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Fünftes Kapitel

Eine Beichte, doch nicht die richtige

Als Leonidas nach Hause kam, regnete der Regen noch immer in beständigen, wenngleich schon müderen Strichen. Der Diener meldete, daß die gnädige Frau von ihrer Ausfahrt noch nicht heimgekehrt sei. Es geschah höchst selten, daß Leonidas, mittags vom Amte kommend, auf Amelie warten mußte. Während er seinen triefenden Mantel auf den Bügel hängte, zitterte in ihm noch immer die Betroffenheit über sein heutiges Verhalten nach. Er war dem Minister gegenüber zum erstenmal im Leben aus dem Takt des Beamtentums gefallen. Es war nicht Sache dieses Beamtentums, mit offenem Visier zu kämpfen. Man benutzte gelenkig die Strömung der Welt, von der man sich mit Umsicht treiben ließ, um die unerwünschten Klippen zu vermeiden und die erwünschten Halteplätze anzustreben. Er aber war dieser verfeinerten Kunst untreu geworden und hatte den Fall Alexander (Abraham) Bloch brutalisiert und ihn zu einer Krise, zu einer Kabinettsfrage emporgestritten. (Ein Fall übrigens, der ihm zum Gähnen langweilig war.) Wenn er jedoch schon durch Veras und des Sohnes geheimen Einfluß in diesen Kampf geglitten war, so hätte er ihn nach altem Brauch mit der »negativen Methode« führen sollen. Anstatt für Professor Bloch hätte er gegen Professor Lichtl sein müssen, und zwar durchaus nicht mit den wirklichen Argumenten, sondern mit rein formalen Einwendungen. Skutecky hatte sich wieder einmal als Meister seines Faches erwiesen, indem er gegen Bloch nicht etwa den nackten antisemitischen Grund ins Treffen führte, sondern den objektiven und gerechten Grund seines vorgerückten Alters. In ähnlicher Art hätte er den Beweis konstruieren müssen, daß Lichtls Kandidatur nicht allen sachlichen Forderungen entspreche. Sollte morgen der Ministerrat die Berufung dieses Lückenbüßers beschließen, so hatte er, der Sektionschef, sich eine schwere Niederlage auf seinem eigensten Gebiete zugezogen. Nun war's zu spät. Sein Benehmen heute, die Niederlage morgen, die würden ihn unweigerlich zwingen, demnächst in den Ruhestand zu treten. Er dachte an den Haßblick des Schwammigen. Es war der Haßblick einer neuen Generation, die ihre fanatische Entscheidung getroffen hatte und »Unsichere« wie ihn erbarmungslos auszurotten gedachte. Den rachsüchtigen Spittelberger beleidigt, den Schwammigen und die Jugend aufs Blut empört, sieh nur an, das genügt, damit alles zu Ende sei. Leonidas, der an demselben Morgen noch seine Laufbahn sich mit freudigem Erstaunen bewußt gemacht hatte, er gab sie nun um halb ein Uhr mittags kampflos und ohne Bedauern preis. Allzugroß war die Verwandlung, die der Rest dieses Tages forderte. Allzuschwer lastete die nächste Stunde der Beichte auf ihm. Doch es mußte sein.

Er stieg langsam die Treppen in das obere Stockwerk hinauf. Sein bauschiger Hausrock hing, wohlvorbereitet, über einem Stuhl wie immer. Er legte den grauen Sakko ab und wusch im Badezimmer ausführlich Gesicht und Hände. Dann erneuerte er mit Kamm und Bürste seinen genauen Scheitel. Während er dabei im Spiegel sein noch jugendlich dichtes Haar betrachtete, wandelte ihn eine höchst sonderbare Empfindung an. Er tat sich um dieser wohlerhaltenen so hübschen Jugendlichkeit willen selbst leid. Die unbegreifliche Parteilichkeit der Natur, die jenen Schläfer auf der Schönbrunner Parkbank mit Fünfzig zur Ruine verdammt, ihn aber mit Jugendfrische gesegnet hatte, sie schien ihm nun sinnlos verschwendet zu sein. Im Vollbesitz seines dichten weichen Haares und seiner rosigen Wangen wurde er aus der Bahn geworfen. Ihm wäre leichter ums Herz gewesen, hätte ihn aus dem Spiegel ein altes verwüstetes Gesicht angestarrt. So aber zeigten ihm die wohlbekannten liebwerten Züge, was alles verloren war, obgleich die Sonne noch so köstlich hoch stand ...

