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Elftes Kapitel
Weißes Blut
[Ruggiero und Iride]

Erst als die Schulferien begannen und Iride den ganzen Tag zu Hause verbrachte, fiel den älteren Mädchen der veränderte Zustand der Kleinen besorgniserregend auf. Iride litt an unaufhörlichem Kopfschmerz, an Schwindel und Mattigkeit. Diese Leiden aber waren es nicht allein, die zu Befürchtungen Anlaß gaben. Eine körperliche Umwandlung, die sich nicht genau beschreiben ließ, wirkte viel bedenklicher. Gewiß! Iride war in den letzten Monaten um ein paar Zentimeter gewachsen, damit ließ sich einiges erklären. Die großen Schwestern wurden durch die Tatsache beruhigt, daß sich zugleich mit dem jähen Wachstum die Reife vollzogen hatte und das Kind zum jungen Weibe geworden war. Wer aber Irides Gesicht sah, das der mächtige Haarrahmen einer Pharaonentochter unnatürlich schmal machte, der mußte erschrecken. Es war keine gewöhnliche Blässe, keine jungmädchenhafte Bleichsucht, die sich auf ihrer gelblichen Haut, auf ihren farblosen Lippen und Lidern zeigte, nein, es war ein fortschreitendes Verblassen, so wie etwa ein Stoff, der dem Sonnenlichte ausgesetzt wird, eine verschossene Farbe bekommt.

Zu diesen physischen Verfallserscheinungen trat eine wachsende, selbst für Irides Temperamentsmaße unheimliche Reizbarkeit. Ihr erster Ausbruch folgte dem Unglück mit der Vitrine. Iride hatte aus ihrer Kindheit einen wahren Fanatismus für kleine Dinge herübergenommen, für winzige Nachbildungen der Wirklichkeit, als da sind, Tierchen, Figürchen, Tellerchen, Schüsselchen, kurz Puppengeschirr aller Sorten und dergleichen noch anderes. Mit Geschenken dieser Art konnte man ihr Herz sehr leicht gewinnen. Sie bewahrte die Sammlung in einem kleinen Glaskasten auf, wo sie jedes einzelne Stück täglich abstaubte und wenigstens wöchentlich einmal neuen Ordnungsprinzipien unterwarf. Bei einer dieser Umstellungen nun fiel der Glaskasten, nicht von ihren, sie schwor es, sondern von Teufelshänden gestoßen, vom Postament herunter. Nicht nur das Glas zerbrach, sondern auch einige der Schüsselchen, Tellerchen, Täßchen und sogar ein paar Figürchen lagen in Scherben. Und Iride hockte unter ihnen mit völlig verzerrtem Gesicht, unfähig, einen Finger zu rühren, mit erwürgter Kehle, als hätte sie ein Unheil getroffen, wogegen das gegenwärtige der Familie Pascarella ein harmloses Spiel sei. Eine halbe Stunde später fand die heimkehrende Grazia das Kind in dieser Stellung. Annunziata in der Küche hatte nichts bemerkt, da Iride, von einem Stimmritzenkrampf gepackt, keinen Ton von sich geben konnte. Der Krampf löste sich noch knapp vor dem Mittagessen, weshalb Papa Gott sei Dank nichts davon erfahren mußte.

Da aber die Mattigkeit und das schleichende Unwohlsein der Kleinen sich nicht besserten, wurde Don Domenico eines Abends doch von diesen Erscheinungen in Kenntnis gesetzt, als Iride schon zu Bett gegangen war. Grazia hatte es übernommen, mit ihm zu sprechen.

Die Beziehung Papas zu seiner Jüngsten unterschied sich in mancher Weise von seinem Verhalten zu den anderen Geschwistern. Man wird natürlich nicht annehmen dürfen, daß seine harte und keusche Vaterschaft irgendwelche Liebkosungen oder Herzensworte hervorgebracht hätte. Immerhin aber gehörten Gerichtsszenen oder Bannsprüche wider Iride zu den großen Seltenheiten. Sie erhielt manchmal einen leichten Klaps, der strafende Mißbilligung, heimliche Aufmunterung und verschämte Berührung zugleich beinhaltete. Nun aber stand Don Domenico vom Tische auf, ging in das Kinderzimmer hinüber und trat, von Annunziata und Grazia gefolgt, an Irides Bett. Ein paar Sekunden lang betrachtete er mit hellen Augen, die zu starr waren, um jeweils die Wahrheit geoffenbart zu bekommen, das Antlitz des Kindes, das dem seinigen in keinem Zuge glich. Dann legte er Iride die linke Hand auf die Stirn und fühlte mit der Rechten ihren Puls. Das Mädchen streckte selig seinen Körper aus und bog sich dankerfüllt der väterlichen Berührung entgegen, als wolle es im Hohlen dieser Hand völlig verschwinden. Don Domenico spürte, von dem kindhaften Entgegenstreben ergriffen, ein sanftes Verwundern. Gerade darum aber zog er die Hände von Stirn und Gelenk zurück und gab mit beinahe ärgerlichem Ton seine Meinung kund:

»Deine Stirn ist ganz kühl. Du hast kein Fieber.«

Iride, in der die Wärme der Vaterhand noch nachzitterte, stimmte Papa mit Begeisterung zu:

»Ich, Fieber? Warum denn? Ich bin überhaupt nicht krank. Mir geht es ja glänzend.«

»Ich möchte auch darum gebeten haben«, ließ sich Don Domenico rauh vernehmen und brandmarkte damit Fieber, Übelbefinden und ähnliche Vordringlichkeiten als Übergriffe der Natur, die er in seinem Hause nicht zu dulden gedenke. Zum Beweise der wahren Widerstandskraft zog er sich selber heran:

»Habt ihr mich schon jemals krank gesehen? Nun? Eh?«

Der gewohnte Chor bestätigte sofort:

»Nein, Papa.«

»Da seht ihrs! Du bist auch nicht krank. Wir haben jetzt nicht die Zeit für solche Geschichten.«

Dennoch bestellte er am nächsten Tag um die Mittagsstunde den Doktor Platania in die Via Concordia. Auch dieser Hausarzt, Signor Gaetano Platania, war ein Teil des bürgerlichen Lebensinventars, für das Domenico Pascarella schon in grauen Zeiten Vorsorge getroffen hatte. Er erschien, wenn keine andere Notwendigkeit vorlag, einmal jährlich, meist um die Zeit des Schulbeginnes, und unterwarf die Kinder äußerst summarisch einer ärztlichen Inspektion. Doktor Platania war ein bleicher skelettmagerer Mann, der für ein Grablegungsbild das vortrefflichste Modell hätte abgeben können. Er wirkte als überzeugendes Reklamestück seiner medizinischen Kunst, die den eigenen siechen und ausgezehrten Körper zu hohen Jahren gebracht hatte. Mit seinen tiefliegenden Augen, hohlen Wangen und dem dunkelgrauen Wildbart wäre er in Neapel um den Ruf des bösen Blicks und der schwarzen Magie nur schwer herumgekommen, wenn seine sanfte Stimme und der hasenhafte Oberkiefer mit vor- und auseinanderstehenden Zähnen nicht einen Charakter von höchst beanspruchbarer Gutartigkeit gewährleistet hätten. Der Eindruck seiner Sanftmut wurde noch dadurch erhöht, daß er an den Krankenbetten beim Reden unablässig Diminutiva anzuwenden liebte, selbst dort, wo sich die italienische Sprache dagegen sträubte. In solchen Fällen erfand er eben, kühnen Sinnes, seine eigenen Verkleinerungen. Zu Iride sagte er nach beendigter Untersuchung:

»Wir werden Leberchen essen, Iridina, sehr viel Leberchen.«

Iride, deren Leidenschaft für alles Winzige bekannt ist, blieb bei Doktor Platanias Diminutiven nicht unempfindlich und sah ihm gespannt auf den seltsamen Mund, aus dem die Zähne fächerartig hervorlugten. Der Arzt wandte sich an Don Domenico:

»Sie werden ja unsere Stadt jetzt bald verlassen und irgendwo draußen ein Sommerhäuschen mieten. Una casettina feriale. Das wird für unser Kindchen hier sehr empfehlenswert sein.«

Papa richtete sich auf und bekannte dunkel, aber hochmütig:

»Nein! Dieses Jahr muß unser Sommeraufenthalt entfallen. Wir sind dringend in der Stadt zurückgehalten.«

Platania schraubte seine Stimme noch ein sanftes Stück höher:

»Schade! Da werden wir eben ein paar Meerbädchen verordnen. Auch die anderen Fräuleinchen hätten es nötig, wie ich sehe. Was meinen Sie dazu, Signorina Graziella, Signorina Zitucina? Am Strande in hübschen Badekostümchen, wie?«

Bei diesem ärztlichen Rat hatte Gaetano Platania vergeßlicherweise die Wesensart Don Domenicos gänzlich außer acht gelassen. Dieser ballte sich murrend zusammen:

»Lassen Sie das, Dottore! Meine Töchter gehören nicht zu jenen, die sich nackt vor den Augen der Welt herumtreiben.«

Der Hausarzt lenkte erschrocken ab:

»Dann werden wir halt das Meer ins Haus bestellen und Wannenbädchen mit Seewasser nehmen. Es ist zwar nicht dasselbe, doch auch ganz gut. Die Hauptsache aber ist, Iridina muß vorläufig im Bettchen liegen bleiben.«

Als Doktor Platania gegangen war, brach Iride in ein begeistertes Gelächter aus, wobei sie immer wieder jauchzte:

»Leberchen ... Iridina soll Leberchen essen ... Und diese Zähne!«

Annunziata und Grazia lachten mit, obgleich ihnen das forcierte Lachen der Schwester nicht geheuer schien. Die Diagnose des Arztes jedoch war so zufriedenstellend ausgefallen, daß sie jede Sorge weit von sich wiesen. Große Blutarmut und Körperschwäche bei völlig gesunden Organen, hatte Doktor Platania konstatiert und nichts Eingreifenderes verordnet als reichliche Ernährung und eine weitbekannte Arzenei.

Die beiden großen Schwestern verständigten sich mit einem Blick. Von nun an mußten, ohne daß der Aufwand vergrößert wurde, die Mahlzeiten so eingerichtet werden, daß nicht nur Papa, sondern auch Iride zweimal täglich Fleisch erhielt und überdies noch einen Liter Milch. Dieses Rechenexempel war nur auf eine einzige Art zu lösen, dadurch nämlich, daß Annunziata und Grazia noch einiges von ihren Bedürfnissen abzwackten. Der Verzicht aber fiel ihnen nicht besonders schwer, obgleich sie jetzt schon hungerten und ihre Garderobe immer ärmlicher wurde.

Es bedurfte eines bestimmten Ereignisses, und zwar eines Ereignisses der Freude, um zu beweisen, daß Irides Zustand nicht so harmlos war, wie es nach Doktor Platanias Besuch den Anschein hatte. Diese Wendung brachte Ruggieros Brief, der einige Tage später eintraf.

Die Geschwister, hauptsächlich Annunziata, hatten mit Iride oft ihre Plage gehabt. Von allen war sie die Unberechenbarste. Auch Lauro schien unberechenbar, doch seine überraschenden Handlungen waren nicht so unvorbereitet, wie man annehmen konnte, sie traten nur nach einer langen Entwicklung im Dunkeln plötzlich ans Licht. Iride jedoch hatte vom Vater Jähzorn und Maßlosigkeit geerbt, Eigenschaften, die den anderen Geschwistern fehlten. Sie litt an Wutanfällen, an Weinkrämpfen, die sie nach einer halben Stunde schon wieder vergaß, doch auch an Ausbrüchen der Zärtlichkeit und ziellosen Affekten. Während Wesen wie Annunziata und bis zu einem gewissen Grade auch Placido alles in sich hineinfraßen, bei unbewegt äußerer Ruhe sich innerlich verzehrten und vereisten, war Iride zu lauter Empörung fähig. So hatte sie als einzige, und schon als kleines Kind, dem Basilisk Giuseppe die Krallen gezeigt. Und mehr als das, sie war ihm einmal, und nicht nur bildlich, mit diesen Krallen ins Gesicht gefahren. Als staunenswerte Folge zeigte sich, daß der Diener diese Mißhandlungen dem Herrn nicht nur verschwieg, sondern der kleinen Berserkerin von Stund an mit einer Achtung und einem Anstand begegnete, den er den Erwachsenen vorenthielt.

Dennoch hätte ihr niemand jenen Grad von Raserei zugetraut, den sie beim Empfang von Ruggieros Brief offenbarte. Annunziata brachte ihn zu ihrem Bett. Und sie selbst hatte durstige, ja neidische Augen dabei. Mit einem Schrei warf Iride die Decke zurück und sprang auf die Füße. Sie preßte den Brief mit aller Kraft an ihre kleinen Brüste, die unter dem Hemd hervortraten. Dann lief sie durch die Stube, immer rund herum, wie ihr Vater. Annunziata mußte hinausgehn. Sie befahl es. Nach einer Weile aber zeterte sie wieder: »Zia, Zia!« Und die Schwester mußte kommen, um ihr beim Öffnen des Kuverts zu helfen, denn ihre Kinderhände zitterten. Sie kroch ins Bett zurück. Kaum aber lagen die Briefblätter offen auf der Decke, wurde Annunziata, trotz ihrem gekränkten Protest, wieder hinausgejagt. Ihr, Iride, gehörte dieser Brief ganz allein, er war an sie gerichtet und an niemand anderen, nur sie hatte über ihn zu verfügen. Wenn sie es nicht wollte, durfte ihn weder Annunziata noch Grazia lesen, ja nicht einmal zuschauen, wenn sie ihn las. Doch sie selbst, von einem unbekannten Dämon genarrt, vermochte ihn nicht zu lesen. Sie buchstabierte die Zeilen, die keinen Sinn ergaben, sie fing wieder von vorne an, ging unvermittelt zum Schluß über, drückte das letzte Blatt mit der Unterschrift an die Wange, blieb in dieser Haltung lange Zeit liegen, ergriff dann den Briefumschlag und drehte ihn um, worauf noch zwei Banknoten herausfielen, die sie fassungslos anstarrte wie ein Wunder.

