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Drittes Kapitel

Hoher Gerichtshof

Obgleich die Zeit schon vorgerückt war, ging Leonidas die Alleestraße des Hietzinger Viertels viel langsamer entlang als sonst. Er stützte sich, gedankenvoll schreitend, auf seinen Regenschirm, blickte aber zugleich mit aufmerksamen Augen um sich her, um keinen Gruß zu versäumen. Er war recht oft gezwungen, seine Melone zu ziehen, wenn ihn die pensionierten Beamten und kleinen Bürger dieser ehrerbietig konservativen Gegend schwungvoll komplimentierten. Seinen Mantel trug er überm Arm, denn es war unversehens warm geworden.

Seit der kleinen Weile, in der durch Veras Brief sein Leben von Grund auf verwandelt worden war, hatte sich auch das Wetter dieses Oktobertages überraschend verändert. Der Himmel war überall zugewachsen und zeigte keine schamlos nackten Stellen mehr. Die Wolken eilten nicht länger dampfweiß und scharfgerändert, sondern lasteten unbeweglich tief und hatten die Farbe schmutziger Möbelüberzüge. Eine Windstille wie aus dickem Flanell herrschte ringsum. Das Pochen der Motoren, das Kreischen der Elektrischen, der Straßenlärm fern und nah klang wie gepolstert. Jedes Geräusch war aufgetrieben und undeutlich, als erzähle die Welt die Geschichte dieses Tages mit vollem Munde. Ein unnatürlich warmes, ein verschlagenes Wetter, das bei älteren Leuten die Angst vor einem plötzlichen Tode förderte. Es konnte sich zu allem entscheiden: zu Gewitter und Hagelschlag, zu griesgrämigem Landregen oder zu einem faulen Friedensschluß mit der Herbstsonne. Leonidas mißbilligte von ganzem Herzen diese Witterung, die den Atem bedrängte und auf seinen eigenen Gemütszustand zweideutig gemünzt schien.

Die schlimmste Folge der krankhaften Windstille aber bestand darin, daß sie den Sektionschef hinderte, logische Gedanken und Entscheidungen zu fassen. Ihm war's, als arbeite sein akademisch erzogenes Gehirn nicht frei und gelenkig wie sonst, sondern in dicken, unbequemen Wollhandschuhen, mit welchen sich die rasch aufwachsenden Fragen nicht recht anfassen und begreifen ließen.

Er war also Vera erlegen heute. Nach einem achtzehnjährigen stummen Kampf, der sich wie außerhalb des Lebens abgespielt hatte, ohne deshalb weniger tatsächlich zu sein. Ihre Kraft allein hatte ihn gezwungen, den Brief zu lesen, anstatt ihn zu zerreißen und damit der Wahrheit noch einmal zu entkommen. Ob es ein Fehler war, das konnte er jetzt noch nicht wissen, eine Niederlage war's jedenfalls und entscheidender als das, ein jäher Weichenwechsel seines Lebens. Seit einer Viertelstunde lief dieses Leben auf einem neuen Schienenstrang in unbekannter Richtung. Denn seit genau einer Viertelstunde hatte er einen Sohn. Dieser Sohn war ungefähr siebzehn Jahre alt. Das Bewußtsein, des fremden jungen Mannes Vater zu sein, hatte ihn durchaus nicht unerwartet aus dem Hinterhalt des Nichts angetreten. Im Dämmerreiche seines Schuldbewußtseins, seiner Angst und seiner Neugier lebte ja Veras Kind seit dem unbekannten Tage der Geburt ein drohend gespensterhaftes Leben. Nun hatte nach einer schier unendlichen Inkubationsfrist, in der die Furcht fast schon zerronnen war, dieses Gespenst urplötzlich Fleisch und Blut angenommen. Die harmlos tückische Verschleierung der Wahrheit in Veras Brief milderte die Ratlosigkeit des Bestürzten keineswegs. Obwohl er vom Charakter der einst Geliebten nicht das mindeste mehr wußte, so dachte er jetzt mit einem nervösen Verkneifen der Lippen: Das ist echt Vera, diese Kriegslist! Sie bleibt unbestimmt. Bleibt sie nur unbestimmt, um mich nicht zu kompromittieren? Oder läßt sie mir noch eine Hoffnung? Der Brief gibt mir offenbar die Möglichkeit, auch jetzt noch zu entschlüpfen. »Sollten Sie bereit sein, meiner Bitte zu willfahren ...« Und wenn ich nicht bereit wäre? Mein Gott, das ist es ja! Durch ihre Unbestimmtheit bindet sie mich doppelt. Ich kann nicht länger passiv bleiben. Eben darum, weil sie die Wahrheit nicht schreibt, verifiziert sie die Wahrheit. Dem Sektionschef war im Zusammenhange mit Vera dieser juristische Fachausdruck »verifizieren« wirklich in den Sinn gekommen.

Untreu seinen guten Manieren, blieb er bei einem Übergang mitten auf der Fahrbahn stehen, blies einen stöhnenden Atemzug von sich, nahm die Melone ab und trocknete seine Stirn. Zwei Autos gaben wütend Laut. Ein Schutzmann drohte empört. Leonidas erreichte in verbotenen Sprüngen das andere Ufer. Es war ihm nämlich eingefallen, daß sein neuer Sohn in hohem Maße ein israelitischer Jüngling war. Er durfte also in Deutschland nicht mehr die Schule besuchen. Nun, man lebte hier in der gefährlichsten Nachbarschaft Deutschlands. Niemand wußte, wie sich die Dinge hierzulande entwickeln würden. Es war ein ungleicher Kampf. Von einem Tag zum andern konnten hüben dieselben Gesetze in Kraft treten wie drüben. Schon heutzutage war für einen hohen Staatsbeamten die gesellschaftliche Berührung mit Veras Rasse, von einigen glänzenden Ausnahmen abgesehen, höchst unstatthaft. Die Zeiten lagen sehr fern, in welchen man den Frack eines unglücklichen Kollegen erben durfte, der sich aus keinem triftigeren Grunde erschossen hatte, als weil er des vergötterten Richard Wagner Verdammungsurteil gegen den eigenen Stamm nicht zu ertragen vermochte. Und nun besaß man mit Fünfzig urplötzlich selbst ein Kind dieses Stammes. Eine unglaubliche Wendung! Die Weiterungen waren nicht auszudenken. Amelie?! Aber so weit sind wir noch gar nicht, redete Leonidas sich selbst ein.

