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Viertes Kapitel.
Mai in Udimore

1

Bobby vergaß den Einblick in die Elementarkräfte, den ihm die Tore des Verbrennungsofens gewährt hatten, gänzlich, denn solche Dinge bleiben für gewöhnlich nicht im Geiste haften. Sie beunruhigen das Leben. Doch kam ihm die Stimme des Geistlichen, wie er die Sätze des heiligen Paulus herunterleierte, und die Szene in dem Krematorium mit dem kleinen Sarge, der darauf wartete, in die Ewigkeit geschoben zu werden, und den wenigen, über die gelben Bänke verstreuten, schweigsamen schwarzen Leidtragenden sehr lebhaft in Erinnerung, als Paul Lambone jene bekannten Sätze über den Gegensatz des Verweslichen und Unverweslichen zu zitieren und hin- und herzudrehen und auf eigene Faust eine phantastische Philosophie zu entwickeln begann. Bobby hatte die Absicht gehabt, die Texte für den Begräbnisgottesdienst einmal langsam und kritisch nachzulesen, hatte es aber niemals getan und bereute das nun sehr. Er – und auch Paul von Tarsus – mußten sich jetzt auf Paul Lambone verlassen, und er wußte, daß Paul Lambone nichts mehr liebte, als geringfügige geistreiche Veränderungen an Zitaten vorzunehmen.

An einem sehr warmen, heiteren, stillen Maiabend saß Lambones Gesellschaft nach dem Abendessen in der Dämmerung da, einige noch im Hause, die anderen in Feldstühlen auf der Terrasse. Sie sahen über die Marsch nach dem ruhigen Meer hinaus. Der Himmel glich der Innenseite einer tiefblauen Kugel, auf welcher eine immer zunehmende Menge von Sternenpünktchen aufleuchtete; und Rye und Winchelsea kauerten geduckt darunter, schwarze, niedrige Klumpen, in denen sich hier eine Straßenlaterne, dort ein oder zwei Fenster winzig ausnahmen. Ein ganz hell erleuchteter Dampfer fuhr auf die See hinaus. Rasch und unablässig fegte der Strahl des näheren Leuchtturmes über das ferne Flachland, kam nahe, beleuchtete die Gesichter der Sprechenden, erhellte das Zimmer, rief einen Kirchturm und eine Baumgruppe ins Leben und ließ sie wieder in Dunkelheit versinken, vergaß sie und lief weiter. Und bald darauf wurde er aufs neue sichtbar, ein dünner weißer Lichtstreif, der in weiter Ferne über die Ebene jagte.

Wenn man die Gedanken von dem Gespräch abwandte, wurde man des Gesanges einer ganzen Schar von Nachtigallen gewahr. Sie waren kürzlich erst aus dem Süden gekommen. Eine oder vielleicht zwei saßen in den nächsten Bäumen; andere, in weiterer Entfernung, woben über das sichtbare Universum einen Flor zarter, süßer Klänge.

Bobby saß auf der Stufe zwischen dem Zimmer und der Terrasse gegen einen Pfeiler gelehnt, seine leere Kaffeetasse neben sich. Er hatte sich Christina Alberta zu Füßen gesetzt, die tief in einem großen Lehnsessel lag und ganz still war. Ihr Gesicht war nicht sichtbar, außer wenn ihre Zigarette aufglühte, deren rotes Licht ihre Züge ganz entstellte. Und doch war sie ihm an diesem Nachmittag das Vertrauteste auf der ganzen Welt gewesen; sie hatte ihn geküßt und an den Ohren gezogen, und er hatte ihre nackten Schultern geküßt und sie in seine Arme geschlossen. Auch Devizes war schweigsam und mit sich selbst beschäftigt. Er saß Christina Alberta gegenüber auf der anderen Seite der Türe zur Terrasse, und er war so tief in die Dämmerung gehüllt, daß Bobby, außer wenn der Strahl des Leuchtturmes sein Gesicht erhellte, nur seine glänzenden Schuhe und die Socken deutlich sehen konnte. Es hatte Zeiten gegeben, da Bobby dachte, Devizes sei in Christina Alberta verliebt, und er hatte ein unbestimmtes, unerklärliches Gefühl, daß auch sie Devizes bis zu einem gewissen Grade liebe oder doch einmal geliebt habe. Er merkte, daß es irgendwo noch unerforschte Tiefen in ihrer Beziehung zueinander gab, doch er wußte nicht, wo diese Tiefen lagen. Wenn Christina Alberta Devizes geliebt hätte, würde sie es gesagt haben. Bobby wußte nicht, aus welchem Grunde sie es nicht gesagt haben sollte. Aber heute hatte sie Bobby umarmt und geküßt, und es war also unmöglich zu glauben, daß sie irgend jemand anderen liebe.

Doch war sie in den letzten drei oder vier Monaten viel mit Devizes zusammen gewesen; Bobby hatte verfolgen können, wie ihr Geist durch die Gespräche mit diesem Manne beeinflußt wurde und sich veränderte. Sie pflegte ihn zu zitieren und Aussprüche zu tun, die den seinen auf ein Haar glichen. Bobby hatte unter diesen Beobachtungen sehr gelitten. Dann aber entdeckte er, daß Devizes nicht ihr Liebhaber war, ja es niemals gewesen sein konnte. Heute hatte sie das endgültig bewiesen. Und Bobby saß jetzt in einem Zustande zwischen Stolz und Demut zu ihren Füßen. Er saß zu ihren Füßen und ihr ganz nahe; Devizes in der Dunkelheit war weit weg, volle drei Meter entfernt.

Abgesehen von Lambones unbeirrbarem Redestrom war die Gesellschaft nicht gerade sehr gesprächig gewesen. Heute abend war sie es noch weniger denn je. »Es ist hier ganz überirdisch schön«, hatte Margaret Means geseufzt. »Ich kann nicht sprechen. Ich danke bloß Gott, daß ich lebe«, und hatte sich in ihren großen Liegestuhl auf der Terrasse geschmiegt. Sie war das Mädchen, welches Devizes zu heiraten gedachte, wie Bobby vor vierzehn Tagen in London erfahren hatte. Unvermutet war sie aufgetaucht, um das Dreigestirn, von dem Bobbys Einbildung besessen war, zu zerstören. Sie war süß, hübsch und überaus zart; in der Dämmerung schien sie so zart und duftend wie Nachtlevkojen; und sie spielte wundervoll Klavier. Den Abend vorher hatte sie zwei Stunden lang gespielt. Pauls Schwester, Fräulein Lambone, war von irgendwoher aus dem Westen Englands berufen worden, um das verlobte Paar gastlich zu empfangen. Bobby hatte versucht, mit Christina Alberta über Margaret zu sprechen. Christina Alberta aber wollte nicht. »Weißt du,« sagte Christina Alberta kurz, »sie hat ihm die Welt der Musik offenbart. Das hat die beiden zueinander gebracht. Sie ist gescheit; sie ist sehr hell im Kopf und gescheit.«

»Ich habe nie von ihr gehört – bis du ihre Verlobung erwähntest.«

»Sie sind oft miteinander in Konzerte gegangen. Er kennt sie schon viel länger als mich.«

»Wann hast du Devizes kennen gelernt?«

»Ungefähr damals, als Vati in die Midgardstraße kam. Erst vor so kurzer Zeit. Es ist kaum sechs Monate her. Paul Lambone führte mich zu ihm, damit ich mir wegen Vati Rat hole. Die beiden aber kennen einander schon über ein Jahr. Sie schienen bloß befreundet. Und ich glaubte, er wolle nicht wieder heiraten. Plötzlich aber entschloß er sich doch dazu.«

Christina Alberta dachte nach. »So ist es im Leben, Bobby. Die Dinge werden allmählich, und dann plötzlich entschließt man sich.«

»War sie unentschieden gewesen? Hat sie ihn warten lassen?«

»Nicht sie«, sagte Christina Alberta mit einer merklichen Härte in der Stimme.

»Nein,« sagte sie, » er entschied sich.«

Sie schien noch etwas ausdrücken zu wollen. »Er ergriff einfach die Gelegenheit.«

2

Dies war Bobbys zweiter Besuch in Udimore. Paul Lambone hatte es sich plötzlich in den Kopf gesetzt, diese Gesellschaft einzuladen, offenbar durch Devizes' Verlobung angeregt. In der Zwischenzeit hatte Bobby Christina Alberta ziemlich oft gesehen, und das Gefühl einer innigen Beziehung zu ihr hatte sich ins Ungeheure gesteigert. Es füllte sein ganzes Leben aus. Seit der Zeit, da er sie sich mit blauen Augen, als überzartes Wesen vorgestellt hatte, hatte er immer wieder alles mögliche von ihr geträumt, doch was sie in Wirklichkeit war und tat, zerriß alle seine Träume immer wieder in Fetzen. Das machte sie ihm über alle Maßen interessant. Sein Interesse beschränkte sich immer mehr auf sie allein. Er wollte sie heiraten, wenn auch nur, damit er sie nicht verlieren könne. Sie hatte ihn abgewiesen – schon zweimal. Ganz ohne die bei solchen Anlässen übliche Ziererei. »Keine Spur, Bobby,« sagte sie, »das wäre nichts. Ich bin nicht die Frau, für die du mich hältst.«

»Das seid ihr niemals«, sagte er. »Das macht mir nichts.«

»Du bist mir der liebste Gefährte«, sagte sie. »Und deine Haare gefallen mir sehr.«

»Dann mach' sie zu deinem Besitz und uns zu Gefährten fürs Leben!«

»Nichts wäre schrecklicher«, sagte sie und ließ damit den Vorschlag fallen.