Indes war auch Grazia nach Hause gekommen. Sie und Annunziata standen gierig vor der Zimmertür und trauten sich nicht hinein, die Heftigkeit des kranken Kindes fürchtend. Endlich hatte sich Iride gesammelt und begann mit angestrengtem Gesichtsausdruck, sich selbst zum Gehorsam zwingend, Ruggieros Brief Satz für Satz zu lesen.

Fazenda
des
Senhor Attilio Salvafede
Bahnstation Limeira, Bezirk Limeira
im Bundesstaat São Paulo

Am 2. Juni 1924

»Liebe Iride! Anbei liegen $ 200, in Worten zweihundert U.S.A.-Dollar. Bitte übergib sie sofort Papa, damit er sie für seine Angelegenheiten verwendet. Ich schicke zur Bequemlichkeit Dollar und kein brasilianisches Geld. Teile Dir mit, daß ich sie gestern als Prämie von Signor Salvafede erhalten. Es war für die erste Roça, die ich mit meiner Negerabteilung allein durchgeführt habe. Roça nennt man hier die Urwaldrodung, und es war nur noch ein älterer Herr dabei, den der Fazendeiro zur Oberaufsicht mitgeschickt hat, und er war mit unserer Leistung zufrieden. Nächstens sende ich wieder Geld, denn ich verdiene erstklassig und brauche nichts. Placido und Lauro werden Euch wahrscheinlich schon von meiner Anstellung bei Signor Salvafede geschrieben haben. Ich darf auch bei ihm wohnen. In der großen Villa. Noch nie hat ein Verwalter in der großen Villa gewohnt. Auch die Ältesten von den Ledigen nicht. Der Fazendeiro aber hat es ausdrücklich so gewünscht. Er will mich selbst anlernen und spielt am Abend Halma oder Domino mit mir. Leider ist die Photographie noch nicht fertig, die der Ingenieur Machado gestern aufgenommen hat, so kann ich sie erst das nächstemal mitschicken. Ich habe darauf den ledernen Schlapphut wie ein Gaucho, Lederwams, Poncho und echte Reitermokassins mit ganz großen Rädersporen. Und das ist keine Verkleidung, wie Du vielleicht denken wirst, sondern ich trage das wirklich bei größeren Ritten. Du wirst staunen, ich schaue für meine zwanzig Jahre nicht zu jung aus.«

Iride richtete ihren Blick in die Zimmerecke, wo sie Ruggiero als tadellosen Waldläufer sah. Neid und Sehnsucht nach dem Bruder stritten in ihr. Sie träumte sich weit fort und fand erst nach einigen Minuten zu dem Brief zurück.

»Eine Roça ist kolossal interessant. Habe das erstemal dabei nur zuschauen dürfen, das zweitemal aber habe ich schon kommandiert. Alles, was man in der Schule lernt, ist Unsinn, und der Urwald ist gar kein Wald. Wenn man davorsteht, ist er ein hohes, grünes, verrücktes Gerüst, unabsehbar nach allen Seiten. Nicht einen halben Schritt kannst du drin vorwärts kommen. Die Wurzeln und Schlingpflanzen hängen von oben herunter wie Schiffsseile. Die kleinen Negerkinder klettern darauf herum, als wären es Strickleitern des Schulschiffes im Bacino. Manchmal erschrickt man, denn so riesengroß sind die Orchideen, die in diesem Netz hängen. Für eine solche Orchidee zahlt man bei Savini in der Via Chiaja wenigstens dreißig Lire. Sie werden hier fortgeworfen wie Kartoffelschalen. Das Wichtigste bei der Arbeit ist der Umgang mit den Negern. Es sind sehr brave Leute, aber faul. Wo sie sich nur drücken können, tun sie es und hocken herum. Ich bin sehr streng mit ihnen, da kannst Du jeden fragen. Wir haben in einigen Tagen mehr als vier Kilometer Urwald herausgebrannt. Ehe so ein Stück Urwald Feuer fängt, dauert es sehr lange, obschon es um diese Zeit noch nie so trocken gewesen sein soll wie heuer. Wenn es aber zu brennen beginnt, dann geht ein Lärm los, der schrecklicher ist als ein Trommelfeuer, so knallt und prasselt es. Am Abend haben wir dem Brand stundenlang zugeschaut und dabei Mate getrunken. Dieses Getränk schmeckt mir leider noch nicht, aber jeder echte Brasilianer liebt es, und ich hoffe, daß es mir auch bald schmecken wird. Ich bin als letzter in die Palmitohütte zum Schlafen gegangen und habe an Dich gedacht und an unsere liebe Familie. Mir gefällt es hier gut. Signor Salvafede hat mir versprochen, daß er mir weiter helfen wird. Vielleicht kann ich selbst einmal ein Fazendeiro werden. Dann müßtest Du bei mir sein, liebe Iride. Es kommt mir wirklich so vor, als hätten wir uns viele Jahre schon nicht mehr gesehen. Bitte, liebe Iride, laß Dich sofort photographieren, auf meine Kosten natürlich, und sende mir das Bild umgehend. Ich möchte auch ein Bild von unserer lieben Zia und Grazia haben. Glaubst Du, daß Papa sehr böse werden wird, wenn ich ihn ebenfalls um ein Bild bitte? Vielleicht könnte der Photograph zu ihm ins Haus kommen. Alle hier haben Bilder von den Ihrigen, nur ich nicht.«

