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An der rührend naiven Pietà, vorbei, die auf dem Weg zum Campo Santo von Sanmarto eine verfallene Treppe krönt, zog ein bescheidener, ärmlicher und kleiner Leichenzug. Das winzige Särglein, auf dem ein paar Hortensien und Geranien lagen, wurde von vier kleinen Mädchen getragen. Ihre verblichenen rosa und blauen Kleidchen gemahnten an getrocknete Blumen, deren einstige Herrlichkeit niemand zu erraten imstande gewesen wäre. Geschwellt vor Stolz um dieser frisch gewaschenen Röcklein willen, noch mehr aber darum, weil sie gewürdigt worden waren, das Särglein zu tragen, trippelten sie in der glühenden Sonnenhitze dahin, die lieben, ernsthaften Gesichtlein jedem, der vorbeikam, zuwendend. Hinter ihnen ging ein junger Mensch, der Vater des Kindleins, in einem abgetragenen, schwarzen Anzug, den er sich geliehen hatte. Er hielt sich schlecht, strauchelte oftmals, als sei er in seinen Gedanken weit weg, und ließ seinen Kopf tief herunterhängen. Er sang nicht mit und schien auch nicht zu beten. Er machte einen bedrückten und jämmerlichen Eindruck. Eine Mutter, die weinend hinter dem Särglein gegangen wäre, fehlte. Die wenigen Leidtragenden antworteten eintönig und gedankenlos auf das Vorsingen des Pfarrers. Der Chorbube schwang lässig sein Räucherfaß, und es sah aus, als lohne es sich für niemanden, schmerzliche Gefühle irgendwelcher Art zu zeigen. Die Glocke von Sanmarto jammerte klagend, abgebrochen, klanglos, so daß, wer ihrer achtete, aufseufzte.
In dem Augenblick, als der Zug den Hügel zum Kirchhof langsam erstiegen hatte und in den schönen, kühlen, von alten Kastanien beschatteten Weg einbog, kamen zwei Radfahrer ihnen entgegen und auf der andern Seite des Weges eine junge, zarte Frau mit blassem Gesicht und großen, mitleidigen, schmerzlichen Augen. Der eine der Fahrer hielt sofort an, sprang vom Rad und trat ehrerbietig zur Seite. Er hielt mit der Linken sein Rad hinter seinem Rücken fest und bekreuzte sich mit der Rechten. Die junge Frau machte eine kleine Verbeugung und bekreuzte sich ebenfalls. Nur der Dritte, ein kraushaariger, gesunder, sorgloser Mensch, warf nur einen kurzen, verächtlichen Blick auf das Särglein. Offenbar hielt er es nicht der Mühe wert, dem darin ruhenden Säugling, dem Vater, den Leidtragenden, dem Pfarrer, der an Gottes Statt hier galt, die gebührende Ehre zu erweisen. Er fuhr gleichgültig weiter, wenn auch bedeutend langsamer als vorher.
Da geschah das Seltsame, daß der schmächtige Mann, der hinter dem Särglein ging, plötzlich aus der Reihe heraussprang und in wütenden Sätzen dem Radfahrer nachrannte. Er erreichte ihn, packte ihn, warf ihn zu Boden und prügelte so heftig und gewaltig auf ihn los, wie es niemand dem stillen Menschen zugetraut hätte. Unverständliche Flüche ausstoßend, bearbeitete der Außersichgeratene den Liegenden. Er war mit einem Fuße in der Speiche des Rades hängengeblieben und versuchte es gar nicht, sich zu wehren, sondern ließ sich, vielleicht im unsichern Gefühl einer begangenen Roheit, von dem Vater des toten Kindleins schlagen.
Aber nun sprang der zweite Radfahrer dem ersten zu Hilfe. Er wollte den Angreifer von seinem Opfer wegreißen, erwischte aber statt des Rockkragens den Hemdenkragen und zog den Mann daran zurück, ihm zugleich die Faust festhaltend. Der Kragen zerriß, und der armselige, papierene Fetzen blieb ihm in den Händen. Das Leichengeleite, das ruhig wartend stehengeblieben war, brach in ein lautes Gelächter aus.
Der hilfreiche Radfahrer stand nun verlegen da, und der Angreifer ließ von seinem Opfer ab, bohrte seine Fäuste mit einer Gebärde hilflosen Zornes und grausamer Beschämung in seine Augen und vermochte es nicht über sich, zu dem Leichengeleite zurückzukehren.
