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Siebentes Kapitel

Im Schlaf

Leonidas steht in der Opernloge hinter Amelie. Er neigt sich über ihr Haar, das dank der langen Qual unterm Nickelhelm des Coiffeurs jetzt wie eine unstoffliche Wolke, wie ein dunkelgoldner Dunst ihren Kopf umgibt. Amelies glorreicher Rücken und ihre makellosen Arme sind nackt. Nur schmale Achselbänder halten den weichen, seegrünen Velours ihres Kleides, das sie heute zum erstenmal trägt. Ein sehr kostbares Pariser Modell. Amelie ist infolgedessen feierlich gestimmt. In der Pracht ihres Selbstgefühls nimmt sie an, auch León sei, angesichts ihrer leuchtenden Erscheinung, feierlich gestimmt. Sie streift ihn mit einem Blick und sieht einen eleganten Mann, der über der blendenden Frackbrust ein zerknittertes und graues Gesicht aufgeschraubt trägt. Ein flüchtiger Schatten von Schreck fällt auf sie. Was hat sich da ereignet? Ist zwischen Lunch und Oper aus dem ewig jungen Tänzer ein vornehmer älterer Herr geworden, dessen zwinkernde Augen und herabgezogene Mundwinkel die Lebensmüdigkeit des Abends kaum unterdrücken können?

»Hast du dich sehr geplagt heut, armer Kerl«, fragt Amelie und ist schon wieder zerstreut. Leonidas arbeitet fleißig an seinem begeistert-mokanten Lächeln, ohne es ganz zustande zu bringen:

»Nicht der Rede wert, lieber Schatz! Eine einzige Konferenz. Ich hab den ganzen Nachmittag sonst gefaulenzt ...«

Sie berührte ihn liebkosend mit ihrem marmorblanken Rücken:

»Hat dich mein blödsinniges Gerede aus der Fassung gebracht? Bin ich schuld? Du hast recht, León. Alles Unheil kommt von diesem Hungern. Aber sag, was soll ich tun, mit neununddreißig bald, wenn ich nicht mit einem wunderschönen Doppelkinn, einer gepolsterten Krupp und zwei Klavierbeinen durchs Leben wackeln will? Du würdest dich bedanken, du Schönheitsfanatiker! Schon jetzt, sag's nicht weiter, kann ich ein Modell ohne kleine Änderungen kaum mehr tragen. Ich hab nicht das Glück, so ein hageres Gliederpüppchen zu sein wie deine Anita Hojos. Wie ungerecht seid ihr Männer. Hättest du dich seelisch mehr mit mir beschäftigt, wär ich nicht solch eine hemmungslose Kanaille geblieben, sondern wäre auch so taktvoll und feinfühlig und entzückend verschämt geworden, wie du es bist ...«

Leonidas macht eine kleine wegwerfende Handbewegung:

»Mach dir keine Sorgen deswegen! Ein guter Beichtvater vergißt die Sünden seines Beichtkindes ...«

»Also, das ist mir auch nicht recht, daß du meine ehrlichen Leiden so schnell vergißt«, schmollt sie, wendet sich aber schon wieder ab, das Opernglas an die Augen führend:

»Was für ein schönes Haus heute!«

Es ist wirklich ein schönes Haus. Alles, was Rang und Namen besitzt, hat sich an diesem Abend in der Oper versammelt. Ein hoher Würdenträger des Auslandes wird erwartet. Zugleich nimmt eine gefeierte Sängerin vor ihrem amerikanischen Urlaub Abschied vom Publikum. Amelie wirft unermüdlich das Netz ihres grüßenden Lächelns aus und zieht es ebenso unermüdlich ein, triefend vom Licht der Erwiderung. Wie Helena auf den Zinnen Trojas zählt sie die Namen der versammelten Persönlichkeiten auf, in einer erregten Teichoskopie des Snobismus:

»Die Chvietickys, Parterreloge No. 3, die Prinzessin hat schon das zweitemal herübergegrüßt, warum antwortest du nicht, León? Daneben die Bösenbauers, wir haben uns sehr schlecht benommen gegen sie, wir müssen sie noch in diesem Monat einladen, Bridgepartie en petit comité, ich bitte, sei besonders liebenswürdig. Jetzt schaut auch der englische Gesandte herüber, ich glaube, León, du mußt es zur Kenntnis nehmen. In der Regierungsloge sitzt schon dieser unmögliche Koloß, das Weib vom Spittelberger, ich glaub, sie hat einen Wolljumper an, was würdest du sagen, wenn ich so aussehen täte, du wärst gar nicht einverstanden, also ehre meinen verborgenen Heldenmut! Die Torre-Fortezzas winken, wie entzückend die junge Fürstin aussieht, und sie ist geschlagene drei Jahre älter als ich, ich schwör dir's, du mußt danken, León ...«

Leonidas dreht sich mit kleinen grinsenden Verbeugungen nach allen Seiten. Er grüßt aufs Geratewohl, wie es die Blinden tun, denen man die Namen der Begegnenden ins Ohr flüstert. So sind diese Paradinis, geht es ihm durch den Kopf, er vergißt aber, daß ihn sonst, nicht anders als Amelie, der erlauchte Namensschwall wohlig durchschauert ... Immer wieder fordert er sich selbst auf, glücklich zu sein, weil alles so unerwartet, so vortrefflich sich gelöst hat, weil er zu schweren Geständnissen und Entscheidungen nicht mehr verhalten werden kann, kurz, weil sein trübes Geheimnis aus der Welt geschafft und er freier und leichter sein darf als jemals. Leider aber ist er nicht imstande, seiner Einladung zum Glücklichsein Folge zu leisten. Er leidet sogar verstiegenerweise darunter, daß Emanuel nicht sein Sohn ist. Einen Sohn hat er verloren. Oh, wäre Emanuel doch der mittlerweile erwachsene Junge, der kleine Joseph Wormser, der vor achtzehn Jahren in Sankt Gilgen an Genickstarre zugrundeging! Leonidas kann sich nicht helfen, in seinem Kopf rattert ein Eisenbahnzug. Und in diesem Eisenbahnzug fährt Vera aus einem Land, wo sie nicht atmen kann, in ein Land, wo sie atmen kann. Wer hätte das gedacht, daß in den Ländern, wo diese Überheblichen nicht atmen können, hochentwickelte Menschen wie Emanuels Vater zu Tode gequält werden, mir nichts, dir nichts? Das sind doch erwiesenermaßen Greuelmärchen. Ich glaub's nicht. Wenn Vera auch die Wahrhaftigkeit selbst ist, ich will es nicht glauben. Aber was ist das? Mir scheint, auch ich kann hier nicht atmen. Wie? Ich, als Erbeingesessener, kann hier nicht atmen? Das möcht ich mir doch ausgebeten haben! Am besten, ich lasse mir nächstens mein Herz untersuchen. Vielleicht schon übermorgen, ganz heimlich, damit Amelie nichts davon erfährt. Nein, verehrter Kollege Skutecky, ich werde nicht zu Herrn Lichtl wallfahrten, zur triumphierenden Mediokrität, sondern sans gêne zu Alexander (Abraham) Bloch. Vorher aber, morgen früh schon, laß ich mich bei Vinzenz Spittelberger melden: Bitte Herrn Minister gehorsamst um Entschuldigung für die gestrigen Diffizilitäten. Ich hab mir die Anregungen des Herrn Ministers ruhig überschlafen. Herr Minister haben wieder einmal das Ei des Kolumbus entdeckt. Hier hab ich gleich den Ordensantrag für Professor Bloch und das Ernennungsdekret für Professor Lichtl mitgebracht. Wir müssen uns endlich auf unsre nationalen Persönlichkeiten besinnen und sie gegen die internationale Reklame durchsetzen. Herr Minister sind doch äußerst expeditiv und werden beim heutigen Kabinettsrat diese Stücke gewiß durch den Herrn Bundeskanzler unterfertigen lassen. – Danke Ihnen, Herr Sektionschef, danke Ihnen! Ich habe nicht einen Moment daran gezweifelt, daß Sie meine einzige Stütze sind hier im Haus. Im Vertrauen, falls ich demnächst ins Kanzleramt übersiedle, nehme ich Sie als Präsidialisten mit. Wegen gestern brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Sie waren halt ein bißl enerviert durchs Wetter. – Ja, natürlich, das Wetter! Stürmisches Wetter. Leonidas hat den Wetterbericht des Radios im Ohr. Während er sich für die Oper umkleidete, hatte er seinen Apparat eingeschaltet: »Depression über Österreich. Stürmisches Wetter im Anzug.« Das ist der Grund, warum er nicht atmen kann. Leonidas nickt noch immer mechanisch ins Leere. Er grüßt auf Vorschuß, um Amelie gefällig zu sein.

