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Als Katharina von dem Geräusch eines Schrittes geschreckt emporfuhr und den blinkenden Stahl, von des Vaters Hand geführt, in den Nacken des Geliebten dringen sah, bäumte sie sich und stiess einen wilden Schrei aus. Dann stürzte sie fort, die Halde hinab, durch das Kornfeld und weiter in der Richtung des Schlosses. Im Dunkel des Parks entschwand sie den Augen des Vaters. Starr und vollkommen ernüchtert blickte er ihr nach.

Am nächsten Morgen konnte man in Wendlingen Ungewöhnliches beobachten. Vor den Haustüren, hinter den Gartenzäunen standen sie in erregter Aussprache, die Bauern, die um diese Tageszeit sonst schweigsam ihrer Arbeit nachgingen. Viele hatte der furchtbare Schrei aus dem Schlafe geweckt. Eine Frauenstimme war es gewesen, ob ihn die Andern auch vernommen? Nun selbstverständlich! Sechs Fuss tief unter der Erde hätten sich einem Toten darob noch die Haare gesträubt Die Leute waren entsetzt aufgefahren ... Ja, und woher war eigentlich der Schrei gekommen? Von der Strasse her, meinten diese und jene, bewahre, aus der Mühlenmatt, und noch andere versicherten, wie vor ihrem Fenster habe es getönt.

Während sich die Bauern noch besprachen, kamen zwei Fischer des Weges und forderten sie auf, ihnen zu folgen. Sie hätten, so erzählten sie, vor Sonnenaufgang beim Durchstreifen des Flussgebiets lange das schauerliche Geheul eines Hundes vernommen und ihm folgend, am Ufer der Giesse, einen grossen Bernhardiner halb im Wasser liegend vorgefunden. Auf dem Grunde des klaren Gewässers aber liege die Leiche eines jungen Weibes. Sie hätten wegen des Hundes nicht gewagt, sie zu heben, auch sei ihnen die Tote gar geisterhaft und unirdisch schön erschienen.

Da machten sich die Wendlinger auf. Sie bargen Katharina und betteten sie am Ufer im Schilfe. Ihr zu Häupten legte sich Bary, ermattet, doch zufrieden und beruhigt, da ihm die Entschwundene zurückgegeben war. Stumm und gerührt umstanden die Bauern die Beiden und lange noch sprach man im Dorfe von dem ungewöhnlichen Anblick der toten Katharina. Die dunkeln Locken umrahmten zärtlich wie mit tröstender Gebärde ihr bleiches Antlitz, das, obgleich vom Ernst des Todes beschattet, wie durchleuchtet war und von einer Lieblichkeit sondergleichen. Die zarten Glieder waren von dem langen, weissen Gewande eng umschlungen und die Blumen, von dem Wasser neu belebt, umstrahlten in bunter Frische die wächserne Stirn und blinkten im Morgenlicht

Als sich eine Stunde später der Amtmann und der Aelteste des Dorfes im Schlosse meldeten und, von dem alten Diener geführt, beklommenen Herzens vor dem Herrn erschienen, empfing er sie leeren Blickes und mit einer Ruhe, die den Boten kalte Schauer durch den Leib jagte. In dem Lehnstuhl, in welchem er augenscheinlich die Nacht verbracht hatte, sass Wendlingen regungslos mit versteinerten Zügen. Er nahm die Kunde und die in tiefer Rührung gestammelten Worte seiner Bauern stumm und wie geistesabwesend entgegen und als sich diese, im Verlangen, die peinliche Szene abzukürzen, bald scheu zurückzogen, war ihnen, als hätten sie in abgründiges Dunkel geschaut. Um ihrem Herrn ein ihm, wie sie meinten, von ungefähr zugestossenes Unglück zu melden, das er nicht ahnte, waren sie gekommen. Und nun verliessen sie ihn in der Gewissheit, dass es sich hier um ein ihm nicht fremdes, tragisches Geschehen handle. Was lag näher, als den nächtlichen Schrei mit dem Tode Katharinas und beides mit dem unheimlichen Verhalten des Herrn in Verbindung zu bringen? Was aber war geschehen? Man wusste, an Meinungsverschiedenheiten zwischen den Schlossbewohnern hatte es nie gefehlt. Doch wenn ein Auftritt zwischen Vater und Tochter stattgefunden hatte, wie kam es, dass er sich mitten in der Nacht und in der Nähe des Dorfes abspielte? Dafür wussten die Schlossbewohner ebensowenig eine Erklärung als ihre Dorfgenossen.

