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Sechstes Kapitel

Vera erscheint und verschwindet

Sofort nach Tisch verließ Leonidas sein Haus und fuhr ins Ministerium. Nun saß er da, den Kopf in die Hände gestützt, und blickte durchs hohe Fenster über die Bäume des Volksgartens hinweg, die, von perlmuttfarbenem Regen-Dunst eingeschleiert, in den wattigen Himmel ragten. Sein Herz war voll Verwunderung über Amelie und voll Bewunderung für sie. Liebende Frauen besaßen einen sechsten Sinn. Wie das schweifende Wild gegen seine Feinde, so waren auch sie mit einer sicheren Witterung ausgerüstet. Hellseherinnen waren sie der männlichen Schuld. Amelie hatte alles erraten, wenn auch, ihrer Art gemäß, übertrieben, verzerrt und falsch gedeutet. Man konnte fast argwöhnen, eine unerklärliche Verschwörung habe zwischen den beiden Frauen stattgefunden, der einen, die sich in der blaßblauen Handschrift verkörperte, und der andern, die vom flüchtigen Anblick dieser Schrift ins Herz getroffen war. In den wenigen Zeilen der Adresse hatte Vera der andern die Wahrheit zugeflüstert, die von Amelie als eine jähe Eingebung aus dem Nichts empfunden werden mußte. Welch ein Widerspruch, daß jene Hellsichtigkeit dann vor dem trockenen Wortlaut des Briefes zuschanden wurde. Ihm aber hatte sie ahnungsvoll ahnungslos die Maske vom Gesicht gerissen. »Dienstmädchenverführer am Sonntag!« Hatte er sich nicht selbst heute einen Heiratsschwindler genannt? Und war er's nicht tatsächlich in der kriminellen Bedeutung des Wortes? Von seinem Gesicht konnte Amelie es ablesen. Und er hatte doch knapp vorher dieses Gesicht im Spiegel betrachtet und nichts Gemeines darin entdeckt, sondern eine wohlgeformte Vornehmheit, die in ihm das sonderbare Mitleid mit sich selbst erweckte. Und wie war es dann gekommen, daß sein Entschluß sich ohne sein Zutun ins Gegenteil verkehrte, und nicht er beichtete, sondern sie? Ein großer, ein unverdienter Liebesbeweis, diese Beichte! Diesen radikalen, ja schamlosen Mut zur Wahrheit wie Amelie hatte er nie besessen. Das kam vermutlich von der minderen Herkunft und der einstigen Armut. Seine Jugend war erfüllt gewesen von Furcht, Auftrieb und einer zitternden Überschätzung der höheren Klasse. Er hatte sich alles krampfhaft anerziehen müssen, die Gelassenheit beim Eintritt in einen Salon, das souveräne Plaudern (man macht Konversation), das freie Benehmen bei Tisch, das richtige Maß im »Die-Ehre-Geben« und »Die-Ehre-Nehmen«, all diese feinen und selbstverständlichen Tugenden, mit denen die Angehörigen der Herrenkaste geboren werden. Der Fünfzigjährige kam noch aus einer Welt der gespannten Standesunterschiede. Die Kraft, welche die heutige Jugend im Sport verausgabt, hatte er für eine besondere Athletik aufwenden müssen, für die Überwindung seiner Schüchternheit und für den Ausgleich seines beständigen Mangelgefühls. Oh, unvergeßliche Stunde, da er zum erstenmal im Frack des Selbstmörders vor dem Spiegel sich als Sieger gegenüberstand! Wenn er auch jene feinen und selbstverständlichen Künste vollkommen erlernt hatte und sie seit Jahrzehnten schon unbewußt übte, so war er doch nur, was die Römer einen »Freigelassenen« nannten. Ein Freigelassener besitzt nicht den natürlichen Mut zur Wahrheit wie eine geborene Paradini, nicht jene verwegene Erhabenheit über alle Scham. Amelie hatte überdies den Freigelassenen um einen Abgrund tiefer erkannt als er sich selbst. Ja, es war richtig, er fürchtete, wenn er sich zu seinem und Veras Sohn bekennen sollte, ihren Zorn, ihre Rache. Er fürchtete, sie würde sogleich den Scheidungsprozeß gegen ihn einleiten. Er fürchtete nichts mehr als den Verlust des Reichtums, den er so nonchalant genoß. Er, der edle Mann, der sich »nichts aus dem Gelde machte«, der hohe Beamte, der Volkserzieher, er wußte jetzt, daß er das enge Leben seiner Kollegen nicht würde ertragen können, diesen täglichen Kampf gegen die besseren Bedürfnisse und Begehrlichkeiten. Er war allzu verderbt durch das Geld und durch die angenehme Gewohnheit, sich nicht die leiseste Regung eines Wunsches abschlagen zu müssen. Wie verstand er es nun, daß so viele unter seinen Amtsgenossen der Versuchung erlagen und Schmiergelder nahmen, um ihren süchtigen Frauen dann und wann eine Freude bereiten zu können. Sein Kopf sank auf die Schreibmappe. Er empfand den brennenden Wunsch, ein Mönch zu sein und einem strengen Orden anzugehören ...

Leonidas ermannte sich. »Man kann's nicht umgehen«, seufzte er laut und leer. Dann nahm er ein Blatt und begann ein Promemoria für Minister Vinzenz Spittelberger zu entwerfen, in welchem er die Betrauung des außerordentlichen Professors der Medizin Alexander (Abraham) Bloch mit der vakanten Lehrkanzel und Klinik als eine unausweichliche Notwendigkeit für den Staat zu begründen suchte. Warum er den Eigensinn weitertrieb und eine entscheidende Kraftprobe heraufbeschwören wollte, das wußte er selbst nicht. Kaum aber hatte er zehn Zeilen zu Papier gebracht, legte er die Feder hin und klingelte seinem Sekretär:

»Haben Sie die Güte, lieber Freund, und rufen Sie das Parkhotel in Hietzing an und lassen Sie Frau oder Fräulein Doktor Vera Wormser melden, ich werde sie gegen vier Uhr persönlich aufsuchen ...«