Sie verbrachten den größten Teil ihrer freien Zeit miteinander, von jenen betrüblichen Malen abgesehen, da sie ihn plötzlich verabschiedete, um mit Devizes ins Theater zu gehen oder einen Spaziergang mit ihm zu machen. Oder ihn zu besuchen und mit ihm zu plaudern. Sie zögerte niemals, ihn um Devizes' willen zu verabschieden. Trotzdem sah Bobby sie recht viel. In Bezug auf Theater, Varietés, Restaurants, Tanzdielen und dergleichen kannte sich Christina Alberta nicht sehr gut aus, während Bobby darin entschieden Sachverständiger war. Die Malmesburys fühlten sich vernachlässigt, und Suschen war von rachsüchtigem Zorn gegen Bobby erfüllt, weil er bei ihren Ritualen zur Schlafenszeit meistens fehlte. Tessy sei, so erklärte Bobby, nach wie vor seine beste Freundin; wenn er aber versuchte, ihr nach ur-uraltem Brauch alles, was ihn betraf, zu erzählen – was er immer dann tat, wenn Christina Alberta mit Devizes zusammen war –, mußte er naturgemäß viel von Christina Alberta sprechen. Tessy aber lehnte es in höchst auffälliger Weise ab, von Christina Alberta zu hören. Es war Bobby völlig unverständlich und überraschend zu sehen, wie unfähig Tessy dazu war, die Eigenart und den Reiz Christina Albertas zu würdigen. Sie schien anzunehmen, Christina Alberta sei nicht origineller als sie selbst, während Christina Alberta in Wirklichkeit doch viel origineller war. Das entfremdete Bobby und Tessy einander sehr, zum großen Leidwesen Bobbys.

Denn Christina Alberta war ein besonderes Geschöpf – das stand fest. Ihr Geist entwickelte sich in letzter Zeit mit unheimlicher Schnelligkeit, ihr Wissen nahm zu. So oft er sie traf, schien sie mehr an Persönlichkeit, an reichen, kräftigen, maßgebenden Ideen gewonnen zu haben. Jeden Augenblick ihrer Zeit schien sie voll zu durchleben. Sie arbeitete jetzt am Royal College of Science bei Macbride. Sie gab sich dem Studium mit unglaublichem Enthusiasmus hin. Sie hatte sich in vergleichende Anatomie verliebt. Bobby hatte immer gedacht, vergleichende Anatomie sei trockenes, pedantisches Zeug über Knochen, sie aber erklärte, ihr erhelle diese Wissenschaft die ganze Entwicklungsgeschichte des Lebens. Ihre Ansichten über die Welt und sich selbst seien völlig umgestaltet worden. ‹Es ist das romantischste Zeug, worüber ich jemals gelesen oder nachgedacht habe›, sagte sie. ‹Die Weltgeschichte erscheint daneben albern.›

Dreimal nahm sie ihn ins naturhistorische Museum in South Kensington mit, um ihm einiges von den feinen Entdeckungen zu zeigen, die ihren Geist so sehr beschäftigten. Sie machte ihm klar, wie einem die Knöchelchen eines Flügels oder die Ritzen auf einem Feuerstein Stürme, Sonnenlicht und Leidenschaften von Millionen von vergangenen Jahren nahebringen könnten.

Eines Tages jedoch – es war nun eine Woche her – hatte Christina Alberta plötzlich eingewilligt, Bobby zu heiraten. Sie nahm ihre beiden Körbe zurück. Doch wie sie es tat, war so überraschend und verblüffend, wie alles andere, was sie tat. Sie machte ihm ein Geständnis, welches Bobby eine Zeitlang, bis er es sich gründlich überlegt hatte, ihre Ablehnung vollständig zu rechtfertigen und auch alles andere zu erklären schien.

Sie forderte ihn auf, mit ihr nach Hampton Court zu fahren. Doch sie gingen nicht in den Garten, denn sie sahen durch die Parktore, daß die Kastanien in der Bushey-Avenue in voller Blüte standen; sie gingen daher um den Teich herum und weiter unter den in verschwenderischer Pracht blühenden Zweigen hin. Der Frühling hatte sich verspätet und kam jetzt, warm und leuchtend, mit Macht. Die Bäume waren herrlich. Es war, als ob ein hellgrünes Meer unter einem Schauer von Kanonenschüssen warmen, sonnigen Schaum aufspritzte. Der blaue Himmel summte von Licht.

»Der Frühling ist jetzt, da er einmal zu kommen angefangen hat, rasch gekommen«, sagte sie.

Er fühlte, daß sie etwas sagen wollte, und wartete.

»Ich weiß nie, Bobby, – dies Jahr weniger denn je – ob der Frühling die glücklichste Zeit im Jahre ist oder eine niederträchtig ruhelose. Alles verliebt sich.«

»Ich habe damit nicht auf den Frühling gewartet«, sagte Bobby.

»Aber was ist mit den Fröschen, die kein Wasser finden können?« sagte Christina Alberta.

»Wo Frösche sind, gibt's auch Wasser«, sagte Bobby.

»Jedermann heiratet und läßt sich heiraten«, sagte sie. »Ich glaubte – ich glaubte – Doktor Devizes wenigstens sei ein untröstlicher Witwer. Aber der Frühlingsrausch hat auch ihn erfaßt. Er packt jeden.«

»Hat er dich auch gepackt?«

»Ich weiß nicht. Mir ist elend, Bobby, ich bin so ruhelos und ganz aufgewühlt.«

»Gib deinen Gefühlen nach.«

»Es ist einem so bange – allein.«

»Aber bist du denn allein?«

»Ziemlich.«

»Ich bin doch da!«

»Lieber Bobby, was suchst du eigentlich in mir?«

» Dich. Ich möchte bei dir sein. Immer um dich sein. Und von dir geliebt werden.«

»Du hast ein gutes Herz.«

»Ach Unsinn! Ein gutes Herz!«

»Höre, Bobby«, sagte sie, und dann machte sie eine lange Pause.

Als sie wieder zu sprechen anfing, hatte ihre Stimme den leichten Ton einer zufälligen Unterhaltung wiedergewonnen. »Glaubst du an Keuschheit, Bobby? Könntest du ein Mädchen lieben, das nicht – keusch ist?«

Bobby fuhr zusammen, als hätte sie ihm einen Peitschenschlag ins Gesicht versetzt. Er wurde blaß. »Was willst du damit sagen?« fragte er.

»Es ist nicht schwer zu verstehen«, sagte sie.

Eine Zeitlang sprach keiner von ihnen ein Wort.

»Du hast doch wohl auch deine Erfahrungen gemacht«, sagte sie schließlich. »In Frankreich. Wie alle andern.«

Bobby antwortete darauf nicht.

»Jetzt weißt du es also«, warf sie ihm an den Kopf.

Bobby war es eine kleine Weile schwarz vor den Augen.

»Hast du den Mann geliebt?« fragte er.

»Ich weiß nicht mehr. Es war bloß – Neugierde. Und das Verlangen meiner erwachenden Sinne. Und die Lust nach Verbotenem. – Nein – ich glaube, ich blieb beinahe ganz kalt. Sein Äußeres hat mir gefallen. Und nachher konnte ich ihn nicht leiden ... Aber es ist nun einmal geschehen, Bobby.«

Bobby wog seine Worte. »Bei jedem anderen Mädchen würde ich mich daran stoßen. Aber du – mit dir ist es anders. Ich liebe dich. Was du getan oder nicht getan hast, ist einerlei. Oder bedeutet doch nicht viel.«

»Bist du sicher, daß es nicht viel bedeutet?«

»Ja, ganz sicher.«

»Ganz sicher – für alle Zeit?«

»Ja.«

»Von diesem Augenblick an vergißt du, beginnst du zu vergessen, was ich dir gesagt habe? So, wie ich es vergessen will?«

»Es wird bald genug vergessen sein, wenn du es wirklich willst. Es ist überhaupt gleichgültig. Ich merke jetzt, es ist völlig gleichgültig.«

»Aber warum in aller Welt willst du mich heiraten, Bobby? Was ist denn an mir? Ich bin häßlich, roh, genußsüchtig, unüberlegt. In mir ist keine Reinheit, keine Demut.«

»Du bist ungemein interessant. Du bist aufrichtig, lebhaft und unendlich schön.«

»Bobby, findest du das im Ernst?«

»Ja. Zeigt dir nicht mein Benehmen –? Weißt du denn nicht ...?«

»Ja,« sagte sie ernst, »ich glaube, ich weiß es.«

Sie blieb vor ihm stehen, die Arme in die Seiten gestemmt. Sie sahen einander an, und in Bobbys Gesicht zuckte es, als ob er zu weinen anfangen wollte. Sie machte ein ernstes und verwirrtes Gesicht, dann aber, beim Anblick seiner Miene begann sie zu lächeln. Ihr Ernst schwand. Sie wurde eine andere Christina Alberta. Sie war plötzlich das lustigste Ding, das man sich vorstellen konnte, zutraulich und keck.

»Wenn du mich jetzt küßtest, Bobby, hier auf der Stelle, im Bushey-Park, würde man uns einsperren? ...«

Es war ein wunderbares Glück für Bobby, sie in die Arme nehmen zu dürfen. Eine neue Christina Alberta offenbarte sich ihm; Christina Alberta aus etwa einer Spanne Entfernung gesehen, eine erstaunlich schöne Christina Alberta. Man hätte denken können, daß sie niemals für etwas anderes gelebt hatte, als dafür, von Bobby geliebt zu werden.

»Du lernst ja«, sagte Christina Alberta nach einer kurzen Weile. »Küß mich noch einmal, Bobby. Es scheint niemand zuzusehen ...«

3

Weder Lambone noch Devizes hatten Verwunderung über Christinas Verlobung an den Tag gelegt. Vielmehr war es fast unerträglich gewesen zu sehen, wie sehr sie das Ereignis als natürliche Erfüllung ihrer Erwartungen hinnahmen. Das junge Paar war mit Devizes und Fräulein Means unter dem ansehnlichen Schutze Fräulein Lambones nach Udimore gekommen: Man behandelte die beiden, als ob sie vom Beginn aller Tage für einander bestimmt gewesen wären.

