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Benito

Um den kleinen viereckigen Kirchhof von Sanmarto stehen hohe Berge und schauen ernst auf die Toten herab. Sie vergleichen ihre Ewigkeit mit dem Schaumdasein der Menschen, ihre steinerne Unbeweglichkeit mit menschlichem, wogendem Auf und Ab zwischen Geburt und Tod. Hinter den alten Mauern stehen die mächtigen Kastanienbäume und flüstern sich die Geschichte der armen Seelen, die da unter dem Rasen liegen, zu. Unter Blumen schlafen die einen, die andern unter Marmor oder unter kleinen schiefen, schwarzen Kreuzen.

Manche Stunde habe ich zwischen den schweigenden Toten verlebt und mich ihnen verbunden gefühlt, und habe gespürt, wie es mich zu ihnen zog. Ob ein wenig früher, ein wenig später, was verschlägt's. Vielleicht hoffte ich, daß Gottes Garten mir die Frage lösen würde, die kein Lebender beantwortet, die Frage nach dem Warum der Leiden der Menschen. Warum lebten sie? Warum litten sie? Warum ist der Mensch? Was könnt ihr Gräber mir darüber sagen? Ist alles, was die Schlafenden erlitten, zur Himmelsleiter geworden, auf der die stillen Seelen zur Ruhe aufstiegen? Ist es zum Samen geworden, der Früchte trug? Und wenn nicht, warum lebtet ihr, ihr Toten, warum mußtet ihr leben und seid nicht stumpf geboren, gleich den Tieren?

Es ward mir keine Antwort. Die Berge schwiegen, die Sprache der flüsternden Bäume verstand ich nicht, und die Toten blieben stumm.

Ein Grab ist da, das eindringlich und laut zu den Menschen redet. Es liegt ein Knabe unter dem roten Stein, der aufstehen könnte, und die Menschen anklagen, die ihm geschwiegen haben wie die Berge, die Bäume und die Toten unter dem Rasen, alle die, die zu ihm hätten reden sollen und es nicht getan haben.

1

Jedermann in Sanmarto kannte Benito. Was man so kennen nennt. Man hörte zu, wenn er mit seinem schüchternen Stimmlein sprach, und man wußte, wie er aussah. Aber wessen er bedurfte, was er suchte, wonach er verlangte, wer hätte das wissen sollen? Allein an seinen fragenden Kinderaugen hätte man merken können, daß er ein Suchender war. Aber wer merkt es, wer fühlt es, was die Seele eines Kindes berührt?

Es mochten ihn alle gerne leiden, den kleinen Benito mit seinem scheinenden, hellen Haar und seinen hellen Augen. Er war ein Kind, dem man es ansah, daß ihm die Dinge dieser Welt wenig wert waren.

Hie und da nahm ihn der Curato mit nach Hause, zeigte ihm Bilder und erzählte ihm Märchen. In ihnen fand Benito Erfüllung. Er spürte darin die geheimnisvolle Macht, die außerhalb des Willens der Menschen steht und unabhängig von ihnen.

Aber er sagte nicht viel, er bat nicht, er beklagte sich nicht, kaum äußerte er sich, und es kam niemand im Dorfe auf den Einfall, daß er etwas zu sagen oder zu fragen haben könnte. Benito empfand so zart, daß er von dem nicht zu sprechen vermochte, was ihn bewegte und innerlich immerfort beschäftigte. Es war wie eine heilige Scham in ihm, und er verschmähte es, das Bild, das er, älter werdend, von allem Göttlichen und Verehrungswürdigen im Herzen trug, sich auch nach außen spiegeln zu lassen.

Benitos Vater war ein Mann, von dem man nicht wußte, ob er böse oder gut war. Es gelüstete ihn einmal das eine, und das andere Mal das andere. Es kam darauf an, wer um ihn war. Er sehnte sich, wenn sein Gefährte darnach war, seinem lieben Guten die Zügel schießen zu lassen, und war der Kumpane schlecht, so bedrückte es den Cesare, daß das Gute, das sein Herz beherbergte, soviel um seinetwillen zu leiden hatte. Im allgemeinen merkte man von dem allen nicht viel. Er mauerte, wenn es etwas zu mauern gab, züchtete im Frühjahr seine Seidenraupen, wusch und trocknete im Herbst die Kastanien, besorgte seine winzigen Äckerlein, die in Sanmarto überall zerstreut herumliegen, und erlaubte sich des Abends einen Trunk, ohne sich zu berauschen.

Cesare hatte eine Frau, die langsam, trotzdem sie sehr arm gewesen als er sie geheiratet, der Stolz des Dorfes geworden war. Hoch und schmal ging sie durch die engen, gepflasterten Gäßlein, einer Königin gleich, mit dem eingebogenen Arm den Tonkrug auf ihrem Kopfe im Gleichgewicht haltend, langsam schreitend, vornehm und gütig lächelnd. Jedes Kind in Sanmarto grüßte sie. Keine böse Nachrede hatte sie je erfahren, kein böses Wort fiel ihr gegenüber. Man suchte ihre Freundschaft, und ihr Urteil galt. Lelia Scola schien allen der kostbarste Schatz des Dorfes zu sein. Niemand hätte Auskunft geben können, warum das so war, und die Leute wären in Verlegenheit geraten, hätte man sie gefragt, warum sie Lelia liebten, warum sie sie verehrten und beinahe zum Range einer Madonna erhoben. Die Dorfleute würden lächelnd die Köpfe geschüttelt haben: »Cosa? Was meint Ihr? Sie ist eben Lelia.«

In der Prozession am Sonntagmorgen ging sie allen Frauen voran. Sie hielt ihr Bübchen an der Hand, das sich mühte, mit der Mutter Schritt zu halten. Sein süßes Gesichtlein strahlte, und in seine hellen, weißen Löcklein wob die Sonne Silber und Gold. Es fiel den Leuten schwer, zu glauben, daß der hellhaarige, helllachende, helläugige Benito ein Tessiner Kind sei, des kohlschwarzen Cesare und der dunkeln, bräunlichen Lelia Kind. »Vom Himmel gefallen ist er,« hörte man die Leute sagen. Sie lächelten dabei. Wenig Mühe hatte er seiner Mutter gemacht, als er als Bambino in den Kissen strampelte, ohne Lärm lachte er später durch die Tage. Freilich, der Mutter lief er nach, mochte sie sein, wo sie wollte. Fand er sie, so leuchteten seine Augen.

So ein wenig sonderbar war er schon, der kleine Benito. Er konnte plötzlich um irgendeines Gedankens willen mitten auf der Straße stillstehen und träumen. Oder die Sterne verklärt anstarren und sich ihrer freuen, daß seine Augen funkelten wie sie. Oder er stand und schaute verzückt in das Abendrot, mit der kleinen Hand hinaufweisend, unbeweglich, bis ihn jemand anrief. Er erschrak dann und wurde befangen. Die Maurer – in Sanmarto ist jeder Mann ein Maurer – strichen ihm über das Köpflein, und wenn das seidene Lämmerfellchen an ihren rauhen Händen hängenblieb, lachten sie: »Der Lelia ihr Bub ist aus anderm Stoff gemacht als die unsern.«

Wenn Benito am Brunnen saß, an dem seine Mutter wusch, baute er sich aus Steinen und Sand, aus Blumen und fliegenden Papierchen einen Altar, wie er ihn in der Kirche der Madonna d'Ongero gesehen. Die Frauen ließen ihre Wäsche auf dem Rand des breiten Brunnens liegen, kamen und standen um ihn herum und schüttelten halb mitleidig, halb bewundernd die Köpfe über das Kind, das andächtig, mit gefalteten Händen, vor seinem selbsterbauten Altar kniete.