Leonidas hatte wie immer in nervösen Augenblicken mit verwischter und flacher Stimme gesprochen. Der Sekretär legte ein leeres Zettelchen vor ihn hin:

»Darf ich den Herrn Sektionschef bitten, mir den Namen der Dame aufzuschreiben«, sagte er. Leonidas glotzte ihn eine halbe Minute lang wortlos an, dann steckte er das begonnene Memorandum in die Mappe, schob abschiedsnehmend die Gegenstände auf seinem Schreibtisch zurecht und stand auf:

»Nein, danke! Es ist nicht nötig. Ich gehe jetzt.«

Der Sekretär hielt es für seine Pflicht, daran zu erinnern, daß der Herr Minister gegen fünf Uhr im Hause erwartet werde. Auf Leonidas, der gerade Hut und Mantel vom Haken nahm, schien diese Meldung keinen Eindruck zu machen:

»Wenn der Minister nach mir fragen läßt, so sagen Sie nichts, sagen Sie einfach, ich bin fortgegangen ...«

Damit verließ er, federnden Schrittes, an dem jungen Menschen vorbei, sein Amtszimmer.

Es gehörte zu den wohlbedachten Gepflogenheiten des Sektionschefs, daß er mit seinem großen Wagen niemals am Portal des Ministeriums vorfuhr, sondern, wenn er ihn überhaupt benützte, ihm schon in der Herrengasse entstieg. Mehr als er den Neid der Kollegen fürchtete, empfand er es (vorzüglich während der Arbeitszeit) als »taktlos«, seinen materiellen Glücksstand zur Schau zu tragen und die spartanischen Grenzen des Beamtentums augenfällig zu überschreiten. Minister, Politiker, Filmschauspieler durften sich ruhig in strahlenden Limousinen spreizen, denn sie waren Geschöpfe der Reklame. Ein Sektionschef hingegen hatte (bei aller zulässigen Elegance) die Pflicht, eine gewisse karge Dürftigkeit hervorzukehren. Diese betonte Dürftigkeit war vielleicht eine der unduldsamsten Formen menschlichen Hochmuts. Wie oft hatte er mit aller gebotenen Vorsicht Amelie davon zu überzeugen gesucht, daß ihr heiter-unerschöpflicher Aufwand an Schmuck und Gewändern seiner Stellung nicht völlig entspreche. Vergebliche Predigt! Sie lachte ihn aus. Hierin lag einer der Lebenskonflikte, die Leonidas oft verwirrten ... Diesmal fuhr er mit der Straßenbahn, die er in der Nähe des Schönbrunner Schlosses verließ.

Der Regen hatte schon vor einer Stunde nachgelassen und jetzt völlig aufgehört. Es war aber nur wie die schleppende Pause in einer Krankheit, wie das trübe Loch der Schmerzlosigkeit zwischen zwei Anfällen. Der Wolkentag hing naß und schlapp auf Halbmast, und jede der seltsam verlangsamten Minuten schien zu fragen: Bis hierher waren wir gekommen, doch was nun? Leonidas spürte in allen Nerven die entscheidende Veränderung, die seit heute morgen die Welt hatte erdulden müssen. Er wurde sich jedoch über die Ursache dieser Veränderung erst klar, als er durch die breite, von Platanen flankierte Straße, längs der hohen Schloßmauer dahineilte. Unter seinen Füßen schwang höchst unangenehm ein dick vollgesogener Teppich von gefallenem Laub. Die jäh verfärbten Platanenblätter waren so korporell aufgeschwemmt und schnalzten unter jedem Tritt, daß man hätte wähnen können, ein Wolkenbruch von Kröten sei niedergegangen. Seit wenigen Stunden war mehr als die Hälfte des Laubes von den Bäumen geweht und der Rest hing schlaff an den Ästen. Was heute allzujung als Aprilmorgen begonnen hatte, endete im Handumdrehen allzualt als Novemberabend.

Im Blumengeschäft an der nächsten Straßenecke schwankte Leonidas unerlaubt lange zwischen weißen und blutroten Rosen. Er entschied sich endlich zu achtzehn langstieligen hellgelben Teerosen, deren sanfter, ein wenig fauliger Duft ihn anzog. Als er dann in der Hotelhalle sich bei Frau Doktor Wormser anmelden ließ, erschrak er plötzlich über die verräterische Zahl »achtzehn«, die er ganz unbewußt gewählt hatte. Achtzehn Jahre! Auch fiel ihm jener ominöse Rosenstrauß ein, den er als lächerlich Verliebter der kleinen Vera einst mitgebracht hatte, ohne den Mut zu finden, ihn zu überreichen. Nun war's ihm, als seien es damals ebenfalls hellgelbe Teerosen gewesen und sie hätten genau so geduftet, so sanft, so rund, wie die Blume eines paradiesischen Weines, den es auf Erden nicht gibt.

»Madame läßt Herrn Sektionschef bitten, hier zu warten«, sagte der Portier unterwürfig und begleitete den Gast in eines der Gesellschaftszimmer zu ebener Erde. Man kann von einem Hotelsalon nichts Besseres erwarten, beruhigte Leonidas sich selbst, dem die dämmrige Räumlichkeit samt ihrer Einrichtung ungewöhnlich auf die Nerven fiel. Es ist scheußlich, die Geliebte seines Lebens in der öffentlichen Intimität dieses Allerwelts-Wohnzimmers wiederzusehen, jede Bar wäre besser, ja selbst ein bumsvolles Kaffeehaus mit Musik. Daß Vera wirklich und wahrhaftig die »Geliebte seines Lebens« gewesen sei, dessen empfand Leonidas jetzt eine ganz unbegründete Sicherheit.