Iride unterbrach sich im Lesen und sann diesem zaghaften Wunsch Ruggieros nach. Im Hause Pascarella gab es seltsamer- und unbürgerlicherweise nur ein einziges Bild, die vergrößerte und farbige Photographie Mamas in der Stanza della Mammina. Von Don Domenico und demzufolge auch von den Geschwistern bestand überhaupt keine photographische Verewigung. Unzweifelhaft hatte dieser Umstand nicht etwa im Zufall oder in der Lässigkeit seine Ursache, sondern in dem herben Charakter Don Domenicos. Wahrscheinlich hieß ihn seine altrömische Selbstgenügsamkeit jenen eitlen Trieb mißachten, der andere Leute dazu bewog, ihr Antlitz mehrmals im Jahr für künftige Äonen festhalten zu lassen. Tatsache bleibt, daß weder an den Wänden des Salotto noch in irgend einer Schatulle Familienbilder vorzufinden waren, die Iride dem Bruder hätte schicken können. Wie immer, wenn die Wirklichkeit mit dem unerschöpflichen Gesetze Don Domenicos zusammenstieß, dachte das betreffende Pascarellakind angespannt nach, wie ein Ausgleich zu schaffen sei. Dabei fielen Irides Blicke auf die beiden Hundertdollarnoten. Da war es beinahe ein aufrührerischer Triumph, der ihr Herz zusammenschnürte. Der kleine Ruggiero schickt Papa Geld, um ihm zu helfen. Und sie, die kleine Iride, wird Papa dieses Geld eigenhändig überreichen. Wiederum fuhr der Teufel in sie und sie wäre um ein Haar aus dem Bette gesprungen und hätte geschrien, getollt. Doch sie bezwang sich. Die Schwestern sollten noch nicht hereinkommen, sie sollten noch warten. Noch gehörte Brief und Geld ausschließlich ihr allein. Und krampfhaft, während ihr die Gedanken immer wieder durchgingen, begann sie von neuem mit gerunzelter Stirne zu lesen:

»Wir haben hier neunhunderttausend Kaffeebäume. Man braucht mehrere Tage, um die Fazenda zu umreiten. Morgen macht Signor Salvafede selbst einen Ritt mit mir, um mir alles persönlich zu erklären, und auch der Herr Generalverwalter reitet mit. Wir werden die Terreiros besichtigen, wo die gepflückten Kaffeekirschen trocknen, und dann die Maschinenanlagen, die Despolpadores und die Separadores. Das nächstemal, liebe Iride, werde ich Dir genau über diese Dinge schreiben, damit Du genügend informiert bist, wenn Du zu mir kommst. Daß Signor Salvafede mich selbst unterrichtet, ist eine ganz große Ehre und war überhaupt noch nie da. Es ist mir ganz egal, daß mich manche Angestellte deshalb hassen. Wir haben die größte Fazenda im Staate São Paulo, und das heißt etwas, da es fünfzehntausend Plantagen gibt. Ich bin sehr stolz darauf. Aus diesem Grunde habe ich etwas unternommen, weshalb mir Papa wirklich nicht böse sein darf. Unser Fazendeiro ist auch ein sehr großer Sportfreund, trotz seinem Alter. Er hat mir persönlich den Auftrag dazu erteilt. Auf anderen Fazenden haben sie längst schon Fußballmannschaften gebildet. Wir, als die größte, dürfen da doch nicht zurückbleiben. Ich habe darum aus unseren besten Leuten ein Team zusammengestellt. Auf Wunsch und mit Erlaubnis von Signor Salvafede, das muß Papa wissen. Elf Mann. Vier davon sind junge Neger, zwei Mestizen, drei Brasilianer aus dem Norden, einer ein Italiener aus Pisa und ich Kapitän und linker Flügelstürmer. Der Pisaner ist ein alter wundervoller Spieler, der schon zu Hause Mitglied eines wirklichen Klubs war, F. C. Liguria, und viel mehr kann als ich. Aber da er nur Kolonist ist und ich Verwalter, muß ich der Kapitän sein. Wir haben einen schönen Platz und trainieren täglich gegen Abend. Signor Salvafede will schon im Frühjahr Wettspiele mit den Nachbarmannschaften veranstalten. Wenn Papa wüßte, daß hier alles ganz anders ist als in Europa, wäre er sicher nicht böse.«

