:

»Was der da für lächerliche Worte erfindet, sag ich dir!«

Grazia verteidigte ihren Geliebten ohne Zögern:

»Kannst du vielleicht Englisch sprechen? Paß nur auf, wie bald Signor Campbell besser Italienisch reden wird als wir.«

Arthur aber nahm sofort Irides Partei, indem er sich mit unbeirrbarem Anstand und Ernst vor der Kleinen verneigte:

»Sie haben vollkommen recht, Signora. Es ist wirklich lächerlich. Ich reise jedes Jahr nach Italien. Seit Monaten nehme ich täglich Unterricht. Und dann blamiere ich mich bei jedem Wort. Bitte, lachen Sie mich nur aus!«

Grazia überlegte gerade, wie sie Iride das kommende Ereignis beibringen könne, als das Gespräch ein Ende fand. Weißbekittelte Ärzte drangen in das Zimmerchen, an ihrer Spitze der Assistent des Professors und mit ihm Doktor Platania. Alle Verfügungen für den Nachmittag wurden getroffen. Campbell mußte den Raum verlassen und Grazia sich einer ausführlichen Untersuchung fügen. Man zapfte ihr auch einen Blutstropfen aus der Fingerspitze, um seine Zusammensetzung vor der Transfusion zu analysieren. Doktor Gaetano Platania wackelte mißvergnügt mit seinem schwarzumwucherten Totenschädel:

»Signorina Graziella, mir scheint, Sie könnten Ihr wertes Blut für das eigene Maschinchen besser verwenden. Wie sehen Sie denn aus? Sie haben ja ein ganz kleines Gesichtchen bekommen.«

»Ach, das bedeutet nichts als zu wenig Schlaf in den letzten Tagen.«

Der Hausarzt schob bedauernd die Lippen von seinen fächerförmig vorspringenden Zähnen, die den Speichel nicht immer genügend im Zaum hielten, weshalb der angesprochene Assistent sich jetzt auch wütend die Wange wischte.

»Mir gar nicht angenehm«, erklärte Platania, »gibt es denn keine andere Möglichkeit?«

Ehe der Assistent noch antworten konnte, lehnte Grazia derartige Erwägungen herb ab, indem sie sich auf den Entschluß des Primarius berief und ihren Willen, keiner anderen Person zu weichen, nachdrücklich betonte. Platania erkundigte sich, ob denn der Herr Vater seine Zustimmung erteilt habe, welche Frage Graziella geflissentlich überhörte. Iride aber, die das Hin und Her nur unvollkommen erfaßte, lag erstarrt da und blickte mit schreckenstiefen Augen von einem zum andern.

Kurze Zeit darauf ging Grazia mit Campbell den langen Gang der Poliklinik hinab. Man hatte ihr eingeschärft, bis zwei Uhr spätestens wieder an Ort und Stelle zu sein. Es lagen noch mehrere Stunden der Freiheit vor ihnen. Bevor sie die große Treppe erreicht hatten, gestand sie Campbell mit wenigen Worten alles. Niedergedonnert von diesem neuen Schlag, blieb er stehn:

»Ich bringe dir Unglück, Grazia ... Wäre ich doch nur in London geblieben ... um deinetwillen ...«

»Ganz falsch, Arturo! Du hast mich gerettet und ich ziehe dich in mein Unglück herein.«

»Wenn mir etwas ein Recht gibt, du junges Leben, so ...« (seine Sprache verwirrte sich plötzlich; er fand weder den englischen noch den italienischen Ausdruck) »... so ... du solltest Freude haben durch mich. So aber hast du Schmerz durch mich! Und jetzt mußt du dich opfern noch und leiden für andre.«

Sie nahm wieder den Weg auf und ging ihm über die ausgetretene, deprimierende Spitaltreppe voraus. Auf der Straße wurde ihr Schritt langsam. Sie drängte sich nahe an ihn:

»Daß ich der Iride ein wenig von meinem Blut geben soll, ist kein Unglück, sondern ein ganz besonderer Glücksfall. Denk doch nach, Arturo! Papa hat mich verstoßen. Er will die Polizei auf uns hetzen. Den Auftritt mit Papa hätte ich nicht so überleben können, als wäre nichts geschehn. Ich hätte nicht mit dir ins Bertolini zurückgehn können und alles vergessen! Papa hat uns so schrecklich getrennt, wie du es gar nicht begreifen kannst. Jetzt aber ist alles wieder anders. Ich werde krank sein und schwach. Ich werde nicht meiner Familie gehören und nicht dir, ich werde ein Heim haben, nicht bei Papa und auch nicht bei dir, und du wirst mir doch nicht ganz und für immer verloren sein. Verstehst du, Arturo? Es hat sich ein Weg gefunden. Ich bekomme einen Gnadenaufschub und bezahle ihn höchst billig damit, daß ich Iride hoffentlich gesund machen darf. Das, was du Opfer nennst, ist also nichts als einfacher Egoismus. Verstehst du mich, Arturo? Ach, wie würde mich Placido verstehn! Ich kann für ein oder zwei Liter Blut unsre Zukunft erkaufen, Arturo. Und das soll kein Egoismus sein?«

Sie hatte immer schneller und leidenschaftlicher ihre Schlüsse gefolgert. Während sie aber sprach, erfüllte sie eine tiefe Dankbarkeit für Placido, der sie gelehrt hatte, zu denken und sich nichts vorzumachen. Das trübe Haus lag schon weit hinter ihnen und sie schritten auf die Piazza Dante zu. Campbell hatte lange geschwiegen und mit angespanntem Interesse die vorüberlärmenden Autos und die Straßenbahn betrachtet. Jetzt aber verhehlte er nicht länger die Rötung seiner hellen Augen:

»Seitdem du bei mir bist, schäme ich mich vor dir, Grazia. Ich habe mich geschämt vor deiner göttlich schönen Liebe, ich, ein unjunger und sehr gewöhnlicher Mensch. Und heute morgen habe ich mich in der Via Concordia vor deinem Mut geschämt. Und jetzt schäme ich mich vor ... Verdammt, Grazia, ich möchte niederknien vor dir auf der Straße hier ...«

Sie lachte und preßte seinen Arm, als wäre schon alles in schönster Ordnung. Eine große Heiterkeit zog in sie ein. Und wieder schienen sich Lichtjahre zwischen den heutigen Morgen und diese Stunde geschoben zu haben. Sie verriet ihm, daß sie ein paar Kleinigkeiten brauche, da sie ja unmöglich ins Vaterhaus zurückkehren könne, um sich ihre eigenen Sachen abzuholen. Er hielt nach dem glanzvollsten Laden der Via Roma Umschau. Am liebsten hätte er ihr ganze Warenlager aufgedrängt. Es war die primitive Sprache seines Verstummens. Denn er konnte und durfte sie ja nicht anflehn, um seinetwillen ihr Blut nicht hinzugeben. Domenico Pascarellas Tochter lehnte den blendenden Überfluß ab:

»Was soll ich mit diesen Herrlichkeiten im Hospital anfangen?«

Trotz Arthur Campbells Verzweiflung nahm sie nur das Notwendige mit. Der Novembertag heute war nicht weniger anachronistisch schön als der gestrige. Sie strichen lange durch die Straßen, Grazia beschwingt, Campbell wie ein Träumer, der mit gequältem Gewissen etwas Seliges und Furchtbares durchlebt. Sie fühlte jetzt nichts als seine Nähe. Scham vor den Menschen und Angst, verklatscht zu werden, berührten sie nicht mehr. Trotz dem dichten Gewühl ließ sie seinen Arm nicht los. Jene alte Vertrautheit, die beide schon bei der ersten Begegnung in der Via Concordia so unerwartet umsponnen hatte, wurde immer älter und zeitentiefer. Das wunderbar verschwiegene Fragen, kenn ich dich nicht, seitdem ich mich kenne, hörte nicht auf im Blut zu zirpen. Noch keine zwanzig Stunden hatten sie nebeneinander gelebt, und schon umkreiste die Atmosphärenhülle der ewigen Bekanntschaft, in der einzig die Liebe atmen kann, das versunkene Paar. Gegen Mittag kehrten sie in ein kleines Caffè ein. Dort holte Grazia aus dem Täschchen ihre Abschriften hervor:

»Hier habe ich Placidos Gedichte und Aufzeichnungen, natürlich nicht alle. Es ist das Einzige, was ich gestern vom Hause mitgenommen habe, als ich nicht wieder zurückkommen wollte. Man weiß ja nie, was geschieht. Ich möchte, daß du sie aufbewahrst, Arturo.«

Er nahm die Blätter mit ehrfürchtigen Fingern entgegen:

»Erlaubst du, daß ich darin lese?«

»Du mußt Placidos Sachen lesen. Ich will es! Bitte, kaufe dir ein Vokabular und eine Grammatik, damit du auch wirklich jedes Wort verstehst. Später werde ich dir helfen. Du mußt wissen, daß ich auf der Welt nichts Besseres besitze.«

»Was von Placido kommt, wird mir immer heilig sein.«

Er sagte das mit einem eingekniffenen Mund, dem man sogleich die Verlegenheit der großen Worte anmerkte. Überdies hatte er nun zum erstenmal den Namen Placidos ausgesprochen, ohne ein die Nähe abschwächendes »dein Bruder« vorauszuschicken. Ihn umfing ein neuartiger Blick des Dankes, der die Zukunft besiegelte.

In diesen und in den nächsten Stunden litt Campbell nicht nur um Grazia, er litt auch an einem schweren Mißgefühl von seiner eigenen Kargheit und Lähmung. Sie verschwendete Leib und Seele und er hatte nichts zu geben, er, dessen Pflicht es doch gewesen wäre, Opfer um Opfer zu bringen. Widerspruchslos mußte er sich dem Pascarella-Schicksal beugen. Er hatte im Leben und Lieben bisher immer sein ruhiges Bewußtsein und seine regelmäßige Überlegenheit bewahrt. Und nun wurde durch Bedrängnis und Tapferkeit der Geliebten sein Selbstbewußtsein so tief herabgestimmt, daß er sich in dieser fremden Welt selbst nicht mehr kannte. Als er nach ein Uhr in der Kanzlei des Hospitals das beste zweibettige Zimmer bestellte, das vorhanden war, erreichte sein Mißbehagen den Höhepunkt.

 

Annunziata fand die väterliche Wohnung geschlossen vor. Was hatte sich ereignet? Wo war Grazia? Wurde heute für Papa kein Mittagessen bereitet? Sie lief zur nächsten Tramway-Haltestelle, um so schnell wie möglich bei Iride zu sein. Die Kleine empfing sie ohne Vorwurf, mit Worten, die sich überstürzten. Heute nachmittag wird man ihr und Grazia die Pulsadern aufschneiden, um Grazias Blut ihr einzuflößen. Es tut nicht weh, haben die Ärzte fest versprochen. Iride zeigte angesichts der Operation keine furchtsame, sondern eine sensationsfreudige Erregung. Das wochenlange Liegen zwischen weißen Wänden, wo sich nichts andres ereignete als Fliegenflug und drei greuliche Mahlzeiten täglich, war ja nicht länger auszuhalten. Dazu kam noch, daß sich Iride durch das Blutgeschenk Grazias geadelt fühlte. Hatte sie nicht Grazias Schönheit seit ihren frühesten Tagen bewundert, das blonde Haar, den weißen Teint, den schmalen hohen Wuchs, die Beine? Hatte sie sich nicht oft am Morgen in das Zimmer der Schwester geschlichen, um sich an ihrer Schönheit zu weiden, wenn sich Grazia ankleidete? Ihr eigener Anblick mißfiel Iride gründlich. Sah sie ihr gelbes eingeschrumpftes Gesicht im Spiegel, streckte sie meist die Zunge heraus. Vielleicht würde sie durch Grazias Blut auch etwas von ihrer Schönheit profitieren. Jedenfalls sah sie den Dingen mit gespannter Erwartung entgegen. Sie vergaß auch nicht von Grazias englischem Begleiter zu erzählen als von einer unerhörten Neuerscheinung, die genaue Aufklärung fordere. Annunziata möge sie ihr geben. Der Entschluß der Schwester stand alsobald fest. Nicht Grazias Sache war dieses Blutopfer, nur sie, Annunziata, hatte das Anrecht darauf, es darzubringen. Das älteste Pascarellakind, am längsten im Gesetze erzogen, im Hinnehmen geprüft, im Schweigen erprobt, wollte sich diesmal nicht um sein Recht bringen lassen. Sie streifte alle Passivität ab, die man sonst für ihr Wesen halten konnte, und begann einen leidenschaftlichen Feldzug für jenes Recht. Bis zum Primarius drang sie vor. Dort versuchte sie sogar mit nicht gerade vornehmen Kampfmitteln zu arbeiten, indem sie ihr gereifteres Alter gegen Grazias selbstbestimmungslose Jugend ins Treffen führte. Der Professor, eben im Aufbruch befindlich, den Kopf voll hundert Pflichten und ohne Interesse für diesen Schwesternkrieg, schickte Annunziata zum Assistenten. Dieser wiederum erklärte, er werde sich vorerst mit Doktor Platania beraten, war aber bereit, die notwendige Untersuchung auch an dieser zweiten Blutkandidatin vorzunehmen.