Das Zimmer war vollgestopft mit lauter gewichtigen Möbelstücken. Sie ragten wie mürrische Festungen einer verschollenen Repräsentation ins Ungewisse. Sie standen da wie eine vom Ausrufer verlassene Versteigerung, in die sich für ein Stündchen oder zwei vorüberschlendernde Zufallsgäste einnisten. Üppige Sitzgarnituren, japanische Schränke, lampentragende Karyatiden, ein orientalisches Kohlenbecken, geschnitzte Truhen, Tabouretts usw. An der Wand dehnte sich ein keusch verhüllter Flügel. Die Plüschdecke, die ihn von oben bis unten verhing, war schwarz. Er glich daher einem Katafalk für tote Musik. Das Bahrtuch war außerdem noch mit allerlei Gegenständen aus Bronze und Marmor beschwert, auch sie wie zum Verkauf aneinander gereiht: Ein trunkener Silen, der eine Visitenkartenschale balanciert, eine geschmeidige Tänzerin ohne ersichtlich praktischen Zweck, ein prunkvolles Tintenzeug, groß und ernst genug, um bei Unterschrift eines Friedensvertrages Dienst zu tun, und dergleichen mehr, das hier die Aufgabe zu haben schien, die tote oder scheintote Musik am Entweichen zu hindern. Leonidas faßte den Verdacht, dieses Klavier sei ausgeweidet und nur eine ehrbare Attrappe, denn ein lebendiges Instrument würde die Leitung des Hotels beim täglichen Tanztee verwenden, dessen Zurüstung draußen vernehmbar wurde. Lebendig in diesem Raum waren nur die beiden aufgeklappten Spieltische, auf denen noch die Bridgekarten dalagen, ein Bild behaglicher Zerstreuung und ungetrübter Seelenruhe, das den neidischen Blick immer wieder anzog. Leonidas war selbstverständlich ein Meister dieses Spiels ...

Er ging beständig auf und ab, wobei er sich zwischen den kantigen Vorgebirgen der Möbel und Tische durchschlängeln mußte. Noch immer hielt er die in Seidenpapier verpackten Rosen in der Hand, obwohl er fühlte, daß die empfindsamen Blüten unter seiner Körperwärme zu ermüden begannen. Er besaß aber die Willenskraft nicht, sie fortzulegen. Auch ging der schwache Duft mit ihm und tat ihm wohl. Im gleichmäßigen Auf und Ab stellte er fest: Mein Herz klopft. Ich erinnere mich nicht mehr, wann mir das Herz zum letzten Male so fühlbar geklopft hat. Dieses Warten erregt mich sehr. – Er stellte ferner fest: Ich habe nicht einen einzigen Gedanken im Kopf. Dieses Warten füllt mich ganz aus. Es ist mir nicht klar, wie ich beginnen werde. Ich weiß nicht einmal, wie ich Vera ansprechen soll. – Und endlich: Sie läßt mich sehr lange warten. Kein Minister läßt mich so lange warten. Es ist schon mindestens zwanzig Minuten, daß ich in diesem abscheulichen Salon hin- und herrenne. Ich werde aber keinesfalls auf die Uhr schauen, damit es mir unbekannt bleibe, wie lange ich schon warte. Es ist natürlich Veras gutes Recht, mich warten zu lassen, so lange es ihr richtig scheint. Wahrhaftig, eine winzige Strafe. Ich darf's mir gar nicht vorstellen, wie sie auf mich gewartet hat, in Heidelberg, Wochen, Monate, Jahre ... Er unterbrach seinen Rundgang nicht. In der Halle pochte die Tanzmusik. Leonidas fuhr zusammen: Auch das noch! Am besten wär's, sie käme überhaupt nicht. Ich würde ruhig eine volle Stunde hier warten, auch zwei Stunden und dann weggehen, ohne ein Wort zu sagen. Ich hätte das meinige getan und müßte mir keine Vorwürfe mehr machen. Hoffentlich kommt sie nicht. Es dürfte ja auch für sie keine geringe Unannehmlichkeit sein, mich wiederzusehen. Mir ist zumute, wie vor einer schweren Prüfung oder gar vor einer Operation ... So, jetzt ist sicher eine halbe Stunde vorüber. Ich nehme an, daß sie das Hotel verlassen hat, um mir nicht zu begegnen. Nun, ich warte meine Stunde aus. Dieses Jazz-Geräusch ist übrigens gar nicht so störend. Es scheint die Zeit zu beschleunigen. Und dunkel wird's auch ...

Der dritte Tanz war draußen im Gange, als die kleine zierliche Dame unversehens im Salon stand:

»Ich mußte Sie etwas warten lassen«, sagte Vera Wormser, ohne diesen Satz durch eine Entschuldigung zu begründen, und reichte ihm die Hand. Leonidas küßte die sehr gebrechliche Hand im schwarzen Handschuh, lächelte begeistert mokant und begann auf den Zehenspitzen zu wippen:

»Aber bitte«, näselte er, »das macht gar nichts ... Ich habe mich heut eigens ...« Und er fügte zaghaft hinzu: »Gnädigste ...«

Damit übergab er ihr den Strauß, ohne ihn aus dem Papier gewickelt zu haben. Mit gelassenem Griff befreite sie die Teerosen. Sie tat es aufmerksam und ließ sich Zeit. Dann sah sie sich in diesem fremden häßlichen Raum nach einem Gefäß um, fand sogleich eine Vase, ein Krug mit Trinkwasser stand auf einem der Spieltische, sie füllte die Vase vorsichtig und steckte, eine nach der andern, die Rosen hinein. Das Gelb flammte im Zwielicht. Die Frau sagte nichts. Die kleine Arbeit schien sie völlig auszufüllen. Ihre Bewegungen waren von innen her gesammelt, wie es bei Kurzsichtigen der Fall zu sein pflegt. Sie trug die Vase mit den sanften Rosen zur Sitzgarnitur beim Fenster, stellte sie auf das runde Tischchen und ließ sich, mit dem Rücken gegen das Licht, in einer Sofaecke nieder. Das Zimmer war verändert. Auch Leonidas setzte sich, nachdem er vorher mit einer ziemlich sinnlosen (korpsstudentischen) Verbeugung um Erlaubnis gebeten hatte. Unglücklicherweise blendete ihn der weißliche Nebelschein des späten Tages im Fenster.