Immer wieder versuchte er, den Fall, in den er als Verschulder und Opfer gleichermaßen verwickelt war, sich aufs gewissenhafteste »zurechtzulegen«. Der geschulte Beamte besitzt ja die Fertigkeit, über jeden Sachverhalt einen »Akt zu errichten« und ihn damit dem Schmelzprozeß des Lebens zu entreißen. Leonidas gelang es kaum, diesen dürren Sachverhalt wieder herzustellen, geschweige auch nur einen Hauch jener sechs Wochen seiner brennenden Liebe. Vera selbst verbat sich's, genau so wie sie ihm ihr Bild entzog. Was übrigblieb, war recht mager. In diesen quälenden Minuten wäre er auch vor Gericht (vor welchem Gericht?) nicht fähig gewesen, ein farbigeres Bild des inkriminierten Vergehens zu malen, als etwa folgendes:

Es geschah im dreizehnten Monat meiner Ehe, hoher Gerichtshof – so hätte das trockene Plädoyer beginnen können –, da erhielt Amelie die Nachricht, daß ihre Großmutter mütterlicherseits schwer erkrankt sei. Diese Großmutter, eine Engländerin, war die wichtigste Persönlichkeit der eingebildeten, snobistischen Millionärsfamilie Paradini. Sie liebte ihre jüngste Enkelin abgöttisch. Amelie war gezwungen, um einen wesentlichen Teil ihres Erbes zu verteidigen, nach Devonshire auf den Landsitz der Sterbenden zu reisen. Intriganten und Erbschleicher waren am Werk. Ich hielt es für unumgänglich notwendig, daß meine Frau der alten Dame in ihren letzten Stunden immer vor Augen blieb. Leider dehnten sich diese letzten Stunden zu vollen drei Monaten aus. Ich glaube ohne nachträgliche Fälschung sagen zu können, daß wir beide, Amelie und ich, über diese erste Trennung unserer Gemeinschaft aufrichtig verzweifelt waren. Um ganz offen zu sein, vielleicht habe ich für meine Person gleichzeitig eine angenehme Spannung empfunden, daß ich nun für eine kurze Dauer wieder frei sein werde und mein eigener Herr. In den Anfängen nämlich war Amelie noch weit anstrengender, launischer, verstimmter, eifersüchtiger als jetzt, wo sie sich trotz ihrer ursprünglichen Unbändigkeit meinem maßvollen Lebensrhythmus anzupassen gelernt hatte. Sie war ja kraft ihres Reichtums die Herrin über mich und hatte es leicht, eine Fée Caprice zu sein. Die brutalen Grundverhältnisse zwischen den Menschen lassen sich auch durch persönliche Kultur, Bildung, Erziehung und ähnliche Luxusgüter nicht umstürzen. Wir feierten jedenfalls auf dem Westbahnhofe einen schweren, tränenvollen Abschied. Zur selben Zeit hatte mein Ministerium den Beschluß gefaßt, mich nach Deutschland zu schicken, damit ich dort die vorbildliche Organisation des Hochschulstudiums aus der Nähe kennen lerne. Aufbau und Verwaltung der Universitäten sind, wie man weiß, mein eigentliches Fach und meine besondere Force. In diesen Belangen habe ich einiges geleistet, was aus der Erziehungsgeschichte meines Vaterlandes nicht leicht wird ausgemerzt werden können. Amelie ihrerseits war recht zufrieden, daß ich für die Zeit unserer Trennung nach Heidelberg gehen würde. Sie hätte überaus darunter gelitten, mich in dem großen verführerischen Wien zurücklassen zu müssen. Die Versuchungen eines hübschen deutschen Universitätsstädtchens erschienen ihr federleicht dagegen. Ich hatte sogar hoch und heilig versprechen müssen, schon am Tage nach ihrer Abreise Wien zu verlassen, um mich unverzüglich meiner neuen Aufgabe zu widmen. Mit Pünktlichkeit hielt ich mein Versprechen, denn ich muß bekennen, daß mir Amelie selbst heute noch eine gewisse Furcht einflößt. Ich habe ihre überlegene Position nicht zu überwinden verstanden. Daß sie sich's in den Kopf gesetzt hatte, den kleinen Konzeptbeamten, der ich damals war, gegen alle Widerstände zu heiraten, das war die Extravaganz einer Sehrverwöhnten, der jeder Wunsch erfüllt werden mußte. Wer hat, dem wird gegeben. Ich bin, das läßt sich nicht bezweifeln, in Amelies Besitz übergegangen. Sehr groß sind die Vorteile, einer unabhängigen steinreichen Frau anzugehören, die aus einem finanziell und gesellschaftlich mächtigen Hause stammt. Die Nachteile sind aber nicht minder groß. Nicht einmal die strenge Gütertrennung, auf der ich von jeher grundsätzlich bestand, kann es verhüten, daß auch ich durch ein den großen Vermögen innewohnendes Naturgesetz eine Art willensbeschränktes Eigentum geworden bin. Vor allem: Wenn ich Amelie verliere, habe ich positiv mehr zu verlieren, als sie zu verlieren hat, wenn sie mich verliert. (Ich glaube übrigens nicht, daß Amelie meinen Verlust überleben könnte.) All diese Gründe haben mich vom ersten Tage an unsicher und ängstlich gemacht. Es bedurfte daher einer unablässigen Selbstbeherrschung und Vorsicht, mir diese demütigenden Schwächen nicht anmerken zu lassen und immer der spielerisch heitere Mann zu bleiben, der seinen Erfolg mit einem lässigen Achselzucken als selbstverständlich hinnimmt. – Vierundzwanzig Stunden nach unserem rührenden Abschied traf ich in Heidelberg ein. Im Portal des dortigen Prachthotels kehrte ich um. Plötzlich widerte mich der üppige Lebensstil an, in den mich meine Ehe versetzt hatte. Es war wie ein Heimweh nach den Bitternissen und der Bedürftigkeit meiner eigenen Lehrzeit. Und dann: Mir war ja die Aufgabe gestellt worden, das Leben und Treiben der hiesigen Studenten zu studieren. Ich mietete mich also in einer engen billigen Studentenpension ein. Schon bei der ersten Mahlzeit am gemeinsamen Tisch sah ich Vera. Ich sah Vera Wormser wieder.