Die Hände auf dem Rücken, schlenderte er durch die Räume. In Amelies Ankleidezimmer blieb er witternd stehen. Diesen Teil des Hauses betrat er nur sehr selten. Das Parfüm, das Amelie zu benützen pflegte, schlug ihm matt entgegen, wie eine Anklage, die dadurch, daß sie ganz leise ist, doppelt wirkt. Der Duft fügte den Lasten seines Herzens eine neue hinzu. Nebengerüche von gebranntem Haar und Spiritus verschärften die Wehmut noch. Im Zimmer herrschte noch die leichte Unordnung, die Amelie zurückgelassen hatte. Mehrere Paare kleiner Schuhe standen betrübt durcheinander. Der Toilettentisch mit seinen vielen Fläschchen, Kristall-Flakons, Schälchen, Schächtelchen, Döschen, Scherchen, Feilchen, Pinselchen war nicht zusammengeräumt. Wie der Abdruck eines zärtlichen Körpers auf verlassenen Kissen, so schwebte Amelies Wesenheit im Raum. Auf dem Sekretär lagen neben Büchern, illustrierten Zeitschriften und Modeblättern ganze Haufen offener Briefe achtlos zur Schau. Es war verrückt, aber in dieser Minute sehnte sich Leonidas danach, daß Amelie ihm etwas angetan habe, daß er könnte einen fassungslosen Schmerz über eine Schuld empfinden, die ihr Gewissen niederzog, dem seinen jedoch die Unschuld beinahe wiedergab. Was er immer verabscheut hatte, tat er jetzt zum erstenmal. Er stürzte sich auf die offenen Briefe, wühlte erregt im kalten Papier, las eine Zeile hier, ein Sätzchen dort, verhaftete jede männliche Handschrift, fahndete verwirrt nach Beweisen der Untreue, ein unglaubwürdiger Schatzgräber seiner eigenen Schande. War es denkbar, daß Amelie ihm ein treues Weib geblieben, diese ganzen zwanzig Jahre lang, ihm, einem eitlen Feigling, dem ausdauerndsten aller Lügner, der unter dem gesprungenen Lack einer unechten Weitläufigkeit ewig den Harm seiner elenden Jugend verbarg? Nie hatte er den gottgewollten Abstand zwischen sich und ihr überwinden können, den Abstand zwischen einer geborenen Paradini und einem geborenen Dreckfresser. Nur er allein wußte, daß seine Sicherheit, seine lockere Haltung, seine lässige Elegance anderen abgeguckt war, eine mühsame Verstellung, die ihn nicht einmal während des Schlafes freigab. Mit Herzklopfen suchte er die Briefe des Mannes, die ihn zum Hahnrei machten. Was er fand, waren die reinsten Orgien der Harmlosigkeit, die ihn gutmütig verspotteten. Da riß er die Schubläden des zierlichen Schreibtisches auf. Ein holdes Chaos fraulicher Vergeßlichkeiten bot sich dar. Zwischen Sammet- und Seidenfetzen, echten und falschen Schmuckstücken, Galalithringen, einzelnen Handschuhen, versteinten Schokoladebonbons, Visitenkarten, Stoffblumen, Lippenstiften, Arzneischachteln lagen in verschnürten Bündeln alte Rechnungen, Bankausweise und wiederum Briefe, auch sie vor Unschuld ihn an- und auslachend. Zuletzt fiel ihm ein Kalenderbüchlein in die Hand. Er blätterte es auf. Er verletzte schamlos dieses Geheimnis. Flüchtige Eintragungen Amelies an gewissen Tagen: »Heute wieder einmal allein mit León! Endlich! Gott sei Dank!« – »Nach dem Theater eine wunderschöne Nacht. Wie einst im Mai, León entzückend.« In diesem Büchlein stand ein rührend genaues Kontokorrent ihrer Liebe verzeichnet. Die letzte Eintragung umfaßte mehrere Zeilen: »Finde León seit seinem Geburtstage etwas verändert. Er ist etwas verletzend galant, herablassend, dabei unaufmerksam. Das gefährliche Alter der Männer. Ich muß aufpassen. Nein! Ich glaube felsenfest an ihn.« – Das Wort »felsenfest« war dreimal unterstrichen.

Sie glaubte an ihn! Wie arglos war sie doch trotz ihrer Eifersucht. Seine absurde, schmutzige Hoffnungs-Angst hatte getrogen. Keine Schuld der Frau entlastete die seine. Sie legte vielmehr als das letzte und schwerste Gewicht ihren Glauben ihm auf die Seele. Ihm geschah recht. Leonidas setzte sich an dem Schreibtisch nieder und starrte gedankenlos auf die süße Unordnung, die er mit gemeiner Hand entweiht und vermehrt hatte.