Benito war noch winzig klein, als er seinen ersten Gottesdienst abhielt. Er war von merkwürdiger Art, und niemand begriff, was das Kind gewollt, noch wie es auf den merkwürdigen Gedanken gekommen war, den es da ausführte. Es mußte von solchen Dingen beim Lehrer, bei dem es halbe Tage zubrachte, oder von älteren Kindern, oder von Fremden, die oft Sanmarto durchstreiften, gehört haben. Kurz, es war eines Tages hinausgezogen, seinen kleinen, holperigen Wagen hinter sich. Alle seine Spielsachen lagen darin: der Wollenball, den seine Mutter ihm gemacht, eine kleine Puppe, der die Sägespäne aus dem Leib liefen, ein Bilderbuch, geliebt und zerfetzt, und das Kostbarste: ein Rößlein, das der Vater ihm von Ligornino kürzlich mitgebracht. In der Hand trug Benito eine kleine hölzerne Schaufel.

Langsam zog er vor das Dorf hinaus, am Grotto mit der uralten, seltsamen Pietà vorüber, am Kirchhof vorbei bis zu seines Vaters Äckerlein. Dort grub er langsam und feierlich ein Loch, ungeschickt und mit unendlicher Mühe, aber unermüdlich und stetig arbeitend. Als es groß genug war, versenkte er alle seine lieben Spielsachen in die Grube und warf Blumen darüber, bedeckte das Ganze mit der aufgeworfenen Erde und steckte drei Hölzlein nebeneinander in den kleinen Hügel. Warum drei? Er hätte es nicht zu sagen gewußt. Es kam eine Nachbarin vorüber, die Sichel in der Hand, schaute seinem Treiben verwundert zu, fragte endlich, was er treibe, und erfuhr, daß Benito alles, was ihm lieb gewesen, vergraben habe, um den Feldteufeln zu opfern.

Die Frau war vor Erstaunen außer sich, aber auch vor Entsetzen. Den Teufeln opferte Lelias Bube? Was wußte er von Teufeln? Wie kam er auf den Gedanken, den Teufeln opfern zu wollen? Niemand opferte ihnen, man war froh, wenn man nichts mit ihnen zu tun hatte. Die Frau riß Benito die Schaufel aus der Hand, grub die Spielsachen wieder aus, schüttelte und klopfte sie, und kümmerte sich nicht um das weinende Kind, dessen Opfertat so mißverstanden wurde. Mit Armschwenken und fürchterlicher Zungenfertigkeit erzählte die Martha auf dem grünen Platz vor der Kirche des Kindes Unterfangen, und zum ersten Male sah man in dem blonden, zarten Benito nicht Lelias Kind, sondern einen Buben, der möglicherweise ein Gezeichneter war, einer, den der Teufel sich bereits gemerkt, einen, der bereit war, ihm zu opfern, jetzt schon, wenige Jahre alt.

Es dauerte lange, bis man, wenn der lebendige Sonnenstrahl vorüberging, vergessen hatte, daß man ihn schon beinahe hatte mit der Hölle kämpfen sehen. Die Lelia hatte ihn damals, als Martha ihn zitternd vor Erregung brachte, an sich gedrückt und war langsam, königlich schreitend, mit ihm davongegangen.

Lelia wußte nicht viel. Aber sie fühlte so instinktiv richtig, daß sie keinen Führer brauchte. Sie hatte augenblicklich begriffen, daß das Kind aus einem ersten, unbewußten religiösen Bedürfnis Gott hatte dienen wollen und bei seinem Tun nur die ihm fremden Namen verwechselt hatte. Namen kannte das Kind ja noch nicht, es folgte einfach einem innern Gebot. Lelia lächelte und strich Benito über die Silberhaare. Sie ging mit dem Bübchen in ihren ummauerten Garten, schloß die Türe und grub unter den überhängenden Reben neben den Riesenblumen eines rankenden Kürbisses eine kleine Grube. »Jetzt bete, Benito,« sagte sie, »und schenke dem lieben Gott deine Spielsachen.« Mit einem Freudenschrei brachte das Kind sein Opfer. Es wölbte sich ein kleiner Hügel darüber, und Mutter und Kind umsteckten ihn mit den kleinen blauen Blüten der Hortensie. Und plötzlich umklammerte Benito den Hals seiner Mutter und küßte sie viele Male.

Wenige Jahre darnach lag Lelia im Sarg, zu der Zeit, als Benito die ersten gewichtigen Fragen an sie, der allein er vertraute, zu richten begonnen hatte.

»Mutter, wer ist Gott? Wie kann ich Gott spüren?« Lelia verstand die Frage des Kindes und fertigte ihn nicht ab wie einen Tölpel, noch bot sie ihm die herkömmlichen Begriffe. Sie begnügte sich nicht, ihm das kindliche, ins Große verzerrte Bild eines Menschen zu zeigen. »Gott ist so groß, daß du ihn jetzt noch nicht begreifen kannst,« sagte sie. »›Gott ist ein Geist,‹ sagt der Priester, ›er will in der Wahrheit angebetet werden. Sei wahr, und du spürst den Hauch Gottes.‹« Der Knabe sah sie lange mit seinen tiefen, seherischen Augen an. »Ich möchte ihn finden, ich möchte mit Gott sein, kann ich das?« »Wenn du die Sonne siehst und die Berge und die Blumen und freust dich darüber,« sagte die Mutter, »so fassest du einen Gottesteil, so bist du bei Gott.«

Lelia sprach so, ohne zu denken, sie wußte, daß es so sein mußte, wie sie sagte. Sie sah den Knaben lange an, dann fiel sie auf die Knie und betete, seine Hände in den ihren. Sie empfahl ihn Gott. Dann weinte sie. Und wenige Wochen darnach lag sie draußen unter einem schneeweißen, glänzenden Kreuz und bald blühten die Feuerlilien daneben. Viele Tränen flossen um sie, und unzählige Gebete wurden an ihrer Bahre gebetet. In langem Zuge begleitete sie das ganze Dorf zum Kirchhof, und zwischen Jasmin und blauen Hortensien grub man ihr die Ruhestätte. Es wehten die schwarzen Tücher der Frauen und das buschige, zackige Kastanienlaub im ersten kalten Herbstwinde. Es drohten die Regenmonate, es kamen trübe, traurige Tage. Es kam die Zeit der Tränen für Benito. Es dauerte lange, bis er begriffen hatte, was ihm geschehen. Als sein Heimweh kein Ende nehmen wollte und das Alleinsein drückender und ängstlicher wurde, als die Tröstungen der Frauen nachgelassen, und man ihn nicht mehr sooft zum Abendbrot holte oder zum Kastanienessen, da merkte er erst, was es heißt, seine Mutter verloren zu haben. Er verlor auch seinen Vater, denn was sollte der Cesare noch zu Hause, wer konnte von ihm verlangen, daß er dem Buben zuliebe daheim am Kamin saß, Scheiter ins Feuer warf, ohne daß ihm einer ein gutes Wort gab? Niemand war mehr da, der ihn zum Guten anfeuerte, wenn es ihn nach dem Schlimmen gelüstete, niemand war da, ihn zu trösten, wenn das Dunkel in seinem Herzen die Oberhand gewonnen. Das Kind? Zu merkwürdig war es, dieses Kind, sagte er oft, der Lelia Kind. Ihr ähnlich in vielen Bewegungen, in vielen ihm fremden Worten, in Einfällen, die andere nicht hatten, in Fragen, die niemand sonst einfielen. Ja, aber was ihn an der Lelia als Gottesfurcht angemutet, ärgerte ihn beim Sohn. Der sollte sein, wie Buben eben sind, der sollte auf der Gasse spielen, wie des Postillions Bube es tat und alle die andern, die um zwölf Uhr der Post nachrannten, sich hinaufschwangen und triumphierend oben auf Kistchen und Paketen herumtanzten. Er sollte Beeren suchen, Geld verdienen, Botendienste tun, er sollte – warum nicht, es taten es ja alle – über die Mauern der Gärten klettern und sich Birnen und Feigen holen. Er, der Cesare, hatte es auch getan, und war ein Ehrenmann und geschickter Maurer geworden.