Für alles, was ich nunmehr vorbringen will, hoher Gerichtshof, muß ich um ganz besondere Nachsicht bitten. Es ist nämlich so, daß ich mich an die unter Anklage stehenden Vorgänge nicht eigentlich erinnern kann, obwohl sie mir natürlich als meine eigenen anrüchigen Erlebnisse durchaus bekannt sind. Ich weiß von ihnen ungefähr so, wie man etwas weiß, das man vor langer Zeit irgendwo gelesen hat. Man kann's notdürftig nacherzählen. Es lebt aber nicht im Innern wie die eigene Vergangenheit. Es ist abstrakt und leer. Eine peinliche Leere, vor der jeder Versuch eines gefühlshaften Wiedererlebens zurückscheut. Da ist vor allem meine Geliebte selbst, Fräulein Vera Wormser, Studentin der Philosophie, zu jener Zeit. Ich weiß, daß sie bei unsrer Wiederbegegnung in Heidelberg zweiundzwanzig Jahre alt war, neun Jahre jünger als ich, drei Jahre älter als Amelie. Ich weiß, daß ich niemals eine feinere zierlichere Erscheinung gekannt habe als Fräulein Wormser. Amelie ist sehr groß und schlank. Sie muß aber um diese Schlankheit unaufhörlich kämpfen, denn von Natur neigt ihre fürstliche Gestalt eher zur Fülle. Ohne daß je eine Bemerkung darüber gefallen wäre, hat es der Instinkt Amelies genau erfaßt, daß mich alles Pompös-Weibliche kalt läßt und daß ich eine unüberwindliche Zuneigung für kindhafte, ätherische, durchsichtige, rührend-zarte, gebrechliche Frauenbilder empfinde, insbesondere dann, wenn sie mit einem besonnenen und unerschrockenen Geiste gepaart sind. Amelie ist dunkelblond, Vera hat nachtschwarze Haare, in der Mitte gescheitelt, und im ergreifenden Gegensatz dazu, tiefblaue Augen. Ich berichte das, weil ich es weiß, nicht aber, weil ich es vor mir sehe. Ich sehe Fräulein Wormser, die meine Geliebte war, nicht mit meinem inneren Auge. So trägt man das Bewußtsein einer Melodie in sich, ohne sie wiedergeben zu können. Schon seit Jahren kann ich mir die Vera von Heidelberg nicht vorstellen. Immer wieder drängte sich eine andere dazwischen. Die vierzehn- oder fünfzehnjährige Vera, wie ich sie als bettelarmer Student zum erstenmal erblickt habe.

Die Familie Wormser hatte hier in Wien gelebt. Der Vater war ein vielbeschäftigter Arzt, ein kleiner feingliedriger Mann mit einem schwarzgrauen Bärtchen, der wenig sprach, hingegen selbst bei Tische unversehens eine medizinische Zeitschrift oder Broschüre hervorzuholen pflegte, in die er sich versenkte, ohne die anderen zu beachten. Ich lernte in ihm den »intellektuellen Israeliten« par excellence kennen, mit seiner Vergötterung des bedruckten Papiers, mit seinem tiefen Glauben an die voraussetzungslose Wissenschaft, der bei diesen Leuten die natürlichen Instinkte und Gelassenheiten ersetzt. Wie imponierte mir damals jene ungeduldige Strenge, die keine anerkannte Wahrheit unwidersprochen hinnimmt. Ich fühlte mich nichtig und wirr vor dieser zergliedernden Schärfe. Er war Witwer schon die längste Zeit und auf der schwermütigen Grundierung seiner Züge lag unauslöschbar ein spöttisches Lächeln. Die Wirtschaft führte eine ältere Dame, die zugleich das Amt einer Ordinations-Schwester versah. Doktor Wormser, sagte man, war ein Arzt, der so manche Leuchte der Fakultät an Wissen und diagnostischer Treffsicherheit übertraf. Ich war in dieses Haus empfohlen worden, um den siebzehnjährigen Jacques, Veras Bruder, zum Examen vorzubereiten. Jacques hatte durch eine langwierige Krankheit mehrere Monate des Schuljahres versäumt, und nun mußten die Lücken in aller Eile ausgefüllt werden. Er war ein blasser schläfriger Junge, verschlossen gegen mich bis zur Feindseligkeit, und hat mich durch seine Zerstreutheit und seinen inneren Widerstand (heute weiß ich den Grund) oft bis aufs Blut gepeinigt. Er ist dann in den ersten Kriegswochen als Freiwilliger gefallen. Bei Rawa Ruska. Wie froh aber war ich in jener härtesten Periode meines Lebens, eine fixe Hauslehrerstelle für längere Zeit gefunden zu haben. Vor mir lag keine Zukunft. Daß mir schon ein Semester später der Sprung aus meiner dumpfen Unterwelt in eine lichte Oberwelt gelingen werde, das hätte auch eine robustere Natur nicht für erträumbar gehalten. Ich glaubte schon, das große Los gezogen zu haben, weil man mich im Hause Wormser, ohne daß es ausbedungen war, täglich beim Mittagessen dabehielt. Der Doktor kam gewöhnlich gegen ein Uhr heim. Jacques und ich saßen da noch immer über den Lehrbüchern. Er rief uns beide zu Tisch, wobei er meines unseligen Vornamens wegen oft die berühmte Grabschrift des antiken Leonidas und seiner Helden parodierte:

»Wanderer, kommst du nach Sparta,
verkündige dorten, du habest
hier uns schmausen gesehn, wie
das Gesetz es befahl.«

