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Der Frau war ein merkwürdiges Buch geschenkt worden. Es trug den Titel »Mein Hund Rolf« und war die von Frau Dr. Möckel geschriebene Geschichte des berühmten Mannheimerhundes, der nicht allein jede an ihn gerichtete Frage beantwortet, sondern gar Briefe diktiert und nach Herzenslust – vielleicht auch manchmal darüber hinaus – Quadratwurzeln ausgezogen haben sollte. Aus diesem Buche las die Frau eines Abends ihrem Manne vor. Sie lachten beide.

»Was meinst du,« sagte der Mann, »wenn ich mir Famulus zur Abfassung von Rechtsgutachten abrichtete?«

»Ich für meinen Teil,« erwiderte die Frau, »wäre schon mit einem Hund zufrieden, der mir meine langweiligen Haushaltungsadditionen abnehmen wollte. Es ist merkwürdig,« fügte sie ernster werdend hinzu, »dass die Menschen sich im Grossen und Ganzen immer in den Extremen gegenüberstehen, wenn es sich um Beurteilung des Tierintellektes handelt, – dass ihn die Einen bis zum Lächerlichen überschätzen, während die Andern ihm nicht gerecht werden können –«

Was war es nur, was da Famulus aus der Dunkelheit, wo er ruhte, in den hellen Kreis der Lampe rief? Wer weiss. Sicher ist, dass er plötzlich erschien, sich zu den Beiden setzte und den Kopf auf das Knie des Herrn stützend in Horchen oder Nachdenken versank. Seine Augen glänzten feucht im Widerschein inneren und äusseren Lichtes.

Am nächsten Abend war der Mann verreist. Es regnete und stürmte unheimlich ums Haus. Die Frau war in ein Buch vertieft. Da fühlte sie in ihrer herabhängenden Rechten die Pfote des Pudels. Geistesabwesend, wie sie war, empfand sie zuerst nur oberflächlich den leisen Druck, doch immerhin mit genügendem Bewusstsein, um den nächsten, der eindrücklicher ausfiel, freundschaftlich zu erwidern. Ihrem Händedruck folgte wiederum ein Druck der Pfote, dann wieder ein Handdruck ihrerseits u. s. f. Dieses kleinen Manövers, das die Frau längst kannte, bediente sich der Pudel, wenn er beachtet zu werden wünschte. Sie legte also das Buch bei Seite.

Die Frau pflegte oft zu sagen, Famulus sei trotz seiner grossen Ausdrucksfähigkeit eigentlich kein gesprächiger Hund. An diesem Abend jedoch merkte sie, dass er zu reden aufgelegt war. Oder war sie heute vielleicht befähigter als sonst, ihn zu verstehen? Nehmt es wie ihr wollt, an dem Ergebnis ihrer Unterhaltung wird es nichts ändern.

»Nun, Famulus,« sagte sie, seinen leuchtenden, eigentümlich forschenden Blick gewahrend, »du scheinst etwas auf dem Herzen zu haben. Was ist's, mein gutes Tier rede ...«

Er schien sie nicht zu hören. Die Linden rauschten mächtig und der eingerostete Wetterhahn auf dem Dache liess sein schrilles Kirren hören.

»Lockt dich vielleicht das Heulen des Windes? Du möchtest wohl, dass ich dich ziehen liesse zu deinen Freunden, zu Sturm und Unwetter. Aber daraus wird heute nichts, mein Hund. Ja, schau mich nur an, gar nichts. Du bleibst jetzt bei mir.«

Kein Augenzwinkern, auch nicht das leiseste Zeichen, dass er sie hörte. Doch plötzlich setzte er sich und sie vernahm nach langer Pause wieder einmal seine Rede.

»Was sind Quadratwurzeln?« fragte er.

Sie lachte hell auf.

»Ach so, ich sehe, du bist noch bei Rolf! Gelt, das ist eine kuriose Geschichte, die dich auch interessiert. Ich habe wohl gemerkt, wie du gestern aufgepasst hast. Zu schade, dass er nicht mehr lebt. Ich hätte dir sonst vorgeschlagen, ihn einmal mit mir zu besuchen.«

»Was sind Quadratwurzeln?« erklang zum zweiten Male Famulus' Frage noch eindringlicher.

»Quadratwurzeln? Mein Gott!« Von jeher fühlte sich die Frau beim blossen Hören des Wortes von einer leichten Gänsehaut überflogen. Und nun, da sie sich einer solchen Heimsuchung längst entrückt wähnte, kam ihr der Hund mit dieser Frage! Und dazu der ungeduldige, lehrerhafte Blick! Was wollte er nur? Hatte sie hier vielleicht eine Prüfung zu bestehen? Sie fühlte sich von peinlichster Examenstimmung umfangen. Um ein Haar und sie hätte die klassische Schulantwort gegeben: »Eine Quadratwurzel ist ... wenn man ... hm ... nun wenn man ...« Oh, die Mathematik! Sie war immer ihre schwächste Seite gewesen!