Iride lachte in sich hinein. Also da ist er nach Brasilien gefahren, um sich im Fußballspiel austoben zu dürfen. Und Giuseppe kann ihn nicht erwischen. Papa aber bekommt vom Orso zweihundert Dollar. Wieviel ist das eigentlich? Oh, sehr viel! Ein angenehmer rosenfarbener Stolz umwölkte sie. Sie nahm den Brief wieder zur Hand. Eigentümlich liefen die Zeilen. Immer schiefer.

»Von Placido und Lauro habt Ihr gewiß schon früher und öfter Nachricht gehabt als von mir, der ich fast nie eine freie Stunde habe. Lauro hat im Instituto Butantan in São Paulo City ein recht hübsches Leben. Der Gehalt freilich ist schlecht, auch wenn ich nicht gerade an meine Einkünfte denke. Und dann, ich möchte nicht alle Tage nur mit Schlangen zu tun haben wollen. Sie liegen hier auf allen Wegen herum. Man schlägt sie mit einer starken Gerte auf den Kopf, dann sind sie tot. Man muß das von den Negern lernen. Placido hat endlich in Rio eine Bürostellung gefunden. Ich hatte schon große Sorge seinetwegen und wollte mit Signor Salvafede sprechen. Aber ich habe eingesehen, daß die Arbeit auf einer Farm für Placido nicht das Richtige ist. Meiner Meinung nach macht sich unser lieber Bruder das Leben noch schwerer, als es ist. Nun, wir werden sehn! Ich fahre am Ende dieses Monats in Fazenda-Geschäften nach Santos. Dabei werde ich mich auch in São Paulo aufhalten, um nachzuschauen, ob ich für unseren Lauro nichts tun kann. Und bei der nächsten Gelegenheit will ich um einen kurzen Feriado nach Rio bitten, um zu sehen, was mit Placido los ist!«

Der kleine Bruder betreut die großen Brüder. Der Siebzehnjährige, der zu Hause die unbedeutendste Rolle spielte, er zähmt das Glück, er ist dem Leben herrlich gewachsen. Welch ein Aufschwung des jüngsten Paares, der Ruggiero-Iride-Gemeinschaft! Draußen klopft es und die Stimmen von Grazia und Annunziata mahnen:

»Bist du endlich fertig, Iride? Dürfen wir schon kommen?« Iride antwortete nicht. Mögen sie noch warten! Ah, wie werden sie sich wundern! Sie streichelt die Banknoten. Was ist das? Da liegt ja noch ein Blatt. Es stammt von der steifen Hand des großen Fazendeiro Signor Attilio Salvafede höchstselbst. Dem Briefe beiliegend, ist es an Signorina Pascarella Iride persönlich gerichtet. Sie wird sich durch die unvermutete Rangerhöhung, die in der direkten Ansprache durch den mächtigen Mann besteht, selbst ganz staunenswert. Alles wird ihr nun staunenswert, sogar ihre Hände, die in unbeschreiblich weiter Entfernung von ihren Augen auf der Bettdecke im eiskalten Papier des Briefes wühlen. Mehrere Tage braucht man, um die Fazenda zu umreiten. Sie hat es auch nicht leicht, das Blättchen Herrn Salvafedes vor die Augen zu bringen. Nun aber liest sie schnell, im Galopp gleichsam, froh über jedes Wort, das sie ohne Verständnis verschlingt, denn es scheint schon spät zu sein und Nacht zu werden.

