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Die Waldkirche

Es führt ein einsamer Weg zur Kirche der Madonna d'Ongero. Als ich ihn zum ersten Male ging, war es mir ein Erlebnis, das seither, so oft es sich wiederholte, nicht verblaßte.

Ohne daß ich es will, bereite ich mich jedesmal innerlich zu diesem Gange vor. Als müßte ich leise gehen zwischen den Farnkräutern, unter den mächtigen Kastanienbäumen, so ist mir zumute. Als dürfte ich mit meinen Schritten die Vögelein nicht wecken, die schon schlafen, und die Felder nicht, die zu träumen angefangen.

Selten treffe ich einen Menschen auf meinem liebsten Abendgang und fühle mich wohl allein, doch nicht einsam: Büsche, Bäume, die wehenden Reben und das stille Brünnlein im Dickicht, sie alle sind noch wach und rauschen leise, und ich weiß, daß ich in Freundschaft mit ihnen verbunden bin.

Wenn von der Sonne nur noch ihr Leuchten geblieben und das große Schweigen über dem Wald liegt, fühle ich schon die Freude erwachen, der ich entgegengehe auf dem schmalen Weglein, das sich zwischen den Maisfeldern windet und an den seltsamen Reben vorbeiführt, die wild rankend phantastisch genug aussehen und taumelnd im Winde hin und her schwanken auf ihren hohen Pfählen, ein mächtiges, sich biegendes, sich bückendes, sich reckendes Gigantenvolk! Niobe mit ihren Kindern, Laokoon, von den Schlangen bedroht, heimkehrende Krieger, gramgebeugt nach verlorener Schlacht, Zwerge, Riesen, das alles habe ich im Dunkeln fast mit Grauen gesehen und erschauernd ihr Raunen und Flüstern gehört.

Alles ist lebendig. Vergangenheit und Gegenwart weben sich ineinander, es gehen große Gedanken vor mir her, und es folgen mir Erinnerungen, die nicht mir angehören. Ich weiß, daß ich nicht allein bin, und bin doch allein. Ich gehe, eingehüllt in fremdes Leben, und sehe es nicht und höre es nicht. Es ist mir erwartungsvoll zumut, und doch bin ich ohne Wünsche.

Der goldig-rötliche Ton der schönen Kirche leuchtet noch spät durch die Stämme der Kastanienbäume, die in schönen Gruppen beisammenstehen, wild, buschig, malerisch in großen Wellen vom Winde bewegt oder von einem scheuen Zittern ergriffen.

Es ist so vieles, worüber man sich freuen kann in diesem Land. Es überwältigt mich oft, aber nie so bewegend, als wenn ich zwischen den Doppelstationen, die zu der Madonna führen, den breiten Anstieg erklommen habe und von der Brüstung der Terrasse hinaussehe über See und Berge. Ich liebe diesen Blick über alles. Ich kenne jeden Berg, jedes Dorf, jeden Kirchturm und jedes aufleuchtende Lichtlein. Der Reichtum an Hügeln, Bergketten, Tälern und Menschenwohnungen entzückt mich jedesmal und bewegt mich tief. Die Idee und das Bild der Schöpfung wirkt so stark, wird so deutlich sichtbar und so überzeugend, daß man Göttliches seltsam nahe und greifbar fühlt.

Um das kleine Stück silbernen Sees reihen sich die grünen Hügel, hinter ihnen heben sich blau und dunkler ganze Reihen schöngeformter Berge, deren Linien ineinanderfließen und deren Farben sich ergänzen. Dahinter wieder andere und wieder andere. Am Horizont, wie ein Märchen hingehaucht, der Monte Rosa mit seinen Freunden. Im Vordergrund aber liegen die unzähligen weißen, glänzenden Dörflein und Glockentürme, die Klöster und Flecken eingebettet zwischen den Bäumen und Wäldern. Es läutet noch ein einsames Klosterglöcklein, hie und da, abgebrochen und langsam, klingt ein fernes Abendläuten aus. Die Stille wird tiefer, nichts stört die Betrachtung, nichts das demütige Glücksgefühl. Je dunkler es wird, je schöner wird es, je schärfer heben sich Hügel und Bergrücken voneinander ab. Wunderbar steigen in der Dunkelheit die Berge aus See oder Nebel empor, wunderbar, wunderbar das alles, unmöglich, es zu beschreiben, unmöglich, es zu malen, und unmöglich, es zu vergessen.

Die Kirche hinter mir versinkt im Dunkel. Eine, zwei Fledermäuse ziehen ihre Kreise; die Eule, die hinter der Kirche ihren Schlupfwinkel hat, ruft und verdoppelt die Stille. Das Gefühl des Ewigen wird lebendig und stark, zugleich das der Vergänglichkeit. Freude und Wehmut mischen sich. Der Wunsch, Gott zu fassen, zu halten, sich ihn zu eigen zu machen, feuchtet die Augen. Es geht eine Kraft aus von dieser nächtlichen, übergroßen Schönheit, die aufbauend die Seele mit Bescheidenheit erfüllt und mit Dankbarkeit. Wem danke ich? Wem tue ich Liebes? Niemand ist da. Einen kleinen Strauß Alpenveilchen lege ich vor das Bildwerk der Elemosina nieder. Durch den vergitterten Einblick des Hauptportals werfe ich einen Abschiedsblick in die dunkle Kirche, in der der Friede wohnt, in der sich nichts rührt und nur die lieben, göttlichen Gestalten als Verkörperungen menschlicher Wünsche herabsehen auf die Flehenden, Hoffenden, Bereuenden. Es ist so schön, daß diese Kirchen offenstehen, wenn es einen drängt, sie zu betreten, um auszuruhen. Es ist so wohltuend, daran zu denken, wie viele arme Menschen hier schon Trost und Freude fanden und wieder fanden. Es ist ein so frommer Gedanke, sich alle die Gebete, die seit mehr als einem Jahrhundert aufstiegen, in einen großen Schrei vereinigt zu denken, dessen Kraft ungeheuer und dessen Wirkung übermächtig sein muß.