Doch ihr lag daran, vor Famulus ihre Ueberlegenheit als Mensch zu wahren.

»Famulus,« sagte sie entschlossen und sehr rasch, »ein Quadrat ist ein rechteckiges Viereck mit vier gleichen Seiten, merke dir vier, das ist besonders wichtig, ist der »springende Punkt«, wie man heutzutage sagt. – Was Wurzeln sind, das weisst du von deinen Maulwurfsjagden her – nun mache dir ein Bild.«

Famulus blickte nachdenklich.

»Wie findest du den springenden Punkt, Famulus, gelt der gefällt dir?« meinte sie, bestrebt, ihn von dem fatalen Thema abzulenken.

»Ich will lernen Quadratwurzeln ausziehen,« sagte Famulus beharrlich. »Was Rolf konnte, kann ich auch.«

»Aber ich kann nicht, was Frau Möckel konnte,« erwiderte kleinlaut die Frau, »mir fehlt vor allem, wie du wohl weisst, ihre engelhafte Geduld.«

»Geduld?« meinte er langgezogen, »warum Geduld? Es geht oder es geht nicht.«

Da stutzte die Frau.

»Wie meinst du das?« fragte sie erstaunt. »Nun,« sagte er gelassen, »ich werde doch so lange klopfen können, bis du mir das Zeichen gibst, aufzuhören?«

»Und wenn ich dir kein Zeichen gebe, was dann?«

»Du gibst mir aber ein Zeichen, ob du willst oder nicht, das ist's ja eben,« sagte triumphierend der Pudel. »Dass ich es sehe oder fühle, lass' meine Sorge sein. Ach, ihr habt ja keine Ahnung, was wir alles wahrnehmen, euch vom Gesicht ablesen, aus dem Tonfall eurer Stimme heraushören! Neulich, als dich die beiden Frauen besuchten, die Alte und die Junge, um dir von der Verlobung oder wie das heisst zu reden und du sie begrüsstest: »Freut mich ausserordentlich«, da merkte ich deutlich, dass du dachtest: »Wäret ihr jetzt alle beide auf ein Stündlein in dem schönen Lande, wo der Pfeffer wächst – so sagst du doch? – so könnte ich mit Famulus den Spaziergang machen, den ich ihm schon so lang verspreche« oder war es nicht so?«

»Haben wir das nicht vielleicht alle beide gedacht?« frug sie lächelnd.

»Und es ist kaum ein paar Tage her –«

Die Frau seufzte.

»Warum bist du nur so unausstehlich schulmeisterlich heute!« lag ihr auf der Zunge. Allein sie unterdrückte die Frage aus Besorgnis, Famulus möchte zu den Quadratwurzeln zurückkehren.

»Es ist kaum ein paar Tage her,« fuhr er fort, »dass euch der fremde Mann vorspielte und vorsang – Oh, es war grässlich! Aber als ich zu heulen anfing, da wurdest du gleich sehr böse und stelltest mich vor die Tür. Und wie der betäubende Lärm, den ihr Musik nennt, zu Ende ist, höre ich dich sagen: »Ich wusste nicht, dass sie komponieren, Herr Lang, und so komponieren.« Ich aber dachte an eure Gesichter während des Gesangs und merkte ...«

»Nein, Famulus, das war keine Lüge, ganz bestimmt nicht,« sagte sie hastig, ein Lachen verbeissend, »du selbst sagst ja, dass ich das »so« betonte, dass Sie » so« komponieren, sagte ich.«

Sie bestand noch auf ihrer Ehrlichkeit! Das überstieg sein Fassungsvermögen.

»Auf die Betonung kommt es bei uns nicht an,« erwiderte er kurz und wegwerfend.

Sie lächelte etwas verlegen, fast war es, als schämte sie sich ein wenig.

»Es ist keine Frage, ihr seid im ganzen gewiss ehrlicher als wir,« lenkte sie nach einer kleinen Pause ein und fuhr dann scherzend fort: »Doch was das Schmeicheln betrifft, so versteht auch ihr euch recht gut darauf, mein Freund. Wie weisst du nicht zu scharwenzeln und aufzuwarten, wenn du auf einen Spaziergang mitgenommen sein möchtest oder sonst etwas erreichen willst.«

»Und dann schiltst du mich gleich einen Gelegenheitsfreund, einen Oppor ... einen Opportunisten und was der schrecklichen Worte mehr sind,« sagte Famulus gekränkt. »Ist es ein Unrecht, eine Freude zu erstreben? Liegt meinem Verlangen irgendwelche Niederträchtigkeit zu Grunde? »Hündisch« sagt ihr schmähend. Wie oft hörte ich es, wenn vielleicht auch nicht von dir.«

Sie konnte sich nicht helfen, ein leises »mea culpa« tönte in ihrer Brust, so oft er diesen Ton anschlug.

»Hündisch sagen wir schmähend,« bestätigte sie leise, »und bilden uns ein, »menschlich« habe bessern Klang –«

»Und doch bedeutet »menschlich« nichts anderes als selbstsüchtig, habgierig, gefühllos und grausam, wie mich schon meine Mutter lehrte,« sagte Famulus bitter.