Erst als im Lauf des Tages von Kirchdorf her die Kunde kam, der junge Rentsch vom Pfarrhause werde vermisst und Männer seien ausgesandt worden, ihn zu suchen, und als man ihn auf der Bank am Heidenwege fand, aufrecht sitzend, den blonden Lockenkopf tief auf die Brust geneigt, mit dem Dolche zwischen den Schulterblättern, und dieser Dolch als Eigentum des Schlossherrn erkannt wurde, kam Klarheit in die verworrenen Gedanken der bestürzten Menschen.

Sie waren von rauher und zäher, aber auch von zuverlässiger Art, diese Wendlingerbauern. Ihre Nerven konnten etwas aushalten. Zu Voreiligkeiten oder überstürzten Urteilen liessen sie sich nicht leicht hinreissen und es hätte eines grausameren und unfasslicheren Verbrechens bedurft, als dieser Tat des Jähzorns, um sie urteilslos zu machen und in ihnen ein Verlangen nach Vergeltung zu wecken. Wohl hatten sie diesen Herrn immer mehr gescheut als geliebt, aber Treue und Ergebenheit waren Ueberlieferung in Wendlingen, sie lagen den Leuten im Blute, und in der Stunde des Unglücks gab es nur wenige, die nicht vermocht hätten, auch für den Schuldigen ein Gefühl des Mitleids aufzubringen. Dass ein Mitglied der Herrschaft sich einer Missetat gegen Leib und Leben schuldig gemacht hätte, und dem Gericht überliefert worden wäre, dafür fand sich in der Geschichte Wendlingens kein Beispiel und die blosse Möglichkeit erschien den Bauern eine, jeden einzelnen persönlich treffende Schmach. Sie blieb ihnen erspart. Am dritten Tage wurde Herr Klaus tot aufgefunden. In seinem Schloss, im dunkelsten Winkel des Bodenraumes, hatte er sich eine Schlinge um den Hals gelegt.

»Das ist, was ich aus meiner Jugendzeit über die letzten Wendlinger weiss,« sagte jetzt das Aenni und lehnte sich müde in den Stuhl zurück. Seine Stimme hatte zuletzt matt und wie brüchig geklungen – seit wie vielen Jahren mochte es nicht mehr so lange gesprochen haben! – doch als die Frau seine Hand ergreifen wollte um ihm zu danken, schüttelte es den Kopf zum Zeichen, dass es noch nicht zu Ende sei.

»Tief und rührend hat man in Wendlingen um die beiden blutjungen Menschen getrauert,« sagte es. »Wie viel Verständnis für zarte Dinge diese in sich gekehrten, nach aussen rauhen Bauern belebte, bekundeten sie auch durch den einhelligen Beschluss, die Liebenden im Tode nicht zu trennen, sondern am Heidenweg in einem gemeinsamen Grab zu bestatten.«

»Wer mag nur den schönen Gedanken der Grabschrift gehabt haben?« frug sinnend die Frau und sah den Apfelbaum vor dem Fenster seine triefenden Zweige regen.