Doch sollte Bobby in Udimore weitere Überraschungen erleben. Den ganzen Sonnabend schien Christina Alberta weniger in ihn verliebt als überaus schlechter Laune zu sein. Sie schien sich weit mehr um die Tatsache zu kümmern, daß Devizes Fräulein Means zu heiraten im Begriffe war, als um die hingebungsvolle Liebe, die Bobby an sie zu verschwenden gedachte. Sie schenkte seinen verschiedentlichen kleinen Manövern, die alle darauf hinzielten, mit ihr allein zu sein, keine Aufmerksamkeit. Nach dem Tee spielten die beiden Paare miteinander Tennis, bis es Zeit war, sich für das Abendessen umzuziehen; Christina Alberta war ganz außer Übung und spielte wider alle Regeln, während Margaret sich mit einer Gewandtheit und Grazie bewegte, die Christina Albertas schlechte Laune auf den Gipfel trieb, was der feinfühlige Bobby bald nur zu deutlich merkte. Es schien Bobby, als ob auch Devizes ihr Mißmut auffalle. Fräulein Means aber war glücklicherweise für alles in der Welt außer Devizes blind.

Am Sonntagmorgen schleppte Christina Alberta unter dem fröhlichen Geläute ferner Kirchenglocken Bobby auf einen Spaziergang nach Schloß Brede. Und sie kündigte Bobby an, daß sie nicht die Absicht habe, ihn zu heiraten.

Bobby protestierte: »Liebst du mich denn nicht?«

»Hab' ich dich nicht geküßt? Hab' ich dich nicht umarmt? Hab' ich dich nicht an den Haaren gezaust?«

»Warum willst du mich dann nicht heiraten?«

»Ich will niemanden heiraten. Ich hab' niemanden gern. Außer natürlich dich. Aber auch dich kann ich nicht heiraten. Ich will geliebt werden, Bobby, ja, aber nicht geheiratet.«

»Aber warum denn? Etwa wegen – aus dem alten Grund?«

»Nein. Da hab' ich ja dein Wort. Aber trotzdem will ich dich nicht heiraten, Bobby ... Ich glaube, es ist, weil ich an niemandes Leben gebunden sein will. Ich will nicht Gattin sein. Ich will mein eigenes freies und unabhängiges Ich sein. Ich muß noch wachsen, Bobby, das ist es. Ich will frei wachsen können.«

Bobby versuchte neuerlich Einspruch zu erheben.

»Ich will niemanden haben, der immerfort beobachtet, wie ich wachse. Du würdest mir immerfort zusehen, Bobby; ich weiß, daß du das tun würdest.«

Es schien Bobby sinnlos, ihr zu widersprechen. Er wußte, daß sie recht hatte.

»Ich wußte nicht, daß es mich so packen würde. Erst als ich mich entschlossen hatte, dich zu heiraten, wußte ich's. Ich wollte dich wirklich heiraten, damals als ich zustimmte – wirklich und wahrhaftig. Ich wünschte damals ganz schrecklich, mich an jemanden zu schmiegen, so nah' wie nur möglich, und geküßt zu werden und Ruhe zu finden. Es war mir ein solcher Trost, Bobby. Du bist mir ein Trost. Ich würde krank werden vor Sehnsucht ohne dich. Aber wie nah kommen wir uns, wenn wir lieben, Bobby, und wie weit auseinander sind wir die ganze übrige Zeit! Wie können wir denn einander kennen, wenn wir uns kaum selbst kennen? Wenn wir es nicht wagen, uns selbst zu kennen?

Du bist so lieb, Bobby. Du bist so warm und freundlich, daß ich mich dir mit beiden Händen schenken möchte. Aber das ist es just, was ich nicht kann. Vielleicht bin ich keine normale Frau. Oder irgend etwas ist mir ohne mein Wissen zugestoßen. Vielleicht hat mich das Leben um irgend etwas betrogen ... Ach, ich weiß nicht, Bobby. Ich brauche jemanden, ganz schrecklich. Ich brauche dich ganz schrecklich, und ich brauche dich überhaupt nicht. Ich würd' lieber sterben, als solch ein – solch ein Weibchen sein wie Margaret Means. Wenn Heiraten darauf hinausläuft –!«

»Aber ich hätte geglaubt –« sagte Bobby. »Nach allem, was geschehen ist –«

»Nein!«

»Ich will zehn Jahre auf dich warten,« sagte Bobby, »in der Hoffnung, daß du deine Meinung änderst.«

»Du bist der liebste Tröster«, sagte Christina Alberta und brach ab ...

Und plötzlich hatte sie die Arme um seinen Nacken geschlungen, hängte sich an ihn und brach in wilde, leidenschaftliche Tränen aus.

»Jetzt mach' ich dich ganz naß, anstatt dich zu heiraten«, schluchzte sie und lachte. »Ach, mein armer Bobby! Du Lieber, du!«

Sie hing eine Zeitlang an ihm. Dann machte sie sich los, und vor ihm stand, sich die Augen trocknend, jene Christina Alberta, wie er sie sonst kannte, bis auf die Tränenspuren in ihrem Gesicht.

»Wenn die Frauen ihre Gefühle nicht besser beherrschen können,« sagte sie, »dann müssen sie in den Harem zurück. Entweder oder. Aber ich will dich nicht heiraten. Es gibt keinen Mann in der Welt, den ich heiraten kann. Ich will eine freie, unabhängige Frau sein, Bobby. Von jetzt angefangen.«

»Aber ich verstehe nicht!« sagte Bobby.

»Nicht daß ich nicht will, daß du mich liebst.« Er war starr. » Bobby!« flüsterte sie und schien zu glühen.

Bobby nahm sie wieder in die Arme und hielt sie fest, preßte seine Wangen gegen ihre und küßte und küßte sie; und es schien ihm nur wieder für seine eigene Unwürdigkeit bezeichnend, daß er in einem solchen Augenblicke denken konnte, es gebe doch keine wundervolleren Küsse, in der Welt als solche, die mit salzigen Tränen gewürzt sind.

Und doch würde sie ihn nicht heiraten. Sie hatte sich von ihm losgemacht, und nichtsdestoweniger lag sie in seinen Armen.

Er war über das, was geschehen war, ungeheuer bestürzt, doch sah er, daß das Ende ihrer Verlobung nicht das Ende ihrer Liebe war. Die Liebe blieb bestehen. Es war ja auch offenbar die Zeit für Liebe. Der hohe Mai regierte die Welt. Um sie herum standen Weißdornbäume in voller Blüte und große Holunderbüsche, deren Knospen eben aufsprangen.

4

Bobby saß mit seinen Freunden in der Abenddämmerung und dachte über alles nach, was ihm heute begegnet war, dachte an Christina Albertas salzige Tränen und an ihr seltsames, aufreizend rätselhaftes Wesen. Er war noch immer äußerst bestürzt, sah aber jetzt alles großzügiger, gefaßter und ruhiger an. Christina Alberta und er sollten also nicht heiraten, schien es; nichtsdestoweniger hatte er sie geküßt und umarmt, und es war ihm erlaubt, ihr zu Füßen zu sitzen. Die andern hier sollten zunächst nicht erfahren, daß aus der Heirat nichts werden würde; diese Demütigung sollte ihm vorläufig erspart bleiben. Er sagte nichts. Seine Gedanken und Gefühle waren jenseits von Worten. Christina Alberta hatte sich ebenfalls in dunkles Schweigen gehüllt. Jeder schien ganz mit sich selbst beschäftigt. Das Gespräch suchte sich eine Zeitlang an der Aussicht, den Sternen und dem Kommen der Nachtigallen, an Zugvögeln und Leuchttürmen zu erhalten, erstarb aber bald völlig.

Allen war das Herz zu voll, um zu sprechen. Das Schweigen dauerte an. Bobby fragte sich, was geschehen würde, wenn niemand mehr etwas sagte. Er dachte an Christina Alberta dicht hinter sich, und zitternde Unruhe bemächtigte sich seiner. Das Schweigen wurde bedrückend. Es war ihm, als ob er seine Stellung nicht mehr verändern könnte. Niemand rührte sich. Endlich rettete Lambone die Situation.

»Heute sind es genau sechs Monate, her, daß Sargon starb«, sagte Lambone. Er hielt inne, und schien eine unausgesprochene Frage zu beantworten. »Wir wissen nicht genau, wann er gestorben ist. Er verschied in der Nacht.«

»Ich hätte ihn so gerne gekannt«, sagte Margaret Means nach einer langen Pause.

Bobbys Gedanken wandten sich Sargon zu. Diese schweigsame junge Frau, die hinter ihm in der Dunkelheit saß, hörte auf, seine Gedanken zu beherrschen. Er fühlte sich zu sprechen getrieben und mußte sich erst räuspern, um die Kehle frei zu bekommen.

»Ich mag nicht daran denken, daß er verbrannt und in alle Winde verstreut ist«, sagte er.

»Das ist nicht so bedrückend wie der Gedanke an einen Leichnam, der, im Sarge eingeschlossen, verfault«, sagte Fräulein Lambone.

»O, hören Sie auf!« rief Bobby. »Es ist der Tod – jeder Tod, an den zu denken, ich hasse. Jetzt, da es Frühling ist, da die ganze Welt voll Leben ist, erinnere ich mich an alles, was er war, an die Hoffnungen, die er hegte, und die nun verstreut und verweht sind. Immerhin, sie sind verstreut und verweht, nicht eingeschachtelt, eingesperrt und begraben ... Als ich ihn das letzte Mal sah, war er ganz wie ein kleiner Junge, der eben zum erstenmal von der Welt hört. Er wollte fliegen, nach Indien und China reisen, alles, alles lernen und dann große Taten vollbringen. Aber da saßen die niederträchtigen Bakterien in seiner Lunge und brachen seine Kräfte, und nichts von alldem sollte jemals wahr werden – Als ich erfuhr, daß er tot sei, konnte ich es nicht glauben.«

» Ist er denn tot?« fragte Paul Lambone.

Darauf konnte man keine Antwort geben.