»Hast du dieses je bestätigt gefunden, mein Hund?« frag sie und wurde plötzlich ernst.

»Bestätigungen braucht einer nicht weit zu suchen, wenn er Augen und Ohren hat,« war die Antwort. »Nur um vom allernächsten zu reden: gestern ist Philax, der Hofhund im Ried, den du mir gelegentlich als Vorbild hinstellst, im Strassengraben verendet. Ich hörte sein Wimmern und fand ihn. Ein wohlgezielter Fusstritt seines Herrn hat ihm endgiltig geholfen. Er liegt noch dort, wohin er sich schleppte, um weiteren Misshandlungen zu entgehen ...«

Sie schwieg und begehrte nichts mehr zu wissen. Ein schmerzhaftes Rieseln ging ihr durch den Körper bis in die Fingerspitzen. Sie sah das ausgemergelte Tier mit gebrochenem Rückgrat im Strassengraben. Vor ihrem inneren Gesichte öffnete sich der Abgrund menschlicher Rohheit und Grausamkeit, zu dem in dunkeln Stunden unsere Seele, schamverhüllt, hinabsteigen muss, ob sie will oder nicht –

Als die Frau den qualvollen Weg, den sie ihre Gedanken führten, endlich zurückgelegt hatte und den in die Hand gestützten Kopf erhob, war es späte Nacht und Famulus lag friedlich schlafend zu ihren Füssen.

*

Es mag um jene Zeit gewesen sein, da der Pudel zuerst seinen unbezwinglichen, geheimnisvollen Drang zum Umherschweifen in schonen Mondnächten zeigte, der allmählich in einen ernsten Konflikt mit seinen Freunden im Hofgut auszuarten drohte. Ihr werdet vielleicht finden, diese Freunde hätten sich kleinlich und unduldsam gezeigt, indem sie dem Tiere das harmlose Vergnügen wehrten, und es soll, um Missverständnissen vorzubeugen, hier gleich gesagt werden, dass weder Mann noch Frau, weder Gast noch Gesinde im Hof gut je daran dachten, Famulus aus dieser Liebhaberei ein Verbrechen zu machen, wäre sie nicht von besonderen, die Nerven gleichsam mit Widerhacken reizenden Vorgängen begleitet gewesen. Ja, wäre Famulus die ganze Nacht ausgeblieben! Doch er stellte sich regelmässig zwischen ein und zwei Uhr im Hofe wieder ein, strich heulend und bellend umher, warf sich mit Vehemenz gegen die Türe, kratzte und verursachte einen Lärm, als belagere er nicht allein, sondern mit einem ganzen Heer von Hunden das Haus. Mitten aus dem besten Schlafe fuhren die Bewohner des Hofgutes auf. Und wie es in solcher Gemeinschaft zu gehen pflegt, wenn es sich um das Erfüllen unbequemer Aufgaben handelt, die allen und keinem eigentlich zufallen, jeder lauschte, lauschte lange und begierig, ob es wohl dem anderen einfalle, sich aufzuraffen aus dem guten, warmen Bett und den Schwärmer, den zur Zeit alle gleich verwünschten, einzulassen. Oft ging es lange, bis einer sich entschloss, und immer war die Nachtruhe aller gestört Man hätte, wird man mir sagen, ganz einfach den Ausreisser abends ins Haus nehmen und einschliessen sollen. – Jawohl, aber ganz einfach war bei Famulus eben nichts. Er merkte die Absicht und liess sich in solchen Zeiten ums Leben nicht einfangen. Wenn es gegen Abend ging, nahte er keinem Menschen mehr, und seitdem er einst schon am Morgen an die Kette war gelegt worden, dass er sich nolens volens fügen musste, zeigte er sich noch bedachter und in Zeiten des Vollmondes geradezu menschenscheu.

Dann wurde es eine Weile so gehalten, dass derjenige, der den Heimkehrenden einliess, ihn mit einer Tracht Prügel empfing. Doch dieses Mittel taugte ganz und gar nicht. Das Tier begann auch tagsüber auszubleiben, zeigte sich handscheu und verschlagen, frass wenig, hatte einen wirren, kranken Blick. Da legte sich die Frau ins Mittel. Sie beschloss, Famulus zu beobachten und sich mehr mit ihm zu beschäftigen als bisher. Zu diesem Zwecke übernahm sie auch das Amt des nächtlichen Türhüters und ordnete an, dass der Pudel am Abend draussen gelassen werde, wenn er Verlangen danach zeigte.

In der nächsten Vollmondnacht, als alles ruhte und schlief, schritt die Frau behutsam die Treppe hinunter. Sie blickte durch die vergitterte Haustüre und sah den weiten, von hundertjährigen Linden umstandenen Rasenplatz in reinstes Licht getaucht. Famulus sass auf der obersten Treppenstufe in der Vorhalle, bewegungslos, wie in Stein gehauen. Tiefschwarz hob er sich gegen den mondbeschienenen Kiesweg ab. Er trug den schweren Kopf nachdenklich nach vorn geneigt und schien auf etwas zu warten.