Die Gäste, die man heute ins Theater geladen hat, sind erschienen. Ein Frack und eine schwarz-silberne Robe mit einem Abendmantel wie aus Metall. Die Damen umarmen einander. Leonidas drückt seinen Mund auf eine duftende fette Hand mit einigen braunen Leberflecken. Wo bist du schon, fleischlose Hand, bittersüße Hand mit deinen zerbrechlichen Fingern ohne Ring!?

»Gnädige Frau werden jedesmal jünger ...«

»Wenn das so weiter geht, Herr Sektionschef, werden Sie mich nächstens als Baby begrüßen dürfen ...«

»Was gibt es Neues, lieber Freund? Was sagt die hohe Politik?«

»Mit der Politik hab ich Gott sei Dank nichts zu tun. Ich bin ein schlichter Schulmann.«

»Wenn auch du schon geheimnisvoll wirst, teurer Sektionschef, muß es ziemlich schlimm stehen. Ich hoffe nur, daß England und Frankreich mit uns Einsehen haben werden. Und Amerika, vor allem Amerika! Wir sind schließlich das letzte Bollwerk der Kultur in Mitteleuropa ...«

Diese Worte seines Gastes reizten Leonidas, er weiß selbst nicht warum.

»Kultur haben«, sagt er grimmig, »das heißt, anders ausgedrückt, einen Stich haben. Wir alle hier haben einen Stich, weiß Gott. Ich rechne mit keiner Macht, auch mit der größten nicht. Die reichen Amerikaner kommen im Sommer gerne nach Salzburg. Aber Theaterbesucher sind keine Verbündete. Alles hängt davon ab, ob man stark genug ist, sich selbst zu revidieren, eh die große Revision kommt ...«

Und er seufzt tief auf, weil er sich nicht stark genug weiß und weil das ungegliederte Gesicht des Schwammigen haßvoll vor ihm zu schwanken beginnt.

Majestätischer Applaus! Der ausländische Würdenträger, von einheimischen umkränzt, tritt an die Brüstung der Festloge. Der Saal wird dunkel. Der Kapellmeister, vom einsamen Pultlicht angestrahlt, krampft sein Profil entschlossen zusammen und breitet die Schwingen eines riesigen Geiers aus. Nun flattert der Geier, ohne vom Fleck zu kommen, mit regelmäßigen Schlägen über dem unbegründet überschwenglichen Orchester. Die Oper beginnt. Und das hab ich früher einmal doch ganz gern gehabt. Eine ziemlich beleibte Hosenrolle springt aus dem Prunkbett der noch beleibteren Primadonna. Achtzehntes Jahrhundert. Die Primadonna, eine ältere Dame, ist melancholisch. Die Hosenrolle, durch jungenhaftes Geschlenker ihre äußerst weiblichen Formen betonend, bringt auf einem Tablett die Frühstücks-Schokolade. Widerlich, denkt Leonidas.

