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Der Pudel Famulus ist bestraft worden. In dem altväterischen, doch behaglichen Wohnzimmer im Erdgeschoss des »Hofgutes« zu Wendlingen, sitzt er und starrt, allem Aeusserlichen abgewandt, vor sich hin. Mit seiner tiefschwarzen, von der Nachtluft feuchten und zerwühlten Mähne gemahnt sein Aussehen irgendwie an das eines etwas entgleisten, genialen Menschen. Famulus ist verstimmt und will von Niemand etwas wissen. Er ist empfindlich und eben schwer gekränkt worden. Prügel sind nun einmal seine Sache nicht. Und zwar ist es nicht das körperlich schmerzhafte, was er dabei scheut, bewahre! In dieser Beziehung kann er sich auf seine dichten, wolligen Haarsträhne und auf die milde Hand des Herrn verlassen. Geprügelt werden macht unwirsch und störrisch, geprügelt werden ist schmachvoll. Dass die Menschen dafür kein Verständnis haben! Nun, das weiss er ja längst. Dabei überfliessen ihre Reden von schönen Worten: Rassentier, Prachtexemplar, Königspudel u. s. f. Ja, bild' du dir etwas ein auf Abstammung! Abstammung? Mein Gott, was hat einer heutzutage noch davon! Der Respekt vor allem Königlichen ist dahin ...«

So und ähnlich überlegt Famulus. Das merkt seine Herrin, – wir wollen sie kurz »die Frau« nennen – die, über eine Arbeit gebeugt, bei der Lampe sitzt.

»Doch«, sagt sie plötzlich aufstehend und den Kopf ihres Hundes zwischen beide Hände nehmend und ihn aufrichtend, dass er sie ansehen muss, »doch, Famulus, du bist ein Königspudel. Wer deine Allüren hat, den Kopf zurückzuwerfen versteht, wie du, wer so stolz die Strafe trägt, die ein Stärkerer ihm auferlegt, entstammt nicht niederem Geblüt.«

Die Frau tritt an das offene Fenster und tut einen Blick in die mondhelle Septembernacht hinaus.

»Nun wir ihn glücklich abgefangen haben, wollen wir ihm die Sache nicht gar zu schwer machen,« sagt sie und schliesst die Laden.

»Du«, fährt sie dann an ihren Mann gewendet fort, der in ein Buch vertieft ihr Gespräch mit dem beleidigten Hausgenossen überhört hat, »du, das Strafen nützt nichts. Er wird immer wieder gehen, wenn es ihn packt. Sonst ist er doch sehr häuslich.«

»Gewiss« erwidert der Mann etwas zerstreut und dann mit seinen Gedanken einlenkend, »man muss es ihm abgewöhnen, er verwildert uns sonst.«

Die Frau hat sich wieder an die Arbeit gesetzt. Von Zeit zu Zeit wirft sie einen Blick zu dem schwarzen Freunde hinüber, der ihr in solchen Augenblicken trotziger Kränkung ganz besonders wohl gefällt.

Mit dem Verwildern, das musste sie schon zugeben, hatte ihr Mann nicht unrecht. Es gab Zeiten, in denen Famulus wirklich Zeichen der Verwilderung zeigte, wo er, von Unruhe befallen, umherirrte und sich halbe Nächte lang vom Hause entfernte. Und zwar waren dies nicht etwa Erscheinungen der Brunst, die alle Wesen, die ihr Wirbel erfasst, einander ähnlich und darum mehr oder weniger uninteressant macht und die vorübergehend auch Famulus wunderliches Wesen verflachte. Die Art der Unstetigkeit, von der hier die Rede ist, war vielmehr, wie sich leicht erkennen liess, wenn man den Blick dafür hatte, der Ausdruck inneren Erlebens, seelischer Vorgänge, wie sie nicht allein den Menschen, sondern auch das Tier unter seinesgleichen auszeichnen; denn weit mehr noch als sein Körperliches, sind sie es, die seine Eigenart bestimmen.