»Darüber ist keine Kunde zu mir gelangt,« meinte die Alte, »und es ist ja am Ende auch einerlei ... Es sind Worte tiefster Sehnsucht, wie sie im Herzen eines jeden von uns erklingen, wenn wir unserer Toten gedenken. Noch Eines ... nie sprachen die Leute im Dorfe von dem tragischen Geschick der schönen Wendlingerin und ihres Geliebten, ohne auch des armen Bary zu gedenken. Mit der Herrin hatte er das Heimatgefühl verloren, sein Dasein war nur noch Unrast, ewiges Umherirren. Nur selten und ganz kurz liess er sich blicken, im Pfarrgarten, am Heidenweg, im Schlosshof zu Wendlingen. Er zeigte sich scheu und war nicht zu bewegen, irgendwelche Nahrung zu sich zu nehmen. Einige Zeit nach der Schreckensnacht wurde er im Flussgebiet tot aufgefunden, an der Stelle, wo die Leiche Katharinas im Schilf geruht hatte.«

*

Wem unerwarteter- und unverdientermassen Schönes widerfährt, in dem regt sich nur zu leicht der Wunsch nach einem Wiedererleben des Glücksfalles und wenn die Frau der Versuchung entging, noch einmal durch die Vermittlung ihres genialen Famulus eine Geisterbegegnung am Heidenweg herbeizuführen, so lag dies nicht etwa an einem weisen Sichbescheiden, sondern in der Macht der Verhältnisse. Und vielleicht ist ihr damit wohl geschehen und eine Enttäuschung erspart geblieben. Denn solches Erleben lässt sich nicht suchen und finden, herausfordern oder herbeilocken. Es begehrt uns zuzufallen als eine seltene und köstliche Frucht und geht allem Absichtlichen aus dem Wege.

Einige Wochen nach dem nächtlichen Zusammentreffen der Frau und des Famulus im Walde verfiel der Pudel schwerer, tödlicher Krankheit. Die Frau gefiel sich in der Annahme, es sei sein verändertes Wesen, – er begann der Herrin enge Zugehörigkeit zu beweisen und ihr auf Schritt und Tritt zu folgen – von jener gemeinsam erlebten Geisterstunde herzuleiten, in der, ihrem Empfinden nach, ihre gegenseitige Freundschaft gipfelte, allein sie musste bald erkennen, dass es Siechtum war, das diesen Freien, Unabhängigen an ihre Fersen heftete.

»Was ist dir nur, mein gutes Tier,« sagte sie eines Tages, als sie aus seinen Augen ein erloschener Blick traf.

»Siehst du denn nicht, wie krank ich bin?« –

Nun freilich sah sie es und gern und eilig wollte sie tun was sich tun liess um ihm zu helfen und ihn schnell wieder gesund zu machen.

Der Tierarzt erschien. Er verordnete eine Behandlung, verschrieb Salben und Medikamente. Famulus liess alles mit sich geschehen. Aber nichts wollte helfen. Wohl flammte vorübergehend sein herrliches Temperament noch auf. Wenn er unter den Bäumen zu Füssen der Herrin ruhte, liess ihn das Rascheln einer Maus, der Schrei eines Vogels emporfahren. Dann stand er in prachtvoller Haltung, den Kopf erhoben, die Brust gedehnt, jeder Muskel, jede Sehne gespannt. Täuschung, alles Täuschung! Er war nur mehr der Schatten seiner selbst.

Eines Tages kam er müd vom Hause her in den Garten geschlichen und warf sich erschöpft und schwer atmend vor der Frau ins Gras. Sein Anblick bewegte sie sehr.

»Armer Famulus«, dachte sie, »wenn irgend einem, so hätte dir im Einklang mit deinem Wesen, ein rasches, ausser aller Berechnung liegendes Ende gebührt, ein Herzschlag, ein jäher Absturz, eine verirrte Kugel im Walde. Doch gross wie ihre Werke sind auch die Stilwidrigkeiten der Natur. Hier liegst du nun, eine ihrer besten Bildungen, eine Schöpfung von prächtiger Geschlossenheit, ganz Harmonie, Schönheit und Schwung. Es galt nur mehr die letzte Hand an das Werk zu legen, um es vollendet zu vollenden. Und nun dieser Abschluss – ein sich träg hinschleppendes Elend.«

»Ein Elend«, seufzte leise Famulus.