»Mein liebes kleines Fräulein Iris! Ich erlaube mir an den Brief Ihres Bruders einen freundlichen Gruß anzuhängen. Es bereitet mir Freude, zu sehn, wie Ruggiero Pascarella mit seiner werten Familie daheim verknüpft ist. Er erzählt mir am Abend von ihr und dabei ganz besonders auch von Ihnen. Ruggiero ist auch sonst ein lieber Junge, ich bin zufrieden mit ihm, und wenn er sich weiter gut aufführt, wird er bei uns hier und in Brasilien wahrscheinlich sein Glück machen. Er phantasiert davon, daß Sie ihn einmal besuchen werden. Ich schließe mich seinem Wunsche gerne an. September und Oktober sind in unserem Klima die angenehmsten Monate. Vielleicht gibt Ihr Herr Vater, der hochgeehrte Domenico Pascarella, dem ich meine achtungsvollsten Grüße entbiete, die Erlaubnis dazu. Ich bin ein alter, kinderloser Mann und liebe nichts mehr in meinem Hause als frische Jugend – – –«

Als Annunziata und Grazia, durch die Stille geängstigt, ins Zimmer traten, fanden sie Iride in tiefer Bewußtlosigkeit. Wie bei einem epileptischen Anfall waren die Augen offen und verdreht. Nur die Hände hielten, nicht zu Fäusten geballt, krampfhaft die Banknoten und die Briefblätter fest. Tödlich erschrocken wandten die Schwestern alle Mittel an, von denen sie gehört hatten: Eiswasser, Essig, Alkohol. Die Wirkung erfolgte sehr langsam. Iride kam zwar zu sich, ihr Kopf aber schwankte in schwerer Benommenheit hin und her. Sie konnte noch lange nicht sprechen und kaum lallen. Brief und Geld hingegen ließ sie mit eifersüchtiger Kraft nicht los. Zwanzig Minuten nach dem Anfall etwa schien sie ruhig einzuschlafen.

»Wir müssen Giuseppe sofort um Doktor Platania schicken«, flüsterte Grazia. Annunziata aber schätzte den Diener richtig ein:

»Warte! Ich laufe lieber selbst. Es ist sicherer!«

»Nimm die Elektrische, Zia! Nein, nimm ein Taxi! Was liegt daran? Nur schnell!«

Es gelang Annunziata, vor Ablauf einer halben Stunde den Hausarzt an Ort und Stelle zu bringen. Dieser untersuchte die Kleine eingehender als das letztemal, beruhigte aber die Schwestern neuerdings:

»Ich finde nichts. Es war eine ganz gewöhnliche Ohnmacht, eine Gehirnanämie, wie sie in diesem Alter hundertmal vorkommt.«

»Was ist das, Gehirnanämie?« erkundigte sich Iride nicht ohne Selbstgefühl. Sie hatte ihr altes Temperament wieder. Ihr Aussehen war nur durch blaue Schatten unter den Augen leicht verschlechtert. Doktor Platania näherte sein Grabesantlitz scherzhaft dem ihren:

»Eine Blutleere im Köpfchen, Iridina. Nichts, wodurch man interessant wird.«

»Also das Blut«, meinte Iride träumerisch.

»Im Bett liegen bleiben«, ordinierte Platania abschließend, »und Ruhe, das ist alles.«

Diese Weisung wiederholte er noch einmal an der Wohnungstür, wohin ihn die großen Schwestern geleiteten. Als er fort war, stellte Annunziata folgende wichtige Frage an Grazia:

»Sollen wir Papa von der Ohnmacht Irides Meldung machen?«

»Ich halte das für selbstverständlich, Zia.«

»So? Meinst du?« Die Älteste blickte bedrückt zu Boden:

»Papa kommt heute erst um neun Uhr nach Hause. Er war den ganzen Tag unterwegs in dieser Glut. Wozu sollen wir ihn noch nervöser machen, als er schon ist? Er braucht Schonung.«

Grazias Stimme klang hart und eckig:

»Findest du? Ich weiß nicht, ob diese Schonung das Richtige ist. Doch bitte, wie du willst. Jedenfalls kann man nicht mehr lange zuschauen. Signor Platania ist ein großer Optimist. Mir erscheint die Sache mit Iride nicht besonders spaßhaft.«

Scharfe Rufe des Kindes unterbrachen dieses Gespräch. Iride wollte aufstehn und ihr bestes Gewand anziehn, um Papa Ruggieros Dollargabe in Gala zu überreichen. Grazia entwickelte unnachgiebige Strenge. Das sei unmöglich. Papa werde heute erst mitten in der Nacht heimkehren. Morgen früh sei die Gelegenheit für den feierlichen Akt viel günstiger und würdiger. Und jetzt heiße es, ohne Pardon, schlafen, und zwar sofort! Nach einem längeren Zwist gelang es der Energie Grazias, den Widerstand der aufgewühlten Kleinen zu brechen. Aufsässig steckte Iride die Banknoten unter das Kopfkissen:

»Aber ihr versprecht mir, daß ihr Papa nichts von Ruggieros Brief sagt und nichts von dem Geld, Graja, Zia!?«

Die Schwestern erneuerten ihren Schwur. Grazia schloß die Fensterladen. Da fing Iride wieder zu maulen an:

»Und ich soll hier allein liegen? Allein im Finstern? Und ihr werdet euch unterhalten.«

»Nein, ich bleibe bei dir, Iride, bis du schläfst.«

Und Grazia zog einen Stuhl ans Bett heran.