Ein mäßiger Witz, der mich aber immer wieder sonderbar beschämte und kränkte. Das Mittagsmahl bei Wormser wurde für mich ein Gewohnheitsrecht. Vera kam fast immer zu spät. Auch sie war Gymnasiastin wie ihr Bruder. Ihre Schule aber lag in einem entfernten Bezirk. Sie hatte einen langen Heimweg. Das Haar trug sie damals noch lang. Es fiel ihr auf die schwächlichen Schultern. Ihr Gesichtchen, wie aus Mondstein geschnitten, wurde beherrscht von den großen, langbeschatteten Augen, deren irritierendes Blau sich unter die schwarzen Brauen und Wimpern aus einer kühlen Fremde verirrt zu haben schien. Nur selten traf mich ihr Blick, der hochmütigste, ablehnendste Mädchenblick, den ich je zu erdulden hatte. Ich war der Hauslehrer ihres Bruders, ein kleiner Student, käsig, mit Pickeln im Gesicht und stets entzündeten Augen, die bedeutungslose Nichtigkeit und Unsicherheit in Person. Ich übertreibe nicht. Bis zu jenem unglaubwürdigen Wendepunkt meines Lebens war ich ohne Zweifel ein unschöner linkischer Bursche, der sich von jedermann verachtet und von jederfrau verlacht fühlte. Ich hatte gewissermaßen das äußerste »Tief« meines Daseins erreicht. Niemand hätte einen Groschen für die Laufbahn dieses schäbigen Studenten gegeben. Auch ich nicht. Mein ganzes Selbstvertrauen war erschöpft. Wie sollte ich gerade in diesen unseligen Monaten ahnen, daß ich mich selbst bald werde grenzenlos in Erstaunen setzen? (Alles kam dann wie ohne mein Zutun.) Ich war mit dreiundzwanzig Jahren in meinem Elend eine noch nicht voll entwickelte Lemure. Vera aber, ein Kind, schien weit über ihre Jahre hinaus reif und gefestigt zu sein. Immer, wenn mich bei Tisch ihre Augen streiften, erstarrte ich unter dem arktischen Kältegrad ihrer Gleichgültigkeit. Dann hatte ich den Wunsch, mich in Nichts aufzulösen, damit Vera den unappetitlichsten und unsympathischsten Menschen der Welt nicht länger vor den schönen Augen haben müsse.

Neben Geburt und Tod erlebt der Mensch eine dritte katastrophale Stufe auf seinem Erdenweg. Ich möchte sie die »soziale Entbindung« nennen, ohne mit dieser etwas zu geistreichen Formel ganz einverstanden zu sein. Ich meine den krampfgeschüttelten Übergang von der völligen Geltungslosigkeit des jungen Menschen zu seiner ersten Selbstbestätigung im Rahmen der bestehenden Gesellschaft. Wieviel gehen an dieser Entbindung zugrunde oder nehmen zumindest einen Schaden fürs Leben. Es ist schon eine runde Leistung, fünfzig Jahre alt zu werden, und noch dazu in Ehren und Würden. Mit dreiundzwanzig, ein verspäteter Fall, wünschte ich mir alltäglich den Tod, zumal wenn ich am Familientisch Doktor Wormsers saß. Mit wildem Herzklopfen erwartete ich jedesmal Veras schwebenden Eintritt. Erschien sie in der Tür, so war's für mich eine fürchterliche Wonne, die mir die Kehle zudrückte. Sie küßte den Vater auf die Stirn, gab dem Bruder einen Klaps und reichte mir geistesabwesend die Hand. Dann und wann richtete sie sogar das Wort an mich. Es handelte sich dabei meist um Fragen, die einen der Gegenstände betrafen, die an diesem Tage in ihrer Schule zur Sprache gekommen waren. Ich versuchte dann mit gieriger Stimme auszupacken und mein Licht leuchten zu lassen. Es gelang mir niemals. Vera wußte nämlich immer so zu fragen, als benötige sie keineswegs den unfehlbaren Wissensborn, als welchen ich mich dünkte, so als sei ich der Geprüfte und sie die Prüfende. Nichts nahm sie auf Treu und Glauben hin. Darin war sie die echte Tochter des Doktors. Schnitt sie meinen eitlen Sermon – ihre Augen sahen über mich hinweg – mit einem unnachsichtigen »Warum ist das so« plötzlich ab, dann verwirrte mich ihr Wahrheitssinn bis zur Sprachlosigkeit. Ich selbst hatte niemals ›Warum‹ gefragt, sondern an der endgültigen Richtigkeit alles Gelehrten nicht im geringsten gezweifelt. Nicht umsonst war ich der Sohn eines Schulmannes, der das »Memorieren« des Lehrstoffes für die beste Methode hielt. Manchmal stellte mir Vera auch Fallen. In meinem Eifer ging ich in diese Fallen. Dann lächelte Doktor Wormser müde vor Ironie oder ironisch vor Müdigkeit, wer konnte es bei ihm unterscheiden. Veras Intelligenz, ihr kritischer Sinn, ihre Unbestechlichkeit, wurde nur noch übertroffen von dem unnahbaren Reiz ihrer Erscheinung, der mir immer wieder den Atem verschlug. Hatte ich mir eine Niederlage zugezogen, dann liebte ich das Mädchen nur um so verzweifelter. Ich durchlebte ein paar Wochen der gräßlichsten Sentimentalität. Nachts weinte ich mein Kissen naß. Ich, der ich einige Jahre später die umworbenste Schönheit von Wien mein nennen sollte, ich glaubte während jener unseligen Wochen dieses strengen Schulmädchens Vera niemals würdig werden zu dürfen. Volltrunken von Hoffnungslosigkeit war ich. Zwei Wesenszüge der Angebeteten schleuderten mich stets in den Abgrund meines Unwerts: die Reinheit ihres Sinns und eine süße Fremdartigkeit, die mich verzückte bis an die Grenze des Schauders. Mein einziger Sieg war, daß ich mir nichts anmerken ließ. Ich sah Vera kaum an und befleißigte mich bei Tisch einer starr blasierten Miene. Wie es sentimentalen Pechvögeln zu ergehen pflegt, erging es auch mir. Immer wieder unterlief mir oder beging ich eine Ungeschicklichkeit, die mich lächerlich machte. Ich streifte ein venezianisches Glas zu Boden, das Vera besonders liebte. Ich verschüttete Rotwein über das frische Tischtuch. Ich wies aus purer Verlegenheit und blödem Stolz die Speisen zurück und stand, ohne Aussicht auf ein Abendessen, so hungrig auf, wie ich mich hingesetzt hatte; eine sinnlose, aber heldenhafte Entsagung, die auf Vera nicht den mindesten Eindruck machte. Einmal brachte ich – meine Zimmermiete mußte ich deshalb schuldig bleiben – die schönsten langstieligen Rosen mit, hatte aber den Mut nicht, sie Vera zu überreichen, sondern steckte sie gleich im Vorraum hinter einen Schrank, wo sie ruhmlos verkamen. Kurz, ich benahm mich wie der schüchterne Liebhaber des älteren Lustspiels, nur noch verbohrter und vertrackter. Ein andermal, als wir schon beim Dessert saßen, spürte ich, wie meine allzuenge Hose an der bedenklichsten Stelle mitten durchplatzte. Mein ausgewachsener Rock bedeckte diese Stelle nicht. Wie sollte ich mich, heiliger Himmel, nach Tisch unentlarvt an Vera vorbei retten? Mein Selbstbewußtsein hat früher oder später niemals wieder eine solche Hölle erlebt wie in diesen Minuten.

