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Die Sterbenacht

Lucia Neroni war uralt; sie hatte längst aufgehört, ihre Jahre zu zählen. Es mochten so zwischen achtzig und neunzig sein. Wenn sie durch das Dorf humpelte, um in der Kapelle zu beten, hielt man sie da und dort an und neckte sie freundschaftlich.

»Lebt Ihr immer noch, Lucia Neroni? Euch muß der Tod vergessen haben.« Aber sie wackelte mit dem greisen Kopf, der unsicher auf dem langen, magern Halse saß, und bewegte den Zeigefinger verneinend hin und her.

»Nicht vergessen! Nein, nein, nicht vergessen. Aber der liebe Gott erlaubt ihm nicht zu kommen. Er darf mich nicht holen, ehe der Pietro heimgekommen ist. Wenn der Pietro wieder da ist, will ich sterben. Vorher nicht. Vielleicht kommt er heute, vielleicht morgen. Keiner weiß es, Gott weiß es.« Sie starrte mit ihren hohlen, großen Augen in die Ferne, daß dem Frager grauste. Dann nahm sie ihren langen gefütterten Mantel zusammen und ging hinkend weiter, sich fest auf ihren Stock stützend, der in ihrer welken Hand hin und her zitterte. Vor der Kirche stand der Küster, alt und weißhaarig wie sie.

»Gott grüß Euch, Lucia Neroni. Immer noch nicht gekommen, der Pietro? Er läßt Euch lange warten.«

»Müßte keine Mutter sein, wenn ich nicht Geduld gelernt hätte. Je länger ich warten muß, je besser kann ich es.« Sie kicherte meckernd. »Ja, ja, ich habe viel gewartet. Vierzig Jahre lang, glaube ich, oder fünfzig. Ich weiß es nicht mehr genau. Ja, fünfzig Jahre. Er war siebzehn, als er fortging. Damals fing ich mit dem Warten an.« Sie nickte ein paarmal rasch mit dem Kopf. »Ja, ja. Geschrieben hat er, das ist wahr. ›Ich komme, Mutter,‹ schrieb er, ›ich habe das Geld zur Reise beisammen, es fehlt nicht viel.‹ Ich wartete, aber er kam nicht. Ich wartete ein Jahr um das andere.«

»Müßt den lieben Gott noch einmal recht darum angehen, Lucia Neroni. Einmal schickt er Euch sicher den Pietro, vielleicht heute noch. Wer weiß. Bittet die lieben Heiligen um ihre Fürbitte.« Die Alte brummte etwas. Sie wickelte sich in ihren Mantel, nickte mit dem Kopf, schlurrte der Kapelle zu und stieg keuchend die Treppe zu dem kleinen Gotteshaus hinauf, tiefgebückt, eine Stufe um die andere ertastend.

Vor dem blumengeschmückten Altar kniete sie nieder und faltete mühsam die ungelenken Knochenhände. Ein übriges tat sie heute. Zweimal nacheinander sprach sie die vorgeschriebenen Gebete, dann fügte sie von ihrem eigenen dazu, aus ihrem sehnsüchtigen Mutterherzen heraus. Demütig, inbrünstig, dringend flehte sie, daß Gott ihr den Sohn sende, damit sie endlich zum Sterben komme. Darauf verließ sie das Kirchlein, voll sicherer Zuversicht, daß Pietro noch diese Nacht kommen werde. Warum gerade diese Nacht? Sie wußte es nicht, aber ihr Herz wußte es, und ein uraltes Mutterherz irrt sich nicht.

Stunde um Stunde wartete Lucia Neroni auf ihren Sohn. Sie saß am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Auf dem Tisch standen zwei Tassen und am offenen Feuer standen die Zoccoli für ihn bereit. Die rote Glut spiegelte sich in dem glänzenden Schwarz.

Die Alte saß vornübergebeugt, einen Rosenkranz zwischen den Fingern. Die Minuten und die Stunden verrannen. Sie fing an zu frieren und holte sich ein Tuch, in das sie sich einwickelte. Zu Bett gehen wollte sie nicht. Sie wollte nicht schlafen, wenn Pietro kam.