Paul legte seine Schulterblätter noch ein bißchen bequemer an die Lehne des kleinen tiefen Sofas, auf dem er saß, zurecht. »Je mehr ich an Sargon denke, desto weniger tot erscheint er mir, und desto wichtiger wird er. Ich kann Ihnen nicht zustimmen, Roothing. Mich dünkt sein Leben nicht sinnlos. Er war – symbolisch – vollkommen. Ich habe unendlich viel über ihn nachgedacht.«

»Und unendlich viel über ihn geredet«, sagte Devizes.

»Und dir einige sehr gute und nützliche Ideen für deine Behandlung geliefert. Sei nicht undankbar. Du glaubst, daß Sargon dahin sei. Er hat eben erst angefangen. Du siehst die Welt nur vom Standpunkte deines Berufes aus, Devizes. Du beschäftigst dich mit einem Fall, arbeitest ihn durch, und dann streichst du ihn aus deinem Geiste. Du verfolgst ihn nicht weiter, um daran zu lernen. Du sitzt nicht stundenlang da, wie ich, um darüber nachzudenken. Ich denke ohne Unterlaß über Sargon nach. Ich beschäftige mich weiter mit ihm, weil er für mich noch immer ein lebendiges Wesen ist. Er hat mir eine neue Religion gebracht, die Religion des Sargonismus. Ich verkünde ihn als Propheten einer göttlichen Offenbarung. Es ist meine allerneueste Religion. Es wird immer neue Religionen geben, und die neuen Religionen werden immer die einzigen sein, die von Bedeutung sind. Religion ist etwas Lebendiges, und was lebendig ist, muß beständig sterben und immer wieder neu geboren werden – anders, aber im Grunde dasselbe.«

»Sie glauben an Unsterblichkeit, Herr Lambone«, sagte Fräulein Means. »Ich wünschte, ich könnte das. Aber wenn ich versuche, sie mir vorzustellen, läßt mich meine Einbildungskraft im Stich. Manchmal glaubt man zu fühlen, wie es vielleicht sein könnte. In einer Nacht wie diese etwa –«

Ihre hübsche, klare Stimme erstarb in der Stille, wie der Schweif eines fallenden Sternes verblaßt.

Paul, ein riesiger schwarzer Fleck auf dem dunklen Sofa, fuhr fort zu sprechen. »Unsterblichkeit«, sagte er, »ist ein Mysterium. Man kann nur in dunklen Metaphern darüber sprechen. Wie könnten wir glauben, daß jedes individuelle, alltägliche Leben eine endlose alltägliche Fortsetzung finden werde? Das ist Unsinn. Trotzdem aber leben wir nach dem Tode weiter. Wenn wir sterben, verändern wir uns. Alle weisen Lehrer haben daran festgehalten. Wie Roothing sagte, wir werden nicht eingeschachtelt, begraben und vergessen. Unser leiblicher Tod ist eine Verwandlung. Wir verwandeln uns und werden – wie sagten Sie? – in die Winde verstreut. Das unsterbliche Leben besteht in der unaufhörlichen Aufeinanderfolge. Unser Leben ist wie eine Zeile in einem großen Gedicht. In einem unvollendeten und doch vollkommenen Gedicht. Die Zeile beginnt und endet, aber sie muß da sein, und wenn sie einmal da ist, so ist sie ewig da. Nichts könnte nachher kommen, wenn sie nicht da wäre. Doch nicht jeder Stern hat dieselbe Klarheit. Einzelne Existenzen, einzelne Zeilen stehen bedeutungsvoller da als andere. Sie eröffnen eine neue Seite des Gegenstandes, sie beginnen mit einem neuen Gesichtspunkt, sie geben etwas Neuartigem Ausdruck. Dies sind die Genies, Propheten, Fixsterne. Sargon war der letzte, jüngste dieser Propheten, und ich bin sein Paulus. Nicht umsonst ward ich Paul getauft.«

»Paulus von Tarsus«, sagte Devizes, »war ein Mann von Energie.«

»Es wird immer geringfügige Verschiedenheiten in solchen Parallelen geben«, sagte Lambone.

»Ich will euch meine Lehre verkünden«, sagte er dann.

Er begann mit der klaren Miniaturstimme, die wie eine kleine Maus aus dem Berg seines Körpers herauslief, von Sargon und dessen Kämpfen mit seiner eigenen Individualität zu sprechen, von den Kämpfen zwischen dem individuellen und dem höheren Leben, die jedermann auszufechten hat. Über dem, was er sagte, lag ein Schimmer von Phantasie, in dem beständigen Gebrauch theologischer und religiöser Phrasen ein Hauch von Lächerlichkeit und zugleich auch tiefer Ernst. In jedem menschlichen Wesen, so erklärte er, kämpfe der kleine Wäschereibesitzer mit dem König der Könige. Über dieses Thema verbreitete er sich weitläufig. Immer wieder fiel ihm Devizes in die Rede und sprach eine Zeitlang, nicht so sehr um Einwand zu erheben, als um zu wiederholen, zu verbessern und zu erläutern. Die übrigen sagten wenig. Margaret Means ließ zweimal weiche, süße Töne intellektueller Empfindsamkeit hören, und Christina Alberta sagte einmal sehr laut ‹Aber –!› und dann ‹Nichts, nichts. Weiter›, und zog sich darauf für lange Zeit in ein recht fühlbares Schweigen zurück. Bobby saß still und hörte manchmal aufmerksam zu, manchmal breitete sich sein Geist wie ein ungezügelter Strom in verschiedene parallele Gedankenarme aus. Das behandelte Thema war interessant genug, um verfolgt zu werden, aber daneben tauchte immer wieder die Frage nach der Ehrlichkeit des Sprechers auf. Wieviel von dem ganzen Zeug glaubte Lambone selbst? Wieviel von dem, was er sagte, reimte sich mit seinem beschaulichen, unerhört bequemen Leben zusammen, mit seinem Leben, das als ein humoristischer Kommentar zu einem äußerst absurden Weltall aufgefaßt werden konnte?

Wie billig Lambone mit Phrasen und Ideen herumspielte, für die Menschen gelebt hatten und gestorben waren! Wie viel er gelesen und gedacht haben mußte, um so vielerlei vorbringen zu können! Er erweckte den Eindruck größter Gelehrsamkeit. Die elf Bände der großen Religionsgeschichte ‹The Golden Bough› schien er in den Fingerspitzen zu haben. Er sprach über die sakramentalen Mysterien verschiedener Kulte, vom Mithraismus bis zu den rituellen Opfern, über die wechselnden Ideen der Persönlichkeit, die das menschliche Leben von Fidschi bis Yukatan beherrscht und gefesselt hatten. Jetzt war er im vorchristlichen Alexandrien, jetzt mitten unter den chinesischen Philosophen. Die ‹überlegene Person› des Konfuzius, erklärte er, sei bloß wieder ein Beispiel für unsere Vorliebe, chinesische Ausdrücke so lächerlich wie möglich zu übersetzen; es bedeute in Wirklichkeit den ‹höheren und größeren Menschen›, den ‹universalen Menschen›, mit welchem der untergeordnete, egoistische Mensch verschmelze. Es sei dasselbe wie die Erlösung des Erweckungspredigers; es sei der ‹geistige Mensch› des paulinischen Christentums. Wenn der verstorbene Herr Albert Eduard Preemby sein ganzes kleines Selbst in die Persönlichkeit Sargons, des Königs der Könige, ausgegossen habe, so habe er damit nur wiederholt, was Heilige und Mystiker, Religionslehrer und Fanatiker durch alle Jahrhunderte getan haben. Er sei einfach der ‹Meister› unter dem Bo-Baum gewesen, in den Dialekt von Woodford Wells übertragen.

Darauf ergriff Devizes das Wort. Devizes bildete einen starken Kontrast zu Lambone. Er sprach eine andere Sprache. Er schien Bobby nicht halb so klar und gescheit wie Lambone, aber sein Ernst und die Stichhaltigkeit seiner Überzeugungen riefen einen Eindruck hervor, der bei Lambone vollkommen fehlte. Seine Einmischung ließ alles, was Lambone sagte, als wilde, pittoreske Parodie auf etwas erscheinen, das eigentlich nicht auszudrücken war. Sowohl er als Lambone warfen gleichsam Wortnetze nach einer Wahrheit aus, die ihnen doch immer wieder entglitt. Und diese so unklare und undeutlich begriffene Wahrheit war für jeden der beiden das Wichtigste im Leben.

»Räumt man das theologische Sattelzeug weg,« sagte Devizes zu Lambone, »so besteht deine neue Religion einfach in folgendem Bekenntnis: daß unsere Rasse ein Maximum von Individuation erreicht hat und diese jetzt im Abnehmen begriffen ist. Daß sie jetzt auf Synthese und Zusammenarbeit hinsteuert. Sie wird zu dem zurückkehren, was du Sargon, den großen Herrscher genannt hast, und wird in der Verfolgung gemeinnütziger Ziele die individualistischen, egoistischen Menschen verschlingen. Wie es jetzt schon wissenschaftliche Arbeit tut. Oder gute Verwaltungsarbeit. Oder die Kunst. Das willst du sagen.«

»Ganz richtig«, sagte Paul Lambone. »Wenn wir in deiner Sprache sprechen müssen, Devizes, und nicht in meiner. Kunst, Wissenschaft, öffentliche Stellungen, schöpferische Tätigkeit jeder Art sind Teile dessen, was du, vermute ich, den Rassengeist nennen würdest, Teile des Rassenlebens. Jeder Mensch, der etwas leistet, ist ein neuer Gedanke, eine neue Idee. Er ist zwar er selbst, das ist wahr, aber seine Bedeutung liegt darin, daß er aus der Vergangenheit und aus seiner Umgebung kommt und für die nächsten Menschen weiterlebt. Dies ist die neue Erkenntnis, die alle Wertung im menschlichen Leben umgestaltet. Überall. Schon heute kann man diesen Gedanken in Büchern und Schriften finden. Weltgeschichte wird jetzt wichtiger als Biographien. Was in der romantischen Vergangenheit das ganze Leben ausmachte – die Liebesgeschichte, die Karriere, das Vorwärtskommen, sich ein Vermögen erwerben, die persönliche Leistung und der Sieg, die Opfer für einen individuellen Freund oder Führer oder eine Geliebte – es macht heute nicht mehr das ganze Leben und manchmal sogar nicht einmal das leitende Interesse am Leben aus. Wir gelangen zu einer neuen Lebensweise, einer neuen Lebensauffassung, zu neuen Relationen. Die Welt, die sich eine Zeitlang nicht mehr zu verändern schien, verändert sich sehr rasch ... in ihrer geistigen Substanz.«

»Neue Menschen«, sagte Bobby leise vor sich hin, gab es auf, Lambones deutlicher kleinen Stimme zuzuhören, und ging zu einer endgültigen Rekapitulation der wunderlichen Dinge über, die Christina Alberta heute gesagt und getan hatte.

