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Zweites Kapitel.
Christina Alberta

1

Diese Geschichte, das wurde bereits im ersten Abschnitt des ersten Teiles des ersten Kapitels klar dargelegt, ist Herrn Preembys Geschichte in den späteren Jahren, den Witwerjahren, seines Lebens. Diese Feststellung hat die volle Gültigkeit einer ordentlichen kaufmännischen Garantie, und wir werden uns unter keinen Umständen jemals weit von Herrn Preemby entfernen. Doch das Leben seiner Tochter war mit dem seinigen während dieser Zeit so innig verwoben, daß es notwendig ist, vieles von ihr unterschiedlich und ausführlich zu erzählen, bevor wir mit unserer eigentlichen Geschichte richtig beginnen können. Und sogar, wenn diese bereits begonnen hat und während sie fortläuft und schließlich zu Ende geht, wird sich Christina Alberta immer wieder eindrängen.

Sich einzudrängen lag ja in ihrer Natur. Sie war niemals ein sogenanntes reizendes Kind gewesen. Doch hatte sie stets eine große Vorliebe für ihren Vati und er die größte Zuneigung und Achtung für sie gehegt.

Sie besaß wenig oder gar keinen Takt, und stets war etwas Fremdartiges und Sonderbares um sie, etwas von dem sagenhaften Wechselbalg. Sogar ihre persönliche Erscheinung war taktlos. Sie hatte eine hervorstehende Nase, welche noch größer werden zu wollen schien, während doch Frau Preembys Nase klein und glänzend zwischen ihren Gläsern eingeklemmt saß und die ihres Vaters, geschmackvoll gemeißelt, ganz wie ein wackeres kleines Boot über einer Schnurrbartkaskade hervorschoß; sie war schwarz und ihre beiden Eltern blond. Als sie heranwuchs, zauberten die magischen Kräfte der Jugend einen schönen Ausdruck auf ihre Züge, aber sie war niemals wirklich hübsch. Ihre Augen waren braun, hell und hart. Sie hatte ihrer Mutter scharfgezeichneten, entschlossenen Mund und deren maßvoll energisches Kinn und ihrer Mutter klare, feste Haut und helle Hautfarbe. Sie war ein summendes, schreiendes, stoßendes und schlagendes Kind, mit der Neigung, Ermahnungen nicht zu hören, und besaß eine beinahe instinktive Geschicklichkeit, plötzlichen Kläpsen auszuweichen. Sie flitzte nur so herum. Jetzt war sie auf der Trockenwiese, jetzt unter einem Bett. Das einzige, was man tun konnte, war, sich zu bücken und nachzuschauen.

Sie tanzte. Weder Herr Preemby noch Frau Preemby tanzten, und dieses ununterbrochene Herumhopsen machte beide nervös und ängstlich. Ein Klavier oder irgendeine entfernte Musik konnte sie zum Tanzen bringen, oder sie tanzte zu ihrem eigenen Gesumme; sie tanzte zu Chorälen und am Sonntag. Herr Preemby hatte einen Sechser dafür ausgesetzt, wenn sie einmal fünf Minuten lang ruhig säße, aber es kam niemals dazu.

In ihrer ersten Schule, einer gemischten Tagesschule in Buckhurst-Hill, war sie anfangs äußerst beliebt und dann äußerst unbeliebt und am Ende wurde sie ausgeschlossen. Nachher führte sie sich halbwegs gut in der ‹Mädchenschule der Gastwirte› auf, wo sie von Anfang an als Spaßvogel erkannt wurde. Eine Schwierigkeit lag stets darin, sie bei einem anderen Namen als Christina Alberta zu rufen. Die Leute versuchten alle möglichen Namen, aber keiner außer ‹Christina Alberta› wollte hängen bleiben. ‹Babs›, ‹Baby› und ‹Berti› wurde sie zu Hause gerufen, auch ‹Allie› und ‹Tina›, und in der Schule versuchte man ‹Langnase›, ‹Preemy› und ‹Prim›. Auch ‹Struwwelkopf› wegen ihres Haares beim Hockeyspiel. All diese Namen kamen wieder außer Gebrauch und ließen den ursprünglichen Namen allein übrig.

Mit ihren Aufgaben war sie geschwind, besonders in Geschichte, Geographie und Zeichnen, aber sie brachte ihren Lehrerinnen nicht die gehörige Achtung entgegen; beim Schulhockey spielte sie den rechten Stürmer mit bemerkenswertem Erfolg. Laufen konnte sie wie der Wind und schien dabei niemals außer Atem zu geraten. Ihr Kneifen war einfach entsetzlich. Außerdem konnte sie mit ihrer Nase plötzlich Grimassen schneiden, die die Schwächlicheren in Krämpfe versetzten. Sie hatte die besondere Neigung, dies beim Schulgebet zu tun.

Zwischen ihrer Mutter und ihr bestand Feindseligkeit. Nicht gerade offene Feindseligkeit, aber immerhin erkennbar. Ihre Mutter schien etwas gegen sie auf dem Herzen zu haben, was sie nicht mitteilen konnte. Dies hinderte Frau Preemby nicht, an dem Kinde ihre Pflicht zu tun, ließ aber zwischen ihnen keine wahre, warme Zuneigung aufkommen. Schon von Kindheit an war es immer Vati, der die Küsse bekam, über den hinübergeklettert und der herumgezerrt wurde. Er erwiderte diese Zuneigung. Er nannte sie ‹mein liebes kleines Mädel›, und manchmal ging er sogar so weit, zu behaupten, sie sei ein ‹Wunder›. Er nahm sie mit sich auf Spaziergänge und erzählte ihr viele geheimnisvolle Dinge, die er im Kopfe hatte, über die ‹verlorene Atlantis›, die Lamas von Tibet und die Grundlagen der Astrologie, die unentzifferbar in den Maßverhältnissen der Pyramiden aufbewahrt seien. Er habe oft gewünscht, sagte er, sich die Pyramiden etwas genauer anzuschauen. Manchmal sehe der eine Dinge, die der andere nicht sehen könne. Sie hörte meist aufmerksam zu, obzwar nicht immer ganz im richtigen Geiste.

Er erzählte ihr etwa von der Tugend und Wissenschaft der Atlantis. »Sie gingen in langen weißen Gewändern umher«, sagte er. »Eher wie Bibelgestalten denn menschliche Wesen.«

»Gut für die Wäschereien, Vati«, sagte Christina Alberta.

»Alles, was wir von Astrologie wissen, sind bloße Fragmente von dem, was sie wußten. Sie kannten Vergangenheit und Zukunft.«

»Schade, daß sie alle untergegangen sind«, bemerkte sie ohne sichtliche Ironie.