Als es aber auf der Turmuhr ein Uhr schlug, fing sie an sich auszukleiden, ging zu Bett mit einem tiefen Seufzer und zog das schwere, rot und weiß gewürfelte Federbett bis über das runzlige, eingeschrumpfte, braune Gesicht. Sie hätte gerne geweint, und ihre trockenen Augen brannten. Mit einem gestammelten Gebet schlief sie ein.

Eine Stunde später fuhr sie jäh in die Höhe. »Pietro! Bist du da? Wo bist du?« Sie streckte ihre dürren Arme aus und öffnete die Augen.

Kalt und still war es in der Stube, rieselnder Schnee schlug knisternd an das Papier, mit dem die zerbrochene Scheibe verklebt war. Die alte Frau saß aufrecht in ihrem Bett und starrte ins Dunkle.

»Er sucht mich,« murmelte sie. »Er kann mich nicht finden. Ich will beten.« Sie tat es, erst leise, dann laut, immer eifriger und dringlicher. Sie preßte ihre Handflächen zusammen, und Schweißtropfen traten ihr auf die Stirne.

»Ich muß in der Kirche beten,« dachte sie. »Gott hört mich dort besser.« Sie kroch aus dem Bett, zog sich an und hüllte ihren Oberkörper in ein großes Tuch. Darauf nahm sie ihren großen Mantel um und ging durch den Schnee, der gleichmäßig fiel und die Luft mit einem stillen, gedämpften Geräusch erfüllte.

Lautlos schlich das gebückte Weiblein der Kirche zu und drückte auf die Klinke. Sie gab nicht nach. Da ging die Witwe Neroni in großer Angst zu dem kleinen Hause des Küsters und weckte ihn auf.

»Gib mir den Kirchenschlüssel, Jakobo,« flüsterte sie. »Ich muß beten. Mein Pietro sucht mich und kann den Weg zu mir nicht finden.«

»Ihr träumt, Lucia Neroni. Geht schlafen. Betet morgen.«

»Nein. Ich muß jetzt beten, heute noch, in dieser Nacht muß ich beten. Ich weiß es. Gott weckte mich aus meinem festen Schlaf. Laßt mich ein in sein Haus, Jakobo. Ich habe ein Silberstück daheim, das sollt Ihr haben, wenn Ihr mir den Schlüssel gebt. Ich muß beten für meinen Sohn, Jakobo.«

»Da ist der Schlüssel,« rief unwirsch der Alte und warf den Schlüssel durch das halb geöffnete Fenster in den Schnee.

Die Greisin hob ihn auf und watete zur Kirche. Sie ging durch den mittleren Gang und warf sich vor dem Bild der Gottesmutter auf die Knie. Über ihr brannte schwach und zitternd das ewige Licht.

»Führe ihn zu mir, Herr, du großer Gott,« flehte sie. »Zeige ihm den Weg zu mir. Allmächtiger, er sucht mich und er findet mich nicht. Erbarme dich unser.« Sie rang die Hände, und spärliche, kalte Tränen verloren sich in den Furchen ihres alten Gesichtes. »Erbarme dich meiner, Herr.« Dann rief sie laut: »Erbarme dich seiner.« Sie erschrak vor dem Ruf, der in den Ecken der Kirche leise widerhallte, sah sich furchtsam um, fing an zu zittern und kauerte sich neben einen der Pfeiler. Dort blieb sie betend, bis der Morgen graute. – – –

 

In derselben Nacht saß in einer kleinen schmutzigen Pinte ein Mann, der ein Glas mit Branntwein vor sich stehen hatte. Er drückte sich eng in die dunkelste Ecke der rauchgefüllten Stube und sah ängstlich forschend nach rechts und nach links, als ob er sich fürchte.

Haltlos, fast gebrochen saß er da, den Rücken gebeugt, den kleinen Kopf gesenkt, daß die langen, grauen Schnurrbarthaare, die zu beiden Seiten des eckigen Kinns herunterhingen, fast auf dem verwaschenen blauen Hemd lagen.