Man sieht, hohes Gericht, wie meine Erinnerung flüssig wird, wenn ich sie auf das Haus Wormser und die Zeit meiner ersten und letzten unglücklichen Liebe richte. Ich könnte nichts einwenden gegen die Vermahnung: Bleiben Sie bei der Sache, Angeklagter. Wir sind keine Seelenärzte, sondern Richter. Warum behelligen Sie uns mit den Herzenswallungen eines Jünglings, der sehr verspäteter Weise die Nachwirkungen der Geschlechtsreife noch nicht überwunden hatte? Ihre Schüchternheit haben Sie mittlerweile gründlich abgelegt, das werden Sie zugeben. Als Sie den Frack des Selbstmörders erbten und im Spiegel erkannten, daß er Ihnen gut stand und Sie zu einem wohlaussehenden jungen Mann machte, da waren Sie mit einem Schlage ein anderer, das heißt, Sie waren Sie selbst. Wen also wollen Sie mit jenen langweiligen Geschichten rühren? Sehen Sie etwa in der kindischen Schwärmerei, die Sie vor uns ausbreiten, eine Ausrede für Ihr nachfolgendes Verhalten? – Ich suche keine Ausrede, hoher Gerichtshof. – Es ist festzustellen, daß Sie während Ihres Dienstes im Hause Wormser der Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen Ihre Gefühle mit keiner Miene zur Kenntnis brachten. – Mit keiner Miene. – Fahren Sie demnach fort, Angeklagter! Sie hatten sich zu Heidelberg in einer Studentenpension eingemietet, wo Sie Ihrem Opfer wieder begegneten. – Jawohl, ich hatte mich in dieser kleinen Pension eingemietet und begegnete nach vollen sieben Jahren gleich bei der ersten Mahlzeit Vera Wormser. Nachdem Jacques dank meiner Hilfe das Abiturientenexamen bestanden, war die Familie nach Deutschland gezogen. Man hatte Wormser die Leitung eines privaten Krankenhauses in Frankfurt angeboten und er war diesem Rufe gefolgt. Als ich Vera aber wiedersah, lebte weder ihr Vater noch ihr Bruder mehr. Sie stand vollkommen allein im Leben, behauptete jedoch, sich weniger verlassen als frei und selbständig zu fühlen. Der Zufall hatte es gewollt, daß ich am langen Tisch meinen Platz neben dem ihren hatte ...