»Eigentlich müsste es ein Leichtes sein, sich jetzt an ihn heranzuschleichen und ihn mit guten Worten zu bewegen, ins Haus zu kommen,« sagte sich die Frau, denn, wenn sie wusste, dass mit Strenge und Zorn nichts bei ihm erreicht wurde, dass sie ihn nur eigensinnig und störrisch machten, so war ihr auch bekannt, wie eigentümlich gefühlvoll und zugänglich sich das Tier zeigte, wenn sie sich in ruhiger Rede an ihn wandte. Oft hatte sie mit Erfolg dieses Mittel gebraucht, wenn sich Famulus widerspenstig gebärdete, und stets war sie in solchen Fällen seltsam von dem verständigen Blick berührt worden, mit dem er sich dann fügte: »Also denn, in Gottes Namen, wenn es durchaus sein muss« – Gewiss, »in Gottes Namen, wenn es sein muss«, so würde er auch jetzt sagen, sobald sie die Türe aufschloss und sachte zu ihm hinging. Allein sie hatte kaum den Schlüssel berührt, als Famulus schon zusammenzuckte und sich mit einem scheuen Blick nach rückwärts hinwegschlich, lautlos wie ein Geist. Sie sah ihn geduckt und langgestreckt über den Rasen huschen und sich am Fuss einer Linde hinsetzen, wo er wieder die nachdenklich-wartende Haltung annahm, die ihr zuvor schon an ihm aufgefallen war.

Und so geschah es jedesmal, wenn die Frau in hellen Mondnächten nach Famulus Umschau hielt, höchst geheimnisvoll. Nur über einen Punkt war sie bald im Klaren: beim Herannahen der Mitternacht verschwand der Pudel aus dem Gute. Wohin? – Darüber zerbrach man sich im Hause lange den Kopf, bis man sich schliesslich auch an diese Eigenheit des sonderbaren Tieres gewöhnt hatte. Nur die Frau gab sich so leicht nicht zufrieden. Sie fühlte sich durch Famulus' Gehaben angeregt und sann seinem merkwürdigen Verhalten nach, dabei dankte sie als nächtlicher Torwart des Hauses immer wieder der Vorsehung, die so einsichtig gewesen war, unserem Planeten nur einen Mond und nur wenige Mondnächte im Monat zu bescheiden, denn, »das Durchschlafen gehört doch zum Besten, was es auf der Welt gibt,« pflegte sie zu sagen.

*

Das Hofgut war das letzte Haus des kleinen Dorfes Wendlingen, das wundernett in eine baumreiche Bucht eingebettet auf halber Höhe des Hügelzuges lag, den man die Langenegg nannte. Ein altes, düsteres Schloss stand abseits von den wohlig hingelagerten, freundlichen Bauernhöfen. Sein schlanker Turm war nicht bloss Hüter und Rufer in Wassers- und Feuersnot, er gab auch mit seinen schwungvoll aufstrebenden Giebellinien dem Dörfchen jenen beseelten Zug, den wir an Ortschaften, denen eine Gottesstätte fehlt, so leicht vermissen.

Hinter dem Schlosse stieg in saftschwellenden, welligen Halden, von Tannen- und Laubwäldern durchsetzt, die Langenegg sanft empor. Ein blanker Fussweg schlängelte sich aus dem lichtgedämpften Schlosspark aufwärts nach dem Gehölze hin, um dort in den »Heidenweg«, einen weiten Buchengang, einzumünden, der dem Waldsaume folgte.

An Sonn- und Feiertagen, wenn die Wendlinger zur Predigt gingen nach Kirchdorf ins Tal hinunter, mieden sie gerne die Landstrasse und wählten den Heidenweg, ein ihnen von altersher von den Schlossherren zugestandenes Sonntagsrecht. Denn die Wendlingerbauern waren nicht blind für den Zauber jenes Weges, der so sanft bergan in den hohen Laubgang und an seinem Ende wieder sachte talwärts führte und wo es immer Schönes zu sehen gab, ob sie nun unter blühenden, fruchtbeladenen oder unter winterkahlen, im Rauhreif starrenden Bäumen dahinwanderten. Das weite Tal mit seiner ungebrochenen Flucht der Wiesen oder Schneefelder fand in seiner Einfachheit und Grösse Verständnis in den Herzen der Wendlinger. Mit Vorliebe erwähnten sie im Gespräch mit Fremden die Lieblichkeit ihrer Heimat, wie sie auch gelegentlich gerne auf das Alter ihrer Geschlechter hinwiesen; denn sie waren – bei weitem in der Mehrzahl – eine altangesessene, in manchem Sinne verfeinerte Bauernschaft

Der jäh ansteigende Wald, dessen unterster Teil die herrliche Allee des Heidenweges bildete, war am Rande mit Unterholz und dichtem Strauchwerk bestanden, und dies völlige Abgeschlossensein nach aussen war es, das den Zauber der einfachen, aber gross gedachten alten Schlossanlage ausmachte. In der Mitte weitete sie sich und formte einen feierlichen Rundplatz, der so kunstvoll angelegt war, dass er von der Natur geschaffen schien, wie die Grotte im Hintergrund an der Berglehne und der dunkle Weiher davor, dem eine anspruchslose, kleine Quellennymphe tropfenweis ihr sanftes Leben hingab. Vorne, wo an einer Stelle das Unterholz ausgehauen war, stand in der Lichtung, vom Alter grün umflort, eine verwitterte Steinbank. Und hier bot sich dem Ruhenden ein wundervolles Bild.