Die Hand, die das Glas hielt, zitterte stark, und jedesmal, wenn er es zum Munde führte, verschüttete er einen Teil des Getränkes, so daß sich auf seiner Weste eine klebrige, glänzende Kruste gebildet hatte.

Er hatte ein fahles, hageres Gesicht und matte, scheue, wässerige Augen mit schweren Lidern, die stets halb geschlossen waren. Die Pupillen darunter fuhren beständig hin und her wie Schatten, aus einem Winkel des Auges in den andern. Ganze Büschel grauer Haare lagen ihm über Stirn und Ohren.

Dieser Mann war Lucia Neronis Sohn. Er war achtundfünfzig Jahre alt.

Bassy, der Wirt des verrufenen Lokals, trat zu ihm.

»Was ist los, Neroni? Ist dir die Saat verhagelt?«

»Sie sind wieder da,« sagte leise und geheimnisvoll der Arbeiter. Er sah kaum auf.

»Wer?« fragte der Wirt und zog fragend seine gelben, buschigen Augenbrauen in die Höhe. Neroni bog sich vor, legte die hohle Hand an den Mund und sagte flüsternd:

»Wer? Sie, die Lünetten. Sie sind wieder hinter mir her.«

»Ach, dummes Zeug,« lachte der Wirt so laut, daß seine Hängebacken wackelten. Sie glichen Geldsäcken, und dazwischen klaffte der Mund mit den schwarzen Zähnen, wie der Spalt einer Sparbüchse, so daß man in Versuchung hätte kommen können, ein Geldstück hineinzuwerfen. Beim Lachen schwankte auch der starke Leib.

»Lach' nicht,« flüsterte Neroni warnend. Er drehte sich um, sah hinter sich und unter den Tisch und zog die Beine an sich.

»Du weckst sie ja auf, sei doch still.« Wieder schmetterte der Wirt sein kollerndes, dröhnendes Lachen gegen die Wände.

Die Kellnerin trat zu den beiden, um zu hören, was es gebe, und um mitzulachen.

»Die Lünetten sind wieder hinter Neroni her,« sagte der Wirt und stieß das magere, geschminkte Mädchen scherzhaft mit dem Ellbogen.

»So, die? Wie sehen sie eigentlich aus?« fragte sie neugierig und sah dem Arbeiter verliebt in die Augen.

Aber er blickte an ihr vorbei und trank hastig sein Glas leer. Seine Pupillen fuhren unruhig herum wie matte, schwarze Kugeln. Die Kellnerin schenkte ihm wieder ein. Es war das drittemal. Dennoch bemerkte man in dem Gesicht des Mannes keinerlei äußere Veränderung. Es rötete sich nicht, und die Augen behielten den scheuen, geängstigten Ausdruck.

»Plötzlich sind sie da,« begann er zu erzählen. »Ein halbes Jahr sehe ich sie nicht. Keinen einzigen von ihnen. Da schlafen sie, oder sind hinter andern her. Oder sie sind gestorben, ich weiß es nicht. Ich gehe ruhig meiner Wege, pfeife oder singe und denke an nichts. Auf einmal: neben mir, hinter mir, vor mir! Sie huschen und fahren herum, mir unter den Armen hindurch und zwischen den Beinen, und an mir hinauf wie große Spinnen. Ah!« Mit einem ächzenden Laut fuhr Neroni in die Höhe und zeigte mit dem Finger in die dunkle Ecke.

»Da sind sie,« sagte er und schüttelte sich. »Sie sind aufgewacht. Ich will zahlen, Berta,« rief er hastig und schob der Kellnerin ein Geldstück zum Wechseln hin. Sie gab den Rest zurück und Neroni rannte hinaus, beständig rückwärts sehend und den Ausdruck plötzlichen Entsetzens auf dem Gesicht.

»Ist das ein verrückter Kerl,« sagte das Mädchen. »Der kann einen ja fürchten machen. Was will er nur mit seinen Lünetten?«

»Ach, Hirngespinste sind's,« sagte der Wirt verächtlich, »und der Narr nimmt sie für lebende Wesen. Er will seit Jahren seine alte Mutter besuchen, die irgendwo im Tessin wohnt, aber die Lünetten erlauben es ihm nicht, wie er behauptet.«

»Jesus, so etwas!« rief die Kellnerin und schlug die Hände zusammen.