Auf Zehenspitzen zieht er sich in den Hintergrund der Loge zurück. Dort sinkt er auf die rote Plüschbank. Er gähnt inbrünstig. Es ist alles glänzend abgelaufen. Die Sache mit Vera ist endgültig aus der Welt geschafft. Ein unglaubliches Wesen, diese Frau. Sie hat mit keinem Wort insistiert. Wär ich selbst nicht, wieder einmal vom Teufel geritten, sentimental geworden, hätte ich nichts erfahren, nichts, und wir wären in tadelloser Haltung auseinandergegangen. Schade! Mir wär wohler ohne Wahrheit! Kein Mensch kann zwei Leben leben. Ich wenigstens hab nicht die Kraft zu dem Doppelleben, das mir Amelie zutraut. Sie hat mich vom ersten Tag an überschätzt, die gute liebe Amelie. Schwamm drüber, es ist zu spät. Ich darf mir auch nie wieder solch taktlose Sentenzen genehmigen, wie die mit der großen Revision. Was für eine Revision, zum Kuckuck! Ich bin weder Heraklit der Dunkle noch ein intellektueller Israelit, sondern ein öffentlicher Funktionär ohne Spruchweisheit. Werd ich es nicht endlich lernen, genau solch ein Esel zu sein wie alle andern?! Man muß schließlich zufrieden sein. Man muß sich das Erreichte immer wieder zu Gemüte führen. In diesem schönen Hause sind die obersten Tausend versammelt, ich aber gehöre zu den obersten Hundert. Ich komme von unten. Ich bin ein Besiegter des Lebens. Als mein Vater so früh starb, mußten wir, die Mutter und fünf Geschwister, von zwölfhundert Gulden Pension leben. Als drei Jahre später die arme Mutter starb, war auch die Pension nicht mehr da. Ich bin nicht untergegangen. Wieviele sind auf der Stufe des Hauslehrers bei Wormsers steckengeblieben und haben nicht einmal den kühnen Traum verwirklicht, als Schulmeister eines Provinznestes im Honoratiorenstübchen des Wirtshauses zu sitzen? Und ich!? Es ist doch ausschließlich mein Verdienst, daß ich mit nichts als einem ererbten Frack ein anerkannt reizender junger Mann war und ein famoser Walzertänzer, und daß Amelie Paradini darauf bestanden hat, mich zu heiraten, ausgerechnet mich, und daß ich nicht nur Sektionschef, sondern ein großer Herr bin, und Spittelberger, Skutecky und Konsorten wissen genau, ich bin auf den ganzen Krempel nicht angewiesen, sondern ein nonchalanter Ausnahmefall, und die Chvietickys und die Torre-Fortezzas, ältester Feudalsadel, lächeln herüber und grüßen zuerst und morgen früh im Büro werd ich die Anita Hojos anklingeln und mich zum Tee ansagen. – Eins aber möcht ich wissen, hab ich heut wegen des kleinen Jungen wirklich geweint oder bild ich's mir nur ein, nachträglich ...

Immer schwerer stülpt sich die Musik über Leonidas. Mit langen hohen Noten fahren die Frauenstimmen gegeneinander. Monotonie der Übertriebenheit! Er schläft ein. Während er aber schläft, weiß er, daß er schläft. Er schläft auf der Parkbank. Ein schwacher Schauer von Oktobersonne besprengt den Rasen. In langen Kolonnen werden Kinderwagen an ihm vorbeigeschoben. In diesen weißen Gefährten, die über den Kies knirschen, schlafen die Folgen der Verursachungen und die Verursachungen der Folgen mit ausgebauchten Säuglingsstirnen, mit vorgewölbten Lippen und geballten Fäustchen ihren tief beschäftigten Kindheitsschlaf. Leonidas spürt, wie sein Gesicht immer trockener wird. Ich hätte mich für die Oper ein zweitesmal rasieren müssen. Das ist nun versäumt. Sein Gesicht ist eine große ausgedörrte Lichtung. Langsam verwachsen die Pfade, Karrenwege und Zufahrtsstraßen zu dieser vereinsamten Lichtung. Sollte das schon die Krankheit des Todes sein, sie, die nichts andres ist als die geheimnisvoll logische Entsprechung der Lebens-Schuld? Während er unter der drückenden Kuppel dieser stets erregten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.


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