Zu seinen Füssen dehnte sich das Tal, in weitem Halbkreis von einer schwellenden Hügelkette eingeschlossen, deren weichen Wendungen der Strom im Tale wie ein Verliebter folgte. Im Bereich dieses Stromes mit seinen umsäumten Ufern von Buschwerk und silberschimmernden Weiden, ruhten in lautern Kiesbetten die Giessen, stille, kristallklare Wasserflächen, und schlummerten und träumten.

Von jeher hatte die Frau eine Vorliebe für die, wie es hiess, auf uralte Zeiten zurückgehende Anlage des Heidenweges gehegt. Eindringlich und zu Herzen gehend sprach die verwilderte Schönheit des Ortes zu ihr. Nirgends wie in diesem tempelhaften Baumgange, dem sich die Liebe und Hingabe von Generationen zugewendet hatten, fühlte sie den sanften Zwang, ihr Innerstes zu befreien und zu erschliessen. Dann kam sie sich vor wie eine Druidin, die den heiligen Hain betretend, statt blutigen Opfers das kostbare Gut des Erlebten den Göttern darbietet, zu Dank und Rechenschaft bereit. Hier will ich es niederlegen und andächtig enthüllen vor Euch und vor mir. Oh, es ist viel. Viel des leichten, köstlich flüchtigen, viel des schweren, süsses und bitteres, fromm gehegtes, sorglos vergeudetes, Glut und Asche –

Nicht wie ein anderer erschien ihr dieser Wald. Wärmer und tiefer atmete hier das Leben. Beseligender war das Rauschen seiner Kronen, sinnender der Blick seiner Blumen und nirgends klang der Finkenschlag im Frühling wie hier so heftig jubelnd, dass man oft ein wehes Schluchzen darin zu vernehmen glaubte.

»Was mag nur diesen Zauber wirken?« fragte sich oft die Frau, wenn ihre Blicke in das Blätterdunkel des mächtigen Laubganges tauchten.

Als sie einmal, wie sie es gerne tat, mit Famulus den Nachmittag am Heidenweg verbracht hatte, und sich zum Aufbruch rüstete, fiel ihr ein, dass sie zum Ausschmücken ihres Wohnzimmerkamins – das seit dem Erlöschen der letzten Gluten im Frühjahr jedes intimen Reizes entbehrte und nur noch eine gähnende, schwarze Höhle war – noch einige Brombeer- und Epheuranken benötigte. Diese boten sich hier oben in Fülle. Besonders üppig umwucherten sie einen hohen, an die Berghalde gelehnten Granitblock, der der Frau wie ein verwunschener Wächter erschien, dem die mitleidige Natur einen grünen Mantel umgehängt hatte. Diesem Steine wandte sie sich nun zu.

»Ich will dich nicht allzusehr plündern, Findling, armer Verlorener,« sagte sie. »Bis der Winter zurückkommt, wachsen übrigens die Löcher deines Rockes wieder zu, darin hast du's ja fein und viel besser als unsereiner,« und behutsam begann sie hierauf die Ranken zu lösen.

Da gewahrte sie plötzlich zu ihrem Erstaunen in den Stein gehauene Buchstaben, ein i, ein h, ein r, ein S. Sie lagen zum Teil auf einer Höhe, zum Teil übereinander, also in zwei Zeilen und liessen auf eine längere Inschrift schliessen. Nun aber war die Neugierde der Frau erwacht. Sie hatte längst gesammelt, was sie suchte, doch die regen Finger liessen nicht von der dornigen Arbeit. Sie fuhren fort, das verstrickte Rankenwerk sachte zu lockern, die Schosse, die sich so eigenwillig auf die moosigen Lettern hefteten, zur Seite zu biegen, bis es gelang, die Worte zu enthüllen.

Die ihr in den Gärten wohnet
lasst mich eure Stimme hören

las sie da. Also ein Grab. Nur an Tote konnten an solcher Stelle diese Worte gerichtet sein.

»Die ihr in den Gärten wohnet« –

Sie wandte sich langsam ab und schritt auf die alte Steinbank zu, wo sie sich niedersetzte und sinnend verweilte.

»In den Gärten« ...

In seltsam bewegtem Herzen erwog sie den Sinn dieser Worte.