»Vielleicht sind sie aber nicht alle untergegangen«, sagte er geheimnisvoll.

»Du glaubst doch nicht, daß es heutzutage noch Atlantiker gibt?«

»Einige mögen entronnen sein. Ihre Abkömmlinge mögen näher sein, als du annimmst. Warum, du und ich, Christina, wir könnten beide atlantisches Blut in uns haben!«

Sein Ton drückte Überzeugung aus.

»Was kann uns das schon nützen?« sagte sie.

»Mehr, als du denkst. Verborgene Schätze. Einsicht! Und dergleichen Dinge. Wir sind keine gewöhnlichen Menschen, Christina Alberta.«

Ein paar Augenblicke lang verfolgten die beiden voneinander unabhängige Träumereien.

»Auf jeden Fall wissen wir nicht, daß wir Atlantiker sind«, sagte Christina Alberta.

2

Nachdem sie sich bis zur fünften Klasse in der Schule der Gastwirte durchgekämpft hatte, wurde der weitere Studiengang Christina Albertas durch zwiespältige Meinungen sowohl innerhalb als außerhalb der Schule beunruhigt. Die Lehrerschaft hatte geteilte Ansichten über sie; ihr Betragen war schlecht, der allgemeine Fortgang mittelmäßig oder schlecht, doch kam sie bei Prüfungen durch, und mit besonders auffallendem Erfolg bei externen Prüfungen durch außenstehende Prüfende. Der Wunsch, sie außerhalb der Schule zu haben, war allgemein vorhanden; ob das aber durch eine Freistelle an der Universität bewerkstelligt werden solle oder einfach dadurch, daß man ihre Eltern ersuchte, sie herauszunehmen, das war eine strittige Frage. Die Turnlehrerin war geneigt, Mord als dritte Möglichkeit hinzustellen, und zwar wegen der Schülerin äußerster Mißachtung aller Regeln bei den Spielen, ihrer ganz unsportmäßigen Tricks, auf regelwidrige und unerwartete Art zu gewinnen, und ihrer Tendenz, Freiübungen und Geräteturnen als Gelegenheit für platte Witze zu benützen, die viel besser in das gewöhnliche Klassenzimmer gepaßt hätten. Die Englisch- und Literaturlehrerin war derselben Meinung – obwohl Christina Alberta stundenlang mit ihren Aufsätzen zu verbringen pflegte, indem sie Sätze und ganze Abschnitte aus Pater, Ruskin und Hazlitt so zusammenstellte, daß sie als ihr eigenes Machwerk durchgehen konnten. War es da Christina Albertas Schuld, wenn diese Girlanden aus literarischem Gold immer und immer wieder mit roter Tinte angestrichen waren: ‹Ungeschickt› oder ‹Könnte besser ausgedrückt werden› oder ‹Zu blumig›? Nur die Schulleiterin hatte ein wirklich gutes Wort für Christina Alberta übrig. Doch die Schulleiterin war, wie es ihrer Stellung geziemte, stets bemüht, schwierigen Schülerinnen Verständnis entgegenzubringen.

Und Christina Alberta war gegen die Schulleiterin stets ruhig und respektvoll und konnte sich ihr gegenüber mit höchst verwirrender Plötzlichkeit von einer besseren Seite zeigen, wann immer die Schulleiterin hereingerufen wurde.

Christina Alberta entschied sich, sobald sie von der Angelegenheit erfahren hatte, für die Freistelle. Sie besserte sich beinahe aufdringlich; sie wurde ordentlich, sie hörte auf, Späße zu machen, sie verlor wie eine kleine Sportlerin ganze Spiele beim Tennis gegen die Turnlehrerin; sie widersprach nicht mehr und wurde der entfremdeten Englischlehrerin gegenüber ein emsiger Affe Stevensons. Doch war es vergebliche Mühe. In ihrem reformierten Tennisspiel lag ein bißchen zu großmütige Herablassung, und ein bißchen zu viel Parodie in ihrem baumwollsamtenen Englisch. Die Aussicht also, jemals zu jener glücklichen Klasse von Mädchen zu gehören, die aus den Vororten nach London in die Schule gehen und jenes höhere Leben, das über die väterliche Aufsicht hinaus ist, führen – manchmal bis spät in die Nacht hinein in Ateliers, Laboratorien und Universitäts-Hörsälen –, war eine sehr unwahrscheinliche, sogar wenn sie nicht mit dem stillen, aber entschiedenen Widerstand ihrer Mutter rechnete.

Denn Frau Preemby war nicht die Frau, sich eine Tochter zu wünschen, die über ihre Herkunft und ihren Stand hinaus erzogen wurde. Sie bereute schließlich ihre Nachgiebigkeit, Christina Alberta nicht in der Wäscherei untergebracht zu haben, wie sie selbst im Alter von vierzehn Jahren darin untergebracht worden war. Dann hätte sie das Geschäft von Grund auf erlernt und sich dazu ausgebildet, ihrer Mutter zu helfen und ihr zuletzt nachzufolgen, genau so wie Frau Preemby Frau Hossett geholfen hatte und ihr nachgefolgt war. Aber die Schule mit ihrem Tennis, ihrer Musik, ihrem Französisch und so weiter hatte das Mädel gegen dieses reine und reinigende Leben voreingenommen. Sie war nun bald siebzehn, und je früher sie diese Dinge aufgab, die geradewegs zur Schullehrerin, zur alten Jungfer, zu Ferien in Italien, ‹Künstler›-Kleidern und protzigem Nichtskönnen führten, desto besser für sie und jedermann. Sie unternahm einen Feldzug gegen Christina Albertas Gewohnheit, in ganz unweiblichen Stellungen herumzusitzen und zu lesen; und als Herr Preemby einen ganz ungewohnten und kühnen Anlauf nahm, zu behaupten, sie sei ein bißchen zu streng gegen das Mädchen, und daß er an einem Buch hin und wieder nichts Schlechtes finden könne, da nahm ihn Frau Preemby mit hinauf in Christina Albertas eigenes kleines Zimmer, damit er sehen solle, wohin das führe, und im besonderen, damit er sich die Sorte Bilder anschaue, die sie dort aufgehängt hatte. Doch selbst als er sich einer großen photographischen Reproduktion von Michelangelos ‹Erschaffung Adams›, wie der Meister dies Ereignis an die Decke der Sixtinischen Kapelle zu Rom gemalt hat, gegenübergestellt sah, zeigte er einen schwachen Schimmer von Widerstand, indem er sagte, das sei ‹Kunst›.

