Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.
In den Lonsdale-Stallungen

1

Nach einem Monate tiefer Trauer legte Christina Alberta ihre langen Röcke beiseite und kehrte zu den Kittelkleidern zurück, an die sie gewöhnt war. Sie war nicht untätig gewesen, während ihr Vater seine geschäftlichen Angelegenheiten mit Herrn Samuel Widgery ordnete, sondern hatte einen Zukunftsplan ausgearbeitet, der für ihren Vater und sie selbst ein recht glückliches Leben zu versprechen schien. Sie hatte sich mit der Pensionsidee abgefunden und auch mit dem Projekt, in Tunbridge Wells damit anzufangen. Sie gab es auf, gegen die Tatsache anzukämpfen, daß er nicht aufhörte, es ruhig und hartnäckig Tumbridge Wells zu nennen; sie kam zu der Überzeugung, daß Tumbridge Wells wirklich der Ort war, an dem zu leben, er zumindest, unter allen Umständen beschlossen hatte. Diese gelinde Abweichung von der strengen Genauigkeit war so recht ein Stück seiner gewohnten Art, immer ein bißchen abseits von der Wirklichkeit zu leben.

Doch brachte sie es fertig, ihn zu der folgenden Ansicht zu bekehren: da sie nun einmal hinfort ein Wanderleben zu führen haben würden, und da noch eine Menge Bücher, unverkäufliche Einrichtungsgegenstände, die Frau Widgery nicht zu einem entsprechenden Preise übernehmen wollte, und eine Anzahl Seltenheiten – zum Beispiel das Stück einer Eischale, von dem er glaubte, es sei das Fragment eines Eies vom Großen Alk, ein Rosenkreuzer-Abzeichen und ein mumifizierter Habicht aus Ägypten, der prophetische Eigenschaften besaß, – unterzubringen seien, müßten sie irgendein ständiges Hauptquartier in London haben, wo diese Gegenstände aufbewahrt werden und wohin er und sie aus den verschiedenen Pensionen rings in der Welt zurückkehren könnten. Und im Verfolg dieses Vorschlages zog sie Erkundigungen ein und arbeitete einen vortrefflichen Plan aus, wonach sie eine Wohnung in Chelsea, die eigentlich ein umgewandelter Stall war, mit zweien ihrer jungen Freunde, die Kunst, Literatur und eine malerische Sparsamkeit betrieben, zu teilen hatten. Das heißt, sie machte alles fix und fertig mit ihnen ab. Sie erzählte Herrn Preemby, sie habe diese Abmachungen gemäß seinen Aufträgen getroffen, und nach einiger Zeit kam es ihm selbst so vor, als habe er ihr Aufträge gegeben, nach denen sie handelte.

Die Lonsdale-Stallungen führen auf die Lonsdalestraße in Chelsea hinaus und haben einen recht vornehmen Eingang mit großen Stuckpfeilern auf jeder Seite und einem Bogen darüber, an dem ein Relief Neptuns mit seinen Seerossen angebracht ist und die Worte ‹Lonsdale-Stallungen› zu lesen sind. Im Innern waren einst Ställe und Wagenschuppen gewesen und darüber je ein Schlaf- und ein Wohnzimmer, das in der kinderreichen Vergangenheit gewöhnlich auch als Schlafraum benutzt wurde, eine Speisekammer, ein Vorplatz und so weiter, das kleine Heim des Kutschers (mit Weib und Kindern), der zu der vornehmen Karosse und den Pferden unten gehörte. Doch der Fortschritt der Wissenschaft und das Überhandnehmen der Erfindungen haben die Vornehmheit abgeschafft und damit die Zahl der Kutscher und Karossen in der Welt so sehr vermindert, daß die Lonsdale-Stallungen sich dazu bequemen mußten, andere Mieter aufzunehmen; und da sie gegen die Mitte hin zu eng waren, sodaß Automobile nicht ein- und ausfahren konnten, ohne gewöhnlich ihre Kotschützer und Kühler zu zerschlagen, mußten sie sich anziehend anmalen und ihre Zuflucht bei der Kunst und Intelligenz suchen.

Christina Albertas beide jungen Freunde waren also im Besitz einer dieser verwandelten Kutscherwohnungen, und da sie nicht die ganze Miete aufbringen konnten, – es war eine ganz aristokratische Miete –, waren sie natürlich äußerst froh, Herrn Preemby und ganz besonders Christina Alberta als Mitbewohner zu begrüßen. Herr Preemby sollte das große Zimmer unten haben und sich dort mit seinen Büchern, seinen überflüssigen Möbeln, seinen Zieraten und Seltenheiten einrichten und ein Sofa bekommen, das in ein Bett verwandelt werden konnte, wenn er in London zu schlafen wünschte. Christina Alberta sollte ein kleines Schlafzimmer, das dahinter lag, für sich allein haben, worin ein luftiges Tapetenmuster in Orange und Hellblau einen gewissen Mangel an Tageslicht und frischer Luft mehr als wettmachte. Wenn aber die beiden jungen Freunde eine Gesellschaft gaben oder wenn Herr Preemby fort war, dann sollte ihnen auch die Benützung des großen Zimmers unten zustehen und im Falle einer Gesellschaft Christina Albertas Kabinett als Damengarderobe dienen. Den Vermietern waren die oberen Räume vorbehalten, und Küche und Küchengeräte standen allen gemeinsam zur Verfügung. Keine dieser Vereinbarungen wurde zu Papier gebracht, und manche strittige Frage wurde freimütig einer zukünftigen Auseinandersetzung überlassen. »Wir haben die Braven zu sein, die die Miete bezahlen«, sagte Christina Alberta; das war der Hauptgedanke. »Das und jenes wollen wir abmachen«, sagte Herr Harold Crumb. »Vieles wird sich von selbst ergeben. Es ist nicht gut, wenn man zu definitiv ist.« Eines aber war definitiv: Herr Preemby mußte die Miete bezahlen.

Herr Harold Crumb war ein Jüngling mit einem roten Haarschopf und einem wilden Profil, in blauem Kittel, schäbigen grauen Hosen und Pantoffeln. Er hatte große, sommersprossige Hände und arbeitete in ‹Schwarz und Weiß›, was nicht, wie Herr Preemby geglaubt hatte, ein Schnaps, sondern, wie er jetzt entdeckte, eine Kunst war. Harold lebte von den Versuchen, Plakatentwürfe zu verkaufen und illustrierte Witze bei Wochenzeitschriften anzubringen. Seine Miene war hochmütig und seine Sprache gezwungen, und Herrn Preemby schien es, als ob Herr Crumb ihn eher dulde, als ihm entgegenkomme. Mit Christina Alberta schien Herr Crumb auf dem Fuße einer schweigsamen Freundschaft zu stehen, zwischen ihnen wurde kein Wort gewechselt. Er hob seine Hand und ließ seine Finger gegen sie spielen – mit einer Art Melancholie.

Frau Crumb war überschwenglicher; sie umarmte Christina Alberta innig und ließ sich ‹Fee› rufen. Dann wandte sie sich zu Herrn Preemby und die beiden schüttelten einander ganz ordentlich die Hände. Sie war eine schlanke junge Dame mit nachlässig gestutztem, strohgelbem Bubikopf, fahlgrauen Augen und einem geistesabwesenden Blick. Sie war ebenfalls in einem blauen Kittel, trug austernfarbige Strümpfe und Hausschuhe und möglicherweise noch andere Sachen, und ihre Lebensaufgabe, so erfuhr Herr Preemby, bestand darin, Bücher für verschiedene Zeitungen zu rezensieren und Erzählungen für Zeitschriften, wie sie in Bücherständen ausliegen, zu schreiben. Ihr rechter Zeigefinger wies jene unzerstörbaren Tintenflecke auf, die nur der ständige Gebrauch einer rinnenden Füllfeder verursachen kann. Im unteren Zimmer, das Herr Preemby haben sollte, stand ein großer Wandschirm, den Herr Crumb verfertigt und Frau Crumb mit den hellen, verlogenen Umschlägen der von ihr rezensierten Bücher beklebt hatte. Das verwunderte Herrn Preemby umsomehr, als einige der Einbände offenkundig verkehrt angebracht waren und er sich nicht erklären konnte, ob das auf Rechnung der Kunst, der Nachlässigkeit oder eines schweren geistigen Defekts gehe.

»Wir werden etwas zu essen holen«, teilte sie Herrn Preemby mit; dann könnten sie alles besprechen. Doch hatte sie eine erstaunlich schnelle Sprechweise, und es klang wie: »Wir wern 's zessen hond dann könn' wals bespre'n.« Es dauerte zehn oder zwölf Sekunden, bis es in Herrn Preembys Verständnis drang.

Inzwischen hatte sie sich zu Christina Alberta gewandt. »'tte einige Arbeit z'tun«, erklärte sie. »Früschk noch nich 'ggräumt. Spät gesenabd. Ihr seht'ch viellei' 'tnsweil' hjum, indes Ollie Fleischolt 'ndich'n obn aufräumn, eh i's euch anschaut.«

»Gut, gut«, sagte Christina Alberta, vollkommen verstehend. Herr Preemby, sich selbst überlassen, stand ganz betäubt da und bewegte langsam die Lippen. »Auf Wiedersehn«, sagte Harold, nahm etwas Geld aus einem schwarzen Wedgwood-Teetopf, ging hinaus, stolperte über ein paar Sachen im Vorzimmer und gelangte bald darauf in die weite Welt hinaus, während Fee nach oben verschwand.