*

Es war an einem Sommerabend nach dem jährlichen Fest, das die Wendlinger Schuljugend auf dem weiten Rasen unter den Linden des Hofgutes zu feiern pflegte. Zum ersten Mal fiel das Fest auf eine Vollmondnacht, und es herrschte einiges Missfallen im Dorfe, als dieses, zu spät um eine Aenderung zu treffen, festgestellt wurde. Allein während des Abends zeigte sich dann zur allgemeinen Befriedigung, dass dieses Zusammentreffen den »Effekt«, wie die Leute sagten, mit nichten beeinträchtigte. In langem Zuge, je zwei und zwei nebeneinanderhergehend, waren bei Anbruch der Dunkelheit die Kinder gekommen, festlich geputzt, die lachenden Gesichter farbig umstrahlt vom Schein der bunten Papierlaternen, deren jedes eine an langem Stabe lustig baumelnd über der bekränzten Stirne trug. Unter den hohen Bäumen, die in der hellen Nacht eine dunkle Schatteninsel bildeten, entfalteten sie mit ihren Lichtertänzen entzückende Bilder. Der Rasenplatz lag längst wieder in Stille und Schatten und noch waren die Augen aller voll der Buntheiten des Abends, voll Licht, voll Farbe, voll Bewegung.

Eben hatte die Frau die scheidenden Kinder vor das Tor begleitet und schickte sich an, zu ihrem Manne zurückzukehren, der mit einigen Freunden unter den Bäumen auf und ab ging, als sie vom Zauber der wunderbaren Nacht ergriffen, plötzlich ein heftiges Verlangen nach dem grossartigen Rundblick des Heidenwegs verspürte. Sie zögerte einen Augenblick ... Doch, – da hinauf musste sie, schnell, schnell. Nur ein paar Minuten droben sein und sich umsehen ... in einer Viertelstunde war sie wieder da.

Bald darauf betrat sie den Heidenweg. Zitternde Mondflecke spielten im Moose und an den Baumstämmen. Zu beiden Seiten des Weges, zart schimmernd, wie hingehaucht, die Blütenwolken der Spyräen. Behutsam, als empfände sie ihr Eindringen in diese Stille nun fast als etwas Unerlaubtes, setzte sich die Frau auf den nächsten Baumstumpf am Waldrande, von wo sie nicht allein in das weite, beglänzte Land mit dem herrlichen Abschluss der im Duft schwimmenden Hügelkette hineinsah, sondern zugleich den Blick in das Dunkel des Heidenweges richten konnte, ein Gegensatz, der sie besonders schön dünkte. Auch ihr Dörfchen überblickte sie. Lieblich ruhte es auf seiner Terrasse, die die steile Bergflanke auf ihrem Sturz zu Tal wie eigens ihm zuliebe gebildet hatte. Deutlich gekennzeichnet traten zur Stunde die einzelnen Höfe hervor. Bescheiden, nur ihrem lebensnützlichen Zwecke dienend, die einen; üppig aufstrebend und beherrschend die anderen. Hier zeigte ein geschmackloser Anbau den Hang seiner Bewohner zu modernem, städtischem Aufputz, dort wies Verwahrlosung auf Moder und Zerfall. In einem andern wieder waltete rührende Ordnung und, ach, so bittere Armut. Schreckhaft aber und unheimlich erhob sich aus den Bäumen die dunkle Bedachung des Schlosses Wendlingen, des staatlichen Armenhauses und Altersheims. Vorbei die Zeit der Glorie stolzen Gebietens, ritterlicher Gepflogenheiten, kühner Liebesträume und -hoffnungen. Der rauheste, unbarmherzigste Alltag hatte sich hier eingenistet Schlurfend gingen Alter, Elend und Gebrechen durch die hohen Räume, wunderlichen Schicksalen und Existenzen gewährten sie letzte Zuflucht.

Indess, nicht um grausamen Wirklichkeiten nachzuhängen, war die Frau heraufgekommen. Sie hob den Blick und fühlte auch ihr Inneres überflutet von dem milden Licht, das ringsum die Welt erfüllte. Welche Nacht! So klar, doch ohne Sterne, denn der Mond überstrahlte sie und zog, ein einsamer Segler, durch sein ozeanblaues, unfasslich tiefes Meer.

Da, was war das? ... ein Rascheln und Knacken im Gebüsch und daraus hervorbrechend ein schwarzes Ungetüm ... Im nächsten Augenblick stand es hochaufgerichtet, mit den Vorderfüssen auf den Knieen der Frau, und zu Tode erschrocken blickte sie in Famulus wildes Gesicht.

»Unerhört! Einen so zu erschrecken,« sagte sie empört. Doch Famulus äusserte eine unbändige Freude. Er, der sonst wenig Mitteilsame, machte, mit der Pfote ausgreifend, fortgesetzt grüssende Bewegungen, so dass die Frau sich genötigt sah, ihr Gesicht mit dem Arme zu schützen, was auch sonst zweckmässig war, da Famulus in seinem begeisterten Ansturm auch den Versuch machte, ihr Stirn und Haare zu belecken. Plötzlich aber wurde er still und setzte sich vor die Herrin hin, seine in feuchtem Glanz schimmernden Augen zu ihr erhebend.