Er fuhr nicht erschrocken auf, er blieb sitzen, als Amelie eintrat.

»Was tust du hier?« fragte sie. Die Schatten und Bläulichkeiten unter ihren Augen waren schärfer geworden. Leonidas zeigte keine Spur von Verlegenheit. Was für ein abgefeimter Lügner bin ich doch, dachte er, es gibt schließlich keine Situation, die mich aus dem Konzept bringt. Er wandte ihr ein müdes Gesicht zu:

»Ich habe bei dir ein Mittel gegen meine Kopfschmerzen gesucht. Aspirin oder Pyramidon ...«

»Die Schachtel mit dem Pyramidon liegt großmächtig vor dir ...«

»Mein Gott, und ich hab sie übersehn ...«

»Vielleicht hast du dich zuviel mit meiner Korrespondenz beschäftigt ... Mein Lieber, solange eine Frau so schlampig ist wie ich, hat sie gewiß nichts zu verheimlichen ...«

»Nein, Amelie, ich weiß wie du bist, ich glaube felsenfest an dich ...« Er stand auf, wollte ihre Hand ergreifen. Sie wich einen Schritt zurück und sagte, ziemlich betont:

»Es ist nicht besonders galant, wenn ein Mann seiner Frau allzu sicher ist ...«

Leonidas drückte die Fäuste gegen seine Schläfen. Die soeben erlogenen Kopfschmerzen hatten sich prompt eingestellt. Sie hat irgend etwas, witterte es in ihm. Schon heute am Morgen hatte sie irgend etwas. Und mittlerweile scheint es sich noch verdichtet zu haben. Wenn sie mir jetzt eine ihrer Szenen macht, wenn sie mich beleidigt und seckiert, dann wird mir das Geständnis leichter fallen. Wenn sie aber gut zu mir ist und liebevoll, dann weiß ich nicht, ob ich den Mut haben werde ... Zum Teufel, es gibt kein Wenn und Aber mehr, ich muß reden!

Amelie streifte ihre veilchenfarbenen Handschuhe von den Fingern, legte den sommerlich dünnen Breitschwanzmantel ab, dann nahm sie schweigend eine Pastille aus der Schachtel, ging in ihr Badezimmer und kam mit einem Glas Wasser zurück. Ach, sie ist gut zu mir. Leider! Während sie die Droge in einem Löffel auflöste, fragte sie:

»Hast du Ärger gehabt, heut?«

»Ja, ich hab Ärger gehabt. Im Amt.«

»Natürlich Spittelberger? Kann's mir denken.«

»Lassen wir das, Amelie ...«

»Schaut aus wie eine eingetrocknete Kröte vor dem Regen, dieser Vinzenz! Und der Herr Skutecky, dieser böhmische Dorfschullehrer! Was für ein Niveau das ist, das heute regieren darf ...«

»Die Fürsten und Grafen von ehemals haben zwar besser ausgesehen, aber noch schlechter regiert. Du bist eine unheilbare Ästhetin, Amelie ...«

»Du hast es nicht nötig, dich zu ärgern, León! Du brauchst diese ordinäre Gesellschaft nicht. Wirf's ihnen hin ...«

Sie führte den Löffel an seinen Mund, reichte ihm das Glas. Ihm wurde das Herz ganz schlapp vor jäher Wehmut. Er wollte sie an sich ziehen. Sie bog den Kopf zur Seite. Er merkte, daß sie heute mindestens zwei Stunden beim Friseur zugebracht haben mußte. Das wolkige Haar war untadelig gewellt und duftete wie die Liebe selbst. Es ist ein Wahnsinn, was habe ich mit dem Gespenst Vera Wormser zu schaffen? Amelie sah ihn streng an:

»Ich werde von nun an darauf bestehen, León, daß du dich täglich nach Tisch eine Stunde lang ausruhst. Du bist schließlich und endlich im gefährlichen Alter der Männer ...«

Leonidas klammerte sich an ihren Worten fest, als könnten sie ihm zur Verteidigung dienen:

»Du hast recht, Liebste ... Seit heute weiß ich, daß ein Fünfzigjähriger schon ein alter Mann ist ...«

»Idiot«, lachte sie nicht ohne Schärfe. »Mir wär vermutlich wohler, wenn du endlich ein älterer Herr wärst und nicht dieser ewige Jüngling, diese anerkannte Männerschönheit, die alle Weiber angaffen ...«