Aber Benito blieb für sich, lag zwischen den Adlerfarnen unter den Kastanienbäumen und träumte. Er lief zur Kirche der Madonna und sah staunend über das Land hinaus, oder brachte der Santa Elemosina Blumen, oder schaute durch das viereckige Guckloch ins Innere der Kirche, betete, fiel, wenn er die gekrönte Madonna erblickte, auf die Knie: »Madonna, Mutter!«

Er war kein richtiger Bube, das ganze Dorf sagte es. Es blieb dem Cesare nichts anderes übrig, als im Wirtshaus seinen Ärger zu vertrinken. Im Prestino tanzten sie, und er tanzte mit. Als der Sommer in seiner königlichen Kraft herangezogen, saß er auf der Terrasse mit den gelben Papierlaternen und sah den blitzenden Leuchtkäfern zu, oder den jungen Mädchen, die im Mondschein auf dem Kirchplatz mit den Burschen scherzten, oder er sah hinüber zum Generoso und schaute den Bergbauern in die erleuchteten Fenster.

Die alte Elvezia brachte ihm ein Glas Nostrano ums andere, und die Marietta, die noch immer hübsch war und es verstand, ihre schwarzen Augen bedeutungsvoll zu gebrauchen, setzte sich neben ihn, drängte ihr Knie an das seine und legte ihren Arm um seinen Nacken, stieß mit ihm an und lachte, wenn Scherzworte fielen, ihr Verhältnis verdeutlichend, als neckende Finger auf sie wiesen, und die Tanzenden sich zuletzt um Cesare reihten, anstießen und Glück wünschten.

So kam es, daß Cesare wieder eine Frau und Benito eine Mutter hatte. Keine Bitte des Vaters, kein Zureden der Nachbarinnen, kein Zornwort der Marietta brachten ihn dazu, Mutter zu der Frau zu sagen, die in Lelias Bette schlief und an Lelias Platz oben am Tische saß. Cesare, der Schwächling, prügelte seinen Buben auf Befehl seiner Frau, damit er sie liebe, doch half das nichts. »Meine Mutter ist fortgegangen,« sagte Benito. »Das ist nicht meine Mutter.« Dabei blieb es.

Doch war es nicht das allein, was Mariettas verhaltenen Zorn mit der Zeit in Haß übergehen ließ. Sie behauptete ihren Nachbarinnen gegenüber, daß Benito sie nicht leiden könne. Daß er sie mit der Mutter vergleiche und sie, Marietta, für schlechter halte als die Lelia gewesen. »Er will des Abends nicht mit mir beten,« sagte sie. »Er geht hinunter in den Garten und betet dort allein. Der Bube bringt mich noch unter die Erde. Er will es. Das ist es, worauf er ausgeht. Er will mich fort haben, er hat den bösen Blick.« Die Nachbarinnen wollten einwenden, daß der Benito schöne, klare, auch gute und liebe Augen habe, aber da fiel ihnen ein, daß er schon als kleines Kind den Teufel geopfert, und sie stutzten. Weiß man je, wen der Teufel sich aussucht, um sein böses und gottloses Wesen zu treiben? Gerade unschuldige Kinder sind ein herrlicher Tummelplatz für schlimme Geister, sie finden wenig Widerstand, sie sind ahnungslos, wissen nicht, was mit ihnen vorgeht, sie wehren sich nicht. Und merken sie es endlich, so ist es zu spät, sie vermögen es nicht mehr, sich aufzulehnen gegen das Teuflische in ihnen.

Die Nachbarinnen fuchtelten mit den Armen, erzählten laut ihre Beobachtungen, hetzten einander auf, machten sich untereinander auf die sonderbare Art Benitos aufmerksam, und bald war niemand mehr da, der Lelias Kind behütet und beschützt und sich zwischen es und die unsichtbare Mauer gestellt hätte, die sich zwischen ihm und den Dorfleuten und deren Liebe und Freundschaft und Vertrauen aufbaute.

Benito merkte nicht viel davon. Er träumte weiter, las früh und mit Leidenschaft jedes Buch, das er erlangen konnte, war ein gewissenhafter Schüler, der leicht lernte, schwang am Sonntag sein Rauchfaß in der Prozession, sang mit Inbrunst und großem Ernst, und brachte jeden Gedanken, jede Schwierigkeit, jede Angst, jede karge Freude in Gedanken seiner Mutter, die für ihn nicht tot, nur fort war. Betete er vor einem der Altäre der schönen und wundertätigen Kirchen von Sanmarto, so schien ihm die Madonna die Züge der Mutter zu tragen, und dachte er an Lelia, so gab er ihr der Madonna gütig lächelnden Mund und ihre himmlischen, blauen Augen. Wenn er des Abends vor dem Einschlafen zu müde war, um sein Gefühl in Worte zu fassen, so schenkte er es in einem hingebenden, liebewarmen Gedanken Mutter und Madonna, beide nicht mehr trennend.

Cesares Frau mißhandelte den Buben nicht. Sie sind nicht grausam in Sanmarto, sie schreien und toben wohl mit ihren Kindern, schlagen sie aber selten und so, als ob eine unsichtbare Hand die ihre beim Schlagen hemme. Benito war sauber gekleidet, er bekam genug zu essen. Aber ein Wort der Liebe, gar eines der Anerkennung, des Dankes, wenn er ihr das schwere Kastanienholz herbeigeschleppt, die Stube gescheuert, die Rüben vom fernen Äckerlein geholt, die Feigen vom Baum gepflückt, die Kastanien aufgelesen, sagte sie nie. Sie brachte es nicht über sich. Sie wand sich unter dem Gedanken, daß der Bube sie verachte. Ihr Stolz litt, und ihre despotische Art vertrug den bohrenden, verhaßten Gedanken nicht, einen Mahner bei ihren Zornesausbrüchen, ihren Gehässigkeiten, ihrer Unverträglichkeit neben sich zu haben, einen Jungen, der sie für zu schlecht hielt, seine Mutter sein zu dürfen. Sie wußte, wer Lelia gewesen, und es war ihr Ehrgeiz, zu erreichen, was sie erreicht. Es war ihr wenig gelungen. – Lelia und Marietta – die Dorfleute würden gelacht haben, hätte jemand diese beiden vergleichen wollen. Marietta aber zürnte nicht den Dorfleuten, auch nicht Cesare, der, wenn er getrunken, sie anblinzelte und schwermütig seufzte: »Die Lelia, das war eine Frau!« Nicht auf Cesare warf sie ihren Zorn, ihren Ärger ob der Demütigung, nur auf Benito, und er mußte es entgelten, daß er sie nicht ehrte wie seine Mutter. Marietta fühlte das, sah es ihm an, so deutlich, daß sie auf den Tisch schlug und die Teller zornig ins Feuer warf und zerschmetterte, darum, weil der Bube ihr das Gutsein so schwer machte. Und ihr Ehrgeiz, das falsch verstandene Gebot ihres Gewissens zwang sie, Lelias Kind mit Arbeit zu überhäufen, zwang sie, ihn zu verleumden, zwang sie, sich alle möglichen Strafen auszudenken, die nicht wie Strafen aussahen, aber für Benito schwer zu tragen waren.

Er fühlte sich so sehr allein. Er hatte niemand, mit dem er reden konnte, wie es ihn drängte. Niemand freute das, was ihn freute. Niemand wollte zuhören, wenn er von den Eidechsen erzählte, von ihrem herrlichen grünen Panzer und dem blauen Kragen, oder von den schönen, glatten Schlangen, die unsichtbare Kronen trugen und kluge, geheimnisvolle Augen hatten und wußten, wo die Schätze im Berg verborgen lagen. Niemand wollte mit ihm die Leuchtkäfer fangen und ihnen stundenlang zusehen, wie sie aufglühten, verschwanden, da glänzten und dort, und niemals da leuchteten, wo man sie vermutete. Ach, niemand freute sich mit ihm darüber.

Viel ging er in die Kirche. Oft betete er vor der kleinen Wegkapelle hoch über dem Abgrund oder vor der Säule mit der verblaßten, engelschönen Gottesmutter, die auf dem Wege zur Kirche im Farnkraut stand. Oft bat er Gott, sterben zu dürfen. Ihn sterben zu lassen, weil er doch so ungern da unten wohne, und doch immer an die Madonna und die Mutter denke, die beide im Himmel seien und ihn allein ließen.