»Das nenne ich einen guten Einfall haben, Frau,« sagte er, »dass du, statt mich wegen meines Ausbleibens zu schelten, wenn ich heimkehre, selbst heraufkommst zu uns« –

»Zu uns,« dachte die Frau, »warum zu uns?« und es lief ihr kalt über den Rücken.

»Hier also muss man dich in Mondnächten suchen,« sagte sie und wunderte sich, nicht schon früher daran gedacht zu haben. War nicht just diese Atmosphäre das Lebenselement abenteuerlicher Schwärmer in der Art ihres Famulus? Ihre Bemerkung schien er nicht gehört zu haben. Eng an sie geschmiegt, sass er ihr zur Seite und blickte in den Wald hinein. Ein leichtes Vibrieren ging durch seinen Körper. Von Zeit zu Zeit erhob er sich behutsam und schlich ins Dunkel, erschien aber immer wieder bei der Herrin. Deutlich fühlte sie den Zwiespalt in seinem Innern: die Freude über ihre Anwesenheit war unverkennbar, doch beherrschte ihn noch ein anderes Gefühl. Was war es nur? Er hob abwechselnd die Vorderpfoten wie in grosser Ungeduld. Irgend etwas musste sich ereignen. Die Frau selbst fühlte sich aufs Höchste gespannt und die Erwägung, dass es an der Zeit wäre, heimzukehren, war verflogen. Jetzt wollte sie bleiben ...; denn weit mehr als Famulus' erfinderisches, lustiges Ränkespiel, als sein Humor und die Spiegelungen seines sprühenden Temperaments, mehr als das Wilde und Dämonische fesselte sie das Leise, Heimliche in dieses Tieres seltsamem Wesen.

Mitternacht – zögernd folgten sich die Schläge der Turmuhr. War es ein Strahl des Mondes, was da mit einem Male so sanft die dunkeln Tiefen des Heidenwegs erhellte? Noch vermochte die Frau es nicht zu erkennen. Aber dass die hohe Wölbung des Laubganges in mildes Licht getaucht erschien, war nicht zu bezweifeln. Sie atmete beklommen und legte die Hand aufs Herz. Um die Biegung, die an jener Stelle der Weg beschrieb, traten zwei jugendliche Gestalten, ein Mann und ein Weib. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, ruhigen Schrittes gingen sie neben einander her. Von Zeit zu Zeit blickten sie sich an wie Menschen, die eines Sinnes sind, die auf freier Höhe erlöst der umdüsterten Niederungen gedenken, denen sie entstiegen und des Weges, der ihnen nunmehr weder Qual noch Mühsal, nur noch gesegnete Erinnerung bedeutet.

Ja, es war der Blick des Mondes der ihnen folgte; nun sie sich näherten, gewahrte es die Frau. Doch wer waren sie, die der Strahl des Himmels so zärtlich umspielte? Sie schienen auf den Spitzen der Gräser zu schweben, so leicht war ihr Schritt. Da legte, wie von plötzlich aufsteigender Ahnung erfüllt, die Frau tastend ihre Hand auf Famulus' Stirne: »Famulus, mein Hund,« sagte sie beglückt lächelnd, »welch' eine Kraft geht von dir aus! – Nun lässest du mich gar mit deinen Augen sehen ... wer sonst vermag dies als ein Dichter? –«

Doch schon ist sie wieder in den Anblick der Erscheinungen vertieft »Nie sah ich reineren Glanz, als den Eurer Stirnen,« flüsterte sie. Und schmerzlich enttäuscht: »Oh weh, sie wenden sich dem unwegsamen Walde zu, sie werden mir entschwinden!« ... Doch nicht. Wie war das nur? Ohne sich zu trennen, schreiten sie dahin, durch jedes Dickicht, durch die mächtigen Stämme selbst der hohen Bäume hindurch, als wären sie nicht vorhanden ... »Frei ist der Weg allüberall für Totenschritt,« sagt leise die Frau und faltet die Hände.

Ihr zur Seite verfolgt Famulus mit derselben Gespanntheit den geisternden Schein im Walde.

»Sie ziehen ihn an, wie das Licht den Falter,« denkt sie. Und plötzlich fällt es wie Schuppen von ihren Augen. Famulus' philosophische Genügsamkeit, die Art Verzicht zu leisten, sich in sein Schicksal als Sonderling zu fügen und seine Vereinsamung hinzunehmen, sie ergaben nun ein wesentlich anderes Bild. Wer in Feierstunden solchen Umgang pflegt, kann sich des Alltags und seiner Enttäuschungen getrösten.

Ueber den dunkeln Weiher sieht sie jetzt die Geister schweben und ihre leuchtenden Spuren im schwarzen Gewässer verrieseln. Und was sie zuvor nicht gewahrte: ein mächtiger Bernhardiner schreitet dem lichten Paar zur Seite.

Sie kommen ...