»Sie ist hinaufgegangen,« sagte Herr Preemby langsam interpretierend, »um ihre Zimmer aufzuräumen. Und er ist fortgegangen, um Fleisch zu holen. 's ist ein nettes, großes Zimmer, Christina Alberta – und ganz hell. Ich glaub' nicht, daß ich jemals früher in einem Stall gewesen bin«, sagte Herr Preemby, indem er sich einer Gruppe anziehender Zeichnungen an der Wand näherte.

»In einem was, Vati?«

»In einer Stallung. Oder in einem Atelier ... Diese Leute sind wohl Originale.«

Christina Alberta erwartete ein wenig ängstlich, welche Wirkung die Zeichnungen auf ihn ausüben würden.

»Schaut aus wie eine Menge Früchte und Menschenbeine und noch allerlei«, sagte Herr Preemby. »Was kann es bedeuten? ‹Sommernacht› heißt es, und das da ‹Leidenschaft in der Einsamkeit›. Ich kann es nicht ganz sehn, aber es ist wohl symbolisch oder so wie.« Er ließ seine runden blauen Augen über den ganzen Raum schweifen. »Ich könnte mir einen Mahagonischrank für meine Kuriositäten anschaffen und ihn an die Wand stellen, dort – ich hätte gern einen mit Glastüren, so, daß die Leute die Sachen anschauen könnten – und wenn man hier auf dieser Seite ein paar Regale anbrächte, könnte ich die meisten meiner Bücher unterbringen. Irgendwo wird wohl auch ein Bett stehen müssen, Christina Alberta.«

»Sie haben ein Sofa oben,« sagte Christina Alberta, »mit einem Ende zum Herunterschlagen.«

»Das könnte man dorthin stellen.«

»Oder unters Fenster.«

»Ja, und hierher kommen meine Kleider«, sagte Herr Preemby. »Ich wünschte, ich hätte Samuel Widgery deiner Mutter Kleiderschrank nicht so gut wie versprochen. Er ist aus Rosenholz. Es hat eine Menge Platz darin, und er hätte gerade hier an das Stück Wand gepaßt. Mein Koffer kann eine Art Sitz abgeben, wenn wir die Ecken richten lassen. Wie dieser Ofenschirm da wohl ausschaut, wenn man ihn umdreht? Die Bücher könnten ja auch dahinter kommen. Diese Staffeleien und die andern Sachen kommen hinauf, nicht? ... Wir werden uns schon ganz gut einrichten.«

Christina Alberta drehte sich, die Arme in die Seite gestemmt, herum, um seinen Vorschlägen folgen zu können. Sie bemerkte, daß diese eine bedrohliche Störung des ästhetischen Gleichgewichts des Ateliers bedeuteten. Sie hatte eigentlich nur an ein Bett-Sofa mit einer hellen Decke darüber gedacht. Wie dumm von ihr, das Gepäck zu vergessen! Aber schließlich, vielleicht war es möglich, einen großen Teil seiner Habe im Vorzimmer zu verstauen. Das Vorzimmer war ohnehin schon so vollgepfropft, daß ein bißchen mehr oder weniger darin kaum etwas auszumachen schien. Er konnte ja hinausgehen und sich holen, was er brauchte, sooft es notwendig war. Einen Augenblick stellte sie sich ihn vor, wie er in Hemdärmeln und Hosenträgern in den Koffern herumwühlte.

»Weißt du,« sagte Herr Preemby, »als du davon sprachst, daß du zwei junge Bekannte hast, die in einem Atelier wohnen, dachte ich, es seien zwei Mädeln. Ich wußte nicht, daß es ein verheiratetes Paar ist.«

»Na, gar so schrecklich verheiratet sind sie ja nicht«, sagte Christina Alberta.

»Nein«, sagte Herr Preemby und sein Anstandsgefühl hinderte ihn eine Zeitlang, weiterzusprechen. »Weißt du,« meinte er dann, »wenn sie über kurz oder lang Familie bekommen sollten – na! dann müssen wir eben ausziehen, Christina Alberta.«

»Man soll Familien nicht an die Wand malen«, sagte Christina Alberta. »Es schaut doch auch kaum danach aus. Verlaß dich auf Fee.«

»Man kann nie wissen«, sagte Herr Preemby ziemlich schwach und schien geneigt, sich wieder mit jenen zweideutigen Zeichnungen zu beschäftigen.

»Es wäre Zeit, daß wir uns die oberen Zimmer anschaun, Vati«, sagte Christina Alberta, ging in das Vorzimmer und rief: »Fee!«

Die Antwort kam von ferne: »Ja?«

»Fertig?«

»Noch nicht ganz.«

Christina Alberta fand ihren Vati wieder in der illustrierten Ecke, den Kopf wie ein neugieriger Spatz zur Seite geneigt. Eine Zeitlang wurde nichts geredet. »Natürlich,« bemerkte er endlich, »es ist Kunst.« Er drehte sich weg, mit zugespitztem Gesicht unter seinem Schnurrbart leise summend. Sie erkannte, daß es das Ausmaß an Kunst war, das er eben noch ertragen konnte.

Er strich mit der Hand über die Mauer und sah Christina Alberta mit verständnisvollen Augen an. »Es ist Sackleinen,« sagte er, »worin man Sachen einpackt. Mit goldenen Spritzern bemalt. Ich glaub' nicht, daß ich jemals Wände gesehen hab', die nicht vorher mit Papier beklebt worden waren oder mit Wasserfarbe grundiert. Wahrscheinlich kann man wirklich alle möglichen Sachen an die Wand kleben, Tuch, Bettdrell oder geteerte Leinwand. Komisch, wie man doch an so etwas gar nicht denkt.«

2

Endlich war es ‹oben› fertig. Frau Harold Crumb hatte nun Zeit, Fragen zu beantworten und nähere Aufschlüsse zu geben, und Herr Preemby konnte mehr von Christina Albertas Plänen, die sie sich für seine Bequemlichkeit ausgedacht hatte, erfahren. ‹Oben› war es abwechslungsreicher, aber weniger geräumig als unten; die Betten waren als Diwans zurechtgemacht, und die Kunst war auch hier ein wenig unschicklich, jedoch höchlich dekorativ. Ebenso wie Christina Alberta hatte Frau Crumb die Möglichkeiten betreffs Herrn Preembys Gepäck nicht voll erwogen, doch erfaßte sie die Lage augenblicklich. Kaum hatte Herr Preemby den Mahagoniglasschrank und den Wäscheschrank erwähnt, so sagte sie, es würde für Harold ein leichtes sein, diese mit sehr, sehr grellen Farben zu übermalen, und sie meinte, das beste für Herrn Preembys Koffer und Kleider wäre ein Alkoven mit Vorhängen in einer Ecke. »Schwierig mit Kleidern«, sagte Frau Crumb, »wird's nur, wenn jemand mit Scharaden oder Verkleidungen anfängt. Nichts ist dann heilig. Letzte Woche hat mir jemand mein einziges Pyjama Stück für Stück zerrissen.«

»Wir würden das irgendwie ordnen müssen«, sagte Herr Preemby, dem ein wenig unbehaglich zumute wurde.

»Ja, wir werden das schon irgendwie ordnen«, sagte Frau Crumb.

Doch bevor irgendetwas definitiv geordnet werden konnte, kam Harold mit seinen Einkäufen zurück, mit einem großen Stück purpurroten Beefsteaks, das nur in einen Lendenschurz von Zeitungspapier gehüllt war, einem Kopfsalat, einem Bündel kleiner Zwiebeln in der Hand und zwei großen Flaschen Bier unterm Arm, und aller Aufmerksamkeit war nun auf die Zubereitung des Mittagmahles gerichtet.

»Gewöhnlich«, sagte Harold, »gehen wir aus zum Essen. Da ist eine ganz anständige Frühstückstube und ein kleines italienisches Restaurant und so weiter, keine fünf Minuten von hier in der Kingsstraße. Es ist viel lustiger, auswärts zu essen. Aber wir dachten, ihr würdet gern das Atelier in allen seinen Kunststücken kennen lernen wollen.«

Herr Preemby hatte im Laufe seines Lebens wohl kaum jemals ein Mahl zubereiten gesehen; irgendjemand anderer hatte immer den Tisch gedeckt und gesagt ‹das Mittagessen ist fertig, Vati› oder ‹das Abendbrot ist da, Papa›, was es eben gerade war, und er hatte sich einfach hingesetzt. So leistete er nun mit wirklichem Interesse Herrn Crumbs Einladung, zu ‹sehen, wie wir's machen›, Folge und assistierte unter Anleitung bei den Operationen. Herr Crumb machte ihn in ein paar wohlgesetzten Worten vorerst mit dem Kochapparat bekannt, der sich rings um den Gasofen klammerte; der Gasofen wurde mit einem Puff angezündet, Herr Preemby überreichte die Sachen und hielt sie, genau nach Anweisung, und stand ein gut Teil im Wege herum. Christina Alberta, die an die Arbeit gewöhnt schien, schnitt die Zwiebeln klein und machte den Salat auf einem kleinen handlichen Küchentisch an, während das Beefsteak von selbst prasselnd und spritzend briet.