Ich unterbreche mich, hoher Gerichtshof, weil ich selbst bemerke, daß meine Ausdrucksweise immer stockender und hölzerner wird. Je mehr ich mich sammeln will, desto peinlicher versagt meine Vorstellungsgabe. Ich nähere mich dem Tabu, dem verbotenen Raum meiner Erinnerung. Da ist zum Beispiel gleich jener Streit, der schon bei der ersten Mahlzeit entbrannte. Ich weiß, daß ein Streit um irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand ausbrach, der damals gerade die Mode beschäftigte. Ich weiß auch, daß Vera meine heftigste Gegnerin war. Trotz meines sonst höchst verläßlichen Gedächtnisses aber weiß ich vom Inhalt dieses Streites nichts mehr. Ich nehme an, daß ich gegen Veras zersetzende Kritik die Sache der Konvention vertrat und mir damit den Beifall der Mehrzahl sicherte. Ja, wahrhaftig, diesmal erlitt ich keine Niederlage mehr wie einst an des guten Doktors Familientisch. Ich war einunddreißig Jahre alt, Abgesandter eines Ministeriums, glänzend angezogen, man hatte mich heute schon in Gesellschaft Seiner Magnifizenz, des Herrn Rektors gesehen, ich besaß Geld in Hülle und Fülle, lebte also innerlich und äußerlich im Stande einer großartigen Überlegenheit über all dieses junge Volk, dem auch Vera angehörte. Ich hatte in den letzten Jahren außerordentlich viel gelernt, ich hatte meinen Vorgesetzten die Gebärde des liebenswürdig verbindlichen Rechthabens und Machthabens abgelauscht, die eine weise Besonderheit unsrer altösterreichischen Beamtentradition ist. Ich verstand zu reden. Mehr, ich verstand mit sicherer Gelassenheit so zu reden, daß alle anderen schwiegen. Ich war mit vielen Persönlichkeiten von Rang in nähere Berührung gekommen, deren Ansicht und Meinungen ich zur Unterstützung meiner Ansicht nun leichthin ins Treffen führen durfte. Ich kannte somit nicht nur die Elite, ich war selbst ein Teil von ihr. Vor seiner »sozialen Entbindung« überschätzt der junge bürgerliche Mensch die Schwierigkeit des Sprunges in die Welt. Ich persönlich zum Beispiel verdankte meine erstaunliche Karriere durchaus keinen überragenden Eigenschaften, sondern drei musikalischen Talenten: dem feinen Gehör für die menschlichen Eitelkeiten, meinem Taktgefühl und – dies ist das wichtigste der drei Talente – der schmiegsamsten Nachahmungskunst, deren Wurzel freilich in der Schwäche meines Charakters liegt. Wäre ich sonst, ohne eine Ahnung auch nur vom Wechselschritt zu haben, einer der beliebtesten Walzertänzer in meinen jungen Tagen geworden? Als ein großer Herr trat nun der lächerliche Hauslehrer der ehemals Angebeteten entgegen. Ich glaube zu wissen, daß Vera nach einer anfänglichen Mißbilligung mich immer erstaunter betrachtete, mit immer größeren, immer blaueren Augen. Daß aber meine alte Verliebtheit mit einem Schlag neu erweckt wurde, das glaube ich nicht nur zu wissen, das weiß ich. Das Spiel mit Menschen, mit Mann und Frau, hatte ich inzwischen gelernt. Es war aber nicht nur ein frevelhaftes Spiel, es war ein toller Zwang, Schritt für Schritt, einer Schuld entgegen, die von Anfang an feststand. Ich glaube zu wissen, daß ich mich gut beherrschte, daß ich nichts von meiner Entflammtheit zeigte, nicht aus kläglichem Stolz wie einst, sondern aus genußvoller Zielstrebigkeit. Genau überlegte ich, wie ich mich täglich besser zur Geltung bringen könnte, sowohl in meinem soignierten Äußeren als auch im Geiste. Mehr als durch die wohlbedachten kleinen Aufmerksamkeiten, die ich ihr erwies, gewann ich Vera dadurch, daß ich ihr zu verstehen gab, ich teile im Herzen ihre unbekümmert radikalen Anschauungen, und nur meine hohe Stellung und die Staatsräson zwinge mich zur Einhaltung einer »mittleren Linie«. Ich glaube, sie wurde rot vor Freude, als sie sicher war, mich von den »Lügen der Konvention« geheilt zu haben. So wartete ich vorsichtig auf den rechten Augenblick. Auf den Augenblick, wo man es gewissermaßen im Gefühl hat. Er kam rascher, als ich zu hoffen wagte. Es war der vierte oder fünfte Tag meines Aufenthaltes, an dem Vera sich mir ergab. Ich sehe ihr Gesicht nicht, aber ich fühle die starre Verwunderung, die sie erfüllte, ehe sie ganz und gar mein wurde. Ich sehe den Ort nicht, wo es geschah. Alles ist schwarz. War es ein Zimmer? Bewegten sich Zweige unterm nächtigen Himmel? Ich sehe nichts, aber das Gefühl des herrlichen Augenblicks trage ich in mir. Das war nicht Amelies herrisch fordernde Heftigkeit. Das war ein erschrockener Starrkrampf zuerst und dann dieses atmende Erschlaffen des weichen Mundes, das träumerische Nachgeben der kindlichen Glieder, die ich in Armen hielt, ein scheues Näherstreben später, ein sanftes Zutrauen, eine Fülle des Glaubens. Niemand konnte so unbedingt, so einfältig glauben, wie diese scharfe Kritikerin. Entgegen Veras freien Reden und oft burschikosem Gehaben, durfte ich in diesem Augenblicke erkennen, daß ich der Erste war. Ich hatte bis zur Stunde nicht geahnt, daß die Jungfräulichkeit, von Herbheit und Schmerz verteidigt, etwas Heiliges ist ...

Hier muß ich haltmachen, hoher Gerichtshof. Jeder Schritt weiter verstrickt mich in einen Urwald. Obwohl ich ihn damals bewußt und mit arger Absichtlichkeit durchdrungen habe, so finde ich jetzt den Eingang nicht mehr. Ja, unsere Liebe war eine Art Urwald. Wo bin ich überall mit meiner Geliebten gewesen zu jener Zeit? In wie vielen giebligen Städtchen und Ortschaften des Taunus, des Schwarzwalds, des Rheinlands, in wie vielen Gaststuben, Weinlauben, Wirtsgärtchen und gewölbten Kammern? Ich hab's verloren. Alles bleibt leer. Doch nicht danach geht die Frage des Gerichts. Man fragt mich: Bekennen Sie sich schuldig? Ich bekenne mich schuldig. Nicht aber liegt meine Schuld in der einfachen Tatsache der Verführung. Ich habe ein Mädchen genommen, das bereit war, genommen zu werden. Meine Schuld war, daß ich sie mala fide so restlos zu meinem Weibe gemacht habe, wie keine andere Frau jemals, auch Amelie nicht. Die sechs unzugänglichen Wochen mit Vera bedeuten die wahre Ehe meines Lebens. Ich habe der großen Zweiflerin jenen ungeheuren Glauben an mich eingepflanzt, nur um ihn zuschanden werden zu lassen. Das ist mein Verbrechen. Entschuldigen Sie, bitte! Ich merke, daß dieses hohe Gericht die großen Worte nicht schätzt. Ich habe gehandelt wie ein »Kavalier mit Strupfen«, wie ein ganz gewöhnlicher Heiratsschwindler. Es begann sehr stilvoll mit der trivialsten aller Gesten. Ich verbarg meinen Ehering. Die erste Lüge zog mit exakter Notwendigkeit die zweite nach und die hundert nächsten. Nun aber kommt erst die Würze meiner Schuld. All jene Lügen und die reine Gläubigkeit der Belogenen verschärften meine Wollust in unvorstellbarer Weise. Ich baute vor Vera mit dem eindringlichsten Eifer unsre gemeinsame Zukunft auf. Ich entwickelte eine fugenlose Gründlichkeit meiner häuslichen Vorsorge, die sie hinriß. Nichts wurde in meinen Plänen vernachlässigt, nicht die Einteilung, die Einrichtung unsrer künftigen Wohnung, nicht die Wahl des Stadtbezirkes, der für uns am vorteilhaftesten gelegen sein mochte, nicht die Wahl der Menschen, die ich für würdig erachtete, mit ihr zu verkehren; die stärksten Geister und unzugänglichsten Frondeure befanden sich darunter, selbstverständlich. Meine Phantasie überbot sich selbst. Da blieb nichts unbedacht. Ich entwarf den täglichen Stundenplan unsres glückstrahlenden Ehelebens bis in die kleinste Kleinigkeit. Vera würde ihr Studium in Heidelberg abbrechen und in Wien an meiner Seite vollenden. In der Stadt Frankfurt gingen wir in die schönsten Geschäfte. Ich begann für unsre Haushaltung Einkäufe zu machen, und zwar, um jene Wollust zu erhöhen, erwarb ich darunter allerlei Gegenstände der Intimität und engsten Lebensnähe. Ich überhäufte sie mit Gaben, um ihren Glauben noch weiter zu erhöhen. Trotz ihrer wilden Proteste kaufte ich so eine ganze Aussteuer zusammen. Das einzige Mal in meinem Leben war ich verschwenderisch. Das Geld ging mir aus. Ich ließ mir eine große Summe telegraphisch nachsenden. Den ganzen Tag wühlte ich mit Fanatismus in Damast, Leinen, Seide, Spitzen, in Bergen von florzarten Damenstrümpfen. Welch ein unbeschreiblicher Kitzel für mich, als in Vera das Eis der israelitischen Intelligenz schmolz und das entzückte Weibchen hervortrat, in seiner ganzen holden Fremdartigkeit und mit der bedingungslosen Hingabe an den Mann, die diesem Stamme eignet. Ich sehe sie nicht, hoher Gerichtshof, aber ich fühle, wie wir durch die Straßen gehn, Hand in Hand, die Finger ineinander verschränkt. Oh, diese gebrechlichen kühlen Finger, wie spüre ich sie! Wie fühle ich die Melodie des einverstandenen Schrittes neben mir! Nichts Schöneres habe ich erlebt als dieses Hand in Hand und Schritt bei Schritt. Doch während ich es voll erlebte, genoß ich zugleich mit einem tiefen Schauder den mörderischen Tod, den ich unsrer Gemeinschaft zu bereiten im Begriffe stand. Und dann kam eines Tages der Abschied. Für Vera war's ein froher Abschied, denn ich sollte sie ja nach kurzer Trennung für immer zu mir nehmen. Ich sehe ihr Gesicht unter meinem Waggonfenster nicht. Es muß mich angelächelt haben aus der Fülle seines ruhigen Glaubens. »Leb wohl, mein Leben«, sagte ich. »Noch vierzehn Tage und ich hole dich ab.« Als ich aber dann allein in meinem Abteil saß, zusammengesunken nach so vielen Wochen der Spannung, da verfiel ich in eine Art narkotischen Schlafs. Ich schlief stundenlang, unerweckbar, und versäumte es, in einer großen Station den Zug zu wechseln. Nach einer sinnlosen Reise gelangte ich nachts in eine Stadt, die Apolda hieß. Das weiß ich. Vera sehe ich nicht mehr, doch ich sehe deutlich die traurige Bahnhofswirtschaft, wo ich den Morgen erwarten mußte ...