»Wenn er die Lünetten sieht, säuft er acht Tage lang, bis er wieder bei Verstand ist. Meinetwegen, mir trägt's manchen Batzen ein.« –

Neroni war aus dem Hausflur, in dem nur ein kleines, rotes Lichtlein brannte, auf die Straße getreten.

Einen Augenblick stand er still, mit dem Rücken gegen den Türpfosten lehnend, und sah sich um.

»Sie sind fort,« murmelte er erleichtert. Dann ging er die Straße hinunter. Wenn er von weitem Schritte hörte, oder wenn in der Ferne ein Wagen rollte, oder irgendein Laut die Stille unterbrach, drehte er sich plötzlich um, die Arme abwehrend vorgestreckt, stand ein paar Minuten unbeweglich auf seinem Platz und ging erst wieder weiter, wenn sich nichts mehr regte.

Er hatte einen schlaffen, unsicheren Gang. Die Arme hingen ihm herunter, als habe er keine Gelenke im Ellbogen. Das unruhige Drehen des Kopfes gab ihm etwas Vogelartiges, Unheimliches.

Er zog an einem vereinzelt dastehenden Haus die Schelle, obgleich 11 Uhr vorbei war. Das einzige erhellte Fenster wurde geöffnet, und der Werkführer der Fabrik, in der Neroni arbeitete, sah hinaus.

»Was ist los? Wer ist da?« schrie er hinunter. Er konnte im Schatten des Hauses niemand erkennen.

»Ich! Der Neroni.«

»Ihr, Neroni? Was wollt Ihr denn?« Der Arbeiter legte beide Hände an den Mund und flüsterte:

»Sie sind wieder da.« Der Werkführer wußte sogleich, um was es sich handle.

»Warum nicht gar, das meint Ihr nur. Sie sind ja eine Ewigkeit nicht dagewesen.«

»Doch, sie sind da. Gestern sind sie gekommen.« Neroni sagte es leise, der Mann oben konnte ihn kaum verstehen. »Diesmal ist es aus mit mir. Keine drei Tage wollen sie mich am Leben lassen, sagen sie.«

»Ach, was denkt Ihr, Neroni. Wehrt Euch doch! Sie sind ja so klein. Winzig sind sie. Und Ihr seid ein großer, starker Kerl.«

»Es nützt alles nichts, Herr Bertin. Es sind zu viele. Und ich habe Euch sagen wollen, daß ich morgen nicht in die Fabrik komme. Ich verreise, Ihr wißt wohin. Aber ich gehe über den Berg, dort ist die Grenze. Über die Grenze können sie nicht.«

»Ich will Wachen aufstellen lassen, Neroni. Dann tun sie Euch nichts.«

»Diesmal ist alles umsonst. Es sind zu viele. Und der Schwarze ist dabei. Wenn er dabei ist, so nützt alles nichts. Der springt, Herr Bertin.« Neronis Stimme zitterte. Er drängte sich dicht an die Gartenmauer.

»Gute Nacht,« rief er und ging wieder hastig weiter, beständig mit einer Haselrute um sich schlagend und sich alle drei Schritte umsehend. »Gute Nacht,« rief ihm der Werkführer nach.

Neroni war bei dem letzten Haus des Städtchens angekommen. Es war ein Wirtshaus, und wüster Lärm drang heraus, trotzdem die Fenster der Kälte wegen geschlossen waren.

Als er vorüberging, wurde die Türe aufgerissen, und ein gedrungener, kleiner Kerl torkelte hinaus, die Stufen hinunter und auf die Straße.

Er war betrunken. Als er ein paar Schritte gemacht hatte, blieb er stehen, stützte sich auf seinen derben Knotenstock und erhob die Faust gegen das Wirtshaus, das mit seinem zackigen Grat, den Kaminen und Vorsprüngen und den zwei erleuchteten Fenstern wie ein Drache mit glühenden Augen am Wege lag.