»Du würdest alles dulden, was sie tut, glaub' ich«, sagte Frau Preemby. »Schau dir's an. Kunst! Schau dir diese Bücher an! Darwins ‹Entstehung der Arten›! Das ist ein nettes Buch für ein Mädel, um darin herumzuschnüffeln.«

»Höchstwahrscheinlich sieht sie gar nichts Schlechtes daran«, sagte Herr Preemby.

»Was? Sie!« sagte Frau Preemby bedeutungsvoll. »Und schau dir das an!«

‹Das› war Howes ‹Biologischer Atlas›. Sie schlug ihn auf, um seine großen Seiten, die mit Bildern der Einzelteile eines zerlegten Frosches angefüllt waren, zum besten zu geben.

»Wirklich, meine Liebe!« sagte Herr Preemby. »Das ist eins ihrer Schulbücher. Da ist wirklich aber schon gar nichts drin, was man ungehörig nennen könnte. Das ist Wissenschaft. Und übrigens ist's ja nur ein Frosch.«

»Hübsche Sachen lernt man heutzutage in der Schule. Mit eurer Kunst und eurer Wissenschaft da! Ihr laßt nicht gerade viel für die Phantasie übrig. Was! Wie ich ein Mädel war, wenn ich da Ma gefragt hätte, was in irgendeinem Tier drin ist, hätte sie mich geschlagen, fest geschlagen. Und mit Recht! Es gibt Sachen, die mit Recht vor uns verborgen sind – und sollen verborgen bleiben. Gott zeigt uns gerade soviel, als gut ist für uns. Mehr sogar. Ganz unnötig, die Tiere aufzuschneiden. Und hier – hier ist ein Buch, französisch!«

»Hm«, sagte Herr Preemby etwas nachgiebiger. Er nahm den zitronengelben Band in die Hand und drehte ihn um.

»Die viele Leserei!« sagte Frau Preemby und zeigte auf drei Regale mit Büchern.

Herr Preemby nahm seinen Mut zusammen. »Du kannst von mir nicht verlangen, daß ich gegen das Lesen bin, Christine,« sagte er, »es ist ein Vergnügen und belehrend. Es gibt Dinge in Büchern ... Wirklich, Christine, ich glaub', du würdest glücklicher sein, wenn du ein bißchen lesen würdest. Christina Alberta ist zum Lesen geschaffen, ob du's glaubst oder nicht. Sie hat's von mir, vermute ich.«

Frau Preemby stutzte und bemerkte den in ihm aufwallenden Widerstand; der Zorn in ihren Augen wurde durch ihre Gläser noch vergrößert. »Es ist wunderbar,« sagte sie nach einer kurzen Pause, »einfach wundervoll, wie Christina Alberta es anstellt, alles zu kriegen, was sie will.«

3

Fräulein Maltby-Neverson, die Leiterin der ‹Schule der Gastwirte›, besuchte Frau Preemby und erschütterte sie in ihrem Entschluß ziemlich stark. Sie war offensichtlich eine richtige Dame, und während der Schulzeit brachte die Schulwäsche bis zu zwanzig Pfund Sterling die Woche. Es wurde ihr das skandalöse Bild gezeigt, und sie sagte: »Sehr schön, in der Tat. Eines der wirklich großen Bilder in der Welt. Tie-ief religiös. Es sind wahrhaftig die Worte der Bibel zu einem Bild geformt. Was finden Sie daran auszusetzen, Frau Preemby?«

Woraufhin, wie durch einen Zauber, das Bild aufhörte, skandalös zu sein, und Frau Preemby sich vor sich selbst schämte. Jetzt sah sie ein, daß an dem Bild niemals etwas Schlimmes gewesen war.

Fräulein Maltby-Neverson sagte, daß Christina Alberta ein schwieriger Typus, aber eine durchaus interessante Persönlichkeit sei, eine wirkliche Persönlichkeit. Sie sei für Liebe sehr empfänglich.

»Ich hab' das nicht gefunden«, sagte Frau Preemby.

»Sie ist ein Typus, den ich studiert habe«, sagte Fräulein Maltby-Neverson einfach, aber entschieden.

Sie erklärte, daß Christina Alberta zu dem aktiven Typus gehöre. Sich selbst überlassen, ohne eine Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten ausnützen könne, werde sie leicht auf schlechte Wege geraten. Nicht daß irgend etwas wesentlich Schlechtes in ihr wäre. Es sei bloß Energie. Bei guter, ernster Arbeit und einem Ziel für ihren Ehrgeiz könne sie eine sehr tüchtige Frau werden, in der Tat – möglicherweise sogar eine hervorragende Frau.

»Ich hab' keine Verwendung für hervorragende Frauen«, sagte Frau Preemby kurz.

»Aber die Welt«, sagte Fräulein Maltby-Neverson sanft.

»Ich fürchte, ich bin von der altmodischen Art«, sagte Frau Preemby.

»Christina Alberta eben nicht.«

»Laßt den Mann draußen hervorragend sein und die Frau im Hause«, sagte Frau Preemby. »Es tut mir leid, daß ich andrer Meinung bin als Sie, Fräulein Maltby-Neverson, aber niemand kann was für seine eigenen Meinungen.«

»Das hängt von uns selbst ab«, sagte Fräulein Maltby-Neverson.

»Es tut mir leid, aber ich bin dafür, daß die Männer herrschen«, sagte Frau Preemby. »Die Frau hat ihre eigene Stellung in der Welt, und das ist nicht die des Mannes.«

»Aber ich dachte doch, Herr Preemby begünstige die Idee mit der Freistelle.«

Frau Preemby wurde verwirrt. »Das tut er auch«, sagte sie, als ob sie nicht ganz klar sehen könne, was das mit der ganzen Sache zu tun habe.

»Lassen Sie es auf eine Probe ankommen«, sagte Fräulein Maltby-Neverson. »Schließlich und endlich, vielleicht erlangt sie die Freistelle gar nicht.«

Aber Christina Alberta errang sie sich und noch dazu mit Leichtigkeit. Sie riskierte dabei nichts. Es war eine Freistelle für zwei Jahre, die ein Wohltäter mit fortschrittlichen Anschauungen an der Londoner Schule für Nationalökonomie gestiftet hatte. Sobald sich Christina Alberta derselben sicher wußte, ging sie, ohne ihre Mutter oder irgend jemand zu befragen, zu einem Friseur und ließ sich einen Bubikopf schneiden. Für Frau Preemby war das beinahe ein noch härterer Schlag als die Freistelle. Sie betrachtete ihre struwwelköpfige, großnasige Tochter in ihrem kurzen Turnröckchen mit einer Anwandlung aufrichtigen Hasses.