Kam jemand, so versteckte er sich, denn er wußte wohl, daß man ihn, der mit dem Fluche des Mißtrauens belastet war, scheel ansah. »Opferst du wieder den Teufeln?« Die freundlichen, gütigen Leute von Sanmarto kamen über diese Hindernisse nicht hinweg. Sie verloren Vernunft und Güte, wenn ihre religiösen Vorurteile verletzt wurden, sie wurden zu Idioten, zu Henkern, zu Wilden, wie so unendlich viele vor ihnen, die aus Furcht vor dem Teufel Gottes spotteten und seiner Liebe. Steckte auch da und dort eine alte Freundin Lelias dem Buben Nüsse und Feigen zu, einmal zu ihm zu stehen, herzhaft die Unken und Zeterer auszuschelten, dazu hätten sie nicht Erkenntnis genug, nicht Mut genug und nicht Freiheit genug gehabt.

Cesare wurde mehr und mehr der Knecht seiner Frau. Er war in sie verliebt, mehr, als er es in Lelia gewesen, der seine Sinnlichkeit nicht so recht zu nahen gewagt hatte. Auch fürchtete er Marietta um so mehr, als er sie weniger achtete. Er trank, und sie ließ ihn trinken, gewann sie doch dadurch Macht über ihn. Langsam brachte sie den Mann dazu, ihren Widerwillen Benito gegenüber zu teilen. Sie bestimmte ihn, den Buben aus dem Haus zu geben. Er sollte in der nächsten Stadt zur Schule gehen, des Morgens den Berg hinunterlaufen und des Abends hinauf. Die zwei Stunden Steigen würden ihm nicht schaden, nicht mehr als andern Buben, die den Weg täglich machten.

So besuchte nun Benito die Stadtschule. Bald merkten es seine Mitschüler, daß da ein Knabe war, der nicht mit dem gewöhnlichen Maße gemessen werden durfte. Es wurden ihm anfangs Händeleien und Prügel nicht erspart: Träumler, Frömmler, Hase und manch anderer Name flog Benito um die Ohren. Aber seine Augen entwaffneten den, der ihn ansah. Hier, wo er fremd war, wo nicht Mißtrauen und Vorurteile, Eigennutz und Liebedienerei wie eine Kette aneinanderhingen, trat er den andern unbefangener, freier gegenüber.

Er hatte sich bald Freunde erworben. Er wollte nichts für sich. Nie sprach er von sich. Auch suchte er weder Mitgefühl noch Freundschaft, und doch fielen sie ihm zu. Wie früher Lelia wurde er als etwas Besonderes erkannt, ohne daß diese Erkenntnis Neid oder Zorn rief. Benito lebte auf, entfaltete sich, aber in seiner eigenen Art. Er verlor seine Ängstlichkeit, darum auch seine Scheu vor den Menschen. Es wuchs ein Gefühl starker Dankbarkeit in ihm, das keinem einzelnen galt und ohne eigentlichen Gegenstand war, und das er darum der Madonna darbrachte und es ihr dankte, die er als die Ursache aller Freundschaft ihm gegenüber ansah, ihr, der es gelungen, in den Herzen seiner Kameraden Gemeinschaft zu wecken. Sie war ihm Mutter, Helferin und Heilige. Alles Gute, was ihm geschah, war ihr Verdienst.

Kam er des Abends müde nach Hause, erschöpft vom Steigen, so empfing ihn mürrisches Schelten aus vielen und immer neu erfundenen Gründen von Marietta und Schimpfworte, böse Reden, und Flüche von seinem Vater, der mehr und mehr dem Trunk anheimfiel. Marietta suchte nach Arbeiten, die sie dem Jungen auferlegen konnte, schonte ihn nicht, gebrauchte ihn zu allerlei Diensten, die ihm unangenehm waren, und achtete seiner müden Augen niemals, wenn er ihr bis in den späten Abend zu dienen hatte. Auch jetzt noch dankte sie ihm nie, lobte ihn nie, wenn er ihr irgendeine schwere Bürde im Gerlo ins Haus brachte.

Daß Benito außerhalb der Schule auch noch Geld zu verdienen vermochte, war ausgeschlossen. So war Marietta gezwungen, ihm jeden Morgen das Mittagbrot mitzugeben, und tat es unter beständigem Schelten. Jedes Geldstück, das sie für ihn ausgeben mußte, ärgerte sie. Jeder Bissen reute sie, jedes Kleidungsstück, das sie für den Jungen anschaffen mußte, hatte er zu büßen, und sie ersehnte den Augenblick, wo sie ihn dadurch los wurde, daß sie ihn in die Fremde schickte. – – –

2

Ein kleines barfüßiges Mädchen hatte sich an Benito angeschlossen. Mit seinen schmalen Händen und Füßen, seinen traurigen Augen und seinem dünnen Stimmlein schien es ihm noch hilfsbedürftiger, verlassener, ärmer als er selbst, und er wurde darum ihr Freund. Man sah sie zusammen ihre stillen Wege suchen. Sie holten Beeren, fuhren ins Holz, lasen Kastanien auf, und Benito begann, ihr von der Madonna und der Mutter zu reden. Sie wurde nun als Dritte im Bunde auf den Altar seines Herzens zwischen Blumen der Andacht und den brennenden Kerzen seiner Liebe aufgestellt und angebetet.

»Du siehst ihr ähnlich,« sagte er zu Bruna. »Du siehst auch der Madonna ähnlich. Ich freue mich, wenn ich euch alle drei für mich haben werde.«

»Wann wird das sein?« hatte sie erstaunt gefragt.

»Das wird sein, wenn ich tot sein werde. Da bleiben meine Kleider, meine Haare und meine Glieder hier und werden begraben. Aber ich, ich selbst, das, was man nicht sieht, das lebt und kommt dahin, wo die sind, die ich kenne und liebe. Dort darf ich sie immer sehen und kann sie fragen nach allem, was ich wissen will, und darf sie so lieb haben als ich muß.«

»Mich kannst du jetzt schon lieb haben,« hatte Bruna ihm bedeutet.

»Wie einen Menschen kann ich dich lieb haben, Bruna. Aber was ist das gegen die Liebe, die ich für einen Engel haben darf? Ach, Bruna. Ich habe Heimweh nach der Madonna und der Güte ihrer Augen, und ich will nicht mehr lange leben.«

»Benito,« antwortete Bruna. »Du bist dumm. Niemand hat Heimweh nach der Madonna. Man betet sie an, man schenkt ihr Blumen und setzt die goldene Krone auf ihre blonden Haare, wenn ihr großes Fest gefeiert wird, aber man hat nicht Heimweh nach ihr. Wer kennt sie denn?«

»Ich kenne sie,« sagte Benito, »ich kenne sie, und in meinem Herzen ist ihr Bild.«

»Und du bist doch dumm,« sagte eifersüchtig Bruna. »Du brauchst niemand in deinem Herzen zu haben. Du bist noch kein Mann.«

»Macht das einen Unterschied?« fragte der Knabe. »Ein Fluß ist ein Fluß bei Beginn und am Ende seiner Bahn.« Aber Bruna hörte nicht mehr zu. Sie wollte spielen und rückte ein langes Brett, das dalag, auf einen viereckigen Stein. Sie schaukelten eine lange Weile und gingen nach einer Stunde Hand in Hand nach Hause. Marietta wartete vor der Türe. Heftig schalt sie.

»Statt Holz für mich zu holen, Faulenzer, Nichtstuer, läufst du mit Bettelmädchen herum. Morgen holst du Holz und nimmst nicht dürre Äste und dünne Zweige, aber Klötze und frisches richtiges Holz, grünes, gutes.«

»Darf man das?« fragte Benito erstaunt. »Es ist verboten.«

»Darf man das! Darf man das! Wenn ich es dich heiße. Brauchst du vielleicht den Pfarrer dazu oder den Bürgermeister, der es dir befiehlt? Oder genügt's, wenn ich es dir sage?«

»Es genügt,« sagte Benito und sah sie an, nicht wie ein Knabe, sondern wie ein Mann, mit einem Blick, den sie verstand und der ihr die Verantwortung aufbürdete. Sie schwieg und ging ins Haus. Benito erklomm auf einer steilen Treppe seine kleine Kammer und schlief nach wenigen Minuten.

