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Viertes Kapitel

Leonidas wirkt für seinen Sohn

Sogleich beim Eintritt in sein Büro erhielt Leonidas die Meldung, daß ihn der Herr Minister zehn Minuten nach elf Uhr im roten Salon erwarte. Der Sektionschef sah den Sekretär, der ihm diese Meldung überbrachte, sinnverloren an und gab keine Antwort. Nach einer kleinen, verwunderlichen Pause legte der junge Beamte mit behutsamem Nachdruck eine Mappe auf den Schreibtisch. Es werde sich bei der anberaumten Sitzung – so meinte er mit gebührender Bescheidenheit – voraussichtlich um die Neubesetzung der vakanten Lehrstühle an den Hochschulen handeln. In dieser Mappe finde der Herr Sektionschef das ganze Material in gewohnter Ordnung.

»Ergebensten Dank, mein Lieber«, sagte Leonidas, ohne die Mappe eines Blickes zu würdigen. Zögernd verschwand der Sekretär. Er hatte erwartet, sein Chef werde wie sonst in seiner Gegenwart das Dossier durchblättern, gewisse Fragen stellen und Notizen machen, um nicht unvorbereitet beim Minister zum Vortrag zu erscheinen. Leonidas aber dachte heute nicht daran.

Gleich den anderen höchsten Beamten des Staates hegte der Sektionschef keine besondere Hochachtung für die Herren Minister. Diese wechselten nämlich je nach Maßgabe des politischen Kräftespiels, er aber und seine Kollegen blieben. Die Minister wurden von den Parteien empor- und wieder davongespült, luftschnappende Schwimmer zumeist, die sich verzweifelt an die Planken der Macht klammerten. Sie besaßen keinen rechten Einblick in die Labyrinthe des Geschäftsganges, keinen Feinsinn für die heiligen Spielregeln des bürokratischen Selbstzwecks. Sie waren nur allzuhäufig wohlfeile Simplisten, die nichts andres gelernt hatten, als in Massenversammlungen ihre ordinären Stimmen anzustrengen und durch die Hintertüren der Ämter lästige Interventionen für ihre Parteigenossen und deren Familienanhang auszuüben. Leonidas aber und seinesgleichen hatten das Regieren gelernt wie Musiker den Kontrapunkt lernen in jahrelang unablässiger Übung. Sie besaßen ein nervöses Fingerspitzengefühl für die tausend Nuancen des Verwaltens und Entscheidens. Die Minister spielten (in ihren Augen) nur die Rolle politischer Hampelmänner, mochten sie dem Zeitstil gemäß auch noch so diktatorisch einhertreten. Sie aber, die Ressortchefs, warfen ihren unbeweglichen Schatten über diese Tyrannen. Welches Partei-Spülicht auch die Ämter überschwemmte, sie hielten die Fäden in der Hand. Man brauchte sie. Mit dem preziösen Hochmut von Mandarinen blieben sie bescheiden im Hintergrund. Sie verachteten die Öffentlichkeit, die Zeitung, die persönliche Reklame jener Tageshelden – und Leonidas noch mehr als alle andern, denn er war reich und unabhängig.

Er schob die Mappe weit von sich, sprang auf und begann in seinem großen Arbeitszimmer mit starken Schritten hin- und herzugehen. Welche Kräfte strömten doch von diesem sachlichen Raum auf seine Seele über! Hier war sein Reich, hier und nicht in Amelies luxuriösem Haus. Der mächtige Schreibtisch mit seiner vornehmen Leere, die beiden roten Klubfauteuils mit ihrem verwetzten Leder, das Bücherbord, wo er die griechisch-römischen Klassiker und die philologischen Zeitschriften seines Vaters eingestellt hatte, Gott weiß warum, die Aktenschränke, die hohen Fenster, der Kaminsims mit der vergoldeten Stehuhr aus der Kongreßzeit, an der Wand die völlig nachgedunkelten Bilder irgendwelcher verschollener Erzherzöge und Minister – all diese abgenützten, persönlichkeitslosen Gegenstände aus dem »Hofmobiliendepot« waren wie Stützen, die seinen wankenden Gefühlen Halt verliehen. Er atmete sich voll mit der schlecht abgestaubten Würde dieses Raums. Sein Entschluß war unwiderruflich gefaßt. Noch heute wollte er seiner Frau die volle Wahrheit bekennen. Ja! Bei Tisch! Am besten während des süßen Gangs oder zum schwarzen Kaffee. Wie ein Politiker, der eine Rede vorbereitet, hörte er sich mit seinem inneren Ohr:

– Wenn es dir recht ist, lieber Schatz, so bleiben wir noch einen Augenblick sitzen. Erschrick nicht, ich habe etwas auf dem Herzen, das mich seit vielen Jahren bedrückt. Bis zum heutigen Tage hab ich einfach nicht den Mut gehabt, du kennst mich ja, Amelie, ich ertrage alles, nur keine Katastrophen, keine Gefühlsstürme und Szenen, ich kann's nicht ertragen, dich leiden zu sehn ... Ich liebe dich heute, wie ich dich immer geliebt hab, und ich habe dich immer geliebt, wie ich dich heute liebe. Unsre Ehe ist das Heiligtum meines Lebens, du weißt, daß ich ungern pathetisch werde. Ich hoffe, daß ich mir in meiner Liebe nur wenig habe zuschulden kommen lassen. Das heißt, diese eine, einzige, sehr große Schuld ist da. Es steht bei dir, mich zu strafen, mich sehr hart zu strafen. Ich bin auf alles gefaßt, liebste Amelie, ich werde mich deinem Urteil bedingungslos beugen, ich werde auch unser, das heißt dein Haus verlassen, wenn du es befiehlst, und mir irgendwo in deiner Nähe eine ganz kleine Wohnung suchen. Aber bedenke doch, ehe du urteilst, ich bitte dich, daß meine Schuld mindestens achtzehn Jahre zurückliegt und daß keine Zelle unsres Körpers, keine Regung unsrer Seele mehr dieselbe ist wie damals. Ich will nichts schönfärben, aber ich weiß es heute, daß ich während unsrer unseligen Trennung dich nicht so sehr betrogen wie unter einem Teufelszwang gehandelt habe. Glaub es mir! Ist unsre so lange glückliche Ehe nicht der lebendige Beweis? Weißt du, daß wir in fünf, sechs Jahren, wenn du es willst, die silberne Hochzeit feiern werden? Leider Gottes aber hat meine unbegreifliche Verirrung Folgen gehabt. Es ist ein Kind da, das heißt ein junger Mann von siebzehn Jahren. Erst heute habe ich's erfahren. Ich schwöre dir. Bitte kein unüberlegtes Wort jetzt, Amelie, keine voreiligen zornigen Entscheidungen. Ich gehe jetzt aus dem Zimmer. Ich lasse dich allein. Damit du ruhig nachdenken kannst. Was du auch über mich beschließen wirst, ich werde mich dieses jungen Mannes annehmen müssen. –

Das ist nichts! Das ist weichlich und jämmerlich! Ich muß sparsamer reden, kantiger, männlicher, ohne Umschweife und Hinterhalte, nicht so feig, so bettelhaft, so sentimental. Immer wieder kommt bei mir diese alte ekelhafte Sentimentalität an die Oberfläche. Amelie darf keinen Augenblick Glaubens sein, sie könne mich durch Verbannung am härtesten strafen und ich sei in meiner Verwöhntheit, Bequemlichkeit, Verweichlichung rettungslos abhängig von ihrem Gelde. Sie darf sich um Himmels willen nicht einbilden, ich würde mich ohne unser Haus, unsre beiden Wagen, unsre Dienerschaft, unsre zarte Küche, unsre Geselligkeit, unsre Reisen ganz und gar verloren fühlen, obwohl ich mich wahrscheinlich ohne diesen verflucht angenehmen Embarras wirklich verloren fühlen werde.

Leonidas suchte eine neue knappe Formulierung für seine Beichte. Wiederum mißlang's. Als er bei der vierten Fassung hielt, schlug er plötzlich wütend die Faust auf den Tisch. Scheußliche Sucht des Beamten, alles zu motivieren, alles zu unterbauen! Lag nicht das wahre Leben im Unvorhergesehenen, in der Eingebung der Sekunde? Hatte er, auf den Grund verderbt durch Erfolg und Wohlergehen, schon mit fünfzig Jahren verlernt, wahr zu leben? Der Sekretär klopfte. Elf Uhr! Es war Zeit. Leonidas packte mit einem ungnädigen Ruck die Mappe, verließ sein Büro und schritt schallend durch die langen Gänge des alten Palastes und über die prächtige Freitreppe in das Reich des Ministers hinab.