Sie hätte gewünscht, ihre Tochter könnte sich selbst so sehen, wie sie sie sah. »Ich möchte nur, daß du dich einmal selber sehn könntest«, sagte sie mit verhaltener Bitterkeit.

»Ach, ich weiß schon«, sagte Christina Alberta.

»Es kommt mir vor, als ob ich durch dich gestraft werden sollte«, sagte Frau Preemby.

4

Christina Alberta hatte erst ein Jahr lang an der Londoner Schule für Nationalökonomie studiert und begann gerade mit dem zweiten, als ihre Mutter sie zwang, auf die Freistelle zu verzichten. Christina Alberta war eines Abends lange in London geblieben, ohne ihrer Mutter vorher etwas davon zu sagen – sie war nämlich zu einer Diskussion über die Bevölkerungsfrage im ‹New Hope Club› in der Fitzgeraldstraße gegangen –, und als sie nachhause kam, hatte sie so stark nach Tabak gerochen, daß ihre Mutter alle Zugeständnisse, die sie hie und da der ‹Moderne› gemacht hatte, bereute und widerrief.

Sie hatte auf diesen Augenblick schon seit Monaten gewartet.

»Jetzt ist es aus«, sagte sie, als sie ihre Tochter einließ.

Christina Alberta sah, daß es augenblicklich keinen Weg rund um oder mitten durch diese Entscheidung gab. Vergeblich bearbeitete sie ihren Vater und Fräulein Maltby-Neverson. Jedoch anstatt die Freistelle geradewegs aufzugeben, wie sie geheißen worden war, suchte sie um eine Verlängerung nach und begründete ihre Abwesenheit durch einen unbestimmten Hinweis auf Familienangelegenheiten.

Mit Frau Preembys Gesundheit stand es in jenen Tagen bereits sehr schlecht, aber dieser Umstand war sowohl in ihrer Tochter als in ihres Gatten Augen vollständig durch den viel dringlicheren überschattet, daß sie jetzt beständig sehr gereizt war. Alles hatte sich verschworen, sie zu quälen – Herrn Preemby ausgenommen, der sich hütete, das zu tun.

Die letzten Jahre des Großen Krieges und mehr noch das erste Jahr des enttäuschenden Friedens waren Jahre äußerst großer Schwierigkeiten für das Wäschereigeschäft. Die Munitionsfabriken bezahlten die Wäschermädchen besser, als es ihre eigene Branche tat, und es ließ sich nichts mehr mit ihnen anfangen. Kohle, Seife, alles stieg ins Ungemessene, und es war unmöglich, bei den Kunden die erhöhten Ausgaben hereinzubringen. Die Leute, selbst die besten unter ihnen, gaben die Reinlichkeit auf. Herren von Rang zogen ihre Frackhemden drei- oder viermal an, und ihre Unterhemden und Unterhosen mußten vierzehn Tage lang aushalten. Die Hauswäsche wurde dementsprechend lange benützt. Die Leute wechselten ihren Wohnsitz; die Offiziersgattin kam und ging, war heute da und morgen dort und ließ unbezahlte Rechnungen zurück. Niemals hatte Frau Preemby eine solche Menge böser Schulden gekannt. Die Wagenkutscher kamen so überreizt und so militarisiert aus der Armee zurück, daß sie aus purer Nervosität und Gewohnheit veruntreuten. Die Einkommensteuer wurde zu einem Nachtmahr. Äußerlich und innerlich war Frau Preembys Leben ein Kampf. Sie hielt zwar die Wäscherei ‹Zum klaren Bach› diese ganze fürchterliche Zeit hindurch aufrecht, weil sie ein Verwaltungsgenie war, doch tat sie es mit einem schrecklichen Verlust an Lebenskraft.

Sie begann bitter darüber zu klagen, daß ihr Herr Preemby und ihre Tochter nicht halfen; wenn sie ihr aber zu helfen versuchten, dann schimpfte sie über ihre Unfähigkeit. Sie richteten mehr Schaden als Nutzen an.

Die Mahlzeiten waren schrecklich. Sie pflegte mit gerötetem Gesicht und durch ihre Gläser starrend dazusitzen, offenbar von einer leidenschaftlichen Erkenntnis der Ungerechtigkeit dieser Welt niedergedrückt, und sehr wenig zu essen. Herrn Preembys Versuche, eine fröhliche Unterhaltung anzuknüpfen, waren selten erfolgreich. Sogar Christina Alberta fürchtete sich.

»Na, die Sachen gehen wohl ein bißchen besser heute morgen?« versuchte Herr Preemby.

»Kann ich nicht einmal beim Essen Ruhe vom Geschäft haben?« beklagte sich die arme Frau.

Oder: »Sieht aus, als ob es schönes Wetter geben würde fürs Derby.«

»Wirklich schade, daß du nicht hin kannst. Du hast wohl nicht gehört, was mit dem Wagen Numero zwei passiert ist?«

»Nein!« sagte Herr Preemby.

»Natürlich nicht. Der hintere Kotschützer ruiniert. Schon seit Wochen. Und niemand weiß, wer's getan hat. Man sollte glauben, um so was müßte sich der Mann wenigstens kümmern, aber nein – mir wird es überlassen, den Schaden zu entdecken. Und dafür zu zahlen. Wie überhaupt alles in dieser Wirtschaft.«

»Da werde ich wohl Nachforschungen anstellen müssen.«

»Deine Nachforschungen, die kenn' ich schon. Besser, du läßt die ganze Geschichte sein, wie sie ist. Lachen und sagen, es war nichts ...«

Das Schweigen der Mahlzeit pflegte damit wiederhergestellt zu sein.

Sie schien besonderen Wert auf dieses schreckliche Schweigen zu legen. Sie beklagte sich sogar, daß er seinen Käsezwieback hörbar esse. Aber wie anders kann man denn einen Käsezwieback essen? Christina Alberta war aus härterem Holze und wurde streitlustig. Da pflegte ihre Mutter gegen ihre Frechheit loszufahren und zu erklären: »Entweder verläßt du den Tisch oder ich.«

»Ich geh' hinauf, lesen«, sagte Christina Alberta. »Es ist ja nicht mein Wunsch, daß ich hier zu Mittag esse.«