Inzwischen deckte Frau Crumb in Herrn Preembys zukünftigem Zimmer einen blaubemalten Tisch mit einem orangefarbenen Tischtuch, einem Service von Tellern und einigen einzelnen Stücken, gelbglasierten Bechern, einigen Messern und Gabeln, einem Zinnteller mit Zigaretten und einem Strauß Sommerröschen in einem braunglasierten Blumentopf. Und alsbald sah sich Herr Preemby an diese Tafel gesetzt, ganz heiß im Gesicht und von dem Fett des gebratenen Beefsteaks reichlich bespritzt. Niemand sprach ein Tischgebet, und das Mahl begann.

Allgemein schien die Annahme zu herrschen, daß Herrn Preembys Mietangelegenheit bereinigt sei, obwohl es noch viele Punkte gab, über die er sich gern eine klarere Auskunft verschafft hätte. Insbesondere war er darum besorgt, so taktvoll wie nur möglich seine Gewänder und Kuriositäten von der Verwendung als gemeinschaftliches Eigentum bei einer jener gelegentlichen Pantomimen auszuschließen, doch wußte er nicht ganz, wie er dieses Thema anschneiden sollte. Dazu ward er von Zweifeln geplagt, ob seine langen Nachthemden aus Flanell, wenn sie der Öffentlichkeit preisgegeben würden, von diesen künstlerischen jungen Leuten nicht für altmodisch gehalten werden würden. Doch ihr Gespräch sprang so herum, daß es schwierig war, auf das zu kommen, was er gerne besprechen wollte. Er hatte, besonders in Gesellschaft, die Gewohnheit, sich zu räuspern, ‹h'rrmp›, und mit seinem Schnurrbart ein bißchen auf und ab zu wackeln, bevor er sprach, und immer gerade, wenn er so weit war, vorzutragen, was er zu sagen hatte, war der eine oder der andere schon mit irgendetwas neuem da. Sodaß er während der ganzen Mahlzeit kaum überhaupt etwas sagte, als von Zeit zu Zeit ein ‹H'rrmp›.

Die beiden jungen Damen führten das Wort. Harold schien schlechter Laune, machte hie und da eine Berichtigung oder Anmerkung zu den Ausführungen seiner Frau und aß den größten Teil des Beafsteaks mit dem gequälten Ausdruck eines Mannes, der zarte Zähne hat und an besseres Essen gewöhnt ist. Einmal fragte er Herrn Preemby, ob er gute Musik wirklich gern habe, und einmal, ob er sich voriges Jahr die Iberischen Tänzerinnen angesehen habe, doch keine dieser beiden Fragen führte zu einer längeren Unterhaltung. »Hrrmp. N–nein«, sagte Herr Preemby. »Nicht gerade sehr. Nicht besonders«, und im zweiten Falle: »N–nein, ich war nicht dort.«

Frau Crumb erzählte strahlend von verschiedenen Zeitungsaufträgen, die sie bekommen hatte, und wie sie darum gebeten worden sei, in den ‹Patriotischen Nachrichten› eine Kinderecke einzurichten, und ob sie das Angebot wohl annehmen solle – Herr Preemby dachte bei sich, die Herausgeber und Zeitungsinhaber, die sie erwähnte, müßten ein verkommenes Pack sein – doch hauptsächlich drehte sich das Gespräch um den Umzug und die Neueinrichtung eines großen Kreises ihrer Freunde. Nach dem Essen gab es Kaffee, und Harold ging mit resignierter Miene hinaus, um abzuwaschen.

Da es in der Wäscherei noch eine Menge Kleinigkeiten gab, die der Erledigung harrten, entschied Herr Preemby nach zwei oder drei Zigaretten: »Wir müssen nun gehen. Christina Alberta.«

»Wir werden schon einig werden«, sagte Harold, als sie weggingen.

Im Zuge von Liverpoolstraße nach Woodford Wells waren Herr Preemby und Christina Alberta recht nachdenklich. »Es ist natürlich nicht das, woran ich gewöhnt bin«, sagte Herr Preemby. »Es ist ganz verschieden von der Art, in der deine Mutter zu wirtschaften pflegte ... Weniger ordentlich ... Weißt du, ich könnte ja meine Kleider in meinem Koffer einsperren.«

»Du wirst dich schon recht gut hineinfinden. Es sind wirklich nette Leute. Sie liebt dich bereits enorm«, sagte Christina Alberta.

3

Doch ehe sie an diesem Abend einschlief, kamen Christina Alberta Gewissensbisse. Sie fühlte Gewissensbisse ob all der Anstalten, die sie da für ihren Vati traf. Sie zweifelte, ob er sich in diesem Atelier in den Lonsdale-Stallungen auch wirklich behaglich und glücklich fühlen und imstande sein werde, jenes Leben voll steter Wißbegier zu führen, das er sich so stillvergnügt ausgemalt hatte – stets vor sich hinsummend, seinen Schnurrbart zwirbelnd und ‹h'rrmp› sich räuspernd, wenn er nicht anderweitig beschäftigt war.

Diese Geschichte, es kann nicht oft genug wiederholt werden, ist die Geschichte des Herrn Preemby, der, wie wir dem Leser im weiteren Verlauf erzählen werden, Sargon, König der Könige, wurde. Aber Christina Alberta war in diese Geschichte ganz so hineingeraten wie ein junger Kuckuck in das Nest einer Bachstelze, und es ist unmöglich, sie zu ignorieren. Führte sie doch faktisch die Aufsicht über ihn und besaß sie doch den Egoismus ihres Geschlechts und Alters.

Doch hatte sie auch ein erbarmungsloses Gewissen. Das war beinahe das einzige in ihrem Leben, was sie nicht regieren konnte. Es regierte sie. Es war ein weites, kristallklares Gewissen ohne Grund und Boden und Zusammenhang; es schwebte frei in ihrem Wesen; es bildete ihren Schwerpunkt, und alles übrige an ihr konnte sich nicht davon losmachen.

Wenn Christina Alberta vor Christina Alberta zu Verhör und Richterspruch hintrat, gab es kein Geflunker, nein, nur furchtbare Freimütigkeit; Karten auf den Tisch, alles klar und offen, keine Etikette, nicht die geringste Hülle, wenn nötig, X-Strahlen. Diese Verhöre waren nur umso schrecklicher, als sie in einem Raum vorgenommen wurden, der so gut wie leer war, ohne spanische Wände, Vorhänge, Gesetzestafeln oder allgemeine Glaubensbekenntnisse irgendwelcher Art. Es ist erschreckend zu denken, wie sehr Christina Albertas Gerichtshof des Gewissens aller Ausstaffierung entbehrte. Vor allem war Christina Alberta vollständig und ausdrücklich irreligiös. Dann war sie theoretisch anti-sozial und amoralisch. Sie glaubte nicht an Anstand und Würde, an christliche Moral, an die Institution der Familie, an das kapitalistische System oder an das Britische Reich. Das pflegte sie noch dazu mit entschiedener Offenheit und größter Ausführlichkeit vorzutragen, außer wenn ihr Vater oder ihre Mutter in der Nähe waren. Vorherrschende Stürme der Mode regten sie nicht weiter auf. Sie fand weder den Prinzen von Wales hinreißend noch den ‹ Punch› komisch. Sie hielt moderne Tänze, obschon sie sie sehr gut tanzte, für langweilig, und Wimbledon-Tennis und Tennisklatsch für unerträglich fade. Sie begünstigte den Bolschewismus, weil jeder, den sie nicht leiden konnte, darauf schimpfte, und sie hoffte auf eine allgemeine soziale Weltrevolution von vollständig vernichtender und reinigender Art. Was nach dieser Revolution kommen sollte, schien Christina Alberta, in der glücklichen Zuversicht der Jugend, gleichgültig zu sein.

Es ist nicht unsere Sache, uns hier darüber den Kopf zu zerbrechen, warum eine junge Frau, die zwischen Woodford Wells und Zentral-London in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geboren und erzogen wurde, der Welt mit einem so vollständig ausgefegten Innern, dem alle positiven und hemmenden Überzeugungen fehlten, entgegentreten sollte; wir stellen nur die Tatsache fest. Aber wäre sie auch durch alle Glaubensbekenntnisse der Christenheit und durch eine unumstößliche Hochachtung vor jeder Kleinigkeit des Gesellschaftskodex, wie immer dieser Kodex sein mag, unterstützt gewesen, so hätte sie der Welt nicht mit freudigerem Vertrauen entgegentreten können, noch mit einer stärkeren Überzeugung, daß sich Christina Alberta auf irgendeine unbestimmte Art – gut aufzuführen habe. Christina Alberta hatte Christina Alberta zu sein, klar und gründlich, oder der Gerichtshof ihres Gewissens wurde deutlich und machte ihr Schwierigkeiten.