Als dann etwas vor der festgesetzten Stunde Grazia erschien, kam es in Irides Zimmerchen zu einem Auftritt zwischen den Schwestern, so heftig, wie er bisher noch nie stattgefunden hatte und aller Voraussicht nach auch nie wieder stattfinden wird. Grazia hielt noch die Türklinke in der Hand, als Annunziata sie schon bestürmte:

»Das ist nicht deine Pflicht, Graja! Du mußt es einsehn. Ich bitte dich, geh nach Hause und laß mich hier!«

Grazia wehrte kalt ab:

»Da bist du zu spät gekommen, Zia. Ich war als erste hier und nun ist schon alles vorbereitet.«

Annunziata aber ließ sie kaum ausreden:

»Das gibt es nicht, das gilt nicht. Ich habe Iride aufgezogen. Mama hat sie mir anvertraut, ich habe, seitdem sie auf der Welt ist, immer mit ihr das Zimmer geteilt, nicht du!«

Durch Annunziatas wilden Ton gereizt, erhob nun auch Grazia ihre Stimme:

»Es ist sehr wenig nett von dir, daß du mich wegschieben willst. Ich möchte dir nicht nahetreten, aber ich habe mich um Iride nicht weniger gekümmert als du. Übrigens ist alles Gerede überflüssig. Ich war die erste hier. Der Primarius und die anderen Ärzte haben mich bestimmt und ich verzichte nicht.«

Annunziata, die auf diesem Wege nicht vorwärtskam, wurde leise:

»Graja, habe ich nicht mehr verloren als du?«

Über diese Frage empörte sich Grazia. Fast hätte sie schon Lauros Namen genannt, der ja nicht nur der Schwester gestorben war. Irides wegen, die nichts wissen durfte, riß sie sich zurück:

»Du tust ja so, als wäre ich an allem, was geschehen ist, unbeteiligt? Ich will von meiner Angst um Placido nichts reden. Aber heute früh habe ich Papa verloren, für immer.«

»Auch ich habe Papa verloren, Graja.«

»Bei dir, liebe Zia, mag das eine sentimentale Redensart sein, bei mir ist es furchtbare Wahrheit. Du hast die Pflicht, nach Hause zu gehn und für Papa, der gänzlich verlassen ist, zu sorgen.«

Wie böse Annunziatas Augen funkeln konnten! Es war, als ringe sich alle jahrelang hinabgewürgte Bitterkeit im unrechten Augenblick aus ihr los:

»Ah, nach Hause gehn!? Das hat dir ja immer gepaßt, daß ich den Dienstboten spiele! Ich soll nach Hause gehn, kochen, decken, Geschirr waschen, aufräumen, wie!? Sehr einfach. Und du!? Ich gehe nicht nach Hause.«