Ich bin in diesen Tagen mit einer kleinen Prozession von Sanmarto aus mitgegangen und bin mit den Andächtigen in die Kirche der Madonna d'Ongero eingetreten. Ich wollte mich mit einem Plätzlein neben der Türe begnügen, aber vier, fünf magere Arme alter Frauen wiesen mir einen Platz auf einer Bank, und ich konnte, dank ihrer liebevollen Duldsamkeit, ihre Andacht teilen.

Tief versunken in ihre Betrachtung, vergaß meine Nachbarin über ihrem Beten und Singen sich selbst. Ihre innere, glückliche Ruhe war so sichtbar und überstrahlte so hell ihr ergriffenes Antlitz, daß ich mir ihre Seele in einem Wald frommer Gefühle wandelnd dachte. Von Herzen habe ich sie um ihre tiefe Versunkenheit beneidet. Auch dafür, daß sie in natürlich einfacher Art, entgegen dem Üblichen, die Messe mitsang und selbständig musikalische Blumen in das gleichmäßige Gewebe der Litanei wob. Es verstärkte mir den Eindruck, als ob die Messe ein Zwiegespräch sei zwischen einem Vater und seinen Kindern, so, als frage der Vater nach allem, was seiner Kinder Herzen bewege, und als nehme er geduldig und milde ihre Antworten entgegen. Nach dem Singen betete die alte Frau ihren Rosenkranz, und ein geradezu seliges Lächeln, ein Strahlen, gemischt aus Liebe und Hingebung, verklärte ihr braunes, runzliges und dennoch schönes Gesicht.

Lange schon komme ich mit den Frauen und Mädchen von Sanmarto zusammen und kann ein wenig mit ihnen fühlen. Ich sehe auch, daß das, was ich nicht glauben wollte, wahr ist: Es lebt eine einfache, lebendige Menschenliebe in Sanmarto. Sie zeigt sich in allen den kleinen Diensten, die eines dem andern erweist. Sie zeigt sich in den gütigen Gesichtern der alten Frauen, die das Leben nicht zu verbittern vermochte. Sie zeigt sich in dem Mangel an Erwerbssinn und vor allem an dem Mangel an Neid, der wie nichts anderes die Menschen trennt. Sie vermögen sich hier mit andern zu freuen. Ungläubig staunend, habe ich endlich gelernt, mein Mißtrauen meinem eigenen Idealismus gegenüber abzulegen und ihm und ihrer Güte zu trauen.

Liebevoll sind auch die alten, hohen, seltsamen Häuser erdacht und verziert, liebevoll wurde der Turm der roten Kirche ausgebaut, liebevoll sind die Hilfsleistungen des Lehrers, der dem ganzen Dorfe Samariterdienste leistet, freundlich und liebevoll sind sie alle uns Fremden gegenüber. Und über aller menschlichen Freundlichkeit steht die große Liebe der Natur, die dem kleinen Stücklein Erde, Fels und Wasser so viel Schönheit mitgegeben, daß sie stark genug wurde, das Geschöpf zu seinem Schöpfer zu führen und beide mit der Schöpfung zu verbinden. Sie haben hier alle viel vom Kinde an sich. Sie fragen nicht, wer man sei, nur wie man sei. Nicht was man habe, nicht was man tue, wollen sie wissen. Sie fragen nicht einmal danach, was man glaube. Als ich neben meiner alten Appolonia in der Kirche der Madonna saß, habe ich mich mit Beschämung meiner Gefühle aus meinen Jugendtagen erinnert, denen gegenüber, deren Glaubensform nicht die meine war. Es schien mir damals ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen ihnen und mir zu liegen, und zwar ein Abgrund, der diesseits voll Sonne, jenseits aber voll Schatten war. Meine Überhebung ist der Beschämung darüber gewichen. Unermeßlich groß und ewig und unfaßlich ist Gott, der Geist und Wahrheit und vor allem Liebe ist. Und die große Liebe sollte nicht über unüberbrückbare Abgründe lächeln?

Ach, möchte doch dem Menschen ein viel höheres Alter beschieden sein, damit er Zeit gewänne, das, was er schlecht gemacht, gut zu machen. Möchte er Zeit genug haben, zu erkennen, was Gott und Liebe und Ewigkeit ist. Zu erkennen, noch nicht zu verstehen. Die Zeit des Fehlens ist so lang, die Zeit der Einsicht so kurz, die Zeit, die uns Menschen gegeben, um Früchte zu tragen, kaum der Rede wert. Vielleicht, wahrscheinlich, ist unser Leben aber des Menschen Kindheit, und sein eigentliches Menschentum beginnt erst. O unermeßlich große Schöpfung, in der Pflanzen, Tiere, Menschen und Seelen wachsen dürfen, reifen und Früchte tragen!


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