Da trat die junge Frau zu ihm, nahm sanft und wie selbstverständlich ihm die Hände vom Gesicht weg, redete verständnisvoll auf ihn ein, hielt ihn wie ein Kind an der Hand und führte ihn an die Spitze des Zuges, wo er sich ohne weiteres wieder einfügte. Langsam setzte sich das Geleite wieder in Bewegung und bog bald in den stillen Kirchhof ein, wo neben vielen Feuerlilien ein kleines, wehmütiges Gräblein ausgeschaufelt worden war und wartete. Die junge Frau hatte sich angeschlossen, ging singend mit, betete und bekreuzte sich und tat das alles aus lebendigem Mitgefühl und wahrer Barmherzigkeit. Sie hatte gemerkt, daß dem armen, in seinen Gefühlen verletzten Vater Ehrerbietung vor seinem Schmerz notwendig war. Zuletzt warf sie die Feldblumen, die sie in der Hand getragen, auf den kleinen Hügel, der sich über dem Särglein des Kindes zu wölben begann.
Unverwandt hatte der verstörte Mann auf sie hingesehen und keine ihrer Bewegungen außer acht gelassen. Als er sie zu Ehren seines Kindleins singen hörte, lösten sich seine hartgeballten Fäuste.
Als jede Form erfüllt war und die Leute sich langsam entfernten, kam er auf die junge Frau zu und sagte einige unverständliche Worte des Dankes. Sie fragte, ob es sein Kindchen sei, das man da begraben? Der Mann nickte. »Ja, es sei einer seiner Zwillinge.« Die junge Frau schaute ihn an. »Wie alt war er?« »Eine Woche alt.« »Und geht es dem andern Zwilling gut?« fragte die Frau mit ihrer mütterlichen Stimme, die dem Manne Vertrauen einflößte. »Ich habe ihn vor fünf Tagen begraben,« antwortete er undeutlich. »Um Gott,« rief die junge Frau erschrocken »Alle beide! Ach, Sie Armer!« Der Mann nickte. »Sie haben mir alle gesagt, ich solle froh sein, daß auch der Aldo tot sei. Sie sind die erste, die das nicht sagte.«
»Und Ihre arme Frau, wie geht es ihr? Wie traurig für sie.« »Nein,« sagte der Mann. »Für sie ist das nicht traurig. Ich habe ihr ja heute den Aldo nachgeschickt. Sie hat jetzt alle beide bei sich.« Die junge Frau starrte den Mann an. Dann sagte sie zaghaft: »Sie wollen doch nicht sagen, daß auch die Mutter der Zwillinge …« »Ja, sie ist im Himmel. Ja, sie starb gleich nach der Geburt. Wir wohnen so weit weg. Sie verblutete sich. Sie ist jetzt im Himmel.« Er schwieg. Und die Frau schwieg auch.
»Ich habe an nichts mehr denken können, seit die Pia gestorben ist,« begann der Mann wieder. »Als gleich darauf der erste Zwilling, der Tonio, starb, war es mir ganz gleichgültig. Ich fühlte nichts. Es tat mir nicht weh. Aber als der zweite starb, da hat mich ob meinem Unglück ein Zorn gepackt, ein so großer Zorn gegen Gott, der mir alle genommen, daß ich nichts mehr habe von ihm wissen wollen. Ich habe nicht mit dem Aldo auf den Campo Santo gehen wollen und nicht hinter seinem Sarge herlaufen. Sie zwangen mich aber dazu. Und ich hatte mir vorgenommen, nie mehr zu beten und mein Herz dem zu verschließen, was der Priester mir zu sagen hatte. Nein, ich wollte nichts mehr von Gott wissen, der mich so geschlagen hatte, mich, der ich ihm nichts zuleide getan. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich vorhin darum so auf den Mann losgefahren. Ich war froh, daß ich ihn verprügeln konnte. Ich habe mich ja an dem nicht rächen können, der an allem schuld war. Der Zorn und der Haß fraßen mir das Herz ab. Aber nun – weil Sie meinen Aldo begleitet haben und so schön sangen, und weil Ihnen das Särglein nicht zu klein war und ich Ihnen nicht zu schlecht, darum will ich nun wieder beten und Gott verzeihen.« Er schwieg plötzlich und verfiel in ein heftiges Weinen und Schluchzen. Lange stand er so, und die junge Frau störte ihn nicht. Endlich wurde er ruhig. Er schaute mit Teilnahme, fast mit Liebe auf das Erdhügelchen vor ihm, auf dem die paar Blumen lagen. Dann dankte er der jungen Frau noch einmal, ungeschickt und kurz, und ging. Auch sie ging ihres Weges weiter.