»Lumpenhunde,« schrie er. »Ihr verdammtes Lumpengesindel. Blutsauger! Mein Geld nehmen sie mir ab, und wenn ich keines mehr habe, werfen sie mich hinaus. Keinen Kredit! Was, keinen Kredit? Geld wie Heu haben sie, und wollen mir keinen Kredit geben?« Er spuckte aus. »Wie Heu, die Lumpenhunde,« brüllte er wieder in die Nacht hinaus. »Unsereins soll nichts haben. Und geben wollen sie auch nichts.« Jetzt lachte der Trunkene vor sich hin und schwankte hin und her. Da sah er Neroni.

»Halt,« schrie er, »du da vorn, halt! Wir wollen zusammengehen.« Neroni stellte sich mit dem Rücken gegen eine zerfallene Mauer und wartete.

Er war froh, einen Weggenossen zu haben, solange er nicht sicher wußte, ob die Lünetten ihm folgten oder nicht.

Als der kleine Mann ihn erreichte, nahm er ohne weiteres Neronis Arm.

»Haben sie dich auch hinausgeschmissen?« fragte er grollend mit pappiger Stimme. Ganze Wolken Branntweingeruches entströmten seinem Mund. In dem roten, struppigen Bart hingen die Reste seines Abendbrotes.

»Nein,« sagte Neroni. »Mich schmeißt keiner heraus. Ich habe Geld genug.«

»So, Geld genug.« Der Kleine blieb stehen, stützte sich gravitätisch auf seinen Stock, schwankte hin und her und betrachtete Neroni von oben bis unten.

»He, he, he, ein Krösus,« kreischte er. »Ein Krösus. Einen Krösus habe ich gefunden!« Er schrie das Wort mit hoher Fistelstimme. »He, he, he, siehst gar nicht darnach aus. Wie ein Arbeiter aus der Fabrik siehst du aus. Schwarz, rußig. Aber einerlei. He, he, he.« Er lachte und lärmte. »Her mit dem Geld,« schrie er plötzlich und rollte die Augen.

»Geld kannst du haben,« sagte Neroni traurig. »Aber du mußt ein wenig mit mir gehen, nur bis zum nächsten Dorf. Ich will nicht allein sein, verstehst du? Wegen der Lünetten,« fügte er geheimnisvoll hinzu, und seine Augen suchten wieder die wesenlosen Gestalten.

»Lünetten,« brüllte der Trunkene. »Was sind das für Esel?«

»Schweig!« Neronis Augen funkelten plötzlich und er packte den kleinen Mann am Arm. »Schweig, um Gottes willen. Sie hören dich ja.« Er drückte sich gegen seinen Begleiter. »Vielleicht sind sie hinter uns. Dort! Hinter den Baumstämmen. Oder dort! Dort!« Starr sah er auf den plätschernden Brunnen, dessen Röhre und Brunnenstock gespenstische Schatten warfen.

»Halt' doch dein Maul,« zeterte der Kleine. »Du kannst einem Angst machen, du.«

»Angst?« sagte Neroni. »Das ist es. Angst! Angst. Das ganze Jahr muß ich Angst haben. Immer. Immer. Siehst du, ich bin ein armer Teufel.«

»Sind wir alle. Alle sind wir arme Teufel,« sagte der andere wimmernd. »Angst hast du? Vor wem? Hast ja die Tasche voll Geld?«

»Geld? Was fragen die Lünetten dem Geld nach.« Angesteckt von der Furcht des Kameraden, sah sich der Kleine entsetzt um. Er schüttelte den Kopf und blieb eine Weile stehen. Dann gingen sie schweigend weiter.

Der Mond hing schief und verschwollen am Himmel. Unaufhörlich flogen kleine schwarze Wolken an ihm vorüber, die sich jagten und dann zu einer dunklen Masse vereinigten. Bald war es hell, bald dunkel. Die Streifen am Himmel warfen feine, lange Schatten auf die Straße, auf der eine leichte, durchsichtige Lage Schnee schimmerte. Hie und da fielen noch einzelne Flocken, aber es war fast zu kalt zum Schneien. Der Kleine stampfte mit den Füßen, um sich zu erwärmen. Neroni wehrte es ihm.