Der Gong rief zum Mahl. Es war unten in dem großen Speisezimmer ein kleiner runder Tisch zum Fenster gerückt. Die mächtige Familientafel in der Mitte des Raumes stand mit ihren zwölf hochlehnigen Stühlen leer und gestorben da, nein ärger, tot ohne gelebt zu haben. Leonidas und Amelie waren keine Familie. Sie saßen als Verbannte ihrer eigenen Familientafel gleichsam am Katzentisch der Kinderlosigkeit. Auch Amelie schien dieses Exil heute stärker zu fühlen als gestern und vorgestern und all die Tage und Jahre vorher, denn sie sagte:

»Wenn es dir recht ist, werd' ich von morgen ab oben im Wohnzimmer decken lassen ...«

Leonidas nickte zerstreut. All seine Sinne waren den ersten Worten der nahenden Beichte entgegen gespannt. Ein tollkühner Einfall durchzuckte ihn. Wie wäre es, wenn er im Zuge seiner großen Konfession, anstatt um Verzeihung zu betteln, über die Schnur haute und von Amelie glatt forderte, daß sie seinen Sohn im Hause aufnehme, damit er mit ihnen wohne und am gemeinsamen Tische speise. Ohne Zweifel, ein Kind von ihm und Vera mußte einige Qualitäten besitzen. Und würde ein junges glückliches Gesicht nicht das ganze Leben erhellen?

Das erste Gericht wurde aufgetragen. Leonidas häufte seinen Teller voll, legte aber schon beim dritten Bissen die Gabel hin. Der Diener hatte Amelie diese Schüssel gar nicht gereicht, sondern ein Gefäß mit rohen Selleriestangen neben ihr Gedeck gestellt. Auch an Stelle des zweiten Ganges bekam sie nur eine winzige, rasch abgebratene Kotelette, ohne jede Zutat und Würze. Leonidas sah ihr erstaunt zu:

»Bist du krank, Amelie, hast du keinen Appetit?«

Ihr Blick konnte eine höhnische Erbitterung nicht verleugnen:

»Ich sterbe vor Hunger«, sagte sie.

»Von dieser Spatzenration wirst du nicht satt werden.«

Sie stocherte im grünen Salat, der eigens für sie ohne Essig und Öl, nur mit ein paar Zitronentropfen angerichtet war:

»Fällt es dir erst heute auf«, fragte sie spitz, »daß ich wie eine Wüstenheilige lebe?«

Er gab ziemlich stumm und ungeschickt zurück:

»Und welches Himmelreich willst du dir dabei verdienen?«

Sie schob mit einer heftigen Ekelgeste den Salat von sich:

»Ein lächerliches Himmelreich, mein Lieber. Denn dir ist es ja vollkommen egal, wie ich aussehe ... Dir macht es nichts aus, ob ich eine mittelschwere Tonne bin oder eine Sylphide ...«

Leonidas, der seinen schlechten Tag hatte, verirrte sich weiter im Dickicht der Ungeschicklichkeit:

»Wie du bist, Liebling, bist du mir recht ... Du überschätzt meine Äußerlichkeit ... Um meinetwillen mußt du wahrhaftig nicht als Heilige leben ...«

Ihre Augen, die älter waren, als sie selbst, blitzten ihn an, füllten sich mit häßlichen, ja mit gemeinen Wallungen:

»Aha, also ich bin für dich schon jenseits von Gut und Böse. Mir kann nach deiner Ansicht nichts mehr helfen. Ich bin nichts andres mehr für dich als eine alte schlechte Gewohnheit, die du nur so weiter mitschleppst. Eine schlechte Gewohnheit, die aber ihre praktischen Seiten hat ...«

»Um Himmels willen, Amelie, überleg dir, was du da sprichst ...«

Amelie aber dachte nicht daran, sich zu überlegen, was sie sprach, nein, hervorsprudelte:

»Und ich dumme Gans hab mich vorhin beinah gefreut, als du so widerlich in meinen Briefen herumspioniert hast ... Er ist also doch eifersüchtig, hab ich gemeint ... Keine Spur ... Wahrscheinlich warst du auf wertvollere Dinge neugierig als auf Liebesbriefe, denn ausgesehen hast du so äquivok, daß ich erschrocken bin, so ... So wie ein Hochstapler, ein Gentleman-Betrüger, wie ein Dienstmädchenverführer am Sonntag ...«