»Gnädige haben gewünscht ...« begann er mit einem Ton, vor dem ihm selbst ekelte, »ich bekam erst heute früh den Brief und bin sofort ... und habe sofort ... Selbstverständlich steh ich voll und ganz zur Verfügung ...«

Es verging erst eine kleine Weile, ehe die Antwort aus der Sofaecke kam. Die Stimme war noch immer hell, noch immer kindlich und auch den abweisenden Klang schien sie behalten zu haben:

»Sie hätten sich nicht persönlich bemühen müssen, Herr Sektionschef«, sagte Vera Wormser, »ich hab's gar nicht erwartet ... Ein telephonischer Anruf hätte genügt ...«

Leonidas machte eine teils bedauernde, teils erschrockene Handbewegung, als wollte er sagen, seine Pflicht geböte ihm, für die Gnädigste unter allen Umständen weit größere Strecken zurückzulegen als jene vom Ministerium für Kultus und Unterricht am Minoritenplatz zum Parkhotel in Hietzing. Hier hatte die durchaus nicht lebhafte Konversation einen Einschnitt und Veras Gesicht seine erste Station erreicht. Damit aber verhielt es sich folgendermaßen. Nicht nur das Erinnerungsbild der Geliebten war in Leonidas seit Jahren verstört, auch seine stark astigmatischen Augen spiegelten in trüben Räumen und zumal in erregten Minuten das Gesehene anfangs nur in verschwommenen Flächen wider. Bisher hatte also Vera noch kein Gesicht gehabt, sondern nur ihre zierliche Gestalt in einem grauen Reisekostüm, von dem sich eine lila Seidenbluse und eine Halskette aus goldbraunen Ambrakugeln ungenau abhob. So zierlich mädchenhaft diese Gestalt auch war, so erschien sie eben doch nur »mädchenhaft«, gehörte aber einer zarten Person unbestimmten Alters an, in der Leonidas die Geliebte von Heidelberg nicht wiedererkannt hätte. Jetzt erst begann Veras Gesicht die leere helle Fläche zu durchdringen, und zwar wie aus weiter Ferne her. Jemand schien an der Schraube eines Feldstechers unkundig hin und her zu drehen, um ein entlegenes Ziel in die schärfere Einstellung zu bekommen. So etwa war's. Zuerst trat das Haar in die noch immer trübe Linse, das nachtschwarze Haar, glatt anliegend und in der Mitte gescheitelt. (Waren das graue Fäden und Strähnen, die es durchzogen, wenn man den Blick darauf ruhen ließ?) Dann brachen die Augen durch, diese kornblumentiefe Farbe, von langen Wimpern beschattet wie einst. Ernst, forschend und erstaunt blieben sie auf Leonidas gerichtet. Der ziemlich große Mund hatte einen strengen Ausdruck, wie man ihn an Frauen bemerkt, die schon lange einen Beruf ausüben und deren geschultes Denken selten durch untergeordnete Phantasien durchkreuzt wird. Welch ein Gegensatz zu der schmollenden Fülle, die Amelies Lippen so oft anzunehmen verstanden. Leonidas erkannte plötzlich, daß Vera sich für ihn nicht schön gemacht hatte. Sie hatte die Zeit, die sie ihn warten ließ, nicht dazu benützt, sich »herzurichten«. Ihre Augenbrauen waren nicht ausgezupft und nachgezogen (oh, Amelie), ihre Lider nicht mit blauer Tusche verdunkelt, ihre Wangen nicht geschminkt. Vielleicht war einzig ihr Mund mit dem Lippenstift ein wenig in Berührung gekommen. Was hatte sie getan in der Stunde seines Wartens? Wahrscheinlich, so dachte er, aus dem Fenster gestarrt ...

Veras Gesicht war nun fertig, und doch, Leonidas erkannte noch immer nicht das verwehrte Bild. Dieses Gesicht glich nur einer ungefähren Reproduktion, einer Übersetzung des verlorenen Antlitzes in die Fremdsprache einer anderen Wirklichkeit. Vera schwieg gelassen und hartnäckig. Er aber, alles eher als gelassen, bemühte sich bei der Fortsetzung der »Konversation« das zu finden, was er sonst den ›entsprechenden Ton‹ nannte. Er fand ihn nicht. Welcher Ton auch hätte einer solchen Begegnung entsprechen können? Mit Entsetzen hörte er sich wiederum näseln und völlig unecht einen landesüblichen Grandseigneur nachahmen, der mit impertinenter Sicherheit sich der peinlichsten Lage gewachsen zeigt:

»Gnädigste werden hoffentlich jetzt längere Zeit bei uns bleiben ...«

Nach diesen Worten sah ihn Vera noch um einen Schatten verwunderter an. Jetzt kann sie es nicht fassen, daß sie jemals auf so ein plattes Subjekt hereingefallen ist, wie ich es bin. Ihre Gegenwart hat von jeher meine Schwächen herausgefordert. Seine Hände wurden kalt vor Mißbehagen. Sie entgegnete:

»Ich bleibe nur mehr zwei bis drei Tage hier, bis ich alles erledigt hab ...«

»Oh«, sagte er mit einem fast erschrockenen Klang, »und dann kehren Gnädigste wieder nach Deutschland zurück.« Er konnte es nicht verhindern, daß in der Kadenz dieser Frage eine Spur von Erleichterung nachtönte. Jetzt sah er zum erstenmal, daß die klare elfenbeinerne Stirn der Dame voll von geraden Falten war.

»Nein! Ganz im Gegenteil, Herr Sektionschef«, gab sie zurück, »ich gehe nicht wieder nach Deutschland ...«

Etwas in ihm erkannte nun ihre Stimme, die schnippisch unerbittliche Stimme der Fünfzehnjährigen am Vatertisch. Er machte eine um Entschuldigung bittende Geste, als sei ihm ein unverzeihlicher Schnitzer unterlaufen:

»Pardon, Gnädige, ich verstehe. Es muß jetzt nicht besonders angenehm sein, in Deutschland zu leben ...«

»Warum? Für die meisten Deutschen ist es sehr angenehm«, stellte sie kühl fest, »nur für unsereins nicht ...«

Leonidas nahm einen patriotischen Anlauf.