 

Der rote Salon war ein ziemlich kleiner, muffiger Raum, den der grüne Beratungstisch fast zur Gänze ausfüllte. Hier wurden zumeist die intimeren Sitzungen des Ministeriums abgehalten. Vier Herren waren bereits versammelt. Mit seinem stereotypen Lächeln (begeistert-mokant) begrüßte sie Leonidas. Da war zuvörderst der »Präsidialist«, der Kabinettschef des Hauses, Jaroslav Skutecky, ein Mann Mitte Sechzig, der einzige, der im Rangalter über Leonidas stand. Skutecky erschien mit seinem altertümlichen Gehrock, seinem eisengrauen Spitzbart, seinen roten Händen, seiner harten Aussprache als der reine Gegensatz des Sektionschefs, dieses Mannes nach der Mode. Er setzte soeben, nicht ohne eine gewisse Leidenschaftlichkeit, zwei jüngeren Ministerialräten und dem rothaarigen Professor Schummerer auseinander, wie glänzend er in diesem Jahre seinen Sommerurlaub eingerichtet hatte. Mit der ganzen Familie, »leider siebenköpfig«, wie er immer wieder betonte:

»Am schönsten See des Landes, ich bitte, am Fuße unsres imposantesten Gebirgsstockes, ich bitte, der Ort wie ein Schmuckkästchen, keine Elegance, aber Saft und Kraft, mit Freibad und Tanzgelegenheit für die liebe Jugend, mit Autobus in jede Richtung, ich bitte, und mit gepflegten Promenaden für Gicht und Angina pectoris. Drei prima Zimmer im Gasthof, kein Luxus, aber Wasser, fließend, kalt und warm, und alles, was man sonst noch braucht. Den Kostenpunkt werden die Herren nicht erraten. Sage und schreibe fünf Schilling pro Kopf. Das Essen, ich bitte, brillant, üppig, mittags à drei Gänge, abends à vier Gänge. Hören Sie: Eine Suppe, eine Vorspeise, Braten mit zwei Gemüsen, eine Nachspeise, Käse, Obst, alles mit Butter oder bestem Fett zubereitet, auf mein Wort, ich übertreibe nicht ...«

Dieser Hymnus wurde dann und wann durch die zustimmend grunzende Bewunderung der Hörer unterbrochen, wobei sich ein jüngeres schwammiges Gesicht mit einer Stupsnase rühmlich hervortat. Leonidas aber trat ans Fenster und starrte auf das ernste vergeisterte Gemäuer der gotischen Minoritenkirche, die dem Palais des Ministeriums gegenüber lag. Dank Amelie, dank seiner Kinderlosigkeit, hatte er es nicht notwendig gehabt, in der grenzenlosen Banalität des kleinbürgerlichen Lebens zu versinken wie dieser alte Skutecky und all die anderen Kollegen, die ihre bevorzugte Stellung durch äußerst magere Bezüge abbüßten. (Der Beamte hat nichts, das aber hat er sicher, sagt der Wiener Komödiendichter.) Leonidas berührte mit der Stirn das kalte Fensterglas. An die linke Flanke der geduckten Kirche schmiegte sich ein zausiges Vorgärtlein, aus dessen Rasen ein paar ziemlich verhungerte Akazienbäume emporwuchsen. Die regungslosen Blätter schienen der Natur aus Wachs täuschend nachgebildet zu sein. Der schöne Platz glich heute dem dumpfen Lichtschacht einer Mietskaserne. Den Himmel sah man nicht. Es wurde immer dunkler im Zimmer. Leonidas war so tief in der Leere seiner Verstörtheit versunken, daß er das Erscheinen des Ministers gar nicht bemerkt hatte. Ihn weckte erst die hohe, ein wenig belegte Stimme dieses Vinzenz Spittelberger:

»Grüß Gott die Herren alle miteinand', Servus, Servus ...«

Der Minister war ein kleiner Mann in einem verdrückten und zerknitterten Anzug, der den Verdacht erregte, sein Träger habe mehrere Nächte in ihm schlafend zugebracht. Alles an diesem Spittelberger war grau und wirkte sonderbar ausgewaschen. Die Haare, die in Bürstenform in die Höhe standen, die schlecht rasierten Backen, die stark vorgewölbten Lippen, die Augen, die exzentrisch schielten – man nannte das hierzulande »himmeln« –, ja selbst der Spitzbauch, der unvermittelt und unbegründet unter dem bescheidenen Brustkasten vorsprang. Der Mann stammte aus einem der Alpenländer, nannte sich selbst in jedem zweiten Satz einen Bauern, war's aber keineswegs, sondern hatte sein ganzes Leben in großen Städten zugebracht, zwanzig davon in der Hauptstadt, als Lehrer und zuletzt Direktor einer Fortbildungsschule. Spittelberger machte den Eindruck eines tagblinden Tieres. Der altmodisch-eigensinnige Klemmer vor seinen himmelnden Augen schien diesen nicht zum Sehen zu verhelfen. Sogleich, nachdem er den Präsidentensitz an dem Beratungstisch eingenommen hatte, sank sein großer Kopf voll gleichgültigen Lauschens gegen die rechte Schulter. Die Beamten wußten, daß der Minister in den letzten Tagen eine Reihe von politischen Versammlungen im ganzen Lande abgehalten hatte und erst am frühen Morgen mit dem Nachtzug aus einer entfernten Provinz angekommen war. Spittelbergers Natur stand im Rufe einer stets schlafbedürftigen Unverwüstlichkeit:

»Ich habe die Herren hierher gebeten«, begann er mit heiserer Eiligkeit, »weil ich beim morgigen Ministerrat die Sache mit den Berufungen gern unter Dach und Fach bringen möchte. Die Herren kennen mich. Ich bin expeditiv. Also, lieber Skutecky, wenn ich bitten darf ...«

Er lud mit einer halben, fast wegwerfenden Geste die Beamten zum Sitzen ein, zog aber den Professor Schummerer auf den Platz zu seiner Rechten. Der Rothaarige spielte die Rolle eines Vertrauensmannes der Universität beim Ministerium und galt überdies als besonderer Günstling Spittelbergers, dieser »politischen Sphinx«, wie einige den Minister bezeichneten. Zum Ärger des Sektionschefs Leonidas tauchte Schummerer stets gegen Mittag im Hause auf, trieb sich schlurfenden Ganges in den verschiedenen Büros umher, hielt die Arbeit auf, indem er den akademischen Klatsch hinterbrachte und im Austausch dafür den politischen Klatsch einhandelte. Er war Prähistoriker von Fach. Seine Geschichtswissenschaft begann genau dort, wo das geschichtliche Wissen zu Ende ist. Sein Forschergeist fischte gewissermaßen im Trüben. Schummerers Neugier aber galt nicht nur der vergangenen, sondern nicht minder der gegenwärtigen Steinzeit. Er besaß das feinste Ohr für das verschlungene Hin und Her der Beziehungen, Einflüsse, Sympathien und Intrigen. Wie an einem Barometer konnte man an seinem Gesicht die Schwankungen des politischen Wetters ablesen. Auf welche Seite er sich neigte, dort war zuversichtlich die Macht von morgen ...

»Der Herr Sektionschef wird die Güte haben ...« sagte der alte Skutecky mit harter Aussprache und blickte verlangend auf die Mappe, die vor Leonidas lag.