Vor dem jähen Abbruch von Christina Albertas akademischer Laufbahn war sie nur beim Frühstück und Abendbrot anwesend gewesen; das Abendbrot war, was die Stimmung betraf, nicht halb so schrecklich wie das Frühstück, und beim Frühstück wiederum konnte man leicht aufstehen und verschwinden; aber nach der Katastrophe mit dem ‹New Hope Club› war sie bei allen Mahlzeiten anwesend, eine Art Blitzableiter für ihren Vater und eine Art Hemmnis und zugleich auch eine neue Quelle der Erbitterung für ihre Mutter. Sie nahm es als eine ausgemachte Sache an, daß sie, da ihre akademische Laufbahn zu Ende war, in die Wäscherei eintreten müsse; aber sie bestand hartnäckig darauf, daß man, wenn man dies unter modernen Verhältnissen auch nur mit einiger Aussicht auf Erfolg tun wolle, eine ‹kaufmännische Spezialbildung› haben müsse. Wenn sie schon nicht in die Londoner Schule für Nationalökonomie gehen könne, so müsse sie wenigstens in Tomlinsons ‹Schule für kaufmännische Ausbildung› in Chancery Lane gehen und Buchhaltung, Stenographie, Maschineschreiben, Geschäftskorrespondenz, knappe Ausdrucksweise, kaufmännisches Französisch und so weiter lernen. Und nach drei Wochen peinlicher Mittagessen wurde dieser Vorschlag unter verschärften Bedingungen angenommen und ihre Monatsfahrkarte nach London erneuert. So arbeitete sie sich noch einmal einen Winter lang recht erträglich durch, wobei sie Tomlinson als ihre Schule, den größten Teil Londons aber als ihren Spielplatz benutzte. Sie lernte alles mögliche. Eine neue Reihe von Freundinnen und Bekanntschaften – einige mit Bubikopf und andere ohne – höchst verschiedener Herkunft und Gesellschaftsklasse kam zu dem Kreis hinzu, den sie sich bereits an der Londoner Schule für Nationalökonomie erworben hatte.

Als Frau Preemby bald darauf von einem stechenden Schmerz, der sie bedrücke, zu sprechen anfing, hielten es ihr Gatte wie ihre Tochter zuerst für eine neue Auswirkung der allgemeinen Unzufriedenheit mit ihnen und legten dem weiter keine besondere Bedeutung bei. Herr Preemby sagte, er sei der Ansicht, sie solle zu einem Arzt gehen, um sich Rat zu holen, oder ihn kommen lassen; doch diesen Vorschlag behandelte sie einige Tage lang mit Verachtung. Wenn sie den Doktor einmal im Haus hätte, sagte sie, dann würden sie sich nach jemand anderem umschauen müssen, der die Wäscherei führen könne. Die Doktoren schicken einen ins Bett und geben einem Sachen, die einem das Aufstehen unmöglich machen. Wie könnten sie denn sonst leben?

Dann plötzlich wurde sie andern Sinnes. Eines Morgens gab sie zu, daß sie sich ‹elend› fühle. Sie ging wieder zu Bett, und Herr Preemby trottete mit bösen Vorahnungen, daß die Welt nun dem Ende entgegengehe, fort nach einem Doktor. Das Fieberthermometer zeigte eine Temperatur von 38.5 Grad Celsius. »Es tut weh. Die Seite tut mir so weh«, sagte Frau Preemby. »Ich hab's schon früher einmal gehabt, aber nicht so stark.«

Christina Alberta kam an diesem Abend nachhause, um zu entdecken, daß sie zu Furcht, Reue und Zärtlichkeit fähig war.

Sie erlebte einige seltsame Augenblicke mit ihrer Mutter, zwischen Phasen von schwachem Delirium und Empfindungslosigkeit. Frau Preemby schien schmaler und hübscher geworden zu sein; die Fieberröte auf ihren Wangen ließ sie jünger erscheinen. Sie war nicht mehr böse oder ärgerlich, sondern pathetisch freundlich. Und Christina Alberta hatte sie seit Jahren nicht im Bett gesehen. »Gib acht auf deinen Vati«, sagte Frau Preemby. »Du bist ihm mehr schuldig – und auch wieder weniger –, als du denkst. Was ich getan habe, hab' ich tun müssen. Gib acht auf ihn, sorg' für ihn. Er ist sanft und gut und leicht zu überreden, und man darf ihn nicht allein lassen in der Welt.

Ich bin nie ganz so zu dir gewesen, wie eine Mutter hätte sein sollen. Aber du warst auch schwierig, Christina. Ich hab' großen Respekt vor dir gehabt ...

Ich bin froh, daß du nicht meine Augen hast. Gläser sind ein Fluch ...«

Sorge um die Wäscherei nahm einen großen Teil ihrer Gedanken in Anspruch.

»Diese Frau Smithers im Waschraum ist eine Diebin, und ich möchte den neuen Mann da, Baxandale, gern loswerden. Ich weiß wirklich nicht, warum ich die Frau Smithers so lang behalten hab' ... Schwäche ... Ich bin nicht sicher wegen ihm, es ist ihm noch gar nichts Positives nachzuweisen, aber ich spür's, er ist nicht ehrlich ... Ich fürchte sehr, wir haben Frau von Badgers Rechnung zu lang laufen lassen. Titel heutzutage – man muß aufpassen. Sie hat mich irregeführt. Sie hat mir einen Scheck versprochen ... Aber ich halte nicht viel von euch beiden in der Wäscherei, ganz und gar nicht. Er kann es nicht und du willst es nicht. Du hättest es leisten können ... Na, das macht ja jetzt nichts mehr.

Den ganzen Betrieb verkaufen? Die Widgerys könnten herkommen. Er ist habgierig, aber ehrlich. Die möchten wahrscheinlich ganz gern herkommen ...

Ich hab' nie daran gedacht, daß ich jetzt schon nicht mehr weiter rackern würde können! ... Ich wollte, der Doktor ließe das Operieren sein. Es wird doch nichts helfen.«

Sie wiederholte viele ihrer Sätze.

»Mir graut davor, aufgeschnitten zu werden«, sagte sie. »Wahrscheinlich ... Wie die Frösche in deinem Buch ...

Es ist doch alles in einem Körper wie in einem gut gepackten Koffer. Sie werden nichts mehr an seinen rechten Platz kriegen ...

Man wird einen Wäschekorb oder sowas brauchen, damit alles zusammenhält.«

Dann wandte sich ihr Geist Dingen zu, die außerhalb Christina Albertas Verständnis lagen.

»Schleicht sich weg und läßt mich damit ... Ich möchte wissen, was er jetzt treibt ... Wenn ich mir vorstelle ... Komisch, wenn er mich zu operieren hätte ... Operieren ...

Wir waren ja noch Kinder.«

Sie schien sich wieder zu besinnen und betrachtete ihre Tochter mit streng forschendem Auge. Irgendein Instinkt in Christina Alberta riet ihr, eine gleichgültige Miene zu machen. Doch schlugen diese Worte bei ihr ein, setzten sich fest und keimten wie eine Saat. Kinder waren sie gewesen, und er war davongeschlichen? Sonderbar, und doch ließ es sich mit so vielem Unerklärlichen in Einklang bringen.