Von da an fühlte die Frau, dass es an ihr war ihm zu helfen. Sie selbst wollte die letzten Striche ziehen in dem Bilde, das die Natur im Begriffe war durch schweifende, spielerische, sinnlose Ergänzungen zu schänden. Doch zeigte nicht Famulus gelegentlich noch Freude an einem guten Bissen, noch etwas wie Lust, wenn es sich um einen kleinen Ausgang handelte? Noch gestern hatte er seines Herrn Stock zu tragen begehrt ... Sie nahm sich vor noch ein paar Tage zu warten. Allein die guten Stunden wurden seltener.

*

Dieses Jahr bescherte einen Spätherbst von jener unwahrscheinlichen Klarheit, wie sie der winterlichen Verdunkelung unserer Heimat hin und wieder vorauszugehen pflegt. Im Hofgut zu Wendlingen standen die Baumriesen wie greise Könige in ihren güldenen Laubteppichen und die entblätterten Wipfel breiteten am Firmament das wundersame Netz ihrer Aeste, Zweige und feinsten Gliederungen aus. In klaren Nächten, wenn es in dem blauen Meer des Aethers schwamm, schienen Tausende von Sternen in seinen dunklen Maschen gefangen und es war ein Funkeln und Blinken nicht zu sagen. Um dieses Anblickes willen ging die Frau des Abends oft noch aus dem Hause, denn es dünkte sie, die fernen Welten in ihren Bäumen leuchten zu sehen, etwas unvergleichlich Schönes.

So sass sie in einer milden Novembernacht wieder einmal draussen im Dunkel auf der Freitreppe unter dem goldbeschwerten Geflecht der Baumkronen, als sie durch ein Rascheln im Laub erschreckt, zusammenfuhr. »Famulus« war ihr erster Gedanke. Ach, es war nur ein Kätzchen, das auf nächtliche Wanderung ging. Schon seit vielen Wochen war Famulus tot, aber immer noch glaubte sie ihn zu hören. Und ihre Gedanken wieder einmal auf der Fahrt nach ihm, waren so leicht nicht abzulenken. Sie gedachte des Tages, an dem sie ihn heimlich um sentimentale Abschiedsworte und -blicke des Gesindes zu vermeiden im Wagen in die Stadt mitnahm. Nie hatte er sich zärtlich und anschmiegend gezeigt wie auf der Todesfahrt, als seien alle Leiden schon von ihm abgefallen und bisher gefesselte Möglichkeiten plötzlich in ihm erwacht.

Sein Ende war leicht. Während Freundeshand ihn liebkoste, ward ihm von hinten die Schussmaske auf die Stirne gelegt. Ein leichter Schlag auf die Kapsel und er brach zusammen. Ohne Laut. Kaum ein paar Tropfen dunkeln Blutes auf den Fliesen.

So war ihm weiteres Ringen mit dem Tode erspart geblieben, ihrem edeln Famulus. Was er nun anfing ohne die Frau im Reich der ewigen Entfaltung? Oh, sie brauchte sich nicht um ihn zu sorgen! Famulus war nicht leicht zu verblüffen, er wusste sich zu helfen! »Gewiss wird er gleich auf die Suche nach Bary und der schönen Katharina von Wendlingen und ihres Liebsten gegangen sein und sie alsobald ausfindig gemacht haben,« dachte die Frau. Und sie glaubte wahrzunehmen, wie sie ihn alle freudig bewillkommten, wie Katharina sich liebreich zu ihm niederbeugte, mit schlanken Fingern das dunkle Wirrsal seiner Strähne schlichtend und wie sie dann, die lachenden Augen erhebend, zu dem Geliebten sagte:

»Du, Schatz, dieses Wendlingers müssen wir uns annehmen, bis die Frau kommt.«

 

Ende


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