»Nur bis ich schlafe? Dann kann ich ja gar nicht schlafen, wenn ich weiß, daß du hinausgehst, sobald ich schlafe. Die ganze Nacht mußt du bei mir bleiben, Graja!«

»Gut, wir werden abwechselnd die ganze Nacht bei dir wachen, Iride«, begütigte sie Annunziata und ging in die Küche, um die Vorbereitungen für Papas spätes Abendessen zu treffen. Grazia betrachtete in der künstlichen Dämmerung den hellen Fleck auf der Bettdecke, Ruggieros Brief. Sie hatte ihn erst ein Mal rasch überflogen und sehnte sich danach, die Stelle über Placido genauer kennen zu lernen. Iride aber, die ihren Brief mit der Hand schützte, dachte jetzt nicht daran, ihn der Schwester ein zweitesmal zu leihen. Sie hatte ganz andere Absichten:

»Wir wollen jetzt ein bißchen klatschen, chiacchierare, nicht wahr, Graja!? Bitte fang du an!«

Iride, die sich fast niemals mehr kindisch gab und auf der Würde ihrer dreizehnjährigen Erwachsenheit sonst unnachsichtig bestand, suchte sich für den alten Kinderwunsch dieses abgeblaßten Spiels immer Momente aus, in denen es Grazia bitter schwer ums Herz war. Als die Schwester auf ihr »Chiacchierare« nicht unverzüglich einging, wurde sie sehr böse, so daß Grazia nichts übrig blieb als sich zu ergeben. Wie erschrak die Ältere vor dem falschen und forcierten Plapperton ihrer eigenen Worte, als sie nun begann:

»Ich kaufe dir einen kleinen Garten, un giardino piccino piccino. In diesem Garten stehn hundert kleine Bäume. Die Bäume sind alle aus Schokolade und die Blätter aus Pistazien.«

»Kaffeebäume«, korrigierte Iride streng.

In Grazia wuchs Ärger auf:

»Warum denn Kaffeebäume? Es sind Schokoladebäume und nichts andres.«

Hartnäckig bestand sie auf ihrer Fassung. Iride wandte sich aber giftig ab:

»Wie, Schokoladebäume? Ah! Immer etwas zum Essen! Vielleicht wirst du mir das nächste Mal Mortadellabäume anbieten.«

»Bitte, wenn dus nicht magst, kann ich ja aufhören«, erklärte Grazia tief beleidigt. Dieser kleine Frosch da besaß einen eigenen Brief und Geld dazu. Ihr, Grazia, aber hatte Placido noch immer nicht geschrieben. Was war mit ihm geschehen? Welche Qualen mußte er durchleben, von denen sie nichts wußte? Und sie konnte keinen Finger rühren für ihn. In diesen Minuten lagen Berge des Elends auf Grazias Brust. Ein Teil dieses Elends gehörte aber der Eifersucht, ohne daß sie etwas davon ahnte. Lange dauerte das gekränkte Schweigen. Grazia glaubte schon, Iride sei eingeschlafen, als sie plötzlich merkte, wie die Augen des Kindes sie hinterhältig aus der Finsternis anstarrten:

»Hör einmal, Graja! Glaubst du, daß ich weißes Blut habe?«

»Was ist das wieder für ein Blödsinn?«

Iride setzte sich verächtlich auf:

»Du weißt nicht, was das ist, weißes Blut? Bei uns in der Schule ist doch die Tadolini Dina an weißem Blut gestorben. Sie hat drei Monate gefehlt. Im März war das. Wir mußten damals alle zum Begräbnis, die ganze Klasse.«

Die Stirn der Kleinen war auf einmal naß von Schweiß. Grazia trocknete ihn mit ihrem Tuch:

»Kannst du wirklich nicht an gescheitere Sachen denken?«

»Gescheitere Sachen?« murrte Iride. »Mit dir kann man heute nicht ernst reden.«

»Denk doch lieber an deinen Brief hier!«

Grazia wollte der verstörten Seele einen besseren Weg weisen. Es gelang. Iride hob den Kopf und lauschte ins Dunkel:

»Der Fazendeiro hat mich persönlich eingeladen ... Ach, Graja, Papa wird es ja nie erlauben – – –«


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