»Seine Eigenart – ja, auch damit hat es seine Bewandtnis,« folgert die Frau weiter, »sie wird nicht allgemein geschätzt. Wer eigene Wege geht, ob sie auch keines andern Pfad selbstsüchtig durchqueren, ist verdächtig, und wenn er dazu noch ein ungewöhnliches Aussehen hat, eine schwarze Mähne oder gar einen Blick, der aus andern Welten herzukommen scheint, dann, – sei er Mensch oder Tier – wird er leicht über die Schulter und noch lieber gar nicht angesehen.« Hatte sie das nicht auch mit Famulus erfahren? Sogar hier auf dem Lande in Wendlingen? Sie erinnerte sich an ihr erstes Erlebnis dieser Art.

Eines Tages ging sie mit einem Briefe zur Bahn, Famulus fröhlich neben ihr her, jeder bösen Absicht bar. Und wie sie miteinander um die Ecke des kleinen Stationsgebäudes biegen, ertönt ein lauter Schrei. Eine junge Bäuerin, die anscheinend den Zug erwartete, liess fassungslos ihr Handgepäck fallen, griff wie eine Verzweifelnde mit beiden Händen nach dem Kopf und, den arglos vorbeigehenden Hund entsetzt anstarrend, murmelte sie beschwörende Worte, die die Frau nicht verstand, bloss dass hier Gottes Barmherzigkeit mit ungewöhnlicher Inbrunst angerufen wurde, konnte sie erfassen. Und der Eingebung folgend, dass es in diesem Falle an ihr sei, Gottes Barmherzigkeit zu vertreten, näherte sie sich der bestürzten Bäuerin.

»Es tut mir leid, dass der Hund Sie so erschreckt hat,« sagte sie freundlich grüssend, »aber er ist nicht böse. Er tut Ihnen nichts, glauben Sie mir. Warum fürchten Sie sich so?«

Da wandte die Bäuerin den Kopf seitwärts, als müsste sie auch den Anblick der Frau meiden und mit der Hand heftig abwehrend, stammelte sie wieder und wieder: »Näht ne, dä Uhung, näht ne.«

Diesem Abscheu mit Vernunftgründen weiter zu begegnen, wäre nutzlos gewesen und die Frau entfernte sich. Dass kleine Kinder ihren Hund scheuten, hatte sie gelegentlich wohl bemerkt und nichts Absonderliches dabei gefunden; dass er aber Erwachsenen einen solchen Eindruck machen konnte, war ihr neu, und nachdenklich ging sie nach Hause.

Sonderbar, dass gerade sie in den Besitz eines Pudels kommen musste, die einzige Hunderasse, für die sie keine sonderliche Zuneigung empfand. Diese Tiere, die sich von den Menschen so mir nichts dir nichts zu Hanswursten machen lassen, gefielen ihr nicht Doch sie hatte ihn ja nehmen müssen. Er war ihr »geordnet«, wie die Bauern sagen, wenn Ihnen etwas vom Schicksal bestimmt scheint. Eine gelähmte Freundin in der nahen Stadt hatte den noch sehr jungen Hund von einer berühmten Züchterei des Auslandes bezogen. Das alte Fräulein in seiner feinen, wählerischen, etwas überschwenglichen Art und in der Meinung, ihn zu einem hilfsbereiten Diener zu erziehen, hatte ihm den Namen Famulus gegeben. Sein Vorgänger gleicher Rasse war ein Muster ergebener Dienstbarkeit gewesen. Er apportierte der invaliden Herrin alles was sie ihn bringen hiess und weil er, wie sie sich ausdrückte, »das Juwel war im Kranze der vielen Pudel, die ihr das Leben beschert hatte« trug er seinen glanzvollen Namen »Kohinoor« mit Fug und Recht.

Leider erwies sich bald, dass man dies von Famulus nicht sagen konnte. Der voreilig getaufte war nicht zum Diener geboren, viel eher hätte er einen solchen brauchen können. Er begriff zwar sehr bald, was es hiess, einen Gegenstand »holen«, aber das »apportieren« wollte ihm lange nicht eingehen und es war ein verwegenes, ja fast lebensgefährliches Experiment für die lahme Lehrerin, wenn sie ihm in täglichen Uebungstunden am frühen Morgen diesen Begriff beizubringen suchte.