»Ach so«, räusperte sich dieser, öffnete die Mappe und begann mit seiner in fünfundzwanzig Jahren erworbenen technischen Gewandtheit den Vortrag. Sechs Lehrstühle mußten an den verschiedenen Hochschulen des Landes neu besetzt werden. In der Reihenfolge und nach den Angaben der vor ihm liegenden Aufzeichnungen berichtete der Sektionschef über die einzelnen Gelehrten, die in Vorschlag gebracht worden waren. Er tat dies mit einem völlig gespaltenen Bewußtsein. Seine Stimme ging wunderlich neben ihm einher. Tiefes Schweigen herrschte. Keiner der Herren erhob einen Einwand gegen die Kandidaten. Jedesmal, wenn ein Fall erledigt war, reichte Leonidas das betreffende Blatt dem jungen Beamten mit dem schwammigen Gesicht, der dienstfertig hinter dem Minister stand und es behutsam in dessen großer Aktentasche versorgte. Vinzenz Spittelberger selbst jedoch hatte seinen Klemmer auf den Tisch gelegt und schlief. Er sammelte Schlaf, wo und wie er nur konnte, besser, er hamsterte Schlaf. Hier ein halbes Stündchen, dort zehn Minuten, zusammen ergab's doch eine hübsche Summe, die man ohne wesentlichen Fehlbetrag der Nacht entziehen konnte. Die Nacht aber brauchte man für Freunde, für den Dienst an diesem oder jenem Stammtisch, für Aufarbeitung von Rückständen, für Reisen und vor allem für die große Wollust der Verschwörungen. In der geselligen Nacht keimt das am Tage Gepflanzte, der zarte Schößling der Intrige. Auch ein Politiker in Amt und Würden kann daher auf die Nacht nicht verzichten, die ein zigeunerhaftes, aber produktives Element ist. Heute spielt man noch den Fachminister. Morgen aber wird man vielleicht die ganze Macht im Staate an sich reißen, wenn man die Zeichen der Zeit richtig verstanden, erkannt und sich nach keiner Seite hin unvorsichtig gebunden hat. Spittelberger schlief einen eigenartigen Schlaf, der wie ein Vorhang voll von Löchern und Rissen war, ohne darum weniger zu erquicken. Dahinter lauerte der Schläfer, jeden Augenblick auf dem Sprung, hervorzufahren und zuzupacken.

Zwanzig Minuten hatte Leonidas bereits gesprochen, indem er die Lebensläufe, die Taten und Werke der zu berufenden Professoren verlas und aus den vorliegenden Berichten eine Charakteristik ihres politischen und bürgerlichen Wohlverhaltens zusammenstellte. Seine Stimme huschte angenehm, leise und flüchtig dahin. Niemand merkte, daß sie gleichsam auf eigene Rechnung und Gefahr handelte und sich vom Geiste des Sprechers getrennt hatte. Soeben wanderte das Vormerkblatt des fünften Weisen in die Hand des Schwammigen. Es war so finster geworden, daß jemand die Deckenbeleuchtung einschaltete.

»Ich komme nun zu unserer medizinischen Fakultät«, sagte die angenehme Stimme und machte eine bedeutsame Pause. »Der Ordinarius für Innere Medizin, Herr Minister«, mahnte jetzt Skutecky, mit einem leicht erhobenen, fast frommen Ton, als befinde man sich in einer Kirche. Diese Form des Weckens wäre aber durchaus nicht nötig gewesen, denn Spittelberger hatte seine verwaschenen Augen längst aufgeschlagen und himmelte ohne eine Spur von Verwirrung oder Schlaftrunkenheit im Kreise umher. Dieser Schlafkünstler hätte ohne Zweifel die Namen und Eigenschaften der fünf bisher verhandelten Kandidaten fehlerlos aufzählen können, besser jedenfalls als Leonidas.

»Die Medizin«, lachte er, »da muß man aufpassen. Die interessiert das Volk. Sie ist der Übergang von der Wissenschaft zur Wahrsagerei. Ich bin nur ein einfacher Mensch, ein harmloser Bauer, wie die Herren ja wissen, darum geh ich lieber gleich zum Dürrkräutler, zum Wunderdoktor oder zum Bader, wenn mir etwas fehlt. Es fehlt mir aber nichts ...«

Schummerer, der Prähistoriker, kicherte mit gefälliger Übertriebenheit. Er wußte, wie sehr Vinzenz Spittelberger auf dergleichen Humor eingebildet war. Auch Skutecky, vom untergebenen Schmunzeln der jüngeren Herren unterstützt, erging sich in einem: »Glänzend das ...« Und er fügte schnell hinzu:

»Da werden Herr Minister also auf den Vorschlag Professor Lichtl zurückgreifen ...«

Einmal im Schuß seiner anerkannten Witzigkeit, grinste Spittelberger und sog hörbar den Speichel ein:

»Habt ihr kein größeres Kirchenlichtl auf Lager als diesen Lichtl? Wenn ich ihn brauchen kann, werd' ich den Teufel zum Ordinarius für Innere Medizin machen ...«

Leonidas starrte inzwischen teilnahmslos auf die wenigen Blätter, die noch vor ihm lagen. Er las den Namen des berühmten Herzspezialisten: Professor Alexander Bloch. Seine eigene Hand hatte über diesen Namen mit Rotstift das Wort »Unmöglich« geschrieben. Die Luft war dick von Zigarettenrauch und Dämmerung. Man konnte kaum atmen.