Ehe irgendein Mensch in Sanmarto wach war, stand er auf, nahm sein breites Baummesser mit sich, seinen lärmenden, kleinen Wagen nach sich ziehend. Er fand, was er suchte, bürdete Ast neben Ast, türmte Zweig neben Zweig. Er schob es hinaus, grünes Holz zu fällen, er wußte, daß es verboten war, aber auch, daß alle Tage die Buben von Sanmarto lachend damit zurückkamen. Man nahm es nicht genau, was ging es sie an? Holz war genug da.

Aber Benito hatte nie etwas leicht genommen. Doch heute war ein ihm fremder Trotz in ihm. Ein Widerstand gegen Mariettas Befehl erfüllte ihn, der nicht allein dem Unrecht galt, das er zu begehen sich anschickte. Durfte sie ihm zu sündigen befehlen? Durfte sie ihn, den Unschuldigen, zu einem Diebe machen? Sie war schlecht, die Marietta, und durfte ihm doch befehlen? Ein unbändiger Zorn erhob sich in seinem Herzen, ein Sturm, der alle seine Gedanken mitriß und sich zu plötzlichem Haß entwickelte und wirbelnd ihm alles zeigte und fühlen ließ, was er je von seines Vaters Frau hatte zu erdulden gehabt. Er hätte sie vernichten mögen, umbringen, fortjagen. Es krampften sich seine Hände. »Gut, gut,« dachte er. »Ich schlage grünes Holz, ich tue nach deinem Befehl, ich werde ein Dieb, weil du es willst. Aber Gott sieht es, und der Teufel auch.« Sein Zorn hielt an. Er fürchtete sich unbewußt, weiterzugehen. Er wollte nicht wissen, was er ohne Gedanken gedacht, ohne Worte gesagt, ohne Wunsch gewünscht. Sein Haß brach. Es blieb das dunkle Gefühl eines Unrechtes, das man ihm angetan, das Bewußtsein einer Schmach, der er sich unterziehen mußte, zurück. Es blieb eine starke Mißachtung Mariettas, wie er sie nie gefühlt. »Gut, also gut, ich gehorche ihr, aber ich bleibe, was ich bin, und sie bleibt, die sie ist.«

Er hieb und hieb. Einer der saftstrotzenden Äste um den andern fiel krachend, Ast türmte sich auf Ast auf seinem Wagen, soviel er tragen und ziehen konnte. Vor der Mutter Türe warf er den ganzen Haufen und half ihr mit einer verbissenen Miene das Holz im Hof auftürmen, die nicht gesetzmäßigen kleinen Stämme und Äste sorgfältig verbergend. Die Marietta wollte es so, die Marietta mochte das schlechte Gewissen für ihn tragen und sich peinigen lassen. Die Marietta wußte, was man durfte und was nicht, und wenn sie trotzdem, wenn sie gegen das Gesetz ihn Bäume zersägen ließ, so mochte sie es am Sonntag beichten, und der liebe Gott durfte es nicht ihm in die Schuhe schieben.

Trotzdem sich der Junge mit einer langen Reihe philosophischer Gedanken über Trotz und Unbehagen hinweg zu helfen suchte, besserte sich seine Laune nicht. Er blieb bedrückt, ging frühe zu Bett, fand in seinen Gedanken den Weg zu seiner Mutter nicht, wie es ihm sonst doch so leicht geschah, und vermochte es nicht, von Herzen zu beten. Er sprach ein paar hastige Vaterunser, zerrte zerstreut an seinem Rosenkranz und drückte unwillkürlich die Augen zu, als er die Bitte: »Und vergib uns unsere Schuld« hastig vor sich hinflüsterte. »Die Marietta,« dachte er noch im letzten, traumhaften Augenblick vor dem Einschlafen, »die mag das heute abend tun, ich nicht.«

Am nächsten Nachmittag lief er wieder mit seinem Wagen und seinem breiten Holzmesser in den Wald, und spät am Abend bog er in das schmale, feuchte, düstere Gäßlein ein, in dem der Odem der Armut um die Häuser mit den kahlen Fenstern strich. Schon als der Wagen über das holperige, grasbewachsene Flecklein Erde fuhr, um das die zerfallenen Palazzi standen, hatte er ein Gemurmel von hohen und tiefen Stimmen gehört. Kreischend erhob sich eine Frauenstimme über den andern, in tiefem Baß antwortete ein Mann. Je näher Benito kam, je lauter und verworrener wurde das wilde Getöse, ein Durcheinander von zornigen und neugierigen Ausrufen.

Erstaunt kam der Knabe näher. Am Eingang des Gäßchens stand eine Menge Kinder und Frauen. Als sie den Benito mit seinem hoch aufgetürmten Wagen erblickten, wichen sie zurück und ließen ihn zwischen sich hindurchgehen, als sollte er Spießruten laufen. Benito sah sich um. Durch das offene Hoftor sah er die Ladung von dürrem und grünem Holz, das er gestern geholt, durcheinandergeworfen auf dem Pflaster liegen. Was sollte das? Der Landjäger stand an der Türe. Alle zwei, drei Monate einmal kam er herauf, um nachzusehen, ob jemand sich zu beklagen habe über seinen Nächsten, oder ob gar ein Sträfling im Hinterstübchen der Municipalità darauf wartete, von ihm abgeführt zu werden. Jetzt stand er vor dem Haus Mariettas, die mit großen, wilden Augen ihm etwas vorredete und dabei den schwarzen Kopf herumwarf. Zwei-, dreimal nickte der Polizist mit dem Kopf.

»Ist das der Knabe, von dem Ihr spracht?« fragte er, als er Benito mit seinem Karren in großer Verlegenheit an der Türe halten sah.

»Ja,« schrie Marietta, »das ist er.« Dann sah sie zu Boden. Benito klopfte das Herz, denn wie sollte er sein Holz einbringen, wenn solch ein gefährlicher Mensch ihm den Weg versperrte?

»Zeige dein Holz,« befahl der Landjäger. Benito rührte sich nicht. Er sah Marietta an. Er wartete darauf, daß sie irgend etwas sagen würde, das ihm zu Hilfe käme. Aber sie schwieg, die vorher so laut geschrien und mit den Armen gefuchtelt hatte.

»Vorwärts, reiße das Holz auseinander,« befahl wiederum der Polizist. Benito tat es, langsam und mit zitternden Händen, in der sichern Ahnung eines Unglückes. Es drehte sich plötzlich alles vor seinen Augen. Er hielt sich an der steinernen Bank fest, die neben der Tür eingemauert war. Die dicken, prallen Aste waren nicht tief versteckt unter dem dürren Holz. Hell klangen sie, als der Landjäger sie vom Wagen warf.

»Du bist ja ein netter Kerl, du kleiner Holzdieb,« sagte er zu Benito, ohne besondern Zorn zu zeigen oder große Empörung. Er kannte die Leute von Sanmarto.

»Ich kann nichts dafür,« stotterte Benito. »Ich mußte das Holz holen.«

»Was,« schrie die Marietta gellend, »was, du mußtest? Sag' das noch einmal vor dem Herrn Gendarmen, sag' das noch einmal vor allen Leuten, die zuhören, sag' das noch einmal, du Lügner, du … du …« Sie kreischte, daß sie den Atem verlor. Benito sah sie an. Es war wiederum der wissende, der richtende Blick. Das brachte die Frau außer sich.

»Alle wissen es, alle, was du für ein Bursche bist. Alle wissen es, welche Not ich mit dir gehabt, alle wissen es, was du für ein trotziges, schlechtes Herz hast, du Kröte, du Teufelsanbeter …«

Nun regten sich die Leute, tuschelten, wackelten mit den Köpfen. Ja, das war so. Ja, hat er nicht als ganz kleines Kind den Teufeln einen Altar gebaut? Ja, da hatte die Marietta recht. Die Spielsachen, seine Spielsachen, das Liebste, was er hatte, wollte er den Teufeln opfern. Ja, ja, das wußte jedes Kind im Dorfe. Und immer wollte er allein sein, immer ging er einsame Wege, kein Mensch wußte, was er trieb. Nachts strich er im Garten herum, und man hatte ihn schon mit sich selbst reden hören. Und gegen die Marietta, die doch ein ordentliches Weibsbild war, gegen die war er voll Trotz und war schuld, daß der Cesare, sein Vater, ins Trinken gekommen, und …

»Halt,« überschrie der Gendarm das Gekreisch, das ihn umtoste. Als es still geworden, fragte er gemessen und langsam: »Hast du, Junge, das Holz geholt?«

»Ja,« sagte Benito.