5

Durch eine Bewegung in dem Stuhle hinter sich wurde Bobby wieder zu dem Gesprächsthema zurückgeführt.

Lambones weiche Stimme erklärte eben: »Sodaß es also nicht so sehr auf das ankommt, was wir erreichen, wie auf das, was wir leisten. Jenes heißersehnte persönliche Leben, um dessen Erfüllung, Ehre, Glanz und Vollkommenheit willen Männer und Frauen schwer kämpften, verschwindet hiermit von der Bildfläche. Worauf es immer mehr und mehr ankommt, das ist das Werk, das man vollbringt. Immer weniger kommt es auf unsere persönliche Romantik und unsere persönliche Ehre an. Oder besser gesagt, unsere Ehre wird in unser Werk übergehen. Unsere Liebeserlebnisse, unsere Neigungen und privaten Leidenschaften werden immer entschiedener hinter unsere wissenschaftliche Tätigkeit oder was immer unsere Funktion sein mag, zurücktreten. Mit unseren Gefühlserlebnissen, unserem Ruhm und unserer Ehre werden wir auch unsere Laster unterdrücken. Es gab eine Zeit, in der die Menschen um eines prächtigen Grabsteines willen, oder um ein herrliches großes Andenken zu hinterlassen, lebten; bald wird es einem Manne und seinem Werke nichts mehr bedeuten zu wissen, daß er vielleicht im Straßengraben sterben wird – unverstanden von der Welt. Solange er nur sein Werk vollendet.«

»Ohne daß ihn ein jüngstes Gericht rechtfertigt«, sagte Devizes.

»Darum wird er sich nicht im geringsten kümmern.«

»Ganz richtig. Manche von uns beginnen sogar jetzt schon, so zu denken.«

»Selbst wenn man nichts getan hat, was der Rede wert wäre,« sagte Paul Lambone und tat einen schwachen Seufzer, wie einer, dem es eben gelungen ist, ein ziemlich schwieriges und unsicheres Kartenhaus zu krönen; »selbst wenn Sargon, ohne befreit zu werden, in seinem Spital gestorben wäre und die ganze Welt ihn für verrückt gehalten hätte, würde er doch frei geworden sein, seine Vorstellungskraft würde die Vorstellungskraft des höheren Lebens geahnt haben.«

Es folgte eine Pause der Erbauung und dann ein Seufzer der Befriedigung von Fräulein Lambone. Sie verstand nicht das geringste von dem, was ihr Bruder sprach, aber sie betete ihn an, wenn er sprach. Niemand, fand sie, habe jemals wie er geredet, oder könne überhaupt wie er reden. Seine Stimme war so klar und hell, wie der deutlichste Druck. Nur manchmal wünschte man, eine Brille zu haben.

Doch jetzt sollte Fräulein Lambone einen Schock bekommen. Christina Alberta tauchte plötzlich aus der Stille auf, in der sie gesessen hatte.

»Ich glaube das nicht«, sagte Christina Alberta aus der Tiefe ihres Stuhles.

Bobby begann allmählich, die Stimme Christina Albertas gut zu kennen; und er wußte, daß ihr nichts entsetzlicher war, als sprechen zu müssen, und daß sie gleichzeitig verzweifelt gern etwas sagen wollte. Er wußte auch, daß sie sich jetzt eben fest an die Armlehnen ihres Stuhles klammerte. Er blickte nach Devizes hinüber, und im selben Augenblick berührte der Lichtschein des Leuchtturmes dessen Gesicht, und Bobby sah, wie es, sehr gespannt, Christina Alberta fest beobachtete, als ob es alles andere vergessen hätte. Es war gespannt und zart und zärtlich besorgt, tiefernst und in der weißen Beleuchtung ganz bleich. Als der Lichtstrahl vorübergeglitten war, schien Bobby das Gesicht noch immer zu sehen, aber jetzt war es ein Gesicht aus Ebenholz.

» Nichts von alledem glaube ich«, sagte Christina Alberta.

Sie machte eine Pause, um ihre Gedanken zu sammeln. »Ich nehme an, es ist Theologie«, sagte sie. »Oder Mystik. Es ist nichts als ein intellektuelles Spiel, das die Männer spielen, um sich zu trösten. Männer mehr als Frauen. An der Wirklichkeit ändert es nichts. Tragik ist Tragik, Mißlingen ist Mißlingen, Tod ist Tod.«

»Aber gibt es überhaupt vollkommenes Mißlingen?« fragte Lambone.

»Nimm an,« sagte Christina Alberta, »nimm an, ein Mann wird ins Gefängnis geworfen und vor aller Welt schlecht gemacht, nimm an, er wird schließlich auf den Richtplatz geführt und gezwungen, sein eigenes Grab zu graben, wird am Rande desselben erschossen und begraben, dann eine Zeitlang verleumdet und vergessen. Da ist nicht ein Teil der Rasse getötet worden, indes etwas Wunderbares weiterlebt; es ist ein Mensch ermordet und beiseite geschafft worden! Deine Mystik ist einfach ein Versuch, vor solchem Jammer auszukneifen. Aber es gelingt dir nicht. Solche Dinge sind vorgekommen. Sie kommen heute noch vor. In Rußland. In Amerika. Überall. Menschen werden einfach hinweggefegt, Körper und Seele, Hoffnung und Wille. Jener Mann und sein schwarzes persönliches Universum sind weg und vorbei, und mit seinem Dasein hat's ein Ende; er ist vernichtet, ist ausgelöscht, und alles gescheite Reden auf bequemen Sofas in der gemütlichen Dämmerung wird daran nicht ein Jota ändern. Es ist Vernichtung. Wenn ich vernichtet bin, bin ich vernichtet, und wenn ich Wünsche und Träume habe und sie werden zerstört und sterben, so sterbe ich. Es ist nur ein Spiel mit Worten, wenn man sagt, daß ich nicht sterbe, oder daß jene sich nur verwandeln, verfeinern und als etwas Besseres weiterleben.«

»Meine Liebe«, sagte Fräulein Lambone zu Fräulein Means. »Ist Ihnen auch nicht zu kalt?« Etwas in ihrer Stimme deutete leise an, daß sie wenig Interesse mehr an dem Gespräch finden würde, wenn dieses Küken von einem Mädchen noch weiter an der Diskussion teilnehmen sollte, und daß sie in diesem Falle mit Tüchern und Shawls herumzuhantieren und die Versammlung aufzuheben gedenke.

»Ich fühle mich vollkommen wohl«, gab Fräulein Means zur Antwort. »Das alles hier –! Ich wünschte, es würde ewig dauern.«

Doch Christina Alberta schenkte der Warnung Fräulein Lambones keine Beachtung. Sie hatte etwas zu sagen, hatte jemandem etwas zu sagen – nicht zu scharf, nicht allzu deutlich wollte sie es sagen.

»Diese ganze Theologie, diese Religion, die neuen Religionen, die nichts andres als die alten sind – die alten, ein wenig übertüncht –«

»Neugeboren«, sagte Paul.

»Übertüncht. Ich brauch' sie nicht. Aber das ist es gar nicht, was ich sagen will. Ich möchte sagen, daß ihr in Bezug auf meinen Vati unrecht habt, ganz unrecht. Das weiß ich. Herr Lambone hat ihn aufgeputzt, damit er in seine Philosophie passe. Diese Philosophie hatte er lange, bevor er ihn kannte. Und ihr habt über meinen Vati geredet und ihm Herrn Lambones Ideen eingeblasen, als er geschlagen und gebrochen war, weil sie auf seinen Fall paßten. Aber sie waren früher nicht in ihm. Ich kannte ihn und weiß genau, wie er dachte. Ich wurde von ihm erzogen. Zu mir hat er mehr gesprochen als zu irgend jemand anderem. Und es ist nichts als Unsinn, von ihm – von seiner Begeisterung so zu sprechen, als ob da die große Seele gleich der Flut des Meeres in den Teich der kleinen Seele geströmt sei. Nein. Wenn er sagte, er sei der Herr der Welt, so wollte er Herr der Welt sein. Er wollte absolut nicht noch andre Leute verkörpern – oder andern einverleibt sein. Er war als Sargon genau so ausschließlich er selbst, wie als Albert Eduard Preemby. Mehr noch ... Und ich glaube, so ist es mit uns allen.«

Sie fuhr ziemlich ungestüm fort, denn sie merkte, daß es Kräfte gab, die sie gern zum Schweigen gebracht hätten.

»Ich will ich selbst sein und nichts anderes. Ich will die Welt – für mich. Ich möchte wie eine Göttin angebetet werden. Obgleich ich ein häßliches Mädchen mit schlechten Manieren bin. Obgleich es unmöglich ist. Ich will es. Ich bin so gemacht, daß ich es will. Und für Augenblicke zumindest läßt es sich erreichen. Ein Augenblick des Triumphes ist besser als gar keiner ... Und ihr alle wollt das, glaube ich. Ihr redet euch nur ein, daß ihr es nicht wollt. Und das nennt ihr Religion. Ich glaube nicht, daß irgend jemand jemals von allem Anfang an einer Religion Glauben geschenkt hat. Buddhismus, Christentum, dieser phantastische Sargonismus, die lächerliche Religion, die ihr erfindet, um ein Abendgespräch daraus zu machen, es sind nichts als Trostmittel und Pflaster – Bandagen und hölzerne Beine. Ohne Zweifel haben so und so viele Menschen versucht, an die Lehren der Religionen zu glauben – gebrochene Menschen. Aber weil wir unsere Herzenswünsche nicht befriedigen können – sollen wir sie deshalb ‹saure Trauben› nennen?