Während seiner kurzen Spaziergänge neben dem Fahrstuhl der Herrin – sie waren seine einzige Leibesübung im Freien – verausgabte das junge Tier so viel wie nichts von seiner hochgespannten Energie, und wenn ihm dann, nach gesunder Nachtruhe, die Dressur Gelegenheit bot, sich zu rühren, machte er davon in einer Weise Gebrauch, die manchmal beängstigend sein konnte. In einem solchen Augenblick trat eines Morgens die Frau bei ihrer lahmen Freundin ein und wie unversehens ein früher Eindruck wieder in uns auflebt, so erschien ihr beim Oeffnen der Türe ein Bild, ein längst vergessenes, das sie als Kind aufs Höchste gefesselt hatte. Es war jene Zeichnung Buschs in dem unvergleichlichen Buche von Max und Moritz, unter der die Worte stehen: »Rums da geht die Pfeife los«. Nur musste man hier den Modus der Vergangenheit anwenden: »Rums da ging die Pfeife los,« denn das Schreckliche war schon geschehen und es herrschte Stille über dem Chaos, das sich den Blicken der Eintretenden bot. Am Rande des Bettes, inmitten eines argen Durcheinanders von Strümpfen, Pantoffeln, Kleidungsstücken aller Art, von Glas- und Porzellanscherben, sass die Freundin im Zustande tiefster Entmutigung und Erschöpfung. Es sei in Gottes Namen mit diesem Rasenden nichts anzufangen, klagte sie mit matter Stimme, es werde nun schon bald neun Wochen, seit sie sich mit seiner Erziehung abmühe und ihr komme vor, sie habe darin eher Rückschritte als Resultate erzielt. Mit jedem Tage werde er ungeberdiger und wilder und so wie heute sei er überhaupt noch gar nie gewesen.

Sie schwieg einige Augenblicke, atmete tief, wie um sich zu erholen, und fuhr dann in ihrem Berichte weiter. Zuerst hatte sie Famulus einige Apportierübungen machen lassen, bei denen er sich schon sehr unwillig zeigte. Er liess sich zwar herbei, den Stock aus der Ecke zu holen, ging aber gleich so übel damit zu Werke, dass er eine Fensterscheibe einstiess, worauf er sich, jedem Kommando zum Trotz, hinlegte und anfing, den Stock »mit seinem dreifach prämierten Gebiss zu benagen«, bis die zufällig eintretende Magd dieser Unbotmässigkeit ein Ende machte. Darauf seien die Uebungen fortgesetzt worden. Nun habe Famulus Schuhe, die er bringen sollte, unter wildem Kopfschütteln und Knurren fast bis an die Decke geworfen, und als eines dieser Geschosse beim Niederfallen eine Blumenvase traf und auch sie klirrend in Scherben ging, da sei dies für Famulus gleichsam der Auftakt zu einer schrecklichen Raserei gewesen. Unheimlich knurrend stürzte er sich auf einige Kleidungsstücke, die vom Abend wohlgeordnet auf einem Stuhle lagen und zerrte sie erbarmungslos im Zimmer umher. Er spürte sich nicht vor Aufregung, klagte die Niedergeschlagene, und sie getraute sich nicht zu mucksen, geschweige denn vom Stuhle aufzustehen, um zu läuten, aus Furcht, der Schreckliche möchte an ihr in die Höhe springen und sie zu Fall bringen. So sei ihr nichts übrig geblieben als ihn wüten zu lassen.

Verständnisvoll nahm die Frau den Bericht entgegen. Die Freundin tat ihr leid; denn das Abenteuer, in dem sie, die Gesunde, nicht ohne Genugtuung die Befreiung fühlte, die dieser Ausbruch verhaltener Leidenschaft in dem Tiere ausgelöst haben mochte, entbehrte für die Invalide jedes angenehmen Beigeschmacks. Es war im Gegenteil in ihrem ohnehin dürftigen Leben eine neue Enttäuschung, die sie beklagte, wie ein anderer vielleicht eine warm gehegte und zerstörte Liebeshoffnung beklagt hätte.