»Hast du es auf Befehl deiner Mutter geholt?«

»Sie ist nicht meine Mutter,« schrie der Knabe.

Triumphierend lachte die Marietta auf.

»Da seht ihr's, da habt ihr es gehört. Öffentlich verleugnet er mich. Öffentlich tut er mir diese Schmach an. Da, nehmt ihn, Herr Gendarm, nehmt ihn mit und laßt ihn nimmer laufen, behaltet ihn meinetwegen, mir soll's recht sein. O, der Dieb, der Lügner, der Hundesohn der, verleugnet mich vor allen Leuten, vor allen …«

»Schweigt endlich still,« schrie der Polizist, riß Marietta am Arm von Benito weg und schüttelte sie.

»Laßt mich reden! Also du hast das Holz geholt?«

»Ja.«

»Wußtest du, daß es verboten war?«

»Ja.«

»Hat es dich die Frau deines Vaters geheißen?« Benito stockte. Es war ein solcher Abscheu gegen Marietta in ihm, daß er sie gar nicht verklagen mochte, ein solcher Trotz, eine solche Mißachtung, daß er seine Lippen zusammenpreßte und schwieg.

»Rede doch,« brüllte der Polizist. Benito schüttelte den Kopf.

»Also nicht? Du willst nicht reden? Du hast also nichts zu sagen zu deiner Entlastung, wagst nicht noch einmal zu lügen, du Holzdieb du. Am besten ist's, ich sperre dich ein. Morgen wollen wir zusammen hinunter nach der Stadt, dort wird dir das Leugnen und das Trotzen schon vergehen.« Benito war totenblaß geworden. Einsperren wollten sie ihn? Wie einen richtigen Dieb wollten sie ihn einsperren? Ließ die Marietta das geschehen? Warf sie sich nicht dem Gendarmen zu Füßen, um ihm die Wahrheit zuzuschreien? Er sah sie an. Sie schaute zu Boden. Er hob die Hand wie beschwörend, sie schaute nicht auf. Die Leute, die ringsherum standen, waren still geworden, warteten, was nun kommen würde, sagten sich, daß sie alle schon frisches Holz unter dem dürren heimgeschleppt hatten. Wer kümmerte sich darum? Wer hatte darum je einen verklagt? Der Benito und ein Dieb, das war zum Lachen. Aber niemand regte sich, es schwiegen alle.

»Komm, Junge,« sagte der Polizist. Er nahm Benito beim Arm. Er dachte gar nicht daran, ihn hinunter in die Stadt zu schleppen und ihn zu verklagen. Nur einen Denkzettel sollte der Bube haben für die Zukunft. Holz stehlen, lügen, leugnen! Es verlohnte sich schon, einmal einzugreifen und Schicksal zu spielen.

»Komm mit. Stroh findest du genug dort oben. Und Wasser und Brot kannst du haben, soviel du wünschest.« Benito zitterte an Händen und Füßen. Fast hätte der Gendarm ihn laufen lassen. Lieber Gott, er wußte es nur zu gut, wie das Gesetz in diesen kleinen Bergnestern gehandhabt wurde. Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Nun, zufällig war heute ein Kläger dagewesen. Ein Kläger, der nicht hätte klagen sollen, ein Kläger, der eigentlich sich selbst das Urteil sprach. Die Stiefmutter, die eigene Stiefmutter. Sonderbar. Und mit welchen eckigen, heftigen, gewalttätigen Armbewegungen sie den Jungen angeklagt. Er mußte ihr gehörig verleidet sein, mußte in bösen Schuhen stehen bei dem rabiaten Weibsbild. Nun war's geschehen, sie hatte ihren Willen. Der Gendarm sah Marietta an. Ob am Ende der Bube recht hatte? Es ist jetzt nichts zu ändern, es ist wie es ist. Vielleicht denkt der Sünder sein Lebtag an den heutigen Tag, oder die Nacht, und stiehlt nie wieder, auch wenn die Alte es ihn heißt. »Also, vorwärts!«

Benito ging neben ihm, schwankte, und es war ihm übel. Er dachte nichts, er fühlte nichts. Es rauschte um ihn wie von großen Wassern. Es würde etwas Fürchterliches geschehen, vielleicht würde die Welt zusammenfallen, oder die Gräber sich auftun. Oder … Aus den Türen schauten die Kinder, schauten die Frauen. Er hörte ein Stimmlein »Benito« rufen. Er sah hin, aber schon riß ein Frauenarm das Kind ins Haus zurück. Benito hörte es weinen. »Bruna,« dachte er. »Bruna sehe ich nun auch nie wieder, denn ich muß ins Gefängnis. Ich darf nicht mehr in die Stadt zur Schule gehen und nie mehr in die Kirche. Vielleicht mag mich die Madonna nicht mehr.« Heiße Tränen liefen ihm plötzlich über die Wangen. Die Mutter fiel ihm ein. »Wenn die Mutter mich jetzt sieht!« Die Gedanken verwirrten sich ihm. Er stolperte neben dem Polizisten, der ihn immer noch am Arm hielt.

»Den Kopf hauen sie dir nicht ab,« sagte er gutmütig. »Aber Strafe muß sein.« Damit betrat er mit Benito eine der herrlichen Loggien, die die Kirche mit dem Pfarrhaus und der Municipalità verband, und stieg zwei Treppen mit ihm hinauf. Von da führte ein langer Gang und eine schmale Treppe zu dem hallenartigen Speicher, in dem die Korngarben aufrecht an den hölzernen Brüstungen standen. Stroh lag in großen Mengen in einer Ecke, dicke Bündel. Der Polizist wies auf die Garben.

»Die nimm zum Schlafen. Morgen hole ich dich.« Er machte gewichtig die lotterige Türe zu, schüttelte die Schlüssel mit grimmiger Gebärde und hing sie an einen Nagel neben der Türe, denn der Speicher war nicht zu schließen. Aber das wußte Benito nicht. Als der Gendarm hinuntergestiegen und aus dem Dunkel der vielen Räumlichkeiten, die er durchschritt, auf den Kirchplatz gelangte, standen Gruppen von Leuten herum, die alle wissen wollten, wie es dem Benito ergehen würde und was ihm zu geschehen drohte.

»Nicht viel,« lachte der Polizist. »Nichts. Und die Nacht dort oben kann ihm nur nützen, trotz der Ratten. Sie werden ihn nicht beißen, denn es ist Korn genug dort oben. Ich verklage den Jungen nicht wegen eines Armes voll grünem Holz, nein, ich tu's nicht.« Ein paar Bravos antworteten. Man lachte, man fuchtelte mit den Armen, schrie, brüllte und zerstreute sich.

»Weiß nicht, was sich die Marietta gedacht hat,« sagte der Postillion. »Wir in Sanmarto verklagen einander nicht. Und nun gar ihres Mannes eigenen Buben.«

»Sie wollte ihn los sein,« schrie die Ernesta. »Er wurde ihr zu groß, sie wollte keinen Aufpasser im Haus.«

»Schön ist's nicht von ihr,« sagte Pietro und ging in den nahen Stall, seinen Pferden Maul und Hufe zu waschen, wie er es alle Tage tat. Er liebte seine Pferde und hatte den ersten Preis erhalten für das bestbesorgte Postgespann. Er war ein guter Mann. Daß der Benito nun dort oben auf dem Estrich der Municipalità die Nacht zubringen sollte, paßte ihm nicht. Er würde morgen ein Wörtlein mit dem Herrn Gendarmen reden, ein Gläslein Nostrano anbieten, ein paar Formagini dazu, er würde sicherlich mit sich reden lassen.