So hätte Leonidas sprechen müssen. So hätte er auch vor jedem Gericht in zusammenhängender Darstellung sprechen können, denn jedes Steinchen dieses Mosaiks war in seinem Bewußtsein vorhanden. Das Gefühl seiner Liebe und Schuld war da, nur die Bilder und Szenen entwichen, wenn er nach ihnen haschte. Und vor allem, die Empfindung eines unerwarteten Prozesses gab ihn nicht frei. Das Wetter aber, diese schreckliche Windstille, als deren innerster Mittelpunkt er durch die Straßen zu gehen meinte, machte jeden Versuch des »Zurechtlegens« immer wieder zunichte. Immer stumpfer und wohliger empfand er den Griff seiner Gedanken. War's nicht höchste Zeit, eine Entscheidung zu treffen? Stand das Urteil des hohen Gerichtshofes nicht schon fest, der mit bürokratischer Hartnäckigkeit irgendwo in ihm und außer ihm tagte? »Wiedergutmachung der Schuld an dem Kinde«, so lautete Artikel 1 dieses Urteils. Und strenger noch Artikel 2 »Wiederherstellung der Wahrheit«. Durfte er aber Amelie die Wahrheit sagen? Diese Wahrheit würde seine Ehe zerschlagen für immer. Trotz der verflossenen achtzehn Jahre könnte ein Wesen wie Amelie seinen Betrug und mehr noch, seine lebenslängliche Lüge nicht verzeihen und nicht überwinden. Er hing in diesen Minuten an seiner Frau mehr als je. Ihm wurde schwach. Warum hatte er Veras verfluchten Brief nicht zerrissen?!

Leonidas hob die Augen. Er ging soeben an der Stirnseite des Hietzinger Parkhotels vorbei, wo Fräulein Doktor Wormser wohnte. Freundlich grüßten die Balkonreihen, an denen sich der wilde Wein mit seinen hundert rötlichen Tönungen dahinrankte. Es mußte ein reizender Aufenthalt hier sein, jetzt im Oktober. Die Fenster gingen auf den Schönbrunner Park hinaus, rechts auf den Tiergarten, links auf das sogenannte »Kavaliersstöckl« des ehemalig kaiserlichen Schlosses. Vor dem Eingang des Hotels hielt er seinen Schritt an. Es mochte ungefähr zehn Uhr sein. Wahrhaftig keine Stunde, in der ein wohlerzogener Mann einer beinahe fremden Dame seinen Besuch abstatten darf ... Hinein! Sich anmelden lassen! Ohne lange Überlegung eine Lösung improvisieren! Aus dem Portal trat ein Herr der Direktion, der den Sektionschef ehrfürchtig grüßte. Himmel Herrgott, kann man nirgends mehr vorüberschleichen, ohne ertappt zu werden?

 

Leonidas floh hinüber in den Schloßpark. Ihm war's gleichgültig jetzt, daß er sich heute gegen seine sonstige Art verspätete und der Minister schon nach ihm gefragt haben mochte. Endlos schwang sich die Allee zwischen barock geschnittenen Taxusmauern in eine verzeichnete Ferne. Dort irgendwo im dunstig Leeren hing die »Gloriette«, ein baulicher Astralleib, das Gespenst eines triumphierenden Jubeltors, das ohne Zusammenhang mit der entzauberten Erde in den wohlgeordneten Himmel des ancien régime zu führen schien. Es roch nach vielfältiger Abgeblühtheit, nach allem Staub und nach Säuglingswindeln ringsum. Lange Kolonnen von Kinderwagen wurden an Leonidas vorbeigeschoben. Mütter und Bonnen führten die Drei- und Vierjährigen an der Hand, deren plapperndes greinendes Auf und Ab die Luft erfüllte. Leonidas sah, daß in den Kinderwagen ein Säugling dem andern zum Verwechseln glich, mit seinen geballten Fäustchen, den aufgeworfenen Lippen und dem tiefbeschäftigten Kindheitsschlaf.