»Die Fakultät und der akademische Senat haben sich voll und ganz für Lichtl ausgesprochen«, bekräftigte Schummerer Skuteckys Anregung und nickte siegesgewiß. Da aber erhob sich die Stimme des Sektionschefs Leonidas und sagte: »Unmöglich.«

Alles blickte jäh auf. Spittelbergers von Natur übernächtigtes Gesicht blinzelte gespannt. »Wie bitte?« fragte hart der alte Präsidialist, der seinen Kollegen mißverstanden zu haben glaubte, hatte er doch gestern erst mit ihm über diesen heiklen Fall gesprochen und daß es in heutiger Zeit nicht angehe, dem Professor Alexander Bloch, möge er auch die größte Kapazität sein, einen so wichtigen Lehrstuhl anzuvertrauen. Der Kollege war vollinhaltlich derselben Ansicht gewesen und hatte überdies aus seiner Abneigung gegen Professor Bloch samt dessen wohlbekanntem Anhang keinen Hehl gemacht. Und jetzt? Die Herren waren verwundert, ja bestürzt über dieses auffallend dramatische »Unmöglich«, Leonidas nicht zuletzt. Während seine Stimme nun den Einwurf gelassen begründete, erkannte die andere Person in ihm, beinahe amüsiert: Ich bin mir gänzlich untreu geworden und beginne hiermit bereits für meinen Sohn zu wirken ... »Ich will dem Professor Lichtl nicht nahetreten«, sagte er laut, »er mag ein guter Arzt und Lehrer sein, er war bisher nur in der Provinz tätig, seine Publikationen sind nicht sehr zahlreich, man weiß nicht viel von ihm. Professor Bloch aber ist weltberühmt, Nobelpreisträger für Medizin, Ehrendoktor von acht europäischen und amerikanischen Universitäten. Er ist ein Arzt der Könige und Staatsoberhäupter. Erst vor einigen Wochen hat man ihn nach London in den Buckingham-Palast zum Konsilium berufen. Er zieht alljährlich die reichsten Patienten nach Wien, argentinische Nabobs und indische Maharadschas. Ein kleines Land wie das unsrige kann es sich nicht leisten, eine solche Größe zu übergehen und zu kränken. Durch diese Kränkung würden wir außerdem noch die öffentliche Meinung des ganzen Westens gegen uns aufbringen ...«

Ein Schatten von Spott flog über den Mund des Sprechers. Er dachte daran, daß er jüngst bei einem glänzenden Gesellschaftsabend über den »Fall Bloch« befragt worden war. Dieselben von ihm soeben gebrauchten Argumente hatte er bei dieser Gelegenheit auf das entschiedenste abgewehrt. Derartige internationale Erfolge wie bei Bloch und Konsorten seien nicht auf wirklichen Werten und Leistungen gegründet, sondern auf der wechselseitigen Förderung der Israeliten in der Welt, auf der ihr hörigen Presse und auf dem bekannten Schneeballsystem unerschrockener Reklame. Dies waren nicht nur seine Worte gewesen, ausdrücklich, sondern auch seine Überzeugung.

Der Prähistoriker wischte sich betreten die Stirn: »Schön und gut, verehrter Herr Sektionschef ... Leider aber ist das Privatleben dieses Herrn nicht einwandfrei. Die Herren wissen, ein enragierter Spieler, Nacht für Nacht, Poker und Baccarat. Es geht dabei um die größten Summen. Darüber besitzen wir einen geheimen Polizeibericht. Und Honorare versteht dieser Herr einzukassieren, Prost Mahlzeit, das ist bekannt. Zweihundert bis tausend Schilling, eine einzige Untersuchung. Ein Herz hat er nur für Glaubensgenossen, das versteht sich, die behandelt er gratis, besonders dann, wenn sie noch im Kaftan in die Ordination kommen ... Ich glaube meinerseits, ein kleines Land wie das unsre kann es sich nicht leisten, einen Abraham Bloch ...«

Hier nahm der alte Skutecky dem allzu eifernden Vorgeschichtler das Wort ab. Er tat es mit einem nachsichtigen und völlig objektiven Tonfall:

»Ich bitte zu bedenken, daß Professor Alexander Bloch schon siebenundsechzig Jahre alt ist und daß er somit nur mehr zwei Jahre Lehrtätigkeit vor sich hat, wenn man das Ehrenjahr nicht einrechnet.«