Als der Pietro durch die schmale, kellerfeuchte Gasse ging, in der die Marietta wohnte, schrie er zu ihr hinauf: »Marietta, he, Marietta!« Aber es rührte sich nichts. Da verschob er, was er der Frau hatte sagen wollen, auf morgen. Die Ernesta stand an der Ecke und schwatzte mit den Nachbarinnen.

»Daß keine von euch der Marietta übers Maul fuhr,« schalt der Postillion die Weiber. »Daß ihr sie lügen ließet! Ihr wußtet ja alle, wie's stand.« Die Frauen zuckten die schmalen Schultern.

»Ja, was sollten wir sagen? Die Marietta ist keine von den Bequemen.«

»Ach, ihr Weiber!« schrie Pietro, so grob er es vermochte. »An was denkt ihr denn? An euern Jüngsten, an die Ziege, und ob der Mann den Samstag heimbringen werde. Weiter an nichts.«

»Und du,« gaben sie ihm zurück. »Warum hast denn du nicht geredet?«

»Wie hätte ich reden können, wenn ich nicht da war,« lachte der Pietro. »Aber morgen werde ich reden. Es ist früh genug dazu, wenn ich meine Pferde tränke.« Er ging.

»Es schadet dem Benito nichts,« sagten die Frauen, als sie unter sich waren. »Eine Nacht dort oben? Die soll der Teufelsanbeter nur aushalten. Und wenn ihm auch ein paar Ratten übers Gesicht fahren, das ist er gewöhnt.« Und nun gingen sie auseinander.

Als die Türe ins Schloß fiel und Benito von der Außenwelt trennte, blieb er wie erstarrt stehen in der Mitte des mächtigen, offenen, mit Steinplatten besetzten Söllers. Er, der Träumer, glaubte zu träumen. Er vermochte nicht zu denken, es war nur eine große, dunkle Angst in ihm, ein bohrendes Entsetzen, das seine Seele folterte und ihn an die Wirklichkeit glauben machte.

Er mußte ein Dieb sein! Man hatte einen Dieb aus ihm gemacht, man hatte ihn gezeichnet wie Kain. Kain war ein Mörder, der seinen Bruder getötet, weil Abel besser war als er. Besser? Woher wußte man das? Benitos Gedanken begannen sich von seinem eigenen Ich zu lösen, er fühlte die Krallen seines Schmerzes nicht mehr so grausam tief. Er nahm eine der hohen ausgedroschenen Garben, die neben dem hölzernen Geländer der Loggien an der steinernen Mauer lehnten, und legte sie in die dunkelste Ecke des weiten Raumes, trug eine zweite und dritte herbei, ließ sie wie schlafwandelnd neben die erste fallen und fiel selbst, als hätte er jeden Halt verloren, auf das Stroh.

Ja, wußte denn der Kain, ob Abel wirklich besser war als er? Wie konnte er es wissen? »Weil die Rauchsäule des Opfers so schön gerade zum Himmel aufgestiegen,« hatte der Signor Curato erzählt. Vielleicht wehte aber gar kein Wind an jenem Tage. Nein, das konnte es nicht gewesen sein. Aber vielleicht hatte Abel genau zu der Stunde, da er Gott sein Lamm opferte, sein Herz von ihm abgewandt. Er brauchte ja nur über Kain erzürnt gewesen zu sein oder sich gedacht haben, der Kain sei schlechter als er, um Gottes Seele zu betrüben.

Benito schlug die Augen auf, die er geschlossen gehalten hatte, und fuhr in die Höhe. Was dachte er da? Warum dachte er an Abel und nicht an sich selbst? An den armen Benito sollte er denken, der nun zum Diebe geworden war. Und seine – nein, die Frau seines Vaters hatte ihn zum Dieb gemacht, und er hatte doch nicht, wie der Abel, hochmütige Gedanken gehabt. Oder doch? Es ist so schwer zu sagen, ob man hochmütige Gedanken gehabt hat. Man kann sich durchaus nicht daran erinnern. Man will sich nicht erinnern, darum kann man es nicht. Das wußte Benito ganz genau. daß er sich immer wehrte gegen sich selber, wenn er seinem Herzen erlaubt hatte, untreu zu sein. Darum wurde er nun mißtrauisch. Er sann nach, wo er gefehlt haben konnte, und er fand, was er suchte. Ja, er hatte hochmütige Gedanken gehabt. Sehr, sehr hochmütige. Schlimmere, als er je gehabt. Er hatte die Marietta verachtet. Er hatte sie so sehr verachtet, daß er sich gesagt: »Gut, du machst mich zum Dieb, gut, wenn du so schlecht bist, mich zum Dieb machen zu wollen, so tue es. Behalte dies schmutzige Brandmal auf deinem Herzen, lauf damit herum, solange du lebst, du wirst schon bestraft werden. Ganz recht, mache mich zum Dieb, aber sieh mich an darnach! Sieh mich nur an!« Benito wurde feuerrot. Er erinnerte sich, daß er darauf gedacht hatte: »Dann weißt du, daß ich besser bin als du.« Das hatte er gedacht. So sehr hatte er die Marietta verachtet. Genau wie der Abel vielleicht gedacht hatte, daß er besser sei als sein Bruder Kain. Ein großes Herzklopfen überkam Benito. Es wurde ihm heiß, trotzdem die Luft kühl war.

Es war ihm, als habe er sich in einem großen Walde verloren, aus dem er sich nie mehr würde zurechtfinden können. Ein hilfloses, eingeengtes Gefühl überkam ihn, eine große Trauer, eine schwere Scham. Es schien ihm, als habe er zum ersten Male in seinem Leben etwas begangen, das schlecht gewesen sei. Er hatte doch schon viel Böses getan, das wußte er, und war dafür bestraft worden. Manchmal wurde er auch nicht bestraft. Er hatte bereut oder er hatte nicht bereut, aber so wie jetzt, eine so große Sünde hatte er nie begangen. Ganz leise wollte er sich zu entschuldigen anfangen, wollte die Schuld beschönigen, sich herauswinden aus diesem Labyrinth von beängstigenden Gedanken. Er brach in Tränen aus, er schluchzte und drückte beide Hände vor sein junges Gesicht, bedrängt von der Tatsache, daß er gefangen saß und seine Ehre verloren hatte, und gequält von seinem überempfindlichen Gewissen, das ihm die innerste, die tiefste, die am schwersten einzugestehende Sünde vorgeworfen hatte: die Verachtung des Nächsten, den Hochmut. Und da fiel ihm plötzlich seine Mutter ein. Das mußte ihre Ruhe stören, ihre schöne, herrliche Ruhe im Paradies. Das mußte sie forttreiben von der Madonna, die ihr so wohl wollte. Von der lieben, schönen Madonna, die er so sehr verehrte. Nun wußten sie beide, was geschehen. Nun sahen sie, daß er der Dieb war und hatte werden müssen um seiner bösen, hochmütigen Gedanken willen. Die Marietta hatte darum eine Lügnerin werden müssen und der Landjäger hatte einen Unschuldigen – wieder wurde es Benito dunkel vor den Augen – er hatte sagen wollen: einen Unschuldigen gefangengenommen, er, der die große Sünde begangen hatte, die so schwer zu verzeihen ist. Oh, das wußte er, daß die schwer zu verzeihen war. Das hatte ihm der Signor Curato oft und oft gesagt: Alle Sünden sind zu verzeihen, weil alle so groß sind, daß der Schuldige sie sieht. Auch sehen sie die andern, und die Strafe folgt auf dem Fuße nach, man kann sich nicht darum drücken, man kann ihr nicht entgehen. Aber eine Sünde ist, die ist gut verborgen, bohrt sich still und lautlos in die Seele, wie der Wurm in einen schönen Apfel: Das ist der Hochmut, der sich für tadellos hält, der blind macht gegen sich selber, der sich erhöht gleich einem König und alle andern seine Vasallen werden läßt. Der Hochmut, der aus dem Fenster sieht, wie die andern leiden, weil er glaubt, daß sie mit Recht leiden. Der Hochmut, der die Liebe verbannt, sie bekämpft, sie haßt. »Ach, gute, liebe Madonna, ach, verzeih mir, verzeih mir, ach, hilf mir, liebe Mutter, daß mir verziehen wird.« Benito wälzte sich auf dem Stroh, er krampfte die Hände zusammen, er stand auf und lief herum im Dunkeln, daß seine Schritte auf dem harten Stein hallten. Er hielt sich an der Brüstung der Loggia fest und sah hinüber zum Generoso, hinab zum See, sah die Lichter aufleuchten und hörte die Eule schreien, sah ein Schiff unter der Brücke von Melide hindurchfahren, grau, wie ein Schatten, der sich im Nebel auflöste, und sah das alles, als sei es nicht lebendig, sondern als träume er. Er konnte sich nicht aufraffen zu denken, wie er es doch wollte. Plötzlich warf er sich auf die Knie und betete mit einer solchen Inbrunst, daß ihm die Schweißtropfen auf der Stirne standen.