»Danke«, sagte Leonidas und sah auf seinen Teller. Amelie aber konnte sich nicht länger beherrschen und brach in lautes Schluchzen aus. Da also wäre die Szene. Eine ganz sinnlose und empörende Szene. Noch nie im Leben hat sie eine ähnliche materielle Verdächtigung gegen mich ausgesprochen. Gegen mich, der ich doch immer auf strenger Sonderung bestanden habe, der ich das Zimmer verlasse, wenn sie ihre Bankiers und Advokaten empfängt. Und doch, sie schießt daneben und trifft zugleich ins Schwarze. Dienstmädchenverführer am Sonntag. Ihr Zorn macht es mir nicht leichter. Ich habe keine Möglichkeit, anzufangen ... Gequält erhob er sich, trat zu Amelie, nahm ihre Hand:

»Das dumme Zeug, das du da zusammengeschwätzt hast, will ich gar nicht verstehen ... Deine abscheuliche Kalorien-Fexerei wird dich noch nervenkrank machen ... Bitte, nimm dich jetzt zusammen ... Wir wollen vor den Leuten keine Komödie aufführen ...«

Diese Mahnung brachte sie zu sich. Jeden Augenblick konnte der Diener eintreten:

»Verzeih mir, León, ich bitte dich«, stammelte sie, noch immer schluchzend, »ich bin heut sehr elend, dieses Wetter, dieser Friseur und dann ...«

Sie war ihrer wieder mächtig, preßte das Taschentuch gegen die Augen, biß die Zähne zusammen. Der Diener, ein älterer Mann, brachte den schwarzen Kaffee, trug die Obstteller, die Fingerschalen ab und schien nichts bemerkt zu haben. Er hantierte mit ernster Teilnahmslosigkeit ziemlich lange herum. Indessen schwiegen beide. Als sie wieder allein waren, fragte Leonidas leichthin: »Hast du einen bestimmten Grund für dein Mißtrauen gegen mich?«

Während er mit atemlos lauernder Seele diese Frage stellte, hatte er die Empfindung, als werfe er ein Laufbrett über einen finsteren Spalt. Amelie sah ihn aus roten Augen verzweifelt an:

»Ja, ich habe einen bestimmten Grund, León ...«

»Und darf ich diesen Grund erfahren?«

»Ich weiß, du kannst mich nicht leiden, wenn ich dich ausfrag'. Also laß mich! Vielleicht komm' ich darüber hinweg ...«

»Wenn ich aber darüber nicht hinwegkomm'«, sagte er leise, doch jedes Wort betonend. Sie kämpfte noch eine ganze Weile mit sich selbst, dann senkte sie die Stirn:

»Du hast heut früh einen Brief bekommen ...«

»Ich habe elf Briefe bekommen heute früh ...«

»Aber einer war darunter von einer Frau ... So eine verstellte, verlogene Weiberschrift ...«

»Findest du diese Schrift wirklich so verlogen?« fragte Leonidas, holte mit sehr langsamen Händen seine Brieftasche hervor und entnahm ihr das Corpus delicti. Seinen Stuhl ein bißchen vom Tisch zum Fenster abrückend, ließ er das regnerische Licht auf Veras Brief fallen. Im Raum stand die Schicksalswaage still. Wie doch alles seinen ureigenen Weg geht! Man muß sich nicht sorgen. Nicht einmal improvisieren muß man. Alles kommt anders, aber es kommt von selbst. Unsre Zukunft wird davon abhängen, ob sie zwischen den Zeilen lesen kann. Plötzlich zum kühlen Beobachter geworden, reichte er Amelie mit ausgestreckter Hand das schmale Blatt hinüber.

Sie nahm's. Sie las. Sie las halblaut: »Sehr geehrter Herr Sektionschef!« Schon bei diesen Worten der Anrede bildete sich auf ihren Zügen eine Entspannung von solcher Ausdruckskraft, wie sie Leonidas an Amelie nie wahrgenommen zu haben vermeinte. Sie atmete hörbar auf. Dann las sie weiter, immer lauter:

»Ich bin gezwungen, mich heute mit einer Bitte an Sie zu wenden. Es handelt sich dabei nicht um mich, sondern um einen begabten jungen Mann ...«

Um einen begabten jungen Mann. Amelie legte das Blatt auf den Tisch, ohne weiter zu lesen. Sie schluchzte von neuem auf. Sie lachte. Lachen und Schluchzen gerieten durcheinander. Dann aber breitete sich das Lachen in ihr aus und erfüllte sie wie ein züngelndes Element. Jäh sprang sie auf, stürzte zu Leonidas, hockte sich zu seinen Füßen nieder, legte den Kopf auf seine Knie, Gebärde ihrer widerstandslosen hingegebenen Stunden. Da sie aber sehr groß war und lange Beine hatte, wirkte diese heftige Gebärde der Demütigung immer ein wenig erschreckend, ja erschütternd auf ihn.