»Still. Wecke sie nicht.«

»Jetzt sag' mir endlich, wer sie sind,« drängte der andere. Neroni bog sich vor und sprach dicht an dem Ohr seines Gefährten.

»Es sind Tote. Oder Gespenster. Ich weiß es nicht. Sie kommen und gehen. Sie sind da und sind nicht da. Sie schleichen hinter einem – –.« Krampfhaft packte er seines Begleiters Arm und atmete schwer. »Sie flüstern einem ins Ohr, daß sie einen töten wollen. Erwürgen! Und sie zeigen auf den Hals. Und mit den dünnen, durchsichtigen Fingern machen sie Zeichen, als ob sie einem den Hals in die Länge ziehen wollten. Sieh, so!« Neroni hatte immer leiser gesprochen. Er machte Bewegungen mit den Fingern, als ob er einen Teig auseinanderzöge.

»Hol' dich der Teufel mit samt deinen Lünetten,« schrie zornig der Kleine, dem vor Grauen die Haare zu Berg standen.

»Schweig! Sag' das Wort nicht. Sieh, sie lassen mir keine Ruhe mehr, überall verfolgen sie mich. Freund, ich bin ein armer Mensch.« Neroni ließ den Kopf auf die Schulter des Kleinen fallen. »Lieber will ich nicht mehr leben,« flüsterte er. »Viel, viel lieber. Immer muß ich vor ihnen fliehen. Und niemand hilft mir. Keinen habe ich, der mich lieb hat.« Er schluchzte plötzlich. Auch der Kleine weinte. Sie hielten sich umfaßt und schwiegen. Dann redete Neroni weiter.

»Sie erlauben es nicht, daß ich jemand lieb habe. Freund, ich habe eine alte Mutter. Sie ist über achtzig Jahre alt. Achtzig Jahre! Und sie wartet auf mich. Seit vierzig Jahren wartet sie auf mich. Glaubst du, daß sie mir erlauben, die alte Frau zu besuchen? Wie die Teufel tanzen sie um mich herum, wenn ich gehen will. Drüben im Tessin lebt die Mutter und wartet auf ihren Sohn. Wartet, bis sie stirbt. Und er kommt nicht. Was denkt sie? Sie denkt: ›Er hat mich vergessen. Der Sohn, den ich geboren und aufgezogen habe, hat mich vergessen.‹ Und in der Schublade liegt das Geld. Nur zu nehmen brauche ich es. Und hinzufahren. Aber erlauben sie es? Nein. Nein. Seit zweiundvierzig Jahren habe ich die alte Frau nicht mehr gesehen. Die gute, gute, alte Frau.« Er schluchzte laut. Der Kleine heulte und ließ seinen Knotenstock zur Erde fallen, um sich schneuzen zu können.

»Schlag sie tot, die verdammten Teufel,« stieß er heraus.

»Totschlagen?« flüsterte Neroni. »Wenn man sie schlägt, geht es mitten durch sie durch, und links und rechts steht ein neuer da! Und wenn der Schwarze dabei ist – wenn er dabei ist –« Neroni schwieg, sein Gesicht war noch fahler geworden.

»Weißt du, der Schwarze kann springen. Wie eine Heuschrecke kann er springen. Er duckt sich, wartet – und springt. Gerade an die Brust springt er dir. Du kannst so weit weg stehen als du willst, er springt dir an die Brust. Oh!« Neroni packte mit verzerrtem Gesicht den Kleinen an der Schulter, preßte sich an ihn und versteckte seine Augen in dem roten Haar. »Es ist gräßlich, wenn der Schwarze springt, gräßlich.«

»Ich will fort,« schrie der Kleine, dessen Rausch verflogen war. »Du machst einen verrückt. Gib mir das Geld.« Neroni gab es ihm.

»Komm noch ein wenig mit,« bat er. »Nur noch durch den Wald, nur noch eine Stunde lang.«

»Was? Durch den Wald willst du? Jetzt um Mitternacht? Ade!« schrie der Rote plötzlich und wollte fort. Aber Neroni hielt ihn fest.