 

Nach hundert Schritten fiel er auf eine Bank. In diesem Augenblick arbeitete sich eine Strahlenspur Oktobersonne durch und besprengte den Rasen gegenüber mit einem dünnen Schauer. Vielleicht überschätzte er diese ganze Geschichte. Am Ende war Veras junger Mann gar nicht sein Sohn. Pater semper incertus, so erklärt schon das römische Recht. Die Verifizierung seines Sohnes hing schließlich nicht von Vera allein, sondern auch von ihm ab. Diese Vaterschaft konnte vor jedem Gericht bestritten werden. Leonidas wandte den Blick seinem Nachbarn auf der Bank zu. Dieser Nachbar war ein schlafender alter Herr. Es war eigentlich kein alter Herr, sondern nur ein alter Mann. Die räudige Melone und ein vorsintflutlicher hoher Stehkragen deuteten auf eines jener Zeitopfer hin, das bessere Tage gesehen hatte, wie die mitleidslose Phrase lautete. Es konnte aber auch ein seit Jahren stellungsloser Kammerdiener sein. Die knotigen Hände des alten Mannes lagen schwer wie Vorwürfe auf den eingeschrumpften Schenkeln. Noch nie hatte Leonidas einen Schlaf gesehen wie diesen, den sein Nachbar schlief. Der Mund mit den tristen Zahnlücken stand ein wenig offen, aber man merkte die Regung des Atems nicht. Überall liefen in diesem brachen Gesicht die tiefen Runzeln und Falten konzentrisch auf die Augen zu. Es waren Saumpfade, Karrenwege, Zufahrt-Straßen des Lebens, verschüttet insgesamt und zugewachsen in einem verlassenen Land. Nichts bewegte sich dort. Die wie nach innen gestülpten Augen aber bildeten zwei beschattete Sandgruben, in denen alles zu Ende war. Vom Tode unterschied sich dieser Schlaf unvorteilhaft dadurch, daß er noch einen Rest von Krampf und Angst bewahrte und eine schwache Abwehr unbeschreiblich ...

Leonidas sprang auf, ging die Allee zurück. Schon nach wenigen Schritten torkelte und murmelte es hinter ihm:

»Herr Baron, ich bitt' gehorsamst, seit drei Tagen hab ich nichts Warmes im Leib ...«

»Wie alt sind Sie?« fragte der Sektionschef den Schläfer, dessen Augen auch im Wachen zwei leere unfruchtbare Gruben zu sein schienen.

»Einundfünfzig Jahre, Herr Graf«, klagte der Greis, als verrate er ein bereits ganz und gar unzulässiges Alter, das von Rechts wegen auf Unterstützung nicht mehr zu rechnen hat. Leonidas riß einen größeren Geldschein aus seiner Brieftasche, reichte ihn dem Gestrandeten und blickte sich nicht mehr um.

Einundfünfzig Jahre! Er hatte sich nicht verhört. Soeben war er seinem Doppelgänger begegnet, seinem Zwillingsbruder, der andern Möglichkeit seines Lebens, der er nur um Haaresbreite entgangen war. Vor fünfzig Jahren hatte man den greisen Schläfer und ihn, als Säuglinge zum Verwechseln ähnlich, durch eine Parkallee geschoben. Er war aber noch immer der schöne Léon, geschniegelt und gebügelt, mit seinem blonden Schnurrbärtchen, tadellos gebadet, ein Vorbild männlicher Frische und straffer Wohlgestalt. Auf seinem glatten Gesicht waren die Zufahrt-Straßen des Lebens nicht verschüttet, nicht leer, sondern heiter befahren. Da eilten alle Sorten des Lächelns dahin, der Liebenswürdigkeit, des Spottes, der guten und bösen Laune, die Lüge in allen Ausführungen. Er schlief keinen flüchtigen agonischen Schlaf auf der Parkbank, sondern den gesunden, runden, regelmäßigen Schlaf der Geborgenheit in seinem großen französischen Bett. Welche Hand hatte ihn, den Hauslehrer bei Wormsers, diesen Jämmerling mit der geplatzten Hose, dem sicheren Rachen des Untergangs entführt, um den andern Kandidaten hineinzustoßen? Er hielt sein Glück, seinen Aufstieg nicht mehr wie sonst für das persönlich verdienstvolle Zusammenspiel gewisser Talente. Das Gesicht des gleichaltrigen Wracks hatte ihm den Abgrund gezeigt, der ihm nicht minder zugedacht gewesen als jenem und durch dieselbe unergründbare Ungerechtigkeit ihm selbst erspart geblieben war.

Ein schwarzes Grauen wandelte Leonidas an. In diesem Grauen aber steckte ein verwischter heller Fleck. Der helle Fleck wuchs. Er wuchs zu einer Erkenntnis, dergleichen den mäßig gläubigen Mann noch nie eine beschlichen hatte: Ein Kind haben, das ist keine geringe Sache. Erst durch ein Kind ist der Mensch unrettbar in die Welt verflochten, in die gnadenlose Kette der Verursachungen und Folgen. Man ist haftbar. Man gibt nicht nur das Leben weiter, sondern den Tod, die Lüge, den Schmerz, die Schuld. Die Schuld vor allem! Ob ich mich zu dem jungen Mann bekenne oder nicht, ich ändre den objektiven Tatbestand nicht. Ich kann mich vor ihm drücken. Aber ich kann ihm nicht entkommen. »Es muß sofort etwas geschehen«, flüsterte Leonidas geistesabwesend, während ihn eine unausdrückbar bestürzende Klarheit erfüllte.

Er winkte am Parktor ungeduldig ein Taxi herbei:

»Ministerium für Unterricht!«

Während in ihm ein mutiger Entschluß wuchs, starrte er wie blind in den nur wenig erleichterten Tag.


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