5

Herr Preemby sah ungewöhnlich schmal, aber auch ungewöhnlich würdevoll in seinen Trauerkleidern aus. Auch Christina Alberta war äußerst schwarz und glänzend. Ihre Röcke reichten zum erstenmal in ihrem Leben bis zu den Knöcheln, ein Opfer, das, wie sie fühlte, dem Geist der Verstorbenen besonders angenehm sein würde.

Etwas Neues war in Christina Albertas Leben gekommen – Verantwortlichkeit. Sie empfand, daß sie aus irgendwelchen unerforschlichen Gründen für Herrn Preemby verantwortlich war.

Es war klar, daß der plötzliche Tod seiner Frau unter des Chirurgen Messer ein furchtbarer Schlag für ihn gewesen war. Er brach weder zusammen, noch weinte er oder gab sich übermäßigen Ausbrüchen des Kummers hin, aber er war unendlich still und traurig. Seine runden, porzellanblauen Augen und sein Schnurrbart schauten mit trauervoller Feierlichkeit in die Welt. Der Leichenbestatter hatte kaum jemals einen so zufriedenstellenden Witwer gesehen. »Alles vom Besten«, sagte Herr Preemby. »Alles, was sie haben kann, muß sie haben.« Unter den herrschenden Umständen zeigte der Leichenbestatter, der übrigens ein Freund der Familie war, und beide, Herrn und Frau Preemby, ziemlich oft beim Whistspiel getroffen hatte, lobenswerte Mäßigung.

»Du kannst dir nicht vorstellen, was das alles für mich bedeutet«, sagte Herr Preemby zu Christina Alberta immer wieder. »Es war reine Liebe,« sagte er, »reine Romantik. Sie hatte nichts zu gewinnen durch die Heirat. Aber keiner von uns dachte an niedrige Dinge.« Er schwieg für eine kurze Weile, indem er mit jäh aufsteigenden Erinnerungen kämpfte. Er unterdrückte sie. »Wir trafen uns eben,« sagte er leise lächelnd, »und es sah so aus, als ob es so sein müßte

‹Schleicht sich weg und läßt mich damit allein›, flüsterte es leise in Christina Albertas Gedächtnis.

6

In jenen Tagen der Trauer gab es eine Menge zu tun. Christina Alberta gab sich alle Mühe, Herrn Preemby zu helfen, ihn zu bewachen und zu führen, ganz so wie es ihre Mutter gewünscht hatte, aber sie war sehr erstaunt, bei ihm auf gewisse, gänzlich unerwartete Entscheidungen zu stoßen, die offenbar innerhalb weniger Stunden nach ihrer Mutter Tod ins Leben gesprungen waren. Eine von diesen war der klare Entschluß, daß er und sie sich von der Wäscherei trennen müßten, entweder durch Verkaufen oder Vermieten oder, falls sie gar nicht anzubringen wäre, indem man sie niederbrannte oder in die Luft sprengte, so rasch wie nur möglich. Er sprach gar nicht darüber; er betrachtete das als eine unvermeidliche Notwendigkeit. Er gab keiner Feindseligkeit gegen die Wäscherei Ausdruck; er übte keine gehässige Kritik an dem Leben, das er dort geführt hatte, aber jeder seiner Gedanken verriet seine grundsätzliche Abneigung. Und ebenso müßten sie fort von hier – ganz fort – weg von Woodford Wells, und niemals wieder dahin zurückkehren. Sie war auf eigene Rechnung so ziemlich zu denselben Entscheidungen gelangt, hatte aber nicht erwartet, sie bei ihm in solch ruhiger Stärke anzutreffen.

Als sie am Abend des Begräbnisses beim Nachtmahl saßen, ließ er sich über die Zukunft deutlicher aus.

»Der Vetter deiner Mutter, Samuel Widgery,« sagte er, »hat mit mir gesprochen.«

Er kaute einen Augenblick; sein Schnurrbart ging auf und nieder und seine porzellanblauen Augen starrten durch das Fenster hinaus auf den Abendhimmel. »Er möchte sie übernehmen.«

»Die Wäscherei?«

»Als einen laufenden Betrieb. Und weil er sozusagen unser nächster Verwandter ist, möchte ich lieber, er bekäme sie als irgendwer anderer. Alles andre bleibt sich ja gleich ... Ich möchte wissen, wieviel ich von ihm verlangen soll. Ich möchte nicht eben zu wenig von ihm verlangen. So habe sie gesagt, es sei mir nicht angenehm, diese Sache beim Begräbnis zu besprechen. Er täte besser, morgen wieder herzukommen. Sein jetziges Geschäft geht nicht gerade glänzend. Walthamstow liegt gar so abseits. Er möchte das Geschäft aufgeben und den Boden als Baugrund verkaufen. Er hat freilich nicht sehr viel Geld ... Aber er möchte die Wäscherei haben. Er möchte sie wirklich gern haben.«

Seine blauen Augen leuchteten, als ob er Visionen hätte.

»Ich weiß nicht, ob ihr in der Schule für Nationalökonomie etwas davon gelernt habt, wie man Gesellschaften gründet. Ich bin ein Kind in allen diesen Dingen. Er spricht von Teilhaberschaft oder einer Hypothek oder dergleichen, aber was wir brauchen – was wir brauchen, ist eine Aktiengesellschaft. Und was wir brauchen, ist so etwas wie Schuldscheine oder eigentlich mehr wie Prioritätsaktien. Wir müssen es so einrichten, daß wir, was er auch aus dem Geschäft herausschlägt, berechtigt sind, noch mehr herauszuschlagen. Denn sonst kann dir die Gesellschaft die Sicherheit für deine Schuldscheine entziehen, indem sie zuviel Dividenden an die gewöhnlichen Aktionäre zahlt. Er soll die gewöhnlichen Aktien haben. Er und seine Frau. Ich sag' ja nicht, daß er sowas mit Absicht tun würde, aber er könnte ganz leicht dazu gebracht werden. Man muß auf ihn aufpassen. Wir müssen es so abmachen, daß, wenn er mehr für seine Aktien zahlt, als wir für unsere Aktien kriegen, unsere Zinsen gleich sind. Es ist alles recht schwierig und kompliziert, Christina Alberta.«

Christina Alberta betrachtete Herrn Preemby mit neuem, wachsendem Respekt. Niemals zuvor hatte sie ihn eine solche Rede bei den Mahlzeiten halten hören, aber er war auch niemals zuvor vor Unterbrechungen und Verbesserungen sicher gewesen.