»Da sollten Gnädigste doch daran denken, in die alte Heimat zu übersiedeln ... Bei uns beginnt sich jetzt manches zu rühren ...«

Die Dame schien andrer Meinung zu sein. Sie lehnte ab:

»Nein, Herr Sektionschef. Ich bin zwar nur kurze Zeit hier und maße mir kein Urteil an. Aber endlich möchte auch unsereins freie und reine Luft atmen ...«

Also da wäre er wieder, der alte Hochmut dieser Leute, die empörende Überheblichkeit. Selbst dann, wenn man sie in den Keller gesperrt hat, tun sie so, als würden sie vom siebenten Stockwerk auf uns herunterblicken. Gewachsen sind ihnen wirklich nur die primitiven Barbaren, die mit ihnen nicht diskutieren, sondern sie ohne viel Federlesens niederknüppeln. Ich sollte heute noch Spittelberger aufsuchen und ihm den Abraham Bloch opfern. Freie und reine Luft. Sie ist geradezu undankbar gegen mich. Leonidas empfand die mißbilligende und ärgerliche Regung seines Herzens als Wohltat. Sie entlastete ihn ein wenig. Zugleich aber hatte das Antlitz der Dame in der Sofaecke eine neue Station erreicht, und zwar die endgültige. Nun war's keine Reproduktion mehr oder Übersetzung, sondern das Original selbst, wenn auch verschärft und nachgedunkelt. Und siehe, es bewahrte noch immer jenes herbe Licht der Reinheit und Fremdartigkeit, das einst den armen Hauslehrer und später den jungen Ehemann einer andern um den Verstand gebracht hatte. Reinheit? Kein Gedanke hinter dieser weißen Stirn, man fühlte es, war nicht übereingestimmt mit dem ganzen Wesen. Nur noch härter und wunschloser als einst trat sie zutage. Fremdartigkeit? Wer konnte sie ausdrücken? Die Fremdartigkeit war noch fremdartiger geworden, wenn auch weniger hold. Die Tanzmusik grölte von neuem auf. Leonidas mußte seine Stimme erheben. Ein sonderbarer Zwang formte seine Worte. Sie klangen trocken und gespreizt, zum Aus-der-Haut-Fahren:

»Und wohin wollen Gnädigste den Wohnsitz verlegen?«

Bei ihrer Antwort schien Vera Wormser tief aufzuatmen:

»Übermorgen bin ich in Paris und am Freitag geht mein Schiff von Le Havre ...«

»Gnädige reisen also nach New York«, sagte Leonidas ohne Fragezeichen und nickte zustimmend, ja belobend. Sie lächelte schwach, als amüsiere es sie, daß sie auch heute sattsam zum Widerspruch komme, denn bisher hatte sie fast jede ihrer Erwiderungen mit einem »Nein« einleiten müssen.

»Oh, nein! New York? Gott behüte, das ist nicht so einfach. So hoch will ich gar nicht hinaus. Ich gehe nach Montevideo ...«

»Montevideo«, strahlte Leonidas mit albernem Ton, »das ist ja entsetzlich weit ...«

»Weit von wo?« fragte Vera ruhig. Sie zitierte damit die melancholische Scherzfrage der Exilierten, die ihren geographischen Schwerpunkt verloren haben.

»Ich bin ein eingefleischter Wiener«, gestand Leonidas, »was sag ich, ein eingefleischter Hietzinger. Für mich wär's schon ein schwerer Entschluß, in einen anderen Bezirk zu übersiedeln. Ein Leben dort unten am Äquator? Ich wär todunglücklich, trotz aller Kolibris und Orchideen ...«

Das Frauengesicht im Zwielicht wurde noch um einen Grad ernster:

»Und ich bin sehr glücklich, daß man mir in Montevideo eine Lehrstelle angetragen hat. An einem großen College dort. Viele beneiden mich. Unsereins muß hoch zufrieden sein, wenn er irgendwo Zuflucht findet und sogar eine Arbeit ... Aber all das ist für Sie ja gar nicht interessant ...«

»Nicht interessant«, fiel er ihr erschrocken ins Wort. »Nichts auf der Welt ist interessanter für mich ...« Und er schloß leise: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich Sie bewundere ...«

Das ist diesmal keine Lüge. Ich bewundere sie wirklich. Sie hat den großartigen Lebensmut und die abscheuliche Ungebundenheit ihrer Rasse. Was wäre aus mir geworden an ihrer Seite? Vielleicht wär tatsächlich was geworden aus mir. Jedenfalls etwas ganz und gar andres als ein Sektionschef knapp vor der Pensionierung. Vertragen aber hätten wir uns keine einzige Stunde. – Seine Betroffenheit wurde immer größer. Plötzlich drängte sich in den Raum ein hellerer anderer. Das Zimmer, das sie in Bingen am Rhein bewohnt hatten. – Alles steht an seinem Platz, meiner Treu, ich sehe den altertümlichen Kachelofen. – Es war, als fielen ihm die Schuppen von den Augen der Erinnerung.

»Was ist da zu bewundern«, hatte Vera ungehalten gefragt.

»Ich mein, Sie lassen doch alles zurück, hier in der Alten Welt, wo Sie geboren sind, wo Sie Ihr ganzes Leben zugebracht haben ...«

»Ich lasse gar nichts zurück«, erwiderte sie trocken. »Ich stehe allein, ich bin zum Glück nicht verheiratet ...«

War das eine neue Last auf der Waagschale? Nein! Leonidas empfand dieses »Ich bin nicht verheiratet« als einen leisen Triumph, der ihm wohlig die Adern durchprickelte. Er lehnte sich weit zurück. Länger durfte man nicht mehr Konversation machen. Die Worte kamen ein wenig stockend von seinen Lippen:

»Ich glaubte, Sie hätten für jenen jungen Mann zu sorgen ... So wenigstens hab ich Ihren Brief verstanden ...«

Vera Wormser belebte sich jäh. Sie änderte ihre Haltung. Sie beugte sich vor. Ihm war's, als ob ihre Stimme errötete:

»Wenn es möglich wäre, daß Sie mir in diesem Falle helfen, Herr Sektionschef ...«

Leonidas schwieg recht lange, ehe es ohne jedes Bewußtsein warm und tief aus ihm hervordrang:

»Aber Vera, das ist doch selbstverständlich ...«

»Nichts auf der Welt ist selbstverständlich«, sagte sie und begann ihre Handschuhe auszuziehen. Es war wie ein sanftes Entgegenkommen, wie der gutwillige Versuch, ein übriges zu tun und mit ein wenig mehr von sich selbst anwesend zu sein. Und nun sah Leonidas die kleinen überzarten Hände, diese vertrauensvollen Partner des einstigen Hand-in-Hand. Die Haut war ein bißchen gelblich und die Adern traten hervor. Auf keinem Finger ein Ring. Die Stimme des Mannes vibrierte:

»Es ist hundertmal selbstverständlich, Vera, daß ich Ihren Wunsch erfülle, daß ich den jungen Mann auf dem besten Gymnasium hier unterbringe, bei den Schotten, wenn's Ihnen recht ist, das Semester hat kaum begonnen, er wird schon übermorgen in die Abiturientenklasse eintreten können. Ich werde mich um ihn kümmern, ich werde sorgen für ihn, so gut ich kann ...«

Ihr Gesicht kam noch näher. Die Augen leuchteten:

»Wollen Sie das wirklich tun? ... Ach, dann fällt mir's noch viel leichter, Europa zu verlassen ...«

Sein sonst so wohlgeordnetes Gesicht war ganz auseinandergefallen. Er hatte flehende Hundeaugen:

»Warum beschämen Sie mich, Vera! Merken Sie nicht, wie es in mir aussieht ...«

Er schob seine Hand an die ihre heran, die auf dem Tisch lag, wagte es aber nicht, sie zu berühren:

»Wann werden Sie mir den Jungen schicken? Erzählen Sie etwas von ihm! Sagen Sie, wie heißt er mit dem Vornamen ...«

Vera sah ihn groß an:

»Er heißt Emanuel«, sagte sie zögernd.

»Emanuel? Emanuel? Hat nicht Ihr seliger Herr Papa Emanuel geheißen? Es ist ein schöner und nicht abgegriffener Name. Ich erwarte Emanuel morgen um halb elf Uhr bei mir, das heißt natürlich im Ministerium. Es wird nicht ohne Konflikt abgehen. Es wird sogar die schwersten Konflikte geben. Ich aber bin bereit, sie auf mich zu nehmen, Vera. Ich bin zu den einschneidendsten Entschlüssen bereit ...«

Sie schien plötzlich wieder kühl zu werden und sich zurückzuziehen:

»Ja, ich weiß«, sagte sie, »man hat mir schon von diesen Schwierigkeiten berichtet, die sich in Wien sogar einer so hohen Protektion heute in den Weg stellen ...«

Er hatte nicht recht hingehört. Seine Finger waren ineinander verkrampft:

»Denken Sie nicht an diese Schwierigkeiten! Sie haben zwar keinen Grund, meinen Schwüren zu glauben, aber ich gebe Ihnen mein Wort, die Sache wird geregelt werden ...«

»Es liegt doch ganz in Ihrer Macht, Herr Sektionschef ...«

Leonidas senkte seine Stimme, als wünsche er Geheimnisse zu erfahren:

»Erzählen Sie, erzählen Sie mir von Emanuel, Vera! Er ist hochbegabt. Das kann ja nicht anders sein. Worin liegt seine Stärke?«

»In den Naturwissenschaften, glaub ich ...«

»Das hätte ich mir denken können. Ihr Vater war ja ein großer Naturwissenschaftler. Und wie ist Emanuel sonst, ich meine, äußerlich, wie sieht er aus? ...«

»Er sieht nicht so aus«, erwiderte Fräulein Wormser mit einer gewissen Schroffheit, »daß er Ihrer Protektion Schande machen wird, wie Sie vielleicht fürchten ...«

Leonidas blickte sie verständnislos an. Er hielt die Faust gegen die Magengrube gepreßt, als könne er dadurch seine Erregung bemeistern:

»Ich hoffe«, stieß er hervor, »daß er Ihnen ähnlich sieht, Vera!«

Ihre Blicke füllten sich langsam mit einem begreifenden Vergnügen. Sie zog die Ungewißheit hinaus:

»Warum soll Emanuel gerade mir ähnlich sehen?«

Leonidas war so bewegt, daß er flüsterte: »Ich war von jeher überzeugt, daß er Ihr Ebenbild ist ...«

Nachdem sie eine lange Pause ausgekostet hatte, sagte Vera endlich:

»Emanuel ist der Sohn meiner besten Freundin ...«

»Der Sohn Ihrer besten Freundin«, stotterte Leonidas, ehe er's noch erfaßte. Draußen die Musik begann einen schlenkernden Rumba, überlaut. Auf Veras Zügen breitete sich eine erschreckende Härte aus:

»Meine Freundin«, sagte sie und man merkte, daß sie sich zur Ruhe zwang, »meine beste Freundin ist vor einem Monat gestorben. Sie hat ihren Mann, einen der bedeutendsten Physiker, nur um neun Wochen überlebt. Man hat ihn zu Tode gemartert. Emanuel ist das einzige Kind. Er wurde mir anvertraut ...«

»Das ist ja grauenhaft, ganz grauenhaft«, brach Leonidas das kurze Schweigen. Er spürte aber keinen Anhauch dieses Grauens. Sein Wesen füllte sich vielmehr mit Staunen, mit Erkenntnis und schließlich mit unbeschreiblicher Erleichterung: Ich habe kein Kind mit Vera. Ich habe keinen siebzehnjährigen Sohn, den ich vor Amelie und vor Gott verantworten muß. Dank dir, gütiger Himmel! Alles bleibt beim alten. All meine Angst, all mein Leiden heute waren pure Geisterseherei. Ich bin nach achtzehn Jahren einer betrogenen Geliebten wiederbegegnet. Weiter nichts! Eine schwierige Situation, teils peinlich, teils melancholisch. Aber von einer unsühnbaren Schuld zu sprechen, das wäre übertrieben, hoher Gerichtshof! Unter Männern, ich bin kein Don Juan, es ist die einzige derartige Geschichte in einem sonst ziemlich untadeligen Leben. Wer wirft den ersten Stein auf mich? Vera selbst denkt nicht mehr daran, diese moderne, selbständige, radikal freisinnige Frau, die mitten im tätigen Leben steht und heilsfroh ist, daß ich sie damals nicht zu mir geholt habe ...