»Du würdest nach Hause gehn, Zia, wenn du wüßtest, daß ich nicht nach Hause gehen kann

»Du irrst dich! Auch du kennst die Gründe nicht, weshalb ich noch viel weniger nach Hause gehn kann.«

»Zia, Zia, was können das für große Gründe sein? Mich aber hat Papa ausgestoßen und mit der Polizei bedroht.«

Der Zwist hatte schon jenen Punkt erreicht, wo die Streitenden die Argumente des andern nicht mehr zu Ende hören. So faßte Annunziatas Bewußtsein die Worte »verstoßen« und »Polizei« nicht mehr auf, da sie der Schwester ihr eigenes Bekenntnis entgegenschleuderte:

»Ich habe die heutige Nacht im Kloster verbracht, und wenn du nicht nachgibst, wirst du mich nie mehr wiedersehn.«

Grazia aber konnte mit einem nicht minder kühnen Bekenntnis aufwarten:

»Auch ich habe diese Nacht nicht mehr zu Hause verbracht und werde heiraten.«

Iride hatte den Streit bisher mit glühenden Augen aber wortlos verfolgt. Jetzt fuhr sie triumphierend auf, als sei ihr die Lösung eines verworrenen aber dankbaren Rätsels geglückt:

»Signor Campbell! Ah! Ah!«

Grazia ließ eine Weile vorübergehn, um dann mit versöhnlicher aber fester Stimme zu bestätigen:

»Ja, Iride, es ist Mister Arthur Campbell. Ich war mit ihm auf der Festa di ballo zusammen ... damals.«

Auch Annunziata sagte lange nichts, um sich dann Grazia mit ganz verwandelter, bittender Stimme zu nähern:

»Was willst du noch, Graja!? Ich werde dich immer unterstützen, du weißt es. Sag, bin ich nicht wirklich viel unglücklicher als du?!«

Da wurde Grazia zum erstenmal schwankend. Zia war wirklich unglücklicher als sie. Nur unglücklicher? Sie, Grazia, war ja das glücklichste Mädchen in dieser Stadt. Sie sah unsicher von einer zur anderen:

»Iride soll entscheiden ...«

Aber Iride dachte nicht daran, sich den Genuß zu verkürzen, den dieser Streit der Schwestern ihrer umworbenen Person bereitete. Sie schloß ihre Lippen fest wie ihre Augen und stellte sich schlafend. Es war kein alltäglicher Kampf, da es sich nicht häufig ereignen dürfte, daß ein Wettstreit der echten Opferbereitschaft den nackten Egoismus zum Motiv hat. Beide aber, Annunziata und Grazia, waren völlig aufrichtig und dachten keine Sekunde daran, ihr Ziel edelmütig zu verschleiern. Das Leben war ihnen versperrt. Annunziata ertrug sich zu Hause nicht, und im Kloster verging sie vor Heimweh. Und auch für Grazia war das Blutopfer der einzige Ausweg aus ihrem Konflikt. Es kann nicht erforscht werden, wer von den beiden gesiegt hätte, da die Entscheidung von außen fiel, und zwar zugunsten Annunziatas. Als sich nämlich Iride gerade, vielleicht um weder die eine noch die andere zu kränken, in Schlaf und Schweigen hüllte, klopfte es an der Tür. Der eben genannte Arthur Campbell trat mit verlegener Vorsicht ein und berichtete, daß jemand draußen stehe, der Signorina Grazia zu sprechen wünsche.

Sie konnte zuerst in dem schlotternden Greis mit dem geschlossenen und dem schreckensstieren Auge den vielgewandten Quälgeist ihrer Jugend kaum erkennen. »Giuseppe«, fragte sie ungläubig. Der Diener wälzte die Zunge im Mund und gab gurgelnde Laute von sich, ehe ihm mit Wehgeheul die Wahrheit entfuhr:

»Sie haben Eccellenza verhaftet!«

Grazia starrte wortlos. Campbell aber packte sie mit schmerzhaftem Griff:

»Ich hole dir deinen Vater heraus, Grazia! Doch du versprichst mir, dein Blut nicht herzugeben ... Sonst kann ich es nicht!«


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