»Wir werden alles von unseren Anwälten gehörig festsetzen lassen müssen«, sagte Herr Preemby.

»Wir dürfen nicht schlecht wegkommen«, fuhr er fort und nahm sich ein Stück Käse. »Wir haben etliche Hypotheken und ein paar Häuser in Buckhurst Hill. Es ist komisch, aber deine arme teure Mutter hatte eine Art Vertrauen in meinen Blick für Häuser. Oft ließ sie sich in dem Punkt von mir bestimmen. Und ich habe immer ein Gefühl gehabt, daß wir irgendeine Reserve außerhalb des Geschäftes anlegen sollen ... Höchstwahrscheinlich will Samuel Widgery den größten Teil der Möbel in diesem Haus mitübernehmen. Es ist ein größeres Haus als das seine.«

»Wo gedenkst du denn dann zu leben, Vati?« fragte Christina Alberta.

»Ich weiß noch nicht recht«, sagte Herr Preemby nach kurzem Nachsinnen. »Ich denke vorläufig noch an verschiedene Orte.«

»London«, sagte sie. »Wenn ich weiterstudieren könnte – ehe es zu spät ist.«

»London,« sagte er, »kann sein.«

Er zögerte weiterzusprechen – war er es doch gewöhnt, daß seine Vorschläge immer verworfen wurden. »Hast du jemals von Pensionen gehört, Christina Alberta?« fragte er mit verstellter Gleichgültigkeit. »Hast du jemals daran gedacht, daß wir zwei in einer Pension leben könnten?«

»In London?«

»Pensionen gibt's fast überall. Weißt du, Christina Alberta, wir könnten unsere Möbel hier verkaufen, bis auf meine Bücher und ein paar kleine Stücke, und auch davon könnten wir das meiste für eine Zeit abstellen – Taylors Möbelmagazin würde die Sachen übernehmen – und wir könnten losziehn und bald hier, bald dort in einer Pension leben. Dann könntest du studieren und brauchtest nicht die Wirtschaft zu führen, und ich könnte lesen und mir alles mögliche anschaun und Notizen über verschiedene Theorien machen, über die ich nachgedacht habe, und mit allerlei Leuten sprechen und die Leute sprechen hören. Alle möglichen Leute kommen in Pensionen – alle möglichen interessanten Leute. Diese letzten Nächte hab' ich unaufhörlich über das Leben in Pensionen nachgedacht. Ich komm' von dem Gedanken nicht los und dreh' und wende ihn nach allen Seiten. Es wäre ein neues Leben für mich – als ob ich von vorne anfinge. Das Leben hier ist so ruhig gewesen, so regelmäßig. Alles ganz schön, solange deine arme, teure Mutter noch am Leben war, aber nun brauche ich Zerstreuung, ich möchte herumkommen und alle möglichen Dinge und verschiedene Arten von Menschen sehen. Ich muß vergessen. Schau, in mancher dieser Pensionen, da gibt's Chinesen und Inder und russische Prinzessinnen, Professoren und Schauspieler und allerhand Leute. Die erzählen zu hören, denk nur!«

»In Bloomsbury gibt es Pensionen voll von Studenten.«

»Jeder Art«, sagte Herr Preemby.

»Ein Ort, der mich anzieht,« sagte Herr Preemby, indem er den letzten Tropfen des Bieres einschenkte, »ist Tumbridge Wells.«

»Heißt das nicht Tunbridge, Vati?«

»Früher hieß es so. Aber jetzt nennt man es Tumbridge Wells. Dort in Tumbridge Wells, Christina Alberta, dort gibt es Hügel mit Namen, die direkt auf irgendeinen Zusammenhang mit den alten Israeliten hindeuten, Ephraimsberg und Gilboaberg und so weiter, und dort ist auch eine Anzahl höchst merkwürdig geformter Felsen in der Gestalt von großen Kröten, prähistorischen Ungeheuern und mystischen Formen, und niemand weiß, ob es Werke von Gottes Hand sind oder des Menschen. Ich möchte diese Hügel und Felsen sehr gerne mit eigenen Augen sehen. Sie mögen eine tiefere und geheimnisvollere Bedeutung für uns haben, als man so gemeinhin annimmt. Es gibt eine Unzahl Pensionen in Tumbridge Wells – erst kürzlich hat mir das ein Mann erzählt, den ich im Assyrischen Saal des Britischen Museums getroffen habe – und manche davon sollen recht gemütlich sein und dazu billig.«

»Wir könnten ja in den Ferien dorthin gehn,« sagte Christina Alberta, »bevor die Vorlesungen in London beginnen.«

Draußen lag das Sommerabendrot, und dämmeriger Friede füllte das Zimmer. Vater und Tochter folgten verschiedenen Gedankenrichtungen. Herr Preemby brach das Schweigen zuerst.

»Jetzt, wo ich einige Zeit in Trauer sein werde, oder in Halbtrauer, hab' ich mich entschlossen, alle meine Golfanzüge aus Harris Tweed und meine Wadenstrümpfe wegzugeben. Irgendein armer Mann wird vielleicht damit glücklich sein – im Winter. Ich hab' diese allzu bauschigen Kniehosen eigentlich nie recht leiden mögen, aber natürlich, solang deine arme, teure Mutter noch am Leben war, war ihr Geschmack für mich Gesetz. Und diese Kappen! Wenn einem heiß ist, rutschen sie einem über die Augen. Dieser Tweed ... Er wird überschätzt. Wenn man auf dem Rad oder irgendetwas fährt, fasert er ganz aus von der Reibung auf dem Sitz. Das sieht doch lächerlich aus ... Ich denke, daß ich mir möglichst bald einen weichen grauen Filzhut anschaffen werde – mit einem schwarzen Band.«

»Ich hab' mir schon immer gewünscht, dich in einem solchen zu sehen, Vati«, sagte Christina Alberta.

»Würde er als Trauer gelten?«

»Aber! Freilich, Vati.«

Herr Preemby dachte vergnüglich nach. Das Mädel hatte Verstand. Ihr Rat war etwas wert. »Was das Hakenkreuz auf dem Grabstein deiner armen, teuren Mutter betrifft, so kannst du schon recht haben, wenn du glaubst, daß sie es selbst nicht gewählt haben würde. Vielleicht ist's schließlich und endlich besser, zu tun, was du vorschlägst, und ein einfaches Kreuz zu setzen. Schließlich und endlich – es ist ja ihr Grabstein.«

Woraufhin Christina Alberta von ihrem Sitz aufstand und um den Tisch herumging – beinahe wäre sie gesprungen, doch sie erinnerte sich rechtzeitig des Ernstes der Stunde – und ihn küßte. Aus irgendeinem unbekannten Grunde haßte sie das Hakenkreuz beinahe ebenso, wie sie ihren Vati liebte. Für sie war es das Symbol der Albernheit geworden, und sie wollte sich ihn nicht als albern denken. Besonders jetzt, da sie ihn aus irgendeinem unbekannten Grunde für ungerecht behandelt zu halten begann.