»Wärst du jetzt ein primitiver Mann«, stammelte sie, »du müßtest mich schlagen oder würgen oder was weiß ich, denn ich habe dich so gehaßt, du mein Liebstes, wie ich noch nichts gehaßt hab. Sag kein Wort, um Gottes willen, laß mich beichten ...«

Er sagte kein Wort. Er ließ sie beichten. Er starrte auf das weich modellierte Blond ihres Haares. Sie aber, ohne ein einziges Mal aufzublicken, sprach hastig wie in die Erde hinein:

»Wenn man so beim Friseur sitzt, den Kopf unter der Nickelhaube, stundenlang, in den Ohren surrt's, die Luft wird immer heißer, jede Haarwurzel schreit vor Nervosität, wegen der Wasserwellen muß man das aushalten, abends die Oper, und bei diesem Wetter gehn die Haare immer wieder auf ... Ich habe mir die Bilder in der ›Vogue‹ und im ›Jardin des Modes‹ angeschaut, ohne das geringste zu sehen, nur um nicht verrückt zu werden, denn, du weißt, ich war unbeschreiblich überzeugt davon, du bist ein lebenslänglicher Schwindler, ein glatter Betrüger, wirklich so eine Art Dienstmädchenverführer am Sonntag, immer tip top, du glitschiger Aal, und mich hast du hereingelegt seit vollen zwanzig Jahren, durch ›Vorspiegelungen‹, nicht wahr, man nennt das so im Gerichtssaal, denn du hast mir seit dem Tag unsrer Verlobung vorgespielt, das zu sein, was du bist, und ich hab ein ganzes Leben gebraucht und meine Jugend verloren, um dir daraufzukommen, daß du eine Geliebte hast, namens Vera Wormser loco, denn ihren Brief hab ich auf dem Tisch gesehen, knapp eh du zum Frühstück gekommen bist, und es war wie eine fürchterliche Erleuchtung, und ich hab all meine Kraft zusammennehmen müssen, um den Brief nicht zu stehlen, es war aber unnötig, denn ich hab's doch durch die Erleuchtung sonnenklar gewußt, daß du so einer bist, der ein Doppelleben führt, man kennt das ja vom Film, und ihr habt eine gemeinsame Wohnung, einen idyllischen Haushalt, du und Vera Wormser loco, denn was weiß ich, was du in deiner Amtszeit tust und während der vielen Konferenzen bis tief in die Nacht, und Kinder habt ihr auch miteinander, zwei oder vielleicht sogar drei ... Und die Wohnung hab ich gesehn, auf mein Wort, irgendwo in Döbling, in der Nähe des Kuglerparks oder des Wertheimsteinparks, damit die Kinder immer frische Luft haben, ich war direkt drin in dieser anheimelnden Wohnung, die du dem Weib eingerichtet hast, und ich hab so manche Kleinigkeit wiedergefunden, die ich vermisse, und deine Kinder hab ich auch gesehn, richtig, es waren drei, so halbwüchsige Bankerte, widerliche, und sie sind um dich herumgesprungen und haben dich manchmal ›Onkel‹ genannt und manchmal ganz schamlos ›Papa‹ und du hast sie ihre Schulaufgaben abgehört und das Kleinste ist auf dir herumgeklettert, denn du warst ein glücklicher Papa, wie er im Buch steht. Und das alles hab ich erleben und erdulden müssen in meinem gefangenen Kopf unterm Ondulierhelm und ich durfte nicht davonlaufen, sondern mußte noch freundliche Antworten geben, wenn der seifige Patron kam, um mich zu unterhalten, Frau Sektionschef sehen blendend aus, werden Frau Sektionschef am Schönbrunner Kostümfest teilnehmen, als junge Kaiserin Maria Theresia müßte Frau Sektionschef erscheinen, im Reifrock und hoher weißer Perücke, keine Dame der Hocharistokratie kann mit Frau Sektionschef konkurrieren, der Herr Sektionschef wird begeistert sein – und ich konnte ihm nicht sagen, daß ich den Herrn Sektionschef gar nicht begeistern will, weil er ein Lump ist und ein glücklicher Papa in Döbling ... Sag kein Wort, laß mich beichten, denn das Schlimmste kommt erst. Ich habe dich nicht nur gehaßt, León, ich habe mich grauenhaft vor dir gefürchtet. Dein Doppelleben stand vor mir, wie, wie, ach ich weiß nicht wie, zugleich aber, León, war ich so ungeheuer sicher, wie ich's mir jetzt gar nicht mehr vorstellen kann, daß du mich umbringen willst, weil du mich ja auf alle Fälle loswerden mußt, denn die Vera Wormser darfst du nicht umbringen, sie