Seine Stimme schallte laut über den leeren Platz vor der Kirche. Aber niemand erwachte, alle waren sie müde von der Arbeit. Und wer ihn rufen hörte, der glaubte, daß jemand im Traum geschrien. Er rief zur Madonna mit einer solchen Andacht, einer solchen Inbrunst, mit einer Glut, einer Sehnsucht, daß seine Kräfte verzehrt wurden. Er riß seine Jacke von den Schultern, halb besinnungslos, und warf sie in die Ecke auf das Stroh und betete weiter. Er flehte um Verzeihung, er flehte, die Madonna möchte ihm erlauben, bald zu sterben, damit er Gott schauen dürfe und Schutz fände vor allem Bösen in ihm und um ihn. Er schrie zur Mutter, rief zur Madonna, verwechselte beide, weinte, schwieg erschöpft und weinte wieder. Dann warf er sich ins Stroh und vergrub seinen Kopf in den Armen.

Da berührte jemand seine Schulter. Er fuhr herum. Die Mutter stand neben ihm, leuchtend, ganz durchsichtig, so schön wie eine Blume. Sie lächelte.

»Mutter,« schrie Benito, »hast du mich noch lieb? Weißt du alles?«

»Ich weiß alles,« sagte die Mutter und lächelte wieder so mild, wie Benito es nie gesehen hatte. Er hörte ihre Stimme nicht, aber er wußte, was sie sagte. Sie sah ihn liebevoll an, so liebevoll, daß ihr Blick ihm beinahe die Besinnung nahm.

»Komm,« sagte sie. »Komm zu uns, wir warten auf dich.« Alles wurde schwarz vor Benitos Augen. Lange lag er so. Als er zu sich kam, frohlockte grenzenlose Freude in seinem Herzen: »Ich darf zur Mutter, sie wartet auf mich. Ich darf zur Madonna, sie wartet auf mich. Ich darf Gott schauen, Gott darf ich schauen in seiner Herrlichkeit.« Er lachte laut.

Benito sang. Worte sang er, Worte des Abschiedes an Bruna, an den Vater, an die Kameraden, an den Postillion, an den Signor Curato. Dann stockte er, schwieg, tat einen langen Atemzug und sang einen Gruß an Marietta. Dreimal sang er so, immer lauter und mit jubelndem Ton, als stehe er schon vor dem diamantenen Himmelstor, ging langsam, mit ausgestreckten Händen, einem unsichtbaren Führer folgend, auf die Loggien zu, schwang sich auf die Brüstung und sprang ins Leere. – – – – –

Zwei Tage darnach läutete die Glocke von Sankt Georgio, abgebrochen, langsam. Der Kirchplatz war voll von Frauen und Mädchen in schwarzen Kopftüchern, von Männern und Knaben. Alle waren sie da, um dem Benito die letzte Ehre zu erweisen und um ihn zum Campo Santo zu begleiten, den er so geliebt hatte. Und mitten unter der Menge standen Benitos Kameraden aus der Schule. Alle waren sie gekommen aus seiner Klasse. Auch größere, kleinere hatten es sich nicht nehmen lassen, die zwei Stunden nach Sanmarto hinanzusteigen. Erschüttert, schweigend standen sie da. Leise machten sie sich Mitteilungen, leise fragten und antworteten sie, ruhig und still warteten sie auf dem schönsten Kirchplatz der Welt, ohne alle die Schönheit zu sehen, die sie umgab.

Die Kunde von Benitos Tod und von dem, was ihn in den Tod getrieben, war rasch hinunter in die Stadt gebracht worden. Eine Empörung, wie sie nur junge, von Eigennutz nicht berührte Herzen fühlen können, hatte sie alle ergriffen. Sie, die Mütter hatten, die sie liebten und von denen sie geliebt wurden, konnten es nicht verstehen, was da geschehen war. Die Mutter hatte Benito angeklagt? Hatte ihn selbst dem Landjäger ausgeliefert? Es war nicht möglich, es war ganz unmöglich, die Kunde log. Als sie sich aber als wahr erwies, standen sie zusammen und hielten Rat. Sie wollten hinaufziehen und Benito im Tode beistehen. Darum waren sie nun da, düster blickend, jeder mit einem langen Trauerflor am Arm. So ernst, so schwer schauten sie auf das Haus, aus dem der Sarg ihres Kameraden gebracht werden sollte, daß die Alten, die herumstanden, betroffen ihr Schwatzen und Händefuchteln einstellten.

Das Gäßchen, in dem Cesare wohnte, mündete auf den Kirchplatz. Links und rechts von seinem Ausgang standen je zwei der jungen Menschen, als ob sie Wache hielten, überall standen sie zu zweien und zweien. Als der Sarg aus der Municipalità hinuntergebracht wurde und die Glocken über ihm dröhnten, stellten sich seine Schulkameraden neben ihn.

Cesare und Marietta kamen das Gäßlein herauf, um als Erste dem Zuge der Trauernden voranzugehen. Marietta hatte, nachdem der Vater Benitos sie halbtot geprügelt, nachgegeben und versprochen, vom Pfarrhaus aus den Toten zu begleiten. Ein Murmeln erhob sich, ein drohendes, anschwellendes Anklagen.

»Das ist sie, das ist sie. Das ist die Mutter! Das ist die Frau, die ihren Stiefsohn der Polizei ausgeliefert. Das ist sie, die einen Unschuldigen angeklagt und verraten hat.« Die jungen Knaben bildeten einen Kreis, drängten Marietta und Cesare langsam Schritt um Schritt rückwärts, durch das ganze Gäßlein zurück, bis zu ihrem Haus. Cesare, ohnmächtig der Menge gegenüber, noch mehr der Anklage gegenüber, die auf allen den Bubengesichtern zu lesen war, ließ sich zurückdrängen, die wilden Haare schüttelnd und die Augen aufgerissen.

»Frau,« sagte der älteste der Knaben zu Marietta, »keinen Schritt begleitest du Benito. Keine Handvoll Erde sollst du auf sein Grab werfen. Keine Blume sollst du pflanzen, kein Gebet sollst du sprechen. Gott hört dich nicht.« Hart packte er sie am Arm und stieß die Entsetzte, Widerstrebende, die außer sich Geratene in den Hausflur, drehte den Schlüssel um und warf ihn in die Gasse.

Darauf gingen sie still bis zum Kirchplatz zurück und ein Zug, wie in Sanmarto nie gesehen, wand sich dem Cimitiero zu. Die Glocken läuteten, ungleich, ergreifend und klagend. An Cesares Haus ging der lange Zug vorüber, Frauen und Mädchen brachen in Schluchzen aus. Man hörte die laute, schreiende Stimme Mariettas, aber niemand drehte den Kopf, und niemand sah hinauf. Sie war ausgestoßen, gezeichnet. Sie lief in die Küche und darauf in die Kammer, um das Singen nicht zu hören, aber sie hörte es doch und fühlte die Flüche, die sie trafen.

Eine Stunde später war alles wieder still geworden. Die Glocken waren des Läutens müde und die Menschen des Trauerns und des Sichempörens. Benitos Kameraden waren wieder hinuntergezogen in die Stadt, ernst, wie sie gekommen waren. Unten aber atmeten sie auf, rannten auseinander und liefen zu ihren Müttern. Benitos Grab pflegen sie noch heute. –


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