Ich will nicht dienen – niemandem und nichts. Mag sein, daß ich auf Vernichtung lossteuere, das Weltall mag ein Vernichtungssystem sein, doch das ändert nicht die Tatsache, daß ich so und nicht anders fühle. Ich mag unterliegen, ich mag so gut wie sicher unterliegen – aber ein zerknirschtes Herz aus dem Dreck mitbringen und als ein braver, kleiner Teil von irgend etwas von neuem anfangen – nein! O, ich weiß, ich renne mit dem Kopf gegen die Mauer. Es ist nicht meine Schuld. Warum brechen wir nicht durch? O, warum haben wir nicht den Mut?«

Fräulein Lambone scharrte und raschelte.

Die Finsternis, die Devizes war, sprach zu Christina Alberta, und Fräulein Lambone wurde still.

»Wir brechen nicht durch und wir haben nicht den Mut,« sagte er, »wir lehnen uns nicht gegen Gesetze und gegen das Herkommen auf, weil es andere Dinge in unserem Leben gibt, in uns und nicht außerhalb, die uns wichtiger sind. Das ist der Grund. Paul putzt seine Ansicht über diese Dinge gern mit alten mystischen Phrasen auf, aber was er sagt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine unwissenschaftliche Erklärung psychologischer Tatsachen. Du hältst dich für einfach, in Wirklichkeit aber bist du vielfältig. Du bist das Individuum, aber du stellst auch die Rasse dar. Du und ich und jedermann ist so beschaffen. Je mehr unsere Intelligenz erwacht, desto besser wissen wir das.«

»Aber gerade das, wodurch ich mich von allen andern unterscheide, ist mein eigentliches Ich. Die Rasse in mir ist mir nicht mehr als der Boden, auf dem ich stehe. Ich bin Christina Alberta; ich bin nicht das Weib oder die Menschheit. Und als Christina Alberta will ich und will ich und will ich. Und werden meine Absichten durchkreuzt, so wüte ich. Warum vorgeben, man verzichte auf irgend etwas, bloß weil man es nicht haben kann? Warum Entsagung und Uneigennützigkeit verherrlichen? Ich hasse den Gedanken der Selbstaufopferung. Was hat es für einen Sinn, als Christina Alberta auf die Welt zu kommen, bloß um darauf zu verzichten, Christina Alberta zu sein? Was hat es für einen Sinn, anders zu sein, wenn man nicht ein anderes Leben leben kann?«

Unvermutet unterbrach sie Fräulein Lambone. »Das Leben der Frau ist ein einziges langes Opfer«, sagte sie.

Eine Pause folgte.

»Aber wir haben das Stimmrecht jetzt!« sagte Christina Alberta etwas vorlaut. »Wieso ist das Leben einer Frau ein Opfer?«

»Denken Sie an die Kinder, die wir tragen«, sagte Fräulein Lambone in verhaltenem Tone.

» Na!« sagte Christina Alberta und unterdrückte irgend eine ungehörige Bemerkung.

»Das Erstaunlichste bei uns,« fing sie nach einer Weile wieder an, »das Erstaunlichste bei uns Frauenzimmern ist, daß anscheinend keine von uns wirklich Kinder haben will. Viele jedenfalls nicht. Jetzt, da ich Biologie studiere, verstehe ich erst, wie merkwürdig das ist. Als Geschöpfe, die speziell zum Kindergebären da sind, sollten wir von der Sehnsucht nach Kindern verzehrt werden. In Wirklichkeit aber wird der Großteil der modernen Frauen alles tun, um Kinder zu vermeiden. Wir fürchten uns vor ihnen. Mir kommen sie wie ein Schwarm versteckter Zwerge vor, die nur darauf warten, über mich herzufallen und meine ganze Existenz aufzuzehren. Nicht nur, daß ich sie nicht wünsche; ich fürchte mich vor ihnen. Liebe wünschen wir, vielleicht. Viele von uns. Heftig. Wir wollen lieben und geliebt werden – jemandem nahe, ganz nahe kommen. Ein Wahn, wie mir scheint. Einer der plumpen Tricks der Natur. Nichts als ein Wahn. Der Mann verschwindet – als ob er nie dagewesen wäre. Unter den alten Verhältnissen hatte der Wahn noch Wirkung: er erzeugte die Kinder, die die Natur brauchte. Wir aber denken nicht an Kinder. Wir wollen nicht an sie denken. Und übrigens bringen Kinder eine Frau auch nicht aus ihrem Egoismus heraus; sie erweitern und verstärken ihn nur. Ich hab' intelligente Mädchen gekannt, die heirateten und Kinder bekamen, und wenn das Baby erschien, verduftete der Geist. Sie wurden zu Instinktgeschöpfen, die mit Windeln herumhantierten. Ich könnte schreien bei dem Gedanken daran. Nein, ich bin ein Egoist, rein und klar. Ich bin Christina Alberta, nur sie. Ich bin nicht Sargon. Ich weigere mich ausdrücklich, mich mit jenem verworrenen Jedermann-Niemand zu vermengen.«

»Schließlich mag das nur eine Stufe in deiner Entwicklung sein«, sagte Devizes.

»Es ist die einzige, die ich kenne.«

»Das ist klar. Aber ich versichere dir, Christina Alberta, daß diese deine Auflehnung und Verzweiflung nur eine Stufe ist. Du predigst Rebellion, Egoismus und Anarchismus, wie ein gesundes Kind schreit, um Atem in die Lunge zu bekommen und die alte stickige Luft loszuwerden. Das Baby weiß nicht, warum es schreit, und findet ohne Zweifel irgend eine dunkle, kleine Beschwerde in seinem Gehirn –«

»Weiter«, sagte Christina Alberta. »Züchtige mich, züchtige mich.«

Es schien Bobby, als wären Tränen in ihrer Stimme.

»Nein, denn du bist ja so jung, mein Liebling«, sagte Devizes.

Mein Liebling!

»Nicht so jung! Gar nicht so jung!« rief Christina Alberta.

»Wenn ich achtzig Jahre lebe,« sagte Christina Alberta, »werde ich jemals imstande sein, mehr zu fühlen als jetzt? Warum willst du mich jetzt immer wie ein Kind behandeln?«

»Das Gefühl ist nicht der einzige Maßstab«, sagte Devizes. »Selbst jetzt, heute abend, sprichst du nicht ganz nach deiner Überzeugung. Du bist keine egoistische Abenteurerin. Du ergreift für viele Dinge Partei. Du erklärst zum Beispiel, daß du Kommunistin seist.«

»Ah! Bloß um alles zu zerschmeißen«, sagte Christina Alberta. »Bloß um alles und jedes zu zerschmeißen.«

»Nein. Das sagst du heute abend, aber du hast mir früher schon anderes erzählt. Du kümmerst dich um die Welt. Du möchtest die allgemeinen Bestrebungen fördern. Du entwickelst Leidenschaft für wissenschaftliche Wahrheit. Nun – es gibt keinen Weg, deine Individualität in der Wissenschaft oder im öffentlichen Leben von anderen Geistern abzuschließen. Du bist notgedrungen ein Teil; du kannst nicht ein vollkommenes Ganzes sein. Du siehst schon jetzt ein, daß du dich von alledem nicht fernhalten kannst. Es wird dich mehr und mehr in Anspruch nehmen, ob du willst oder nicht, denn der Zeitgeist verlangt es. Dasselbe geschieht mit uns allen. Du kannst dich nicht losmachen. Unser Werk, unser Anteil ist das Erste in unserem Leben. Vor ihm muß sich jetzt Stolz und Leidenschaft und Romantik beugen. Vor jeder persönlichen Leidenschaft, die unser Werk zu zerstören droht, müssen wir die Tür zuschlagen und versperren und verbarrikadieren. Weg damit und aus dem Sinn. Es ist etwas Nebensächliches. Arbeite! Laß dich von größeren Dingen erfassen.«

»Das ist alles schön und gut.«

»Es ist mehr als das.«

»Warum sollen sie mich erfassen?« kam es eigensinnig und entschlossen aus Christina Albertas Munde.

»Ich weiß, daß das dein Glaube ist«, sagte sie. »Du hast mir das alles schon gesagt. Hast es mir immer wieder gesagt.« Bobbys feines Ohr merkte eine Veränderung in ihrer Stimme. »Erinnerst du dich an unser erstes Gespräch miteinander? Erinnerst du dich an unser Gespräch in den Lonsdale-Stallungen? Nachdem wir miteinander in dem italienischen Restaurant gewesen waren? Damals am Abend. Als wir einander eben gefunden hatten?« Einander gefunden hatten?

»Aber ich wußte damals nicht, daß dein Glaube so viel Verzicht, Opferwilligkeit und Vorsicht in sich schließt. Ich hielt ihn für etwas Kraftvolles und Kühnes. Ich verstand seine Einschränkungen noch nicht. Doch seit damals haben wir über diese Dinge immer und immer wieder gestritten. Damals im Kew-Garten. Damals als wir den Spaziergang über die Hügel nach Shere machten. Wir haben genug geredet. Wozu sollen wir wieder streiten? Ich geb' nach – was soll ich denn tun, als nachgeben? – und bald werd' ich wie du und Paul Sargonitin werden. Aber nicht in diesem Sommer. Nicht jetzt. Heute nacht – heute, in dieser wundervollen ersten Sommernacht: heute rebelliere ich gegen jeden Verzicht, jedes Abspeisen der Individualität mit zweitklassiger Ware. Ich will unmöglich und verrückt sein. Zum letzten Male. Ich will die Welt von den Sternen bis zum Meeresgrund für mich haben, für mein eigenes hungriges Selbst. Und alles dazwischen. Alles Begehrenswerte zwischen Himmel und Erde. Die Liebe ... So!«

Verschwommene Fragen erschienen und verschwanden wieder auf Bobbys Gedankenfläche. Worauf hatte Christina Alberta verzichtet? Worauf würde sie verzichten? Wer verzichtete denn und worauf? Und hatten ihn seine Ohren getäuscht, oder hatte Devizes sie wirklich ‹mein Liebling› genannt? Bobby schien es, daß vor Margaret Means und angesichts aller Umstände Devizes doch der letzte Mensch war, der Christina Alberta ‹mein Liebling› nennen sollte. Und was sollte das mit dem ‹abspeisen› heißen? Sollte das wirklich eine unverschämte Deutlichkeit der Ausdrucksweise, ein grausames Bekenntnis sein, oder etwas, das er mißverstand?