7

Es gab noch viel zu tun, ehe die Preembys nach Tunbridge Wells gehen konnten. Eine ganze Anzahl von Verhandlungen mußte zuerst mit Herrn Samuel Widgery in Woodford Wells und dann in den verstaubten Kanzleien der Herren Payne und Punter in Lincoln's Inn, dem Londoner Advokatenviertel, stattfinden. Von Anfang an war es diesen gewiegten Herren klar, daß Herr Preemby in Geschäftssachen ein Kind war; doch als sie länger mit ihm zu tun hatten, stellten sie fest, daß er ein äußerst habgieriges und unlenksames Kind war. Es dauerte sechs Wochen, bevor Herr und Frau Samuel Widgery verstimmt und grollend in die Wäscherei ‹Zum klaren Bach› einziehen und Herr Preemby und seine Tochter nach einem zweitägigen Aufenthalt in London endlich darangehen konnten, sich nach einer Pension in Tunbridge Wells umzusehen.

Christina Alberta verbrachte diese Zeit als eine Waise, die gegen eine ganz unzeitgemäße Fröhlichkeit und ein tiefes Gefühl der Befreiung ankämpft. Sie fand ihren Vater bereit, beinahe jede Erklärung dafür anzunehmen, daß sie dringend auf einen Tag nach London fahren müsse; und er war sogar geneigt, nachsichtig zu sein, wenn sie spät nachhause kam. Sie besaß eine ganze kleine Welt verschiedenartigster Bekanntschaften in London: Studienkolleginnen und deren Freunde, Kolleginnen von der Londoner Schule für Nationalökonomie und Kolleginnen aus Tomlinsons Schule, Kunstakademiker, die sie kannten, und Mediziner, die sie kannten, und Mädchen aus der Provinz, die sich mit ihren Familien überworfen hatten und nun Maschineschreibereien annahmen, und so weiter bis zu Modellen und Choristinnen und unbestimmbar beschäftigten ziemlich alten Jünglingen der intellektuellen Klasse. Sie traf sie in oder vor den Hörsälen, in A. B. C.-Restaurants oder dergleichen Lokalen und im ‹New Hope Club›, wo es sogar Arbeiterparteiler gab und Männer, die sich für Bolschewiken ausgaben, und sie besuchte Gesellschaften und führte unter vier Augen in hohen, entlegenen ungewöhnlichen Etagenwohnungen Gespräche. All das machte ihr viel Spaß, obzwar sie die meisten dieser Zusammenkünfte vor ihrem Vater geheim halten mußte. Und die Leute hatten sie gern, hatten Christina Alberta gern, lachten über ihre Späße, ja, bewunderten ihre verteufelte Frechheit und sagten niemals etwas über ihre Nase. Hier war sie viel mehr zuhause, als sie es jemals in der Schule der Gastwirte gewesen war. Niemand schien sich etwas daraus zu machen, daß sie aus einer Wäscherei kam; sie hätte ebensogut aus einem Gefängnis kommen können. Zwischen den Aufregungen des Studentenlebens fand sie sogar noch Zeit, einiges zu lesen.

Im ersten Schmerz um ihre Mutter versuchte sie, trotz all dieser Abenteuer und Erlebnisse nicht das Gefühl schrankenloser Freiheit in sich aufkommen zu lassen. Ihr Vati in seiner Trauer, Gott segne ihn! rauchte viel mehr als je zuvor; er versuchte es sogar mit Zigarren; er hatte keine Nase dafür, wenn seine Tochter nach Tabak roch – oder für irgendetwas dergleichen. Er stellte wenig Fragen, und diese waren leicht zu beantworten. Durch lange Jahre der Übung war er beinahe zur verkörperten Nachgiebigkeit geworden. Christina Alberta wurde sich darüber klar, daß sie innerhalb sehr weiter Grenzen jetzt wirklich alles tun konnte, was ihr Spaß machte, wann immer sie Lust dazu hatte. Ebenso wurde sie sich klar, daß es gar keine besondere Eile damit habe, irgendetwas zu tun. Alle anderen schienen in Paaren herumzulaufen, wie Messer und Gabel. Ihr taugte es, allein zu stehen.

Und die Welt hatte sich geändert. Die Auflösung des alten Haushalts, der Tod ihrer Mutter, das Verschwinden jeder Kontrolle, ausgenommen derjenigen ihres leichtgläubigen, unachtsamen Vatis, hatten sie aus der Kindheit zur Reife vorwärtsgerückt. Bis jetzt war ihr das ‹Zuhause › als etwas Ewiges, Unantastbares erschienen, von wo aus man auf Abenteuer auszog, wohin man, was immer geschehen mochte, wie ein Seeräuber zur Ruhe zurückkehrte, wo man zu Bett ging und schlief, wie man es gewohnt war, sicher, von keiner Gefahr bedroht. Jetzt waren sie beide, ihr Vati und sie selbst, auf offener See; nirgends ein Unterschlupf für sie; alles mögliche konnte ihnen geschehen, und Gott weiß, was für ein Ende es nehmen mochte. Sie durfte jetzt alles tun, was ihr gerade Spaß machte, das war wohl wahr, doch war sie sich auch darüber klar, daß sie nunmehr alle Folgen ihres Tuns auf sich zu nehmen hatte.

Sodaß Christina Alberta trotz des Gefühls dieser ihrer neuen, ungebundenen Freiheit fand, daß sie nicht öfter nach London fuhr als zu ihrer Mutter Lebzeiten. Freilich waren viele ihrer anziehendsten Freundinnen während der Ferien weg. Und ihres Vaters Gesellschaft schien ihr ungewöhnlich interessant. Jedesmal, wenn sie wieder zu ihm zurückkam, schien er ein wenig breiter geworden und von festerer Farbe und Beschaffenheit zu sein. Er erinnerte sie an Praktische Biologie (Botanische Abteilung) in der Schule der Gastwirte; da nimmt man eine getrocknete Bohne aus der Papierhülle heraus, legt sie in ein Einsiedeglas mit Wasser und beobachtet sie unter dem Einfluß von Wärme und Feuchtigkeit. Sie keimt. Auch er fing an zu keimen.

Mutter hatte ihn ja während nahezu zwanzig Jahren trocken gehalten, aber jetzt fing er an zu keimen, und kein Mensch konnte sagen, was aus ihm noch werden mochte.


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