ist die Mutter deiner Kinder, das sieht jeder ein, ich aber bin mit dir nur durch den Trauschein verbunden, durch ein Stück Papier, folglich wirst du mich umbringen, und du machst es äußerst geschickt, mit einem ganz langsamen Gift, in täglichen Dosen, am besten in den Salat getropft, wie man es von den Renaissancemenschen gelernt hat, den Borgias, usw. Man spürt fast gar nichts, wird aber blutarmer und bleichsüchtiger von Tag zu Tag, bis es aus ist. Oh, ich schwör dir's, León, ich habe mich im Sarg liegen sehn, wundervoll von dir aufgebahrt, und so jung war ich und entzückend mit meinen frisch gewellten Haaren, ganz in Weiß, fließender plissierter Crêpe de Chine, glaub aber ja nicht, daß ich das ironisch sage oder Witze mache, denn das Herz ist mir gebrochen, als ich zu spät und schon als Tote erkannt hab, daß mein Heißgeliebter, mein Heißgeglaubter ein heimtückischer Frauenmörder ist. Und dann sind sie alle gekommen, selbstverständlich, die Minister und der Bundespräsident und die Spitzen der Behörden und die Koryphäen der Gesellschaft, um dir ihr Beileid auszusprechen, und deine Haltung war gräßlich tadellos, denn du warst im Frack, wie das erste Mal, als wir uns begegnet sind, weißt du's noch, damals am Juristenball, und dann bist du neben dem Bundespräsidenten hinter meinem Sarg gegangen, nein geschritten, und hast der Vera Wormser zugezwinkert, die mit ihren Kindern auf einer Festtribüne zugeschaut hat ... So, und jetzt stell dir's nur vor, León, mit diesen Bildern im Kopf bin ich nach Hause gekommen und finde dich vor meinen Briefen, was noch nie in diesen zwanzig Jahren geschehen ist. Ich hab meinen Augen nicht getraut, und das war kein Hirngespinst mehr, denn du warst nicht du, sondern ein völlig Fremder, der Mann mit dem Doppelleben, der Gatte der anderen, der Gentleman-Schwindler, wenn er unbeobachtet ist. Ich weiß nicht, ob du mir wirst verzeihen können, aber in diesem Augenblick hat's wie der Blitz in mich eingeschlagen: Er will nichts andres, als sich nach meinem Tode das große Vermögen sichern. Ja, León, genau so hast du ausgeschaut, oben vor meinem Schreibtisch mit der offenen Schublade, wie ein ertappter Testamentsfälscher und Erbschaftsschnüffler. Und ich hab doch noch nie daran gedacht, ein Testament zu machen. Und alles gehört ja dir. Schweig! Laß mich das alles sagen, alles, alles! Nachher mußt du mich strafen, als mein harter Beichtvater. Gib mir eine fürchterliche Buße auf! Geh nächstens z. B. allein zur Anita Hojos, die in dich vernarrt ist und die du mit den Augen frißt. Ich werde geduldig zu Hause bleiben und dich nicht sekkieren, denn ich weiß natürlich ganz genau, daß nicht du schuldig bist an den greulichen Einbildungen des heutigen Vormittags, sondern ich allein und der Brief dieser unschuldigen Dame Wormser, eine antipathische Schrift hat sie übrigens. Der abgefeimteste Mann kann nie so, so, da gibt's kein Wort, so träumen wie ein Weib unterm Nickelhelm beim Friseur. Und dabei bin ich nicht einmal hysterisch und sogar ziemlich intelligent, du warst einmal der Ansicht. Du mußt mich verstehn, ich habe genau gewußt, daß du kein Doppelleben führen kannst und daß dich das Geld nie interessiert hat und daß du der vornehmste Mensch bist und ein anerkannter Jugenderzieher, und daß dich die ganze Welt verehrt und daß du hoch über mir stehst. Zugleich aber hab ich ganz genau gewußt, daß du ein verschlagener Betrüger bist und mein süßer, geliebter Giftmörder. Es war, glaub mir's, nicht Eifersucht, es kam wie von außen in mich, es war wie eine Inspiration. Und da hab ich dir ein Glas Wasser geholt und mit eigener Hand meinem Giftmörder das Pyramidon zum Schlucken gegeben und mein Herz hat geblutet vor Liebe und vor Abscheu, es ist wahr, Leon, als ich mich selbst geprüft hab ... So, jetzt hab ich dir alles, alles gebeichtet. Was da heut in mir vorgegangen ist, ich versteh's nicht. Kannst du mir's vielleicht erklären?«