‹Christina Alberta,› sagte der Gerichtshof, ‹du bist das schmutzigste und gemeinste kleine Ding, das jemals durch den Dreck des Lebens kroch. Wie denkst du wohl wieder rein zu werden?›

Oder: ‹Christina Alberta, du hast schon wieder gelogen. Nächstens wirst du mich anlügen. Zuerst war es Faulheit, die dich lügen machte, und jetzt ist es Feigheit. Was machst du nur aus dir, Christina Alberta?›

Es kam eine Zeit, da der Hof Christina Alberta in folgender Weise ansprechen mußte: ‹Deine Nase, Christina Alberta, ist über alle Maßen groß. Wahrscheinlich wird sie fortfahren, größer zu werden, dein ganzes Leben lang – wie es Nasen öfters tun. Und dennoch nimmst du dir vor, Teddy Winterton zu bezaubern und zu faszinieren. Du gehst dorthin, wo du hoffst, ihn zu treffen. Du machst Geschichten und putzt dich wie jede andere närrische Frau. Du träumst alles mögliche von ihm, lauter schandhafte Sachen. Du bist wie ein Schmachtlappen gegen diesen jungen Mann, trotz der Tatsache, daß er, wie du weißt, ein Taugenichts ist. Du hast es gern, wenn er dich anrührt. Du sitzt und schaust ihn blöde an, du glotzt ihn an. Glotzt er dich jemals an? Ist es nicht Zeit, daß du dir einmal überlegst, wohin das führen soll, Christina Alberta?›

Und jetzt war der Hof in voller Sitzung und die Anklage, die Anklage, gegen die es keine Verteidigung gab, lautete, daß sie eben daran war, ihren absonderlichen, unbeschützten Vati herzunehmen und ihn mitsamt seiner Verrücktheit und seinen dummen Büchern und seinen lächerlichen Schätzen und allen seinen Träumen und Wünschen dem unsicheren und ihm gar nicht sympathischen Atelier der Crumbs anzuvertrauen, nicht aus irgendeinem unbestimmten, allgemeinem Hunger nach London, obzwar das wohl im Hintergrunde stand, sondern weil dieses Atelier häufig von dem allzu verführerischen Teddy besucht wurde, weil sie ihn hier zuerst getroffen und wild mit ihm getanzt hatte, und dann ganz plötzlich und unerwartet von ihm geküßt worden war und ihn wieder geküßt hatte. Und dann hatte er sie dazu verleitet, einen Tanz mit ihm zu lernen, und sie dazu gebracht, zum Tee in sein Atelier zu kommen, um seine Schwester zu treffen – die aber nicht erschienen war. Und auch sonst hatten sie sich noch getroffen. Er war unverschämt, herausfordernd und nicht zu fangen. Ihr ganzes Wesen war in einem Zustand höchster Erregung seinetwegen. Kalt und sachgemäß hatte ihr nun der Gerichtshof die Vorgänge in ihrem Innern auseinandergesetzt; hatte ihr gezeigt, wie der Gedanke an Teddy, immer vorhanden und nie zugegeben, sie zu der Entscheidung verleitet hatte, mit den Crumbs zu paktieren. Erst jetzt war sie zur Selbsterkenntnis und zu einer klaren Anschauung gekommen.

‹Du hast dich selbst betrogen, Christina Alberta,› sagte der Gerichtshof, ‹und das ist die schlimmste Art Lüge. Was wirst du jetzt weiter anfangen?›

‹Ich kann die Crumbs jetzt nicht fallen lassen. Sie rechnen doch auf uns.›

‹Da sitzt du schön im Dreck, Christina Alberta. Du sitzest ja tiefer im Dreck, als wir dachten. Ein Schmachtlappen bist du mit deinem Teddy Winterton. Warum das Kind nicht beim richtigen Namen nennen? Verliebt bist du. Vielleicht ist irgendwas Schreckliches mit dir geschehen. Kleine Häschen rennen in den Hecken umher, und ein Tag ist für sie wie der andre; sie wackeln mit ihren kleinen Näschen und wippen mit ihren kleinen Schwänzchen und tun mit ihren Pfötchen, was ihnen beliebt. Doch eines Tages, da pfeift es, und die Falle schnappt nach dem kleinen Pelzfuß, und alles, was du danach zu tun versuchst, ist anders. Die Falle hindert deine Bewegungen, und du kannst nichts als darum herumtanzen und quieksen, wenn du magst, bis der große Mann daherkommt. Ist's das, was mit dir geschehen ist? Und wegen Teddy! Teddy mit dem offenen Lügnergesicht?›

‹Nein,› sagte Christina Alberta, ‹ich liebe ihn gar nicht. Ich liebe ihn gar nicht. Ich bin dumm gewesen und läppisch und haltlos. Ich bin nicht mehr würdig, Christina Alberta genannt zu werden. Aber er hat mich ja noch nicht, und er soll mich auch nicht kriegen. Ich werde Vati herausreißen und mich selbst auch; ich gelobe es und schwöre ...›

‹H'm›, sagte der Gerichtshof.

4

Es schien Herrn Preemby, daß der erste Abend, den er in seinem neuen Quartier in den Lonsdale-Stallungen verbrachte, der ereignisreichste seines ganzen Lebens war. Die Eindrücke überstürzten sich. Schlaflosigkeit gehörte ja nicht zu seinen Gewohnheiten, doch als er zuletzt endlich in sein eilig hergerichtetes Bett gekommen war, lag er den größten Teil, der von der Nacht übrig blieb (es war das schäbige Stück mit der öden Morgendämmerung in der Mitte), wach, indem er versuchte, eben jene Eindrücke zu ordnen, Eindrücke von seiner neuartigen Umgebung, Eindrücke von Christina Alberta, Eindrücke von neuen, vorher nie gekannten Persönlichkeiten, eine Marmelade von Eindrücken.

Herr Preemby und Christina Alberta waren, gemäß ihrem Plane, um halb vier in dem Atelier eingetroffen; der Möbelwagen mit Herrn Preembys Taschen und Koffern, den Kisten voll Büchern und Seltenheiten und mit der seligen Frau Preemby geräumigem Kleiderschrank, welcher zuguterletzt doch noch aus den Klauen des Samuel Widgery gerettet worden war, hatte Woodford Wells am frühen Morgen verlassen, kam aber erst an, als es fast sechs Uhr war. Unglückseligerweise hatte der Möbelhändler in der Bromptonstraße, bei dem Herr Preemby einen Glasschrank und ein langes Bücherregal aus Nußholz gekauft hatte, diese beiden Gegenstände am Tage zuvor geliefert, und damit war in Harold der ungeteilte Haß des modernen Künstlers gegen das selbstgefällige Holz entfacht worden. Er und Fee und ein oder zwei Freunde, die sich eingefunden hatten, saßen bis spät in die Nacht hinein, um diese neuen Stücke mit tiefem Ultramarinblau und goldenen Sternen und Spritzern zu bemalen, ganz wie das Papier, das man um die Hälse von Ayala, Tsarist und dergleichen Champagner wickelt. Als Herr Preemby ihrer Schöpfung ansichtig wurde, konnte er kaum glauben, daß dies der Glasschrank und das Bücherregal seien, die er gekauft hatte.

»Ich hoffe, man kann es wieder herunterbekommen«, sagte Herr Preemby.

»Aber sehen Sie doch nur, wie sie jetzt dem ganzen Raum angepaßt sind«, sagte Harold in höchster Entrüstung.

»Ich meine, falls wir wieder einmal umziehen«, sagte Herr Preemby. »Ich weiß, es ist Kunst, und es paßt vortrefflich zu den Sachen hier, aber es gibt Stadtviertel, in die ich nicht mit den Sachen da, wie sie jetzt sind, ziehen möchte. Sie wissen gar nicht, was manche Leute für Ansichten haben.«

Bis zur Ankunft des Möbelwagens war es ziemlich langweilig. Das Sofabett wurde aufgeschlagen und wieder zusammengelegt. Das Bettzeug, Decken, Leintücher und Polsterüberzüge wurden in einem Bündel auf dem flachen Koffer Herrn Preembys hinter dem Bücherdeckel-Ofenschirm verstaut. »Wir werden irgendeinen andern Platz für das Flaschenbier ausfindig machen müssen«, sagte Harold. »In der Küche ist's zu heiß und im Vorzimmer zu gefährlich. Aber ich hab eine Idee; wir könnten's in die Spülküche unter die Wasserleitung legen, mit einem Tuch drüber, so daß Wasser auf das Tuch tropft. Prinzip der Verdunstung. Ich werd' mir das überlegen.«

Herr Preemby wurde von einem Gähnen überrascht. »Sie würden wohl gern eine Tasse Tee trinken«, meinte Fee, und sie und Christina Alberta kochten Tee.