Fräulein Lambone raschelte unruhig.

Da war es, als ob ein böser Geist über Christina Alberta käme. » O verdammtes Verzichten!« rief sie in bitterem Ton.

Einige Augenblicke schienen sie in tiefem Schweigen zu sitzen, dann wurde auf einmal der Gesang der Nachtigall deutlich hörbar.

6

»Ich glaube,« sagte Fräulein Lambone inmitten des Schweigens, »daß es ein klein, klein wenig kühl wird.«

»Es ist hier so wunderschön«, sagte Fräulein Means, die warm in Fräulein Lambones Shawl eingewickelt saß. »Einfach wunderschön.«

»Wie können Sie von Vernichtung sprechen –!« fügte sie hinzu und ließ den Satz unvollendet.

»Ich glaube,« sagte Fräulein Lambone, »ich werde hineingehen und die Kerzen anzünden. Die Nacht ist zu wundervoll für das elektrische Licht, viel zu wundervoll. Wir wollen bloß die Kerzen und das Kaminfeuer anzünden. Und vielleicht können Sie uns irgend etwas Schönes vorspielen. Diese Kamine hier sind wunderbar, sie fangen sofort zu ziehen an. Ich weiß nicht, ob sie Ihnen schon aufgefallen sind – eine neue Art. Das Feuer hat keinen Zug von unten, sondern wird durch die Form der Rückwand angefacht.«

»Ich liebe mir ein Holzfeuer«, sagte Fräulein Lambone, seufzte und erhob sich langsam und gewichtig.

7

Zwei Tage später trat Bobby in eines der kleinen Studierzimmer an der Gartenseite von Paul Lambones Haus. Paul hatte gefunden, daß Bobby einiger Tage ungestörten Nachdenkens bedürfe, um seinen Roman beginnen zu können, und hatte ihn aufgefordert dazubleiben, nachdem die anderen Gäste nach London zurückgekehrt waren. Das Zimmer war für einen Schriftsteller von Bobbys Temperament wie geschaffen: ein niedriger Schreibtisch stand vor der Brüstung des Fensters, und auf der Brüstung stand eine silberne Schale mit Vergißmeinnicht und weißen Tulpen. Eine kleine Glastüre ließ einen in den Garten hinaus, ohne daß man erst durch das ganze Haus laufen mußte. Auf dem Schreibtisch war alles vorhanden, was der verwöhnteste Schriftsteller nur wünschen konnte, ein praktischer Papierhalter, Oblaten für Briefe, wirkliche Federkiele und viel Platz für die Ellbogen. Der Stuhl, in dem er saß, war ein äußerst bequemer, aber nicht zu luxuriöser Armsessel; nichts daran lud einen ein, sich auszuruhen, sondern er bildete bloß eine vollkommen loyale Unterstützung für den beschäftigten Insassen. Ein Gartenweg lief vor dem Fenster hügelan, ein Gartenweg, der von wunderbaren Stiefmütterchenbeeten eingefaßt war. Auf jeder Seite der Stiefmütterchen standen Rosenstöcke, und obzwar sich noch keine Rosenknospe zeigte, wirkten die frischen, grünen, mit rötlichem Braun angehauchten Blätter in dem hellen Lichte doch ganz ausnehmend zart.

Er stand eine Zeitlang da und schaute den Weg hinauf, setzte sich dann nieder und zog den Schreibblock näher heran. Er ergriff einen jener herrlichen Federkiele, versuchte die köstliche Biegsamkeit seiner Spitzen, tauchte ihn in die Tinte und schrieb in seiner äußerst sauberen und schönen Handschrift:

Auf und ab

Der Roman eines Fußgängers
von Robert Roothing

Erstes Kapitel.
Welches unseren Helden einführt.

Er schrieb dies sehr rasch, denn es war ihm sehr geläufig. Vom Anfang bis zum Ende hatte er es vielleicht ein halbes dutzendmal auf frische, weiße Papierblätter geschrieben.

Dann hörte er plötzlich auf und saß mit zur Seite geneigtem Kopfe ganz ruhig da. Darauf änderte er sehr säuberlich ‹Welches ... einführt› in ‹Worin wir ... einführen›.

Es war jetzt schon beinahe zwei Jahre her, seit er seinen Roman auf diese Art begonnen hatte, und noch immer war er sich über die Einzelheiten der Einführung seines Helden ganz im unklaren. Seine ursprüngliche Absicht im Hinblick auf die Geschichte schwamm noch immer wohlgefällig an seinem Gedankenhimmel umher; er stellte sich eine glückliche Aufeinanderfolge zarter, mannigfaltiger und erfreulicher Abenteuer vor, in leichtem Stile humorvoll erzählt; die Erlebnisse eines freundlichen, anspruchslosen, nicht zu kühnen, aber recht tapferen Jünglings auf seinem Wege durch die Welt, der dann später glücklich mit einer entzückenden jungen Frau leben sollte. ‹Pikaresk› war das magische Wort. Keines dieser Abenteuer hatte bisher in seinem Geiste konkrete Gestalt angenommen. Doch er fühlte, daß sie ihm eines Tages klar vor Augen stehen würden. Wenn man so stille saß und träumte, konnte man sie halb und halb sehen, und das war ihm Gewißheit genug. Und nachdem er also wieder einmal sein Titelblatt fein hübsch und säuberlich niedergeschrieben hatte, verfiel er in Träumereien und dachte gar bald über seine Christina Alberta nach, wie es einem guten Helden geziemt.

Bobby wurde von Christina Alberta immer aufs neue verwirrt, immer schien er wieder auf einen Punkt zu kommen, wo sich alles aufzuklären schien, und dann wurde er wieder irre. Doch jetzt kam es ihm vor, als kenne er wirklich das letzte wesentliche Faktum, das man über sie erfahren konnte. In der Nacht hatte ihm Paul Lambone beschrieben, wie er sie zu Devizes geführt hatte, um sich Rates zu holen, und welche Entdeckung die beiden gemacht hatten. Er erzählte seine Geschichte gut, wie es einem Schriftsteller geziemt; er gestaltete sie dramatisch. Offensichtlich erzählte er sie in wohlüberlegter Absicht, denn es war Zeit, daß Bobby davon erfuhr. Lambone wußte um Christina Albertas Verlobung. Er wußte nicht, und niemand außer Bobby wußte es, daß sie nicht daran dachte, zu heiraten. Diese Mitteilung machte nun, so schien es Bobby, ihre Lage begreiflich; erklärte die besorgte Zärtlichkeit in Devizes' Antlitz, welche das Licht so plötzlich verraten hatte, und sein unbedachtes ‹mein Liebling›; erklärte, daß sie so behandelt wurde, als gehöre sie zu ihm und Paul Lambone, und nicht wie ein ziemlich unbedeutender Gast; entschuldigte ihre heftige Eifersucht auf Margarete Means, denn sie hatte ihren Vater augenscheinlich leidenschaftlich mit Beschlag belegt, hatte vielleicht auf Anerkennung gerechnet und auf ein Zusammenleben mit ihm gehofft. Ohne Zweifel stand Margarete Means dem im Wege. Es war nur natürlich, daß Christina Alberta mit Devizes sein und mit ihm arbeiten wollte, nur natürlich, daß sie jede Person, die sich zwischen ihn und sie drängte, verdächtigte, es ihr übelnahm und ihr zuvorkommen wollte. Ganz abgesehen von den magischen Kräften der Verwandtschaft, war es nur natürlich, daß zwei so feine und reiche Charaktere von einander stark angezogen wurden. Daß sich Devizes so plötzlich entschlossen hatte, Margarete Means zu heiraten, dünkte Bobby nicht verwunderlich; er dachte über Devizes nicht sehr viel nach. Margarete Means war seiner Meinung nach so reizend, daß bald einer Lust bekommen konnte, sie zu heiraten. Es gab Zeiten, das wußte Bobby, da einen solch eine süße Schönheit wie ein Pfeil durchbohren konnte. Devizes war es offensichtlich so ergangen. Und fast das einzige, was Bobby noch ein wenig bedenklich machte, war der Wandel in Christina Albertas Absichten: Warum hatte sie zuerst zugestimmt, ihn zu heiraten, und warum war sie plötzlich anderen Sinnes geworden und wollte ihn doch noch als Liebhaber behalten?

Dieser Entschluß, nicht zu heiraten, schien im Grunde nichts als ein Teil ihrer unerhörten Modernität zu sein. Denn aus der ganzen Gruppe von ‹neuen Menschen›, in der sie sich befand, schien sie Bobby in jeder Hinsicht der neueste. Sie verkörperte das kühnste Daseinsexperiment, das ihm jemals untergekommen war. Das Flackern ihrer hungrigen Rebellennatur faszinierte ihn. Worauf in aller Welt steuerte sie los? Würde sie sich zu dem freien persönlichen Leben, das sie sich wünschte, durchringen, oder würde sie kein richtiges Arbeitsfeld finden können und schließlich enttäuscht und einsam dastehen, wie ein Wesen, das sich verirrt hat? Die Welt hatte Bobby schon in Bezug auf seine eigene Person gewaltig in Angst versetzt; sie beängstigte ihn noch mehr, wenn er an jenes tapfere kleine Geschöpf dachte, das auszog, sie herauszufordern.