»Grauenhaft, was alles geschieht«, sagte er noch einmal, aber es klang fast wie Jubel. Er sprang auf, beugte sich über Veras Hand und drückte mit brennenden Lippen einen langen Kuß auf sie. Er war auf einmal voll tönender Beredsamkeit:

»Ich gebe Ihnen mein heiliges Versprechen, Vera, der Sohn Ihrer armen Freundin wird von mir gehalten werden wie Ihr eigener Sohn, wie mein eigener Sohn. Danken Sie mir nicht. Ich habe Ihnen zu danken. Sie machen mir das großmütigste Geschenk ...«

Vera hatte ihm nicht gedankt. Sie hatte kein Wort gesprochen. Sie stand in verabschiedender Haltung da, als wolle sie es verhüten, daß dieses Gespräch eine heilige Grenze überschreite. Es war schon recht dunkel in dem vollgestopften Salon. Die Ungeheuer der Möbel zerschmolzen zu formlosen Massen. Den unechten Regen-Dämmerungen dieses Oktobertages war die echte Dämmerung des Abends gefolgt. Nur die Teerosen strahlten noch immer ein stetiges Licht aus. Leonidas fühlte, es wäre am geschicktesten, sich jetzt davonzumachen. Alles Sagbare war ja gesagt. Jeder weitere Schritt mußte auf moralisches Rutschgebiet führen. Veras steife fremde Haltung verbot die geringste sentimentale Anspielung. Der einfachste »Takt« erforderte es, sich unverzüglich loszulösen und ohne jeden schweren Ton zu empfehlen. Da die Frau jene Episode aus ihrem Leben gestrichen hatte, warum sollte er selbst auf sie zurückkommen? Er sollte sich im Gegenteil freuen, daß die gefürchtete Stunde so glimpflich verlaufen war, und rasch einen würdigen Abschluß suchen. Doch vergeblich warnte Leonidas sich selbst. Allzusehr war er aufgewühlt. Das Glück, sich von jedem Lebenskonflikt befreit zu wissen, durchströmte ihn wie Genesung, wie Verjüngung. Nicht mehr sah er die kleine zierliche Dame seiner Gewissensqual vor sich, die Wiedergefundene einer alten Schuld, sondern eine Vera voll Gegenwart, die er nicht mehr fürchtete. Da von ihm der Zwang gewichen war, sein Leben zu ändern, schoß in seine Nerven die spielerische Überlegenheit zurück, die er am Morgen verloren hatte. Und mit ihr eine kurzatmige, aber verrückte Zärtlichkeit für dieses Weib, das wie eine Geistererscheinung aufgetaucht war, um für ewig aus seinem Schuldgefühl zu entschwinden, ernst, edel und ohne den leisesten Anspruch. Er packte ihre gewichtslosen Hände und drückte sie gegen seine Brust. Ihm war, als knüpfe er jetzt sein Erlebnis dort an, wo er es vor achtzehn Jahren so schnöde abgebrochen hatte: »Vera, liebste liebste Vera«, stöhnte er, »ich stehe schlimm vor Ihnen da. Worte, die das ausdrücken, gibt's nicht. Haben Sie mir verziehen? Konnten Sie verzeihen? Können Sie verzeihen?«

Vera sah zur Seite, indem sie den Kopf kaum merkbar abwandte. Wie lebte diese kleine abweisende Drehung in seiner Seele! Unbegreiflich, nichts war verloren. Alles ging in mystischer Gleichzeitigkeit vor sich. Ihr Profil war für ihn eine Offenbarung. Die Tochter Doktor Wormsers, das Mädchen von Heidelberg, hier stand es leibhaftig, nicht mehr vom Gedächtnis verwischt. Und die graue Strähne, der verzichtende Mund, die Falten auf der Stirn, sie erhöhten bittersüß die flüchtige Entzückung:

»Verzeihen«, nahm Vera seine Frage auf, »das ist ein phrasenhaftes Wort. Ich mag's nicht. Was man zu bedauern hat, das kann man doch nur sich selbst verzeihen ...«

»Ja, Vera, das ist hundertmal wahr! Wenn ich Sie so sprechen höre, dann erst weiß ich, was für ein einzigartiges Geschöpf Sie sind. Wie recht haben Sie getan, nicht zu heiraten. Vera, die Wahrhaftigkeit selbst ist zu gut zur Ehe. Jeder Mann hätte an Ihnen zum Lügner werden müssen, nicht nur ich ...«

Leonidas fühlte in sich die Lust männlicher Unwiderstehlichkeit. Er hätte jetzt den Mut gehabt, Vera an sich zu reißen. Er zog es aber vor, zu klagen:

»Ich habe mir nie verziehen und werde mir nie verzeihen, nie, nie ...«

Eh er's aber noch ausgesprochen, hatte er sich's verziehn, für einst und immer und die Schuld von der Tafel des Gewissens gelöscht. Deshalb klang diese Behauptung so freudig. Fräulein Wormser entzog ihm mit einer leichten Bewegung ihre Hände. Sie nahm ihr Täschchen und die Handschuhe vom Tisch:

»Ich werde jetzt gehen müssen«, sagte sie.

»Bleiben Sie noch ein paar Minuten, Vera«, flüsterte er, »wir werden uns in diesem Leben nicht wiedersehen. Schenken Sie mir zu allem noch einen guten Abschied, damit ich mich an ihn erinnern kann wie ein völlig Begnadigter ...«

Sie sah noch immer zur Seite, hielt aber im Zuknöpfen ihrer Handschuhe inne. Er setzte sich auf die Armstütze eines Fauteuils, so daß er sein Gesicht zu dem ihren empordrehen mußte und ihm näher kam als bisher:

»Wissen Sie, liebste liebste Vera, daß seit achtzehn Jahren kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht stumm wie ein Hund gelitten habe Ihretwegen und meinetwegen ...«

Dieses Geständnis hatte nichts mehr mit Wahrheit und Unwahrheit zu tun. Es war nichts andres als die schwingende Melodie der Erlösung und köstlichen Wehmut, die ihn erfüllten, ohne sich zu durchkreuzen. Obwohl er ihrem Antlitz so nahe war, nahm er keine Notiz davon, wie blaß, wie müde Vera plötzlich aussah. Die Handschuhe waren zugeknöpft. Sie hielt das Täschchen schon unterm Arm:

»Wär's nicht besser«, sagte sie, »jetzt auseinanderzugehen?«

Leonidas aber ließ sich nicht unterbrechen:

»Wissen Sie, Liebste, daß ich mich heute den ganzen Tag, Stunde für Stunde mit Ihnen beschäftigt habe. Sie waren mein einziger Gedanke seit diesem Morgen. Und wissen Sie, daß ich noch bis vor wenigen Minuten fest davon überzeugt war, daß Emanuel Ihr und mein Sohn ist. Und wissen Sie auch, daß ich wegen dieses Emanuel nahe, sehr nahe daran war, in Pension zu gehen, von meiner Frau die Scheidung zu verlangen, unser entzückendes Haus zu verlassen und knapp vor Torschluß ein neues hartes Leben zu beginnen? ...«

In der Antwort der Frau klang zum erstenmal der alte echte Spott auf, jedoch wie vom Rande einer tiefen Erschöpfung:

»Wie gut, daß Sie nur nahe daran waren, Herr Sektionschef ...«

Leonidas konnte sich selbst nicht mehr Einhalt gebieten. Gierig brach sie hervor aus ihm, die Beichte:

»Seit achtzehn Jahren, Vera, seit der Stunde, wo ich Ihnen zum letztenmal die Hand aus dem Coupéfenster hinunterreichte, war die unabänderliche Überzeugung in mir, daß etwas geschehen ist, daß wir ein Kind miteinander haben. Manchmal war diese Überzeugung ganz stark, lange Zeiten hindurch wieder schwächer, und dann und wann nur wie ein Feuer unter der Asche. Sie aber hat mich mit Ihnen unzertrennbarer verbunden, als Sie es je ahnen können. Durch meine treulose Feigheit war ich mit Ihnen verbunden, wenn sie mich auch gehindert hat, Sie zu suchen und zu finden. Sie, Vera, haben gewiß seit Jahren nicht mehr an mich gedacht. Ich aber habe fast täglich an Sie gedacht, wenn auch in Angst und mit Gewissensbissen. Meine Treulosigkeit war die größte Trauer meines Lebens. Ich habe in einer sonderbaren Gemeinschaft mit Ihnen gelebt, endlich kann ich es bekennen. Wissen Sie, daß ich heute früh aus Feigheit beinahe Ihren Brief ungelesen zerrissen hätte, so wie ich damals in Sankt Gilgen Ihren Brief ungelesen zerrissen hab ...«

Kaum war's heraus, erstarrte Leonidas. Ohne es zu wollen, hatte er sich bis tief auf den Grundschlamm entblößt. Ein jähes Schamgefühl strich ihm wie eine Bürste über den Nacken. Warum war er nicht beizeiten gegangen? Welcher Teufel hatte ihn zu dieser Beichte aufgestachelt? Seine Blicke waren aufs Fenster gerichtet, hinter dem die Bogenlampen aufzischten. Es nieselte wieder. Der Mückentanz der winzigen Regentropfen kreiste um die Lichtkugeln. Fräulein Vera Wormser stand unbewegt da. Es war ganz dunkel. Ihr Gesicht war nur mehr ein fahler Schein. Leonidas fühlte die erloschene Gestalt, von der er abgewendet stand, als etwas Priesterinnenhaftes. Die Stimme aber, sachlich und kühl, wie von Anfang an, schien sich entfernt zu haben:

»Das war sehr praktisch von Ihnen, damals«, sagte sie, »meinen Brief nicht zu lesen. Ich hätte ihn gar nicht schreiben dürfen. Aber ich war ganz allein und ohne Hilfe in den Tagen, als das Kind starb ...«

Leonidas wandte den Kopf nicht. Sein Körper war plötzlich wie aus Holz. Das Wort »Genickstarre« wuchs in ihm auf. Ja, genau in jenem Jahr hatte die Epidemie so viele Kinder im Salzburgischen hingerafft. Das Ereignis hatte sich, unbekannt warum, seinem Gedächtnis eingegraben. Obwohl er aus Holz war, begannen seine Augen zu weinen. Er fühlte aber keinen Schmerz, sondern eine Verlegenheit ganz fremder Art und noch etwas Unerklärliches, das ihn zwang, einen Schritt zum Fenster zu machen. Dadurch entfernte sich die klare Stimme noch mehr.

»Es war ein kleiner Junge«, sagte Vera, »zwei und ein halbes Jahr alt. Er hieß Joseph, nach meinem Vater. Leider habe ich jetzt von ihm gesprochen. Und ich hatte mir fest vorgenommen, nicht von ihm zu sprechen, nicht mit Ihnen! Denn Sie haben kein Recht ...«

Der Mensch aus Holz starrte durchs Fenster. Er glaubte, nichts zu empfinden als das hohle Verrinnen der Sekunden. Er sah tief in die Erde des Dorfkirchhofs von Sankt Gilgen hinein. Einsamer schwerer Bergherbst. Dort lagen auseinandergestreut im schwarzen nassen Moder die Knöchelchen, die aus ihm kamen. Bis zum Jüngsten Gericht. Er wollte irgend etwas sagen. Zum Beispiel: »Vera, ich habe nur Sie geliebt!« Oder: »Würden Sie es noch einmal mit mir versuchen?« Es war lächerlich alles, stumpfsinnig und verlogen. Er sagte kein Wort. Seine Augen brannten. Als er sich dann, viel später, umdrehte, war Vera bereits gegangen. Nichts war im finsteren Raum von ihr zurückgeblieben. Nur die achtzehn sanften Teerosen, die auf dem Tisch standen, bewahrten noch immer einen Rest ihres Lichtes. Der Duft, durch die Dunkelheit ermutigt, schwebte in runden, leise fauligen Wellen empor, stärker als früher. Leonidas litt darunter, daß Vera seine Rosen vergessen oder verschmäht hatte. Er hob die Vase vom Tisch, um sie zum Portier zu tragen. An der Tür des Salons aber überlegte er sich's und stellte die Totenblumen wieder in die vollkommene Finsternis zurück.


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