Harold war offensichtlich in gespanntem und nervösem Zustande. Herr Preemby mit seiner geduldigen kleinen Gestalt, wie er da, die Hände auf den Knien, herumsaß, auf den Möbelwagen wartete, alles mit unschuldigen Augen betrachtete und »h'rrmp« sagte, hatte auf Harold ganz dieselbe Wirkung nervöser Beunruhigung, wie das sanfte und geduldige Kamel auf ein Pferd. Harold bäumte sich und schäumte vor innerer Wut. Er rannte die Treppen auf und ab, hinaus und wieder herein; er rauchte unaufhörlich Zigaretten und nötigte Herrn Preemby unaufhörlich Zigaretten auf; er machte mit gereizter Stimme anzügliche Bemerkungen. »Das alles ist ganz so wie aus Dostojewski«, sagte er zu Herrn Preemby. »In einer anderen Farbenzusammenstellung natürlich. Anders, aber doch dasselbe. Finden Sie nicht auch, Herr Preemby?«

Herr Preemby nickte zustimmend und humorvoll, jedoch nicht zu ausgesprochen mit dem Kopfe. »H'rrmp«, sagte er. »Es ist ein bißchen so.«

»Es wird sich schon alles machen«, sagte Harold. »Alles wird sich machen. Sie kennen das Gedicht von Ruby Parham.« Er räusperte sich. »Es heißt ‹Warten›«, sagte er. »Es lautet folgendermaßen –«

Seine Augen wurden starr und glasig; seine Stimme nahm an Umfang zu, sodaß die Worte überlebensgroß erschienen:

»Nach jeder Minute

»Kommt eine andere Minute

»Und dann, sei versichert, »Eine andre.

»Wie Tropfen von einer Dachrinne im Regen.

»Vielleicht willst du nicht weitergehen;

»Aber sie gehen,

»O! unaufhörlich

»Dein Leben mit sich nehmend, Tod, nicht endgültig und vollständig,

»Sondern Tod inmitten des Lebens,

»Partikelchen von Tod,

»Tod durch langsames Wundreiben.

»Tropf' zu, alter Tod – im Leben!

»Langsam, düster, unerbittlich, unerträglich!

»Tropf' zu.«

»Dieses 'Tropf' zu' ist groß. Aber vielleicht haben Sie moderne Gedichte nicht gern?«

»Ich hab' nichts gegen sie«, sagte Herr Preemby freundlich.

»Dem Wagen kann doch schließlich kein schreckliches Unglück passiert sein«, sagte Herr Crumb in pessimistischem Tone.

Als dann der Möbelwagen ankam und der geräumige Kleiderschrank seinen vernichtenden Marsch durch das Vorzimmer begann, rief Herr Crumb plötzlich seinen Schöpfer mit lauter, verzweiflungsvoller Stimme an und verschwand für beinahe eine Stunde.

Christina Alberta wurde zwischen einem mitfühlenden Verständnis für Harolds Gemütsverfassung und der Furcht hin- und hergerissen, ihr Vati könnte die unglückselige Reaktion, die er in Harold hervorrief, merken und dadurch verletzt sein. Sie und Fee waren glänzende Helferinnen beim Auspacken. »Wenn ich eine von den blauen Kinderschürzen Herrn Crumbs haben könnte,« sagte Herr Preemby »wär' ich froh. Auf meinen schwarzen Sachen sieht man jeden Fleck.«

Herrn Crumbs Overall reichte Herrn Preemby weit bis unter die Knie und rechtfertigte dadurch einigermaßen die Bezeichnung Kinderschürze. Das Kleidungsstück ließ etwas Kindliches in seiner Erscheinung hervortreten, etwas, das an den mütterlichen Instinkt rührte, der in Frau Crumb lauerte. Sie hatte wirklich mit der Einbildung zu kämpfen, er sei ein kleiner Junge von neun Jahren, der sich aus Ungezogenheit einen großen Schnurrbart hatte wachsen lassen, und sie habe nun auf ihn aufzupassen, ihn zu erziehen und ihm überhaupt zu sagen, was er alles nicht tun dürfe. Die Bücher wurden in die Regale gestellt, wie Herr Preemby gewünscht hatte: ‹einfach irgendwie›; sie konnten später geordnet werden; aber die Kuriositäten und Seltenheiten nahmen mehr Zeit in Anspruch: sie mußten in dem Glaskasten mehr oder weniger ‹ausgestellt› werden. Nicht nur wirkliche Kuriositäten und Seltenheiten gab es da, sondern eine Menge kleiner Dinge, die Herr Preemby gesammelt hatte, weil sie so aussahen wie Kuriositäten und Seltenheiten. Zum Beispiel ein Stück von dem Kotschützer eines der Wäscherei-Kundenwagen, das durch einen Zusammenstoß so kunstgerecht verbogen war, daß es in höchst verblüffender Weise einem menschlichen Torso gleichsah; dann den fast vollständigen Schädel eines unbekannten Säugetiers, wahrscheinlich eines Damhirsches, im Eppinger Forst gefunden; ferner war da eine Kartoffel, nunmehr bereits ziemlich zusammengeschrumpft, in der man siebenunddreißig verschiedene menschliche Gesichter entdecken konnte, und – eine Seltenheit gänzlich anderer Art – großer Feuerstein, in dem nicht weniger als fünfundfünfzig versteckt waren. Vor langer, langer Zeit einmal hatte irgendein vorzeitlicher Preemby ebendiesenselben Feuerstein entdeckt und geliebt und die Gesichter dadurch hervorgebracht, daß er bald hier ein Auge, bald dort eine Nase herauskratzte; Herr Preemby jedoch ahnte nichts von der Hilfe jener fernabliegenden und vielleicht seinem Urahnen eigenen Hand. Sogar im wachen Leben sah Herr Preemby überall Gesichter. Wessen er erst bei erhöhter Temperatur fähig gewesen wäre, das kann man sich unmöglich vorstellen.

Christina Albertas Ängstlichkeit, wie wohl die Crumbs ihren Vater aufnehmen würden, verminderte sich, als sie sah, mit welcher Tapferkeit er sich Fee eroberte. Fee behandelte ihn streng, aber geduldig, und sie verloren ein gut Teil Zeit damit, daß sie versuchte, alle die fünfundfünfzig Gesichter in dem wunderbaren Feuerstein zu sehen. Sie mußten immer wieder von vorne anfangen, denn bei zwanzig oder einundzwan–zig verzählten sie sich immer wieder. Dann erhob sich mehrere Male die Frage, ob sie eines der Gesichter nicht doppelt gezählt hätten.

Harold kehrte in übler Laune zurück, und man hörte nur zu deutlich, wie er Herrn Preembys Gepäckkisten im Flur herumstieß; doch Fee ging mit erhabenem, schlafwandelndem Ausdruck in ihren blassen Augen hinaus, worauf das Stoßen aufhörte, und bald darauf kam Harold wieder herunter, der jetzt in Nankinghosen, einer blauen Jacke mit großen Silberknöpfen und einem mächtigen schwarzen Schlips beinahe schön aussah und zu Herrn Preemby ganz nett war.

»Es macht Ihnen nichts, wenn ich diesen Ihren Kleiderkasten ein bißchen in die Hand nehme?« sagte er. »Er erstickt uns, so wie er jetzt ist. Als ob er uns Vorwürfe machen wollte. Einer von uns muß sich ändern, sehen Sie, er oder ich; und entweder mal' ich ihn an, oder ich kauf' mir einen Zylinder mit einem tiefschwarzen Trauerband und einen Regenschirm mit goldenem Griff – was Geld ohne Ende kosten würde. Wohingegen ich Farbe im Hause habe.«

»Wenn Sie die Malerei wieder herunterkriegen können«, sagte Herr Preemby. »Sehn Sie, es wär' nur, wenn ich einmal wo anders hinziehen müßte ... In einer Stallung sind bunt bemalte Möbel ganz schön. Aber anderswo ...«

»Sehr richtig«, sagte Harold. »Mein Plan ist, ein kleines rosa Haus draus zu machen, mit Fenstern und so weiter. Irgendwas ganz Einfaches. So ähnlich wie die Szenerie von einem russischen Sketch. Art Chauve Souris-Geschichte. Konventionell bis zur n-ten Potenz. Und wir könnten Plakate an die Ecken kleben, über das, was gerade vorgeht.«

»Wenn es Ihnen Freude macht«, sagte Herr Preemby.

Er fühlte sein Haar liebevoll gezaust. »Lieber kleiner Vati!« sagte Christina Alberta.

5

Doch jetzt erschien ein neuer Ankömmling, und das Leben wurde für Christina Alberta aufs neue unbequem und kompliziert, und zwar infolge der Anwesenheit des Herrn Teddy Winterton in seiner ehrlichen Unaufrichtigkeit. Sein anmutiger Körper, seine Bewegungen, seine Stimme erregten ihre Sinne, sosehr sie diese Erregung auch haßte; seine ruhige Unverschämtheit wirkte auf ihren Sinn für Humor; er verletzte ihren Stolz, und dennoch sehnte sie sich danach, mit ihm beisammen zu sein. Sie hatte keine Macht über ihn, und er benahm sich, als ob sie ihm gehörte. Sie ließ ihn immer just ein bißchen zu weit gehen. Wenn er in der Nähe war, warf ihre Nase einen Schatten, der bis an ihren Horizont reichte. Jetzt stand er da auf der Schwelle – die Hose aus einem andern Stoff als die Weste und die Norfolkjacke aus einem dritten, nach der üblichen Studentenmanier nicht übermäßig zugeknöpft – und sah zu, wie Herr Preemby seine Sammlung von Vogel-Rock-Knochen, gefunden in der Nähe von Staines, auf einem Teebrett quer durch das Atelier trug. Seine Augen waren rund vor Überraschung und Belustigung; sein Mund sagte unaufhörbar: »Was ist das?«

Christina Alberta hatte nicht die Absicht, ihren Vater von einem Teddy Winterton auslachen zu lassen. »Herr Winterton,« sagte sie, »dies ist mein Vater.«

»Ich will nur meine Knochen weglegen,« sagte Herr Preemby, »und dann können wir uns die Hände reichen.«

»Wir wollen nur Herrn Preembys Sachen fertigmachen, und dann wollen wir alle zu Poppinetti hinübergehen und Abendbrot essen«, sagte Fee. »Es ist wohl kaum noch etwas auszupacken.«

»Nur noch einige Antidiluvialknochen«, sagte Herr Preemby.

Teddy belegte einen mit Beschlag. »Das da«, sagte er, indem er ihn untersuchte, »ist ein fossiler Rhinozeros-Schenkelknochen aus dem Crag.«

»Es ist ein antidiluviales Pferd«, sagte Herr Preemby.

»Entschuldigen Sie! Es ist ein Rhinozerosknochen!«

»Die Pferde hatten in jenen Tagen Rhinozerosknochen«, sagte Herr Preemby. »Und die Rhinozerosse –! Die waren überhaupt unerhört. Wenn ich einen solchen hätte, ich wüßte nicht wohin damit.«

Herr Preemby ward aus seinem Overall herausgezogen, und der schwarze Anzug sowie der weiche graue Hut mit dem schwarzen Band traten wieder in ihre Rechte. Er wurde Mitglied einer vazierenden Gesellschaft, die aus den Lonsdale-Stallungen hinaus nach einem kleinen italienischen Restaurant in der Kingsstraße zog. Drei Nachbarn der Crumbs mischten sich unter die Gesellschaft, ein äußerst stiller Mann mit silberweißem Haar, ein Jüngling und ein schwärzliches Mädchen.

Auf Herrn Preemby machte die ihm neue Sitte, zum Abendessen auszugehen, großen Eindruck, und er ließ sich über die Vorteile derselben des langen und breiten gegen den silberhaarigen Mann aus, der gerade jene stille Art von Zuhörer zu sein schien, die Herrn Preemby zusagte. »Sehen Sie, man braucht eben die Mahlzeit nicht zu kochen und man braucht den Tisch nicht zu decken, und nachher gibt's natürlich kein Abwaschen mehr. Aber ich vermute, es kommt etwas teurer.«

Der silberhaarige Mann nickte verständnisvoll. »Sehr richtig«, sagte er.

Harold Crumb hatte zugehört. »Teuer«, sagte er, »ist es nicht. Nein. Jedes andre Verbrechen mag Poppinetti begehen, aber gegen dieses ist er durch die Verhältnisse seiner Kundschaft gefeit. Er füttert uns mit gestohlenen Tauben, seine Dinde ist Meerschweinchen, sein Rinderbraten stammt vom Pferde; womit er würzt, weiß der liebe Himmel; was er in seine Ravioli mischt, läßt sogar Gott den Herrn seinen außerordentlichen Schöpfungsreichtum bereuen. Aber sehen Sie, man denkt eben über seine Ravioli nicht viel nach, man ißt sie, und sie sind verteufelt gut. Immer gibt's Blumen auf dem Tisch, und das Lokal sieht hübsch aus. Sie werden ja sehen. Sie werden ja sehen.«

Herr Preemby sah. Poppinetti war ein kleiner, aber sorgfältig nach Caruso modellierter Mann, der seine zahlreiche Gesellschaft mit der Zurückhaltung eines Diplomaten und dem sprudelnden Erguß eines Geisers empfing. Er war besonders liebenswürdig mit Herrn Preemby, verbeugte sich tief vor ihm und grüßte ihn in der Folge stets mit großer Zuvorkommenheit, wann immer sich ihre Blicke trafen. Herrn Preemby kam es so vor, als ob er den Rest der Zeit, die sie miteinander waren, damit verbringe, an immer entferntere Stellen im Restaurant zu gehen, um von dort aus Herrn Preembys Blick zu erhaschen, sich zu verbeugen und ihn aus immer größerer Distanz anzulächeln. Herr Preemby hatte seltsame Zweifel, ob er nicht irrtümlich für jemand anderen gehalten werde. Signor Poppinetti führte die Gesellschaft mit einer Miene besonderer Gunst an eine lange, etwas unscheinbare Tafel in der Mitte des Restaurants und nahm ihre widerstreitenden Bestellungen mit den Gesten eines Dirigenten entgegen, der ein Orchester über eine schwierige Passage führt. Herr Preemby verhielt sich passiv, doch beobachtend; alsbald fand er sich Makkaroni essend und einen herben Rotwein trinkend, dessen Name seinen an den Londoner Dialekt gewöhnten Ohren wie eine Herausforderung klang. Chianti.

Harold Crumb zeigte große Sachkenntnis in betreff der Makkaroni. »Um bei Makkaroni auf den Geschmack zu kommen,« versicherte er Herrn Preemby, »ist es notwendig, sich den Mund damit tüchtig vollzustopfen. Makkaroni mit der Gabel zu schneiden, wie Sie das tun, ist genau so schrecklich wie eine Auster zu zerschneiden. Es – es bringt sie um.«

»Ich liebe sie zerschnitten«, sagte Herr Preemby mit unerwarteter Festigkeit. Und er durchschnitt noch ein paar.

»Sonst«, bemerkte er in vertraulichem Tone gegen den silberhaarigen Mann, »kommen sie mir immer wie Regenwürmer vor.«

»Sehr richtig. Sehr richtig«, sagte der silberhaarige Mann.

Harold erläuterte großartig durch Beispiele. Sein zum Angriff vorrückendes Gesicht, wenn es über ein Maulvoll sich krümmende und windende Makkaroni herfuhr, glich St. Georgen mit dem Drachen auf einem englischen Sovereign. Er pfiff, indem er aß. Lange Makkaroni-Schlangen hingen einen Augenblick gedankenvoll herab und nahmen dann, durch irgendeinen unfaßbaren Zauber angelockt, in ihn hinein Reißaus. Teddy Winterton und einer der Neuankömmlinge aus dem benachbarten Atelier suchten es ihm gleichzutun. Christina Alberta und Fee bewiesen die flinke Geschicklichkeit der Frauen. Jedoch Herr Preemby war froh, als die Makkaroni vorüber waren, wenn das auch das neue Problem aufwarf, Spinat und Ei mit einer Gabel zu essen.

Doch war er nicht wirklich in seiner Seelenruhe gestört, wie das vielleicht ein jüngerer Mann hätte sein können. Er besaß das savoir faire des mittleren Alters. Dieses Abendessen im Restaurant war im ganzen ein schönes und angenehmes Erlebnis für ihn. Er gewann sogar dem ätzenden Aroma des Chianti Geschmack ab. Diesen Chianti trank man aus ganz gehörig großen Gläsern, da er fast ebenso billig und leicht wie Bier war. Er berauschte nicht gerade, doch erwärmte er den Geist und warf eine gefällige und überzeugende Unklarheit über das ganze Weltall, sodaß die Tumbridges alle ohne jede Frage Tumbridges blieben und die geheimen Träume und Gedanken des Herzens sicheres Wissen wurden. Bald sah sich Herr Preemby imstande und gewillt, dem weißhaarigen Mann und auch dem schwarzen, unordentlichen Mädchen, das an seiner anderen Seite saß und aus dem benachbarten Atelier kam und von dem er durchaus nicht wußte, wie es hieß, über seine Sammlungen zu erzählen und noch Wichtigeres anzudeuten; und bald erzählte er auch den anderen davon; und als das Geflügel kam – es war ein Herrn Preemby unbekannter Vogel und hieß, soviel er erfuhr, Kaninan oder Trutchen sprach der größte Teil der Gesellschaft in jener lauten, verworrenen und übersprudelnden Art, die diesen jungen Leuten eigen war, über die verlorene Atlantis.

Niemals zuvor hatte Herr Preemby sich so frei über dieses Thema hören lassen. Zuhause war er stets durch der seligen Frau Preemby unverhohlenen Mangel an Interesse zurückgehalten worden. Und so war er auch jetzt nicht auf positive Feststellungen oder eine Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten über dieses große verlorene Festland des goldenen Zeitalters vorbereitet. Atlantis war seit manchem Jahre der Schauplatz und Hauptinhalt seiner geheimsten Träumereien; er wußte, daß seine Kenntnis davon eine von der gewöhnlichen Wissenschaft verschiedene war, intuitiver, mystischer, tiefer. Von Anfang an war seine Art verteidigend, geheimnisvoll und dunkel, wie jemandes, der zwar gewillt ist, zu sprechen, dem es aber nicht gestattet ist.

Woher er wisse, daß es dieses verlorene Festland gegeben habe?

»H'rrmp,« sagte er mit dem leisen Lächeln des geheimen Wissenden, »seit Jahren studiert.«

»Was für Beweise gibt es?« fragte die unordentliche junge Dame.

»Eine Unmenge. Unmöglich alle aufzuzählen. Überzeugend. Verschiedenster Art. Plato sagt viel darüber. Unbeendetes Fragment. Viele Bücher sind geschrieben worden. Zahlreiche Inschriften in Ägypten.«

»Was für Leute waren es?« fragte das unordentliche Mädchen.

»Wirklich wunderbare Leute, mein Fräulein«, sagte Herr Preemby. »H'rrmp. Wirklich wunderbare Leute.«

»Philosophie und kein Ende, vermutlich?« fragte der Jüngling aus dem Atelier nebenan mit vollem Mund.

»Was wir wissen, ist nur sehr wenig«, sagte Herr Preemby. »Nur sehr wenig.«

»Wie kleideten sie sich?«

»H'rrmp. Lange Gewänder, lange weiße Gewänder – äußerst feierlich. Blau – azur –, wenn der Gerechtigkeit gewaltet wurde. Plato erzählt uns viel davon.«

»Konnten sie fliegen?«

»Sie konnten es. Es wurde aber nicht ausgeübt.«

»Gab es Automobile?«

»Ja. Allerdings fuhren sie wenig Auto. Sie verbrachten viel Zeit mit Nachdenken. Wir – leben in einem Übergangszeitalter. H'rrmp.«

»Und dann ging alles futsch?« sagte der Jüngling aus dem Atelier nebenan. »Untergegangen et cetera. Wie schrecklich!«

»Das muß nicht unbedingt der Fall gewesen sein«, sagte Herr Preemby geheimnisvoll.

Allmählich begann Herr Preemby den Skeptizismus ringsum zu bemerken. »Kein Atom von einem Beweis ist vorhanden, daß es überhaupt jemals ein Festland im Atlantischen Ozean gegeben hat,« sagte Herr Teddy Winterton eben zu Christina Alberta, »oder sagen wir innerhalb des Zeitraumes der letzten dreißig Millionen Jahre. Das Meeresbecken datiert geradewegs aus der mesozoischen Periode.«

Herr Preemby hätte dieser Bemerkung Beachtung geschenkt, wenn nicht das unordentliche Mädchen ihn plötzlich gefragt hätte, ob er nicht meine, daß das Hakenkreuz ein Symbol sei, das sich aus der Atlantis herschreibe. Er sagte, er sei ganz sicher, daß dem so sei. Sie fragte, was es eigentlich bedeute; sie sei schon immer neugierig gewesen zu erfahren, was es bedeute; und er wurde dunkel und geheimnisvoll. Ferner wollte sie noch mehr über die Trachten jener untergegangenen Welt wissen, über ihre Sitten und Gebräuche, über ihre Religion. Waren Frauen Bürger? Sicher war sie auf diesem Gebiet die intelligenteste der ganzen Gesellschaft. Der silberhaarige Mann schien stillvergnügt und zufrieden.

Der übrige Teil der Gesellschaft ging zu einer Diskussion der Möglichkeit über, den Chelsea Künstler-Ball als Gruppe aus der verlorenen Atlantis zu besuchen. Manche ihrer Einfälle erschienen Herrn Preemby als trivial und unwürdig. »Läßt uns unbegrenzte Möglichkeiten«, sagte Harold Crumb. »Wir könnten Waffen erfinden – Flügel haben, wenn wir wollten. Magische Karfunkel an unseren Schilden – illuminiert. Mysteriöse Bücher und Tafeln. Und eine Art klagender, trommelnder Musik: Mya, mya, mya.«

Er spitzte den Mund und brachte einen komischen, muhenden Laut hervor, um damit seine Absicht klarzumachen, wobei er, um die Wirkung zu unterstützen, die Finger durch die Luft wirbeln ließ.

Es hatte keinen Zweck, sich gegen eine so phantasiereiche Unwissenheit zu wenden. So fuhr Herr Preemby ruhig fort, hinter seinem Schnurrbart hervor dem schwarzen, unordentlichen Fräulein und dem geduldigen Mann mit dem silbernen Haar orakelhafte Mitteilungen zu machen.

»Aber wie weiß man von diesen Dingen?« beharrte das schwarze Mädchen. »Im Britischen Museum ist nichts davon.«

»Sie vergessen,« sagte Herr Preemby, »h'rrmp, die Freimaurer. Da gibt es innere Zirkel – Überlieferungen. Danke schön. Nur mehr ein halbes Glas. O! Sie haben's vollgefüllt! Danke schön.«

Während er sprach, bemerkte er, daß zwischen Christina Alberta und Winterton etwas vorging. Zuerst schien es gar nicht der Rede wert zu sein, sondern nur dem ungewöhnlichen Benehmen der ganzen Gesellschaft zu entsprechen, bald aber dünkte es Herrn Preemby doch bedeutsam. Er sah Christina Albertas kleine Faust auf dem Tisch liegen, und plötzlich war sie von Wintertons Hand eingeschlossen. Sie zog ihre Hand rasch weg. Dann wurde irgendwas geflüstert, und ihre Hand kam wieder zurück. Im nächsten Augenblick waren ihre Hände eine halbe Spanne voneinander entfernt, als ob niemals etwas zwischen ihnen geschehen wäre.

Wahrscheinlich würde er diese augenblickliche Fesselung seiner Aufmerksamkeit durch Christina Alberta vergessen haben, wenn sich nicht gelegentlich des Nachtisches etwas anderes ereignet hätte. Poppinettis Begriff vom Nachtisch war eine Art Lotteriespiel mit Nüssen – fand man eine volle, so hatte man gewonnen –, dazu Massen von zerquetschten und beschädigten Datteln und ein paar schäbige Äpfel. Es wurde eifrig aufgeknackt. Die Gesellschaft übersäte die Tafel mit Nußschalen und deren grün, schwarz und gelb verfaultem Inhalt, als ein zweiter Vorfall Herrn Preembys Augen auf sich zog. Er sah, wie Teddy Winterton seine Hand ganz langsam über Christina Albertas Unterarm gleiten ließ. Und ihr Arm wurde nicht zurückgezogen.

Alle sprachen gerade durcheinander, und einen Augenblick lang schien es Herrn Preemby, als hätte er allein etwas gesehen; doch dann erhaschte er einen beobachtenden Ausdruck auf dem Gesicht des silberhaarigen Mannes. Alles war zwar so verwirrend, und dieser Chianti – obwohl er wirklich nicht berauschend war – ließ alles verschwommen erscheinen, aber dennoch wußte Herr Preemby irgendwie, daß der silberhaarige Mann diese verstohlene Zutraulichkeit ebenfalls angesehen hatte und damit ebenfalls nicht ganz einverstanden war.

Sollte man so etwas bemerken? Sollte man irgendetwas sagen? Vielleicht später. Vielleicht konnte er sie unter vier Augen ruhig fragen: ‹Bist du mit diesem Jüngling Winterton verlobt?›

»Ein wenig stark«, sagte Herr Preemby ruhig, als er dem Blick des silberhaarigen Mannes begegnete. »Ich liebe solche Sachen nicht gerade.«

»Ganz recht«, sagte der silberhaarige Mann.

»Ich werde mit ihr sprechen.«

»Da haben Sie ganz recht«, sagte der silberhaarige Mann zutraulich. Wirklich ein vernünftiger Bursche.

Ein großes Geraschel und das Scharren von Stühlen. Poppinetti war, auf einem Rechnungsblock Ziffern kritzelnd, gekommen, um das Geld einzukassieren.

»Ich will für uns zahlen, Vati,« sagte Christina Alberta, »und wir wollen's nachher verrechnen.«

Poppinetti, sich verbeugend. Poppinetti zu Herrn Preembys Rechter und Herrn Preembys Linker; mehrere Poppinettis, sich verbeugend. Eine Anzahl emsiger Poppinettis, Hüte und so weiter reichend. Poppinettis, wohin man sich auch drehte. Das Restaurant rotierte langsam. War dieser Chianti etwa stärker, als man Herrn Preemby weisgemacht hatte? Eine Schar von Poppinettis öffnet eine Anzahl von Türen und sagt Höflichkeiten. Schwierig, eine Tür zu wählen. Gleich die erstbeste ist richtig. Hinaus auf die Straße. Leute gehen vorüber. Taxis. Keine Poppinettis mehr. Aber ein Mädchen darf sich nicht von einem jungen Mann beim Abendessen den Arm streicheln lassen, wenn jedermann zuschauen kann. Das war ungehörig. Irgendwas mußte gesagt werden. Irgendwas Taktvolles.

Herr Preemby wurde gewahr, daß er neben Frau Crumb ging. »Es war sehr schön, Sie über die ‹Neue Atlantis› sprechen zu hören«, sagte sie. »Ich wünschte, ich wäre näher gesessen.«

»H'rrmp«, sagte Herr Preemby.

Frau Crumb war sehr nett. Was hatte Christina Alberta gesagt? Nicht so schrecklich verheiratet, aber verheiratet genug.

6

Herr Preemby dachte, sie würden daheim Kaffee trinken, ein wenig plauschen und dann zu Bett gehen; er hatte keine Ahnung von der immensen Ausdehnung des Abends, der noch vor ihm lag. Er hatte bisher noch nichts von der Fähigkeit dieser neuen Welt von jungen Leuten, in die ihn Christina Alberta eingeführt hatte, gewußt, bis spät in die Nacht aufzubleiben und erst in den frühen Morgenstunden lebendig zu werden.

Und sie blieben in einer Art hektischer, unzusammenhängender Weise stundenlang lebendig. Es wurde Herrn Preemby so von ungefähr klar, daß es da einen periodischen ‹Tag› gab, den Frau Crumb für Abendzusammenkünfte im Atelier bestimmt hatte, und daß gerade der Abend, den er für seinen Einzug gewählt hatte, solch ein Abend war. Neue Leute traten herein. Einer schien ein ominöser Ankömmling zu sein, er kam sehr bald nach der Heimkehr von Poppinetti; er war sehr dick und fett, ein Bleichgesicht von etwa vierzig, ziemlich kurzatmig, mit außergewöhnlich intelligenten Augen unter einer breiten Stirn und einem mürrischen Mund. Er betrug sich mit dem unwillkürlichen Selbstbewußtsein eines Mannes, der weiß, daß er berühmt ist. Sein Name, so schien es, war Paul Lambone, und er hatte alles mögliche geschrieben. Jedermann behandelte ihn mit leiser Hochachtung. Er begrüßte Christina Alberta mit großer Wärme. »Wie gehts der neuen Avantgarde?« fragte er, indem er ihr die Hand schüttelte, als ob er es gerne täte; seine Stimme war für einen so umfangreichen Menschen außerordentlich schwach. »Wie gehts der Fortschrittlichsten der Fortschrittlichen?«

»Sie sollen hier meinen Vater begrüßen«, sagte Christina Alberta.

»Hat es gar einen Vater? Ich dachte, es wachse so wie Unkraut – heraus aus Nietzsche und Bernard Shaw und all den übrigen.«

»H'rrmp«, sagte Herr Preemby.

Herr Lambone wandte sich zu ihm. »So eine Tochter gibt einem beide Hände voll zu tun!« sagte er und beugte sich leicht gegen Christina Alberta. »Auch die beste.«

Herr Preemby antwortete nach der Manier der Eltern in Woodford Wells: »Sie war mir immer eine gute Tochter, Herr.«

»Ja, aber sie sind doch nicht so wie Söhne.«

»Sie haben Söhne, Herr, vermute ich.«

»Bloß Traumkinder. Ich habe nicht wie Sie die Courage gehabt, meine Träume zu verwirklichen. Ich hab' hundertmal geheiratet, theoretisch, und nun bin ich so eine Art von Junggesellenonkel für jedermann. Stöbere da unter dem jungen Volk herum und beobachte ihre Sitten mit« – seine intelligenten Augen schauten ruhig über seinen geschwätzigen Mund hinweg nach Christina Alberta –, »Schaudern und Bewunderung.«

Zwei andere Besucher erschienen auf der Schwelle, und Herr Lambone wandte sich, sobald Fee mit ihrem Willkommen fertig war, von Herrn Preemby weg, um sie zu begrüßen, einen wildblickenden Jüngling mit einem ungeheuren Schopf schwarzen Haars und eine kleine Dame wie ein chinesisches Püppchen, deren Kostüm einen an Watteau erinnerte.

Man unterhielt sich nunmehr allgemein, und Herr Preemby wich in den Hintergrund der Ereignisse zurück.

Er lehnte an der Seite seines Freundes mit dem silbernen Haar an seinem Bücherregal. »Ich wußte gar nicht, daß er Gesellschaft gibt«, sagte er.

»Das hab' ich mir auch gedacht.«

»Ich kam erst heute nachmittag hierher. Die Möbelwagen kamen spät, und viele meiner Sachen müssen noch ausgepackt werden.«

Der silberhaarige Mann nickte verständnisvoll. »Oft der Fall«, murmelte er.

Jedermann sprach laut. Man konnte kaum verstehen. Es war ein verworrenes Durcheinanderreden und immer, wenn zwei oder drei sich für das, worüber sie sprachen, zu interessieren schienen, kam Fee Crumb und unterbrach sie, wie es sich für eine gute Hausfrau gehört. Neue Leute, von Herrn Preemby kaum bemerkt, gerieten irgendwie in das Atelier. Eine rothaarige junge Dame zum Beispiel, mit einem entsetzlichen Dekolleté; hinten konnte man beinahe bis zur Taille sehen. Er räusperte sich einige Male und dachte daran, zu dem silberhaarigen Mann irgend eine Bemerkung darüber zu machen, irgend eine ganz kalte und ruhige Bemerkung. Doch er tat es nicht. Es fiel ihm nichts genügend Kaltes und Ruhiges ein, das er hätte sagen können.

Frau Crumb kam und fragte, ob er nicht etwas Whisky oder Bier haben wolle. »Nicht auf diesen guten Chianti, danke schön«, sagte Herr Preemby.

Die Unterhaltung schien immer lauter zu werden. In einer Ecke konnte man Harold Crumb die Gedichte Vachell Lindsays vortragen hören. Dann kam Herr Lambone heran und schien über die verlorene Atlantis sprechen zu wollen, aber Herr Preemby war zu schüchtern, um mit Herrn Lambone über die verlorene Atlantis zu sprechen. »Geht's dir gut, Vati?« fragte Christina Alberta, vorüberschwebend und auf keine andere Antwort als ein ‹H'rrmp› wartend.

Jetzt erschienen drei junge Leute mit einem Grammophon, das sie, wie sie erklärten, eben erst gekauft hatten. Fee entdeckte, daß man das Bier vergessen hatte, und schickte Harold fort, um welches bei einem Nachbar zu borgen. Jene Neuankömmlinge machten auf Herrn Preembys bereits abgestumpfte Sinne keinen besonders tiefen Eindruck, außer daß einer von ihnen, der Besitzer des Grammophons, ein äußerst blonder Jüngling mit langer intelligenter Nase, den großen Schalltrichter desselben als Kopfbedeckung trug und die Absicht kundgab, das Grammophon drauflosspielen zu lassen, was immer sonst vorfallen mochte.

Gespielt wurde Tanzmusik, größtenteils Jazzband und ein paar Walzer, und das ließ Herrn Preemby ganz beträchtlich wiederaufleben. Er setzte sich aufrecht hin und schlug den Takt mit den Schenkelknochen eines Vogels Rock, und bald begannen zwei oder drei Paare zu tanzen. Komisches Tanzen, dachte Herr Preemby; beinah' wie Gehen – ein trippelndes Gehen, bei dem die Beine plötzlich erschreckend weit zurückgeschleudert wurden. Eine kleine Unterbrechung entstand, als Harold mit dem geborgten Bier zurückkam – und die Nachbarn, die es geliehen hatten, gleich mitbrachte. Darauf erhob sich ein allgemeines Geschrei, Christina Alberta und Teddy sollten ihren Tanz vortanzen. Teddy war sofort bereit dazu, aber Christina Alberta schien zu widerstreben, und als dann Herr Preemby den Tanz sah, war er darüber nicht verwundert.

»H'rrmp«, sagte er, strich seinen Schnurrbart zurecht und schaute den silberhaarigen Mann an.

Es war wirklich und wahrhaftig allzu vertraulich; die Hauptpersonen verschwanden auf einige Augenblicke nach oben und kamen umgekleidet zurück. Aus irgendeinem Grunde hatte Teddy eine Tuchkappe und einen roten Shawl um den Hals; er stellte, de facto, einen Apachen vor, und Christina Albertas Haltung war – Arme in die Seiten gestemmt – äußerst stolz und herausfordernd geworden.

Alle rückten an die Wand, um für die Tanzenden Platz zu machen. Im Anfang war es gar nicht so schlimm. Aber bald begann dieser Herr Teddy, Christina Alberta herumzuschleudern, warf sie über seine Schulter, hielt sie fest, beugte sie rückwärts, drehte sie beinahe um, beide Beine in der Luft und ihre Hände auf dem Boden schleifend. Und sie war rot und erregt und schien diese gewalttätigen Vertraulichkeiten gern zu haben. Bei solchen Anlässen bestand eine Art eigenen, höchst unerwünschten Einverständnisses zwischen ihnen. Sie und Teddy schauten einander ganz vertraulich und doch wieder mit wilder Herausforderung in die Augen. An einer Stelle in diesem ungewöhnlichen Tanze hatte sie ihm einen Schlag ins Gesicht zu versetzen, einen richtigen, derben Schlag, wohl gezielt. Sie tat es mit solchem Feuer, daß alle Beifall klatschten, worüber er dann lachte, ihren hübschen kleinen Hals zwischen seine Hände nahm und ihn mit großem Realismus würgte.

Dann bekam das Grammophon seine Todeskrämpfe, und der Tanz war vorüber.

Herrn Preembys Kehle hatte ihn seit dem Nachtmahl nicht viel beunruhigt, aber jetzt sagte er zu wiederholten Malen ‹h'rrmp›.

Man wünschte, daß Christina Alberta, strahlend und keuchend und struwwelköpfig wie sie war, die Vorstellung wiederhole, aber sie wollte nicht. Sie hatte die ernste Bestürzung und Verwunderung in ihres Vatis Gesicht wahrgenommen.

Die Leute aus dem Atelier nebenan hatten die nächste Vorstellung zu liefern: sie gaben die Nachahmung einer russischen Nachahmung eines Bauerntanzes von Saratoff zum besten. Eine Grammophonplatte war vorhanden, welche zwar nicht die ganz passende Musik spielte, doch ging es noch an. Dieser Tanz unterhielt Herrn Preemby wirklich. Der Jüngling hockte sich beinahe bis auf den Fußboden und warf seine Füße mit größter Beweglichkeit hin und her, während das Mädchen hölzern wie eine Puppe war. Alle klatschten mit den