»Nur noch eine Stunde,« bat er in tödlicher Angst.

»Nein, in drei Teufels Namen, ins Wirtshaus will ich. Saufen will ich! Du mit deinen verdammten Lünetten. Mögen sie dir den Hals umdrehen.« Er rannte dem Dorf zu.

Als der Kleine fort war, wagte Neroni kaum sich zu bewegen. Die Augen traten ihm aus dem Kopf und sein Mund verzerrte sich. Da sah er auf der andern Seite der Straße einen Zaun. Mit zwei Sprüngen erreichte er ihn und ging in seinem Schutze langsam weiter. Als der Zaun zu Ende war, begann der Wald. Neroni ging von Baum zu Baum, blieb stehen, ging weiter und blieb wieder stehen.

Es fing langsam an zu schneien. Hier eine Flocke und da eine. Sie kitzelten Neroni im Gesicht, mechanisch wischte er sie weg.

Er stieg den Weg hinan, der über den Berg führte. Mit seiner Haselrute wehrte er den Lünetten.

»Fort mit euch,« flüsterte er ihnen zu. »Fort, fort, ihr Teufel,« schrie er dann. Manchmal stellte er sich an einen Baum, so daß sein Rücken gedeckt war. Dann bat er und flehte.

»Geht doch fort, ich bitte euch. Geht! Geht doch fort, Lünettchen,« schmeichelte er. »Ihr seid ja so gut. Niemand ist so gut wie ihr. Laßt mich zu meiner alten Mutter, ich bitte euch. Denkt, achtzig Jahre ist sie alt und darüber. Denkt, wie alt sie ist! Sie kann sterben, die alte Frau, ohne daß ich sie noch einmal gesehen habe.« Flehend richtete er seine Augen ins Leere und streckte seine Arme aus.

»Ihr wollt nicht?« jammerte er. »Teufel, die ihr seid.« Außer sich, schlug er mit der Haselrute auf sie los. Dann, fiel sein Arm hinunter, der Kopf lag auf der Brust, er röchelte, und sein Herz schlug in harten Schlägen. Er wollte weitergehen, wagte es aber nicht.

Sowie er einen Schritt machte und sein Rücken nicht mehr durch einen der Baumstämme gedeckt war, erfaßte ihn jähes Entsetzen. Er nahm sein Messer aus der Tasche und öffnete es. Dann stach er gegen die Lünetten.

»Ihr sollt mir nicht Meister werden,« schrie er in die Nacht hinaus. »Ich will zu meiner alten Mutter.«

Da krächzte ein Rabe, flog langsam flatternd von einer Tanne herunter und ließ sich auf einem nahen Ast nieder.

»Der Schwarze!« schrie Neroni auf. Er fiel auf die Knie.

»Spring nicht! Um Gottes willen, spring nicht,« wimmerte er. »Laß mich zu meiner Mutter, ehe sie stirbt.« Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu dem Raben hinüber, der unbeweglich auf einem Ast saß.

Der Schnee rieselte dichter und dichter auf das Moos. Sonst hörte man keinen Laut. Hie und da fiel ein Tannzapfen raschelnd durch die befransten Aste.

Der Rabe breitete plötzlich seine Flügel aus und flog rauschend gegen den Baum, an dem Neroni kniete.

»Jetzt!« schrie er gellend, duckte sich, krallte seine Finger in die Erde und drückte das Gesicht in das faulige Laub.

Er wagte es nicht, das Haupt wieder zu erheben, und blieb regungslos liegen.

Wie ein leichter Schleier lag der Schnee zuerst auf den Tannen und Reisern, dann fielen große, weiche, schwere Flocken und legten sich auf den Waldboden. Zuletzt war es, als führen die Wolken in Fetzen hernieder zur Erde. Sie hüllten Bäume und Sträucher ein, bedeckten Weg und Steg, lagen auf Höhen und Tiefen, und als am Morgen die bleiche Sonne aufging, war der Wald öde und still – ein großes, verlassenes Grab.

Die alte Frau unten in Sanmarto wartete vergebens auf ihren Sohn.


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