»Was nun?« sagte sie traurig. »Sicher ist, dass ich ihn nicht behalten kann. Wenn Einer Unglück hat, verfolgt es ihn in allen Dingen. Unsereiner sollte nichts begehren, nicht einmal einen Hund. Aber was mit ihm anfangen? Zurückschicken kann ich ihn nicht mehr; er ist bezahlt, teuer bezahlt.«

»Wenn deine Hauptsorge ist, ihn irgendwo unterzubringen,« antwortete die Frau, »so kann ich dir helfen und du brauchst dich nicht weiter zu grämen.«

Da leuchteten die Augen der Freundin. »Er ist skrupulös stubenrein,« sagte sie schnell, »wenn auch nicht besonders kultiviert« Die letzten Worte fügte sie nach kurzem Besinnen leiser hinzu, als wäre ihr darum zu tun, mit diesem Vorbehalt ihr Gewissen irgendwie zu retten. Und noch kleinlauter: »Er ist auch manchmal ein wenig sonderbar.«

Und auf den fragenden Blick der Frau meinte sie, dass Abergläubische wohl auf den Gedanken kommen könnten, es sei nicht ganz geheuer mit dem Pudel; er stehe mit Geistern in Verbindung. So behaupte nämlich ihre Dienerin. Diese sei eines Nachts in das Zimmer getreten, in dem der Hund allein zu schlafen pflegte, und als sie leise die Türe öffnete, habe sie zu ihrem Entsetzen den toten Kohinoor im Schein des Mondes erblickt, wie er tief sinnend vor einigen Reihen am Boden ausgelegter Spielkarten sass und die Herzdame suchte, und Famulus sei wild und übermütig um ihn herumgesprungen, als wollte er den Auferstandenen zum Spielen ermuntern, doch habe er sich nicht getraut, dem Geist nahe zu kommen, und ihr sei es kalt über den Rücken gelaufen.

Fragend richtete nach diesen Enthüllungen die Invalide ihre Blicke nach der Frau. Doch diese lächelte und sagte:

»Dies könnte mich nicht anfechten, beruhige dich nur. Warum soll es nicht auch Tiere geben, die, mit gesteigerter Empfindlichkeit begabt, übersinnliche Dinge wahrnehmen, ich meine solche, die andern, weniger feinfühligen Wesen, übersinnlich erscheinen? Darüber mache dir keine Gedanken. Ueberlasse uns Famulus. Wir haben nur noch unsern alten Dachs, dessen Gehör nicht mehr am feinsten ist. Ein junger Hund ist gerade was wir brauchen.«

Diese Worte sprach die Frau eigentlich ohne es zu wollen. Mitleid mit der armen, vom Glück vergessenen Freundin, der ein an sich geringfügiges Vorkommnis eben noch so ernste und bittere Worte eingegeben hatte, bewegte sie. Erst als ihr Vorschlag begeistert und mit sichtlicher Erleichterung begrüsst wurde, kam ihr der Gedanke, sie könnte sich durch ihre Zusage Unwillkommenes aufgebürdet haben. Aber diese Bedenken streiften sie nur und verflogen, als ihre Blicke auf Famulus fielen. Er hatte sich in die Ecke beim Kachelofen zurückgezogen und sass dort unbeweglich.

»Wie nachtdunkel er ist,« dachte die Frau, und ein seltsames Gefühl beschlich sie. Dabei war sie sich bewusst, wie banal dieser Vergleich und wie unzutreffend zugleich er war. So finster und unerforschlich blickte keine Nacht, wie Famulus in diesem Augenblick. Er schien auffallend gross, wild und mächtig, etwas Fremdes, Unwirkliches war um ihm, das ihn geheimnisvoll anziehend machte und die Frau zwang, sich ihm zu nähern. Sie liess sich vor ihm nieder und betrachtete ihn. Da sah sie zum ersten Male, wie seine von ihr abgewandten Augen einem unsichtbaren Vorgang zu folgen schienen. Er war wundervoll anzusehen ganz benommen und der Umwelt entrückt.

*

Das Hofgut, das der Mann und die Frau bewohnten, war ein Landhaus, das, von vielen alten Linden beschattet, auf dem terrassenartigen Vorsprung eines sanften Hügelzuges über einem traumseligen, stillen Tale lag. Mit dieser Heimat fühlten sich die beiden Menschen wie mit etwas Lebendigem verbunden, ja eine so innige und starke Liebe hegten sie zu ihrer kleinen Welt, dass sie allmählich wie Eins wurden mit Haus und Hof, mit Bäumen und Wäldern, mit Hecken und Wiesen und mit all dem vielen Getier, das hier Zuflucht suchte und fand. Wenn sie wachten und in die Nacht hinaushorchten, den Schrei eines Tieres vernahmen oder das tiefe Aufrauschen der Bäume, wenn ein Stern vor ihren Augen im nahen Walde schön versank, so waren dies für sie nicht Geschehnisse, die bloss flüchtig ihre Sinne streiften. Sie fühlten und hörten vielmehr in ihnen ihr eigenes Leben atmen und vorüberziehen, und das Herz wurde ihnen weit.

An dem Tage, an dem der Pudel Famulus im Hofgut seinen Einzug halten sollte, stand die Frau wartend vor der Haustüre. Es war ein sonniger aber kühler Frühlingsmorgen; der Nebel lag noch im Tal und verwandelte es in einen weissen See, aus dem die einzelnen hohen Bäume wie kleine grüne Inseln auftauchten.

Es fügte sich, dass an diesem Morgen der Bauer des Nachbarhofes ein Kalb in die Stadt zu führen hatte, und da die Frau der Beförderung ihres neuen Hausgenossen nicht ohne Bedenken entgegensah, wurde beschlossen, ihn als Rückfracht in den Lattenverschlag des Kälbchens zu verladen, damit auf diese Weise die Ueberführung einfach und mühelos von statten gehe. Das war denn auch ganz gut ausgedacht, und von den aufregenden Auftritten, die sich die Frau schon ausgemahlt hatte, ereignete sich keiner. Der Hund hatte sich in der Kiste ruhig hingesetzt und als der Wagen in die Allee des Hofgutes einbog, sah die Frau von weitem schon, dass Famulus seinen Kopf mit der imposanten Allongeperrücke zwischen den Latten durchstreckte, gemütlich wie zu einem Fenster heraus und die vorbeiziehende Landschaft betrachtete. Seine schöne rote Zunge hatte er wie eine Fahne ausgehängt.

Nun hielt der Wagen. Der Bauer begab sich in Stellung, um mit raschem Griff den Passagier zu packen, im Falle er Fluchtgedanken hegen sollte. Doch zum Erstaunen der Frau und des Bauers und einiger Dorfkinder, die der Fuhre mit dem merkwürdigen Insassen nachgelaufen waren, ereignete sich nichts derartiges. Famulus blieb gelassen stehen, als die Schmalseite seines Gefängnisses entfernt wurde, mit überlegener Miene von oben herab die kleine Versammlung musternd. Plötzlich machte er eine rasche Schwenkung nach rückwärts, als besänne er sich auf etwas, schnupperte in einem Winkel des Verschlages herum und sprang endlich in elegantem Bogen von seiner Empore herab, ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket in der Schnauze, das er stolz wedelnd unter seinen Zuschauern umher und zur Schau trug.

»Und das soll ein Hund ohne Kultur sein?« dachte die Frau.

»Schön, Famulus,« sagte sie vergnügt und fuhr dem musterhaften Reisenden liebkosend über das zottige Fell, »schön, dass du gleich dein Gepäck mitgebracht hast«

»Gepäck!« schrien da laut aufjubelnd die Kinder und hüpften und klatschten in die Hände, »Gepäck! Er hat sein Gepäck mitgebracht!«

*

Die Frau verstand sich auf Tiere und war gewohnt, mit ihnen umzugehen. Als kleines Kind schon gefiel sie sich dabei, das Leben und Geschehen ringsum gelegentlich vom Gesichtspunkt des Tieres aus zu betrachten. Sie liebte es, darüber nachzusinnen, was zu tun wäre, wenn sie z. B. eine Katze oder eine Maus oder eine Kreuzspinne wäre oder wenn sie als ein Vogel ein Nest bauen sollte, und sie malte sich aus, wie sie zu diesem Zwecke die Wolldecke plündern wollte, die der dicke Herr im ersten Stock des Stadthauses, das sie damals bewohnte, täglich am Fenster verlüften liess.

Den Bewohnern des kleinen Dorfes, in dem sie seit ihrer Verheiratung lebte, blieb dieser starke Sinn im Wesen der Nachbarin nicht verborgen. Wenn die Frau beim Anblick eines toten oder verwundeten Tieres sagen konnte, nur so oder in ähnlicher Weise kann es sich verletzt haben oder zu Grunde gegangen sein, und wenn dann ihre Worte sicher, überzeugend, oft beinahe hellseherisch klangen, da gingen die guten Wendlinger kopfschüttelnd auseinander oder sie stellten gemeinsam Betrachtungen an: »Irgendwie«, sagten sie unter sich, »habe es damit seine besondere Bewandtnis; die Frau verstehe nicht allein die Leiden der Tiere, sondern auch noch ihre Sprache.« Und das Stuberänni, ein altes Mütterchen, das der Frau um kleiner Freundlichkeiten willen im Herzen zugetan war und von dem es hiess, es wisse mehr als andere, meinte, bedeutsam den müden Kopf wiegend: »Ja, ja, die Holderbüsche im Hofgut drüben und das heimliche Bänklein darunter, wo sie sitzt halbe Nächte lang, das ist's. – Wem in lauer Sommermondnacht zur Geisterstunde drei Tropfen aus den tauschweren Blütendolden die Stirne netzen, dem geht ein Licht auf.«

Mochte es immer daran glauben, das gute Stuberänni. Die Frau selbst wusste da bessern Bescheid. Lag doch die Liebe zu den Tieren von Anbeginn in ihr, gesondert, ein zweites Leben gleichsam, ein rein beglückendes im Gegensatz zum andern, doch gesetzmässig wie jenes. Dies erkannte sie als sie später ahnungsvoll empfand, dass alles in uns, auch das Kleine und Unwichtige in ferner Vergangenheit wurzelt und in alle Zeit fortzuwirken bestimmt ist Lächelnd, aber nicht ohne Innigkeit, gedachte sie dann des Vorfahren, – aus ferner, aus grauer Vorzeit vielleicht, – dem sie ihre Liebe und ihr Verständnis für das Wesen der Tiere verdankte, jenes Vorfahren, dessen geheimnisvolles Erwachen in ihr sie oft so deutlich fühlte. Und fast andächtig stimmte sie der Gedanke, an den zähen Willen des Blutes und an seine im Zeitenwechsel einzig bestehende Macht.

So oft die Frau eines Tieres habhaft werden konnte, war sie glücklich. Besonders gerne beschäftigte sie sich mit Tieren, die krank oder irgendwie hilflos in ihre Hände kamen. Sie pflegte sie dann, um sie wieder frei zu geben, sobald sie sie sich selbst helfen konnten oder bis sie zahm wurden und zu bleiben begehrten. Freigeborene Tiere in Gefangenschaft zu halten, dafür fehlte ihr jede Lust.

Die Frau unterhielt sich viel mit ihren Schützlingen und wurde von Mann und Freunden wegen ihrer Langmut bei diesen »bedauerlich einseitigen Gesprächen« wie sie sich ausdrückten, oft geneckt. Doch darauf pflegte sie bloss zu antworten, dass da nichts bedauerliches vorliege, da von Einseitigkeit keine Rede sei. Und dabei lächelte sie. Und die andern liessen sie gewähren und zeigten freundliches Interesse für ihre Seltsamkeit und Liebhaberei, denn sie waren nicht von jenen Menschen, die ohne weiteres das Bestehen alles dessen leugnen, was sie nicht am eigenen Leibe spüren oder was ihnen nicht mathematisch oder mikroskopisch oder sonst in gelehrter Form dargestellt und bewiesen ist.

*

Mit ernster Miene und ganz gesittet war Famulus nach seiner Ankunft der Frau in das Haus gefolgt, und als sie sich nach ihm umwendete, setzte er sich korrekt hin und liess sich das »Gepäck« abnehmen. Es enthielt das abgetragene Mäntelchen seines musterhaften Vorgängers, einen alten, halb zerfressenen Schuh und ein Briefchen, in dem die verlassene Herrin die Frau ermahnte, das junge Tier doch namentlich nach der Schur nie der Kälte auszusetzen und ihm den Schuh, den er sehr liebe, ja zu überlassen, da er sich sonst an einem neuen »vergreifen« könnte; er habe die Gewohnheit, gelegentlich ein wenig zu nagen. Das Mäntelchen hat Famulus nie getragen. Er war nicht in Stimmung, als man den ersten Versuch damit machte und riss es sich gleich vom Leibe – über das, was ihm angenehm und nicht angenehm war, pflegte er nie lang im Zweifel zu lassen – und was den Schuh betrifft, so war seine ableitende Wirkung ziemlich unvollständig, wie das Ausgabenbuch der Frau nachweist:

16ten Jan. Pelzreparatur für Frl. X. (Famulus) ... frs. 18.50
11ten Juni. Gärtner W. den Hut ersetzt (Famulus) ... frs. 7.25 u. s. f.

Famulus schien sich im Hofgut nicht fremd zu fühlen. Er wurde darum nicht an die Kette gelegt und bewegte sich frei vom ersten Tage an mit der ihm eigentümlichen Selbständigkeit. Im übrigen war er »ganz einfach hundlich«, wie sich die Frau ausdrückte, so dass sie zu träumen wähnte, wenn sie des seltsamen Hingenommenseins gedachte, das ihr bei der ersten Begegnung an ihm aufgefallen war.

Als es dunkelte, wurde Famulus im Treppenhaus sein Lager angewiesen, ein grosses, zu seinen Ehren mit frischer Streue gefülltes Kissen, das in einer ebenmässig niedern Kiste ein ganz ansehnliches Hundebett vorstellte. Allein, nachdem er es einer Inspektion mit der Nase unterzogen hatte, wandte er sich ab und war mit keinen Mitteln zu bewegen, sich seiner zu bedienen. Dem prüfenden Blicke der Frau hielt er ruhig Stand, reckte sich gelangweilt und zeigte gähnend die geschwungene Zunge wie ein Wappentier.

»Famulus, mein Hund,« sagte die Frau, »dein Gebaren zeugt von einem Eigenwillen, den ich mich wohl hüten werde anzufechten. Es gibt kein unbestreitbareres Recht als das auf die Wahl der Art und Weise, in der sich Einer schlafen legen will. Aber sage mir, weshalb dies Lager, das das Behagen aller deiner Vorgänger war, so sehr dein Missfallen erregt?«

Als Famulus die Frau solchermassen mit sich reden hörte, kräuselte er leicht die Oberlippe wie zu einem Lächeln; sein ganzes Wesen wurde rege und beredt:

»Frau,« sagte er und sah ihr in die Augen, »mich wundert deine Frage. Bis dahin schienst du mich ja ganz vortrefflich zu verstehen, und ich fühle, dass wir miteinander auskommen werden. Doch scheinst du, wie deine Mitmenschen, nicht zu unterscheiden zwischen Hund und Hund. Merkst du denn nicht, dass ich dieses Bett verpöne, just weil es die Freude meiner vielen Vorgänger war?«

»Oh,« sagte die Frau gedehnt, »ich verstehe, doch ist es mir heute Abend nicht möglich, dir ein ganz neues Lager zu beschaffen, und was die feine Unterscheidungsgabe anbetrifft, die du an mir vermissest und die mir mangelt, – ich gebe es zu – so wird mir vielleicht der Umgang mit dir dazu verhelfen. So pflege denn der Ruhe, wie du kannst und magst, Famulus, mein Hund.«

Sie erhob sich aus der Kniebeuge, machte eine grüssende Handbewegung und stieg die Treppe hinan. Doch ehe sie das Licht ausdrehte, lehnte sie sich oben noch über das Geländer und sah, dass ihr des Hundes Blicke folgten. Vermutlich erwartete er, sie sogleich mit einem mehr nach seinem Sinne gearteten Kissen zurückkehren zu sehen. Sie aber lachte bloss, winkte noch einmal mit der Hand und löschte. Darauf warf sich Famulus trotzig auf die Steinfliesen und lag wie tot.

Mitten in der Nacht wurde die Frau durch ein sonderbares Geräusch aus dem Schlafe geweckt. Wie ein ununterbrochenes Trippeln vieler Hundefüsse war es anzuhören, dazwischen winselnde Laute, ein Klirren von Ketten – Sie dachte an die Aussage der Magd, und im Halbschlummer, in den sie bald darauf wieder verfiel, sah sie einen langen Zug von Hunden sich die Treppe hinab bewegen. Sie alle scharten sich um Famulus. Er sass in ihrer Mitte wie ein König und führte das grosse Wort.

»Nun was ist denn los da unten?« hörte die Frau ihren Mann sagen, als sie sich im Traume eben freute, dieser Hundeversammlung beizuwohnen.

»Es ist Famulus, der die Hundegeister des Hauses um sich versammelt,« sagte sie im Erwachen, doch noch nicht wach. »Ausserordentlich angenehm für uns,« hörte sie ihren Mann sagen.

Sie schlief schon wieder. Aber plötzlich weckte sie ein heftiges Kratzen an der Zimmertüre ganz und gar.

»Für gute Nachtruhe scheinst du ja mit deiner neuen Acquisition gesorgt zu haben,« meinte der Mann, »jetzt da es unten still wird, geht der Rumor an der Türe los.«

»Er wird sich beruhigen,« sagte vertrauensvoll die Frau. Aber Famulus beruhigte sich nicht. Er kratzte wieder, er polterte, er warf sich gegen die Türe und es gab für die Frau keine Möglichkeit sich weiter taub zu stellen. Schon der tiefe Seufzer ihres Mannes erlaubte ihr dies nicht mehr. Sie erhob sich also und schloss auf, doch ehe sie Zeit hatte den Mund zu einem strengen Wort zu öffnen, gewahrte sie im Dunkel einen noch dunkleren Schatten blitzschnell durch die Türenge schlüpfen und lautlos unter ihrem Bette verschwinden. Sie prüfte mit der Hand die Weite der Spalte und fühlte zu ihrem Erstaunen, dass sie kaum eine Spanne betrug. Was wunder, dass ihr vor dem Einschlafen allerlei krauses Zeug durch den Kopf ging? Am Ende war es doch nicht so ganz ohne mit der Entmaterialisierung, von der man so viel reden hörte. Auf alle Fälle, wenn es eine solche gab, so wusste Famulus darum. Wo war in der Geisterstunde seine stattliche Körperfülle geblieben? Ohne den leisesten Gegendruck, fliessenden Leibes gleichsam, war er in das Zimmer geglitten. Als sie dann in späteren Jahren Abbildungen der im Grabe des Tuthankamen vorgefundenen, stolzen Tiergestalten sah, mit ihren endlos in die Länge gezogenen, grotesk dünnen Leibern auf den hohen Beinen, erinnerte sie sich, dass ihr Famulus in jener Nacht ungefähr so erschienen war.

Nach einer kleinen Weile wurde die Frau durch eine unsanfte Berührung am Arme wieder geweckt. Sie wandte den Kopf. Da stand Famulus regungslos aufrecht mit den Vorderfüssen auf dem Bettrande. Silhouettenhaft hob sich seine mächtige Gestalt gegen das Fenster ab auf dem blauen Grunde der Nacht. Aus dem Dunkel des zackig umrissenen Hauptes leuchteten zwei glühende Punkte. Da war er wieder der unheimliche Zauber – Sie blickte in das über sie gebeugte Tiergesicht, bis ihr so angst wurde, dass sie auffuhr, nach dem elektrischen Schalter tastete und Licht machte. Und was sah sie da? Bin Bild frommer Ergebenheit. Wo war der Dämon, der sie eben heimgesucht hatte? Vor dem Bette sass der bravste aller Hunde, machte Männchen und präsentierte zwischen blinkenden Zähnen der Frau einen ihrer Pantoffel.

»Und das soll ein Hund ohne Kultur sein?« dachte sie wieder. Und zu ihm gewendet: »Auf alle Fälle bist du ein Verwandlungskünstler, Famulus. So viel weiss ich jetzt. Nun aber leg' dich hin und lass' es genug sein für diese Nacht.«

Es war ihr ernst und er merkte es.

* * *

 


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