Ohne aufzublicken, ohne Absatz und Punkt, und immer in die Erde hinein, so hatte Amelie ihre Beichte heruntergehastet, die Leier nur manchmal aus brennender Scham durch eine ironische Wendung unterbrechend. Niemals hatte Leonidas eine ähnliche Selbstentschleierung angehört, noch auch geahnt, daß diese Frau dazu fähig sei. Jetzt preßte sie ihr Gesicht gegen seine Knie, ungehemmt flossen ihre Tränen. Er begann das warme Naß durch den dünnen Stoff seiner Hose hindurch zu spüren. Es war unangenehm und sehr rührend zugleich. Du hast recht, mein Kind! Eine echte Eingebung war's, die dich heute am Morgen angefallen und den ganzen Vormittag nicht mehr losgelassen hat. Veras Brief hat dich inspiriert. Wie nah bist du um die Flamme der Wahrheit herumgeflattert! Deine Hellsicht kann ich dir nicht erklären. Das heißt, ich müßte jetzt endlich reden. Ich müßte anfangen: Du hast recht, mein Kind. So merkwürdig es ist, du hast eine echte Eingebung gehabt ... Aber kann ich jetzt so reden? Könnte ein weit charaktervollerer Mensch als ich jetzt so reden?

»Es ist wirklich nicht sehr hübsch von dir«, sagte er laut, »was sich da deine alte Eifersucht gegen mich zusammengeträumt hat. Aber als Pädagoge bin ich schließlich von Amts wegen ein bißchen Seelenkenner. Ich spür schon längst deinen gereizten Zustand. Wir leben bald zwanzig Jahre nebeneinander und haben nur ein einziges Mal eine längere Trennung erlitten, du und ich. Da kommen die unvermeidlichen Krisen, heut für den einen, morgen für den andern. Es war riesig moralisch von dir, daß du dein ehrenrühriges Unterbewußtsein gerade mir anvertraut hast. Ich beneide dich um deine Beichte. Denk dir aber, ich habe beinahe schon wieder vergessen, daß ich ein Giftmörder bin und ein Testamentsfälscher ...«

Die salbadernden Lügen gehen weiter. Nichts hab ich vergessen. Dienstmädchenverführer am Sonntag, das sitzt. – Amelie hob mit einem verklärt lauschenden Ausdruck ihr Gesicht:

»Ist es nicht komisch, daß man so unbeschreiblich glücklich ist, wenn man gebeichtet hat und Absolution erhält? Nun ist auf einmal alles weg ...«

Leonidas sah angestrengt zur Seite, während seine Hand ganz leicht ihr Haar streichelte:

»Ja, es ist wohl eine gewaltige Erleichterung, aus der Tiefe gebeichtet zu haben. Und dabei hast du nicht die leiseste Sünde begangen ...«

Amelie stutzte. Sie blickte ihn plötzlich kühl und forschend an:

»Warum bist du so schrecklich gut, so weise, so gleichgültig, so fern, der reinste tibetanische Mönch? Wär's nicht nobler, du würdest dich durch eine eigene schlimme Beichte revanchieren? ...«

Nobler wär es bestimmt, dachte er, und die Stille wurde sehr tief. Aber es kam nur ein unentschlossenes Räuspern aus seinem Mund. Amelie war aufgestanden. Sie puderte sich sorgfältig und schminkte die Lippen. Es war die weibliche Atempause, die einen erregenden Auftritt des Lebens beendet. Noch einmal streifte ihr Blick Veras Brief, den harmlosen Bittbrief, der auf dem Tisch lag:

»Sei nicht bös, León«, zögerte sie, »aber da ist noch eine Sache, die mich stört ... Warum trägst du von deiner ganzen heutigen Post gerade den Brief dieser wildfremden Person in deinem Portefeuille?«

»Die Dame ist mir nicht fremd«, erwiderte er ernst und knapp, »sie ist mir aus alter Zeit bekannt. Ich war in den traurigsten Tagen meines Lebens in ihrem Vaterhaus als Nachhilfslehrer angestellt ...«

Er nahm das Blatt mit einer harten, ja bösen Bewegung und legte es zurück in seine Brieftasche.

»Dann solltest du etwas für ihren begabten jungen Mann tun«, sagte Amelie, und eine versonnene Wärme stand in ihren April-Augen.


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