Bobby war eine ängstliche Natur; instinktiv suchte er Sicherheit, Schutz, Güte und Unterstützung. Um seine Existenz zu sichern, klammerte er sich an seine Tätigkeit als ‹Tante Susanna›. Christina Alberta kannte seiner Meinung nach nicht ein Zehntel der Gefahren, denen sie sich aussetzte, ahnte nicht, daß ihr Beleidigung, Mißerfolg, Erniedrigung, Vernachlässigung, Zurückweisung, Ermüdung und einsame Verzweiflung drohten. Seine Einbildungskraft malte ihm ein quälendes Bild von ihr: er sah sie im dunklen, wirren, unermeßlichen London, als ein unendlich zartes, gebrechliches Geschöpf, leicht auf den Füßen, Struwwelkopf hoch, Arme in die Seiten gestemmt, nichts ahnend von den ungeheuren Gefahren ringsum. Jetzt, da er anfing, sie zu verstehen, begann er auch eine große Zahl helläugiger, abenteuerlicher, schwieriger junger Frauen zu verstehen, die er in den letzten Jahren getroffen hatte, und es kam ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, was jene tiefgehende, weitverbreitete Bewegung unter den Frauen bedeutete, die ihnen das Wahlrecht und ein noch nicht dagewesenes Ausmaß von Freiheit verschafft hatte.

Viele dieser jüngeren Frauen arbeiteten und lebten für sich, genau so wie Männer. Sie malten und zeichneten wie Männer, schrieben Kritiken wie Männer, schrieben Stücke und Romane wie Männer, führten Bewegungen, waren wissenschaftlich tätig, nahmen am politischen Leben teil. Wie Männer? Bei genauerem Nachdenken – eigentlich nicht. Nein. Sie blieben doch anders. Aber sie taten ihre Arbeit nicht in einer Weise, die man ‹weiblich› hätte nennen können. Ohne dem ‹weiblich› neue, fremdartige Bedeutung beizulegen. Die Romane, die sie schrieben, interessierten ihn ungemein. Frauen gleich Stella Benson schrieben Bücher wie – wie irgend einer; man konnte aus ihren Werken nicht herausfühlen, ob sie ein Mann oder eine Frau sei. Auch das war neu. George Eliot konnte vielleicht als Vorläuferin gelten. Vielleicht. Die schreibenden Frauen früherer Zeit hatten entweder das Thema: ‹Wie reizend bin ich!› behandelt, oder sich als die ‹freundliche alte Tante› gegeben; man konnte den Unterrock auf jeder Seite rascheln hören.

Ungeschlechtlich, diese neuen? Bobby erwog das Wort. Die ältere Generation von Frauen, die sich emanzipieren wollten, unterdrückte das Geschlecht, unterdrückte es so gewaltsam, daß sein negatives Bild der überragende Faktor in ihrem Leben wurde. Sie hörten auf, positive Frauen zu sein; sie wurden zu unheimlich negativen Frauen. Die Scharen neuerer aber unterdrückten ihr Geschlecht nicht so sehr, wie sie es vergaßen; sie maßen ihm geringe Bedeutung zu. Für Christina Alberta hatte ihr Geschlecht in gewisser Beziehung jede Bedeutung verloren, nicht weil sie dagegen ankämpfte, sondern weil sie es als etwas Nebensächliches behandelte, so wie es ein Mann als etwas Nebensächliches behandelt – sodaß es nur mehr eine Angelegenheit vorübergehender Stimmungen und Impulse für sie war – und sie sich auf andere Dinge werfen konnte.

Sich auf andere Dinge werfen. Seine Phantasie kehrte zu der kleinen Gestalt zurück, die entschlossen war, sich die Welt zu erobern, jedweder Tradition zum Trotz.

Er verspürte einen heftigen Drang in sich, auf und davon nach London zu fahren, um ihr nachzugehen, sich in ihrer Nähe zu halten, ihren Ungestüm zu dämpfen, sie zu beschützen und in Sicherheit zu bringen. Er wußte jedoch, daß sie etwas Derartiges auf keinen Fall erlauben würde. Er durfte nichts weiter als ihr Freund und Genosse sein, durfte ihr an die Hand gehen und ihr beistehen, falls ihr irgend ein Unglück zustoßen sollte.

Seltsam, daß es ihn danach verlangte, dieser geschlechtlosen jungen Frau zur Seite zu stehen. Gerade dieses Verlangen hätte man nicht erwarten sollen; es gehörte vielleicht mit zu den ungeheuren biologischen Veränderungen der Zeit. In der Vergangenheit hatte es die Art erfordert, daß sich die Hälfte der Rasse aufs Kinderkriegen und -großziehen verlegte; heute war das offenbar nicht notwendig. Die Ehrfurcht heischende Würde der Gattin und Mutter taugte nicht mehr für alle Frauen. Sie blieb einer gewissen Art von Frauen vorbehalten, die sie auf sich zu nehmen bereit waren. Doch eine große Zahl von Frauen ging dieser Aufgabe aus dem Wege. Einige wurden hübsche Püppchen, die bald aufhörten, hübsch zu sein, Schmarotzer an der Liebe und der Achtung vor Mutterschaft; Götzenbilder. Andere wandten sich einem individuellen Leben zu – ein drittes Geschlecht. In der neuen Welt würde es vielleicht nicht mehr nur zwei Geschlechter geben; man würde Abarten und Unterklassen feststellen können. So überlegte Bobby. Denn genau so, wie es Frauen gab, die keine Kinder gebären wollten, gab es auch Männer, die nicht mehr über Weib und Kinder Herr sein wollten.

Trotzdem würden sie der Liebe bedürfen. Jedes Individuum einer geselligen Spezies hat Liebe nötig; bleibt sie ihm versagt, so scheidet es aus dem geselligen Leben aus und führt ein sinnlos einsames Dasein. ‹Gegenseitiger Trost›, zitierte Bobby. In früheren Jahren hatte Bobby von Kinderliebe geträumt. Selbst jetzt noch erinnerte er sich der Tatsache, daß er sich besonders ein kleines Töchterchen erträumt hatte, das ihm gehörte, das er beschützen und ganz erforschen konnte. Jetzt jedoch hatte der Gedanke und das Interesse an Christina Alberta das alles ausgelöscht. Es dünkte ihn ganz unglaublich, wie sehr sie von ihm Besitz ergriffen hatte. Er konnte sich das Leben nicht mehr ohne Christina Alberta als die Hauptsache darin vorstellen. Aber er würde ihr nichts sein können, wenn sie ihn nicht achtete. Er konnte weder ihr Diener noch ihr Herr werden. Im letzteren Falle würde sie Rebellion machen, im ersteren ihn verachten. Sie würden gleichgestellt sein müssen. Und da sie nun einmal klug, tüchtig und dazu entschlossen war, hart zu arbeiten und sich hervorzutun, so blieb ihm nichts anderes übrig, als ebenfalls hart zu arbeiten und sich hervorzutun. Er mußte ihr gleichgestellt sein, gleichgestellt bleiben ...

Und darum ging er daran, einen großen Roman zu schreiben – nicht einen Roman schlechtweg, sondern einen großen.

Er betrachtete das säuberlich beschriebene Blatt aufs neue. ‹Auf und ab›, las er. ‹Der Roman eines Fußgängers›.

Da beschlich ihn ein Gefühl, als ob etwas daran gründlich falsch sei.

Es hätte die Geschichte einer Wanderschaft in einer Welt, die ist, werden sollen, die Geschichte der glücklichen Abenteuer eines wohlgelaunten Geistes in einer leichtverständlichen Ordnung der Dinge. Doch Bobby begann wahrzunehmen, daß es eine Welt, die ist, nicht gibt und niemals gegeben hat; es gibt nur eine Welt, die war, und eine Welt, die sein wird. ‹Neue Menschen›, flüsterte Bobby vor sich hin, tauchte den Federkiel in die Tinte und machte um seinen Titel eine Einrahmung von Punkten. Dann strich er plötzlich die drei Worte ‹Auf und ab› aus und schrieb anstatt ihrer: ‹Neues Land›.

‹Das könnte der Titel jedes bedeutenderen Romans sein›, sagte Bobby.

Er versank in tiefes Nachdenken. Dann änderte er den Untertitel in: ‹Die Geschichte eines Forschers›.

Er strich ‹Forschers› durch.

‹Unfreiwilligen Reisenden›, sagte Bobby.

Schließlich setzte er wieder ‹Der Roman eines Fußgängers› als Untertitel ...

Er wurde auf ein hohles Pochen aufmerksam, das von Zeit zu Zeit aussetzte, und indem er den Klang verfolgte, entdeckte er eine Drossel, die auf dem Kies des Gartenwegs eine Schnecke aufzupicken versuchte. Aber der Kies war viel zu fein und weich, um eine harte Unterlage für die Stöße zu bilden. ‹Der dumme Vogel sollte sich irgend einen Ziegel oder einen Topfscherben suchen›, sagte Bobby und dachte nach. ‹Vermutlich sind alle Blumentöpfe im Schuppen eingesperrt ...

Ich kann es nicht mitansehen, wie der Vogel seine Zeit vergeudet, und dann erst enttäuscht wegfliegen wird ...

Es würde kaum eine Minute kosten ...›

Er stand auf, schlüpfte durch die kleine Glastüre neben dem Fenster und ging, einen Ziegel zu suchen. Bald kehrte er damit zurück.

Doch ging er nicht wieder in das Arbeitszimmer, denn während er den Ziegel suchte, hatte er eine junge Amsel entdeckt, die unter das Erdbeernetz geraten war und offensichtlich ihren törichten Verstand verloren hatte. So ging er also zurück, um nach der Amsel zu sehen. Minuten vergingen, ohne daß er wieder erschien. Vielleicht hatte er noch irgend ein Mitgeschöpf in Not gefunden.

Bald wehte ein leiser Lufthauch durch die offene Glastür in das Studierzimmer, lüftete das Blatt Papier, welches unseren Helden einführen sollte, und trug es, sanft und bedeutsam, auf die fürsorglich vorbereiteten Holzscheite im Kamin. Dort lag es lange Zeit.


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