Leonidas, unhaltbar auf der schiefen Ebene, konnte es nicht unterlassen, ein Scherzwort zu zitieren, das in gewissen Kreisen der Stadt im Schwange war:

»Jawohl, meine Herren! Früher war er zu jung für ein Ordinariat. Jetzt ist er zu alt. Und zwischendurch hatte er das Pech, Abraham Bloch zu heißen...«

Niemand lachte. Die gerunzelten Mienen von Rätsellösern betrachteten streng den Abtrünnigen. Was war hier vorgegangen? Welche dunklen Einflüsse mischten sich ins Spiel? Natürlich! Der Mann einer Paradini! Mit soviel Geld und Beziehungen gesegnet, darf man sichs herausnehmen, gegen den Strom zu schwimmen. Die Paradinis gehörten zur internationalen Gesellschaft. Aha, daher weht der Wind! Dieser Abraham Bloch setzt wahrhaftig Himmel und Hölle in Bewegung, und dazu vermutlich noch das englische Königshaus. Machenschaften der Freimaurerei und des goldenen Weltklüngels, während unsereins nicht weiß, wo das Geld für einen neuen Anzug hernehmen ...

Der rothaarige Zwischenträger schneuzte hierauf seine poröse Nase und betrachtete nachdenklich das Resultat:

»Unser großer Nachbar«, meinte er schwermütig und drohend zugleich, »hat die Hochschulen radikal von allen artfremden Elementen gesäubert. Wenn ein Bloch bei uns eine Lehrkanzel erhält, und gar die für Innere Medizin, dann ist das eine Demonstration, ein Faustschlag ins Gesicht des Reiches, das gebe ich dem Herrn Minister zu bedenken ... Und wir wollen doch, um unsre Unabhängigkeit zu verteidigen, diesen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen, nicht wahr ...«

Das Gleichnis von dem Winde, den man dem künftigen Steuermann aus den Segeln nehmen wollte, war recht beliebt in diesen Tagen. Jemand sagte: »Sehr richtig!« Der schwammige Subalterne hinter dem Stuhl des Ministers hatte sich zu diesem Zwischenruf hinreißen lassen. Leonidas faßte ihn scharf ins Auge. Der Beamte gehörte einer Abteilung an, mit welcher der Sektionschef nur selten in Berührung kam. Der unberechenbare Spittelberger aber hatte ihn unter seine Günstlingschaft aufgenommen, weshalb er auch der gegenwärtigen Beratung zugezogen worden war. Der wasserhelle Blick des Feisten strahlte solch einen Haß aus, daß Leonidas ihm kaum standhalten konnte. Der bloße Name »Abraham Bloch« hatte genügt, dieses phlegmatisch breite Gesicht mit Zornesröte zu entflammen. Aus welchen Quellen sammelte sich dieser überschwengliche Haß? Und warum wandte er sich mit dieser frechen Offenheit gegen ihn, den erprobtesten Mann in diesem Hause, der auf fünfundzwanzig ehrenvolle Dienstjahre zurückblicken durfte? Er persönlich hatte doch niemals die geringste Vorliebe für Typen wie Professor Bloch gezeigt. Ganz im Gegenteil! Er hatte sie gemieden, wenn nicht streng abgelehnt. Nun aber sah er sich auf einmal – es ging nicht mit rechten Dingen zu – in diese verdächtige Gemeinschaft verstrickt. Das alles hatte er dem diabolischen Brief Vera Wormsers zu verdanken. Die sicheren Grundlagen seiner Existenz schienen umgestürzt. Er fand sich gezwungen, die Kandidatur eines medizinischen Modegötzen gegen seine Überzeugung zu vertreten. Und jetzt mußte er zu allem noch die unverfrorenen Bemerkungen und die schamlosen Blicke dieses breiigen Laffen hinnehmen, als wäre er nicht nur Blochs Verteidiger, sondern schon Bloch selbst. So schnell war das gegangen. Leonidas senkte als erster die Augen vor diesem Feinde, der ihm urplötzlich erstanden war. Da erst fühlte er, daß ihn Spittelberger hinter seinem schiefen Klemmer höchst aufmerksam anstarrte:

»Sie haben Ihren Standpunkt auffällig geändert, Herr Sektionschef ...«

»Ja, Herr Minister, ich habe meinen Standpunkt in dieser Frage geändert ...«

»In der Politik, lieber Freund, ist es manchmal ganz gut, wenn man Ärger erregt. Es kommt nur darauf an, wen man ärgert ...«

»Ich habe nicht die Ehre, ein Politiker zu sein, Herr Minister. Ich diene nach bestem Gewissen dem Staate ...«

Eine frostige Pause. Skutecky und die andern Beamten verkrochen sich in ihr Inneres. Spittelberger aber schien den pikierten Satz durchaus nicht krumm zu nehmen. Er zeigte seine schlechten Zähne und erklärte gutmütig:

»No, no, ich habe das nur als einfacher Mensch gesagt, als ein alter Bauer ...«

Keinen Menschen gab's auf der weiten Welt – wie spürte es Leonidas jetzt –, der weniger einfach, der verzwickter und vertrackter gewesen wäre als dieser ›alte Bauer‹. Fühlbar rasten hinter der lautlosen Stirn des borstigen Dickschädels in vielen übereinandergebauten Stockwerken die Hochbahn- und Untergrundbahnzüge seiner unermüdlichen Zielstrebigkeit. Spittelbergers elektrischer Opportunismus stand wie ein Wolkengebilde im Raum, quälender jetzt als Schummerers und des Schwammigen Feindseligkeit. Die letzte atembare Luft ging aus.

»Herr Minister gestatten«, schnappte Leonidas und riß ein Fenster auf. In demselben Augenblick brach der Platzregen los. Eine schraffierte Wassermauer verbaute die Welt. Man sah die Minoritenkirche nicht mehr. Der Lärm einer Kavallerieattacke knatterte über Dächer und Pflaster. Inmitten des Riesengebäudes aus Regen vergrollte ein Donner, dem kein Blitz vorgegangen war.

»Das war höchste Zeit«, sagte Skutecky mit harter Aussprache. Spittelberger hatte sich erhoben und kam, die linke Schulter hochgezogen, beide Hände in den Taschen der zerknitterten Hose, schleppenden Ganges auf Leonidas zu. Jetzt glich er wirklich einem Bauern, der beim Wochenmarkt seine Kuh über den Preis loszuschlagen trachtet:

»Wie wär's, Herr Sektionschef, wenn wir diesem Bloch das große goldne Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft verleihen lassen und den Titel eines Hofrates dazu ...«

Dieser Vorschlag bewies, daß der Minister seinen Sektionschef nicht für einen bürokratischen Handlanger hielt wie den braven Jaroslav Skutecky, sondern für eine einflußreiche Persönlichkeit, hinter der sich undurchsichtige Mächte verbargen, die nicht verletzt werden durften. Die Lösung des Problems war Spittelbergers würdig. Eine Lehrkanzel und Kritik, sie bedeuten eine reale Machtstellung und sollen daher der bodenständigen Wissenschaft nicht entzogen werden. Ein hoher Orden aber, der nur äußerst selten verliehen wird, stellt eine Ehrung von solchem Rang dar, daß die Parteigänger der Gegenseite nicht mehr den Mund öffnen können. Beiden Teilen ist somit gedient.

»Was meinen Sie zu diesem Ausweg?« lockte Spittelberger.

»Ich halte diesen Ausweg für unstatthaft, Herr Minister«, sagte Leonidas.

Vinzenz Spittelberger, die Sphinx, spreizte die stämmigen Beine und senkte seinen grauen Borstenschädel wie ein Ziegenbock. Leonidas sah auf den kahlen Fleck am Scheitel hinab und hörte, wie der Politiker Speichel einschlürfte, ehe er gelassen betonte:

»Sie wissen, ich bin sehr expeditiv, lieber Freund ...«

»Ich kann Herrn Minister nicht hindern, einen Fehler zu begehen«, sagte Leonidas knapp, während ihn das berauschende Bewußtsein eines unbekannten Mutes durchströmte. Worum ging es? Um Alexander (Abraham) Bloch? Lächerlich! Dieser unglückliche Bloch war nur ein auswechselbarer Anlaß. Leonidas aber wähnte, jetzt stark genug zu sein für die Wahrheit und für die Erneuerung seines Lebens.

Minister Spittelberger hatte den roten Salon, gefolgt von Skutecky und den Ministerialräten, bereits verlassen. Unvermindert prasselte der Regen fort.


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