Die Frau hält den Atem an, und leise auftretend entfernt sich Famulus, den Nahenden zu begegnen. Einen Blick noch hat er für die Herrin:

»Begreifst du nun, warum ich hier bin?«

»Die ihr in den Gärten wohnet,« stammelt die Frau und leise immer wieder, »in den Gärten« ...

Sie sieht, wie Famulus die ihm scheinbar längst vertrauten Gestalten stillfreudig wedelnd begrüsst. War es das milde Lächeln der Geister bei seinem Anblick, das den Leichterregbaren so geziemend massvoll stimmte? Wie durch Zauber hat sich seine Unruhe gelegt. So hold beugt nun das junge Weib sich zu ihm nieder, die nachtfeuchte, zerzauste Mähne streichelnd. Oh, dieses anmutvolle Neigen des umkränzten Hauptes, diese Hände, so schmal, so weiss.

Wie von unfühlbarem Hauch herangeweht, nahen sich die Geister. Die Frau hat sich erhoben. Sie hält den Kopf gesenkt, wie einer Segnung gewärtig, doch plötzlich erhebt sie hingenommen die Augen und sagt mit leiser, von innerem Drang bewegter Stimme:

»Oh, ihr seligen Geister! Die ihr aus dem Reich der ewigen Entfaltung wiederkehrt – wohl von der starken Stimme der Erinnerung gerufen – ihr Verklärten! Wie tief und innig berührt mich euer Erscheinen! Stillt es nicht höchsten Wunsch, nicht höchste Sehnsucht des Lebens? ...«

Sie hatte leidenschaftlich gesprochen und fühlte, wie es sich in den Tiefen ihrer Brust noch regte, um in Worten hervorzubrechen, doch der Blick der Geister berührte sie so seltsam, dass ihr die Stimme versagte und sie plötzlich verstummte. Was konnte sie diesen künden, das sie nicht wussten? Welche Saite an tönen, deren Klang sie nicht vernommen? – Ihr Auge war wie jener Zauberbrunnen, der wissend und unergründlich auch die Dinge spiegelte, die sich seiner Klarheit nicht unmittelbar enthüllten, auch das Ferne, Unsichtbare, weil er alles in sich begriff und umschloss. Doch weshalb dies Ergriffensein, das wie Heimweh über der Geister Antlitz glitt, als sie der Frau ansichtig wurden? Von schmerzlicher Sehnsucht schienen auch sie jetzt erfüllt. War es ihnen, den Ewigen, bestimmt, sich nach dem Zeitlichen zurückzusehnen, in dem die Menschen so inbrünstig das Unvergängliche erhofften? War denn dem Verlangen der Seele kein Ende? – Noch im Entschweben ruhte ihr Blick auf der Frau. Doch sie, die im Aufwallen des Herzens die Arme nach ihnen ausgebreitet hatte, liess sie plötzlich sinken. Es wurde mit einem Male ganz stille in ihr. Nur ein körperliches Gebundensein, wie wir es im Traume oft empfinden, fühlte sie noch –

Da drang vom Schlossturm her eine Mahnung durch die Nacht – ein Uhr. – Um Himmels willen! Taufeucht und fröstelnd erwachte die Frau aus ihren Gedanken. Sie tastete um sich. Noch sass sie da, am Heidenweg, Famulus dicht neben ihr wie zuvor, als hätte sich nichts ereignet. Verschwunden das hehre Paar, der Geisterhund, das gleitende Leuchten im Walde. Hurtig sprang sie auf.

»Schnell, schnell Famulus, ein Uhr! Bedenke doch – ein Uhr!« und sie lief so rasch sie konnte die Halde hinab dem Hofgute zu.

Als sie den alten, von hohen überwachsenen Mauern eingeschlossenen Garten durch eine kleine Gittertür betrat, ward sie von seiner leuchtenden Versunkenheit betroffen. Wie eine weitabgewandte, glückliche Seele ruhte er lichterfüllt und friedvoll in sich selber, vom zarten Duft des blühenden Catalpabaumes umschwebt.

Stimmen und helles Lachen liessen sich vernehmen, und die Frau eilte dem versteckten Sommerhäuschen zu. Wie sollte sie nur ihr langes Ausbleiben erklären?

Ja, man hatte sie vermisst und gesucht. Doch da war jemand auf die Vermutung gekommen, sie sei gewiss noch zu der Lehrersfamilie gegangen, wo jeweilen noch eine kleine Nachfeier stattfand und werde dort zurückgehalten. Und so bestimmt war dies angenommen worden, dass die Frau bei ihrer Rückkehr sich nicht einmal auszureden brauchte und nur schweigen konnte, was ihr lieb war, denn von ihrem traumhaften Erlebnis zu reden, wäre ihr nicht möglich gewesen.

Bald darauf wurde aufgebrochen. Doch ehe Mann und Frau sich zur Ruhe legten, öffnete sie noch weit die Fenster des gemeinsamen Schlafgemachs. Durch nichts wollte sie von dieser Nacht getrennt sein. Ungehemmt sollte ihr göttlicher Odem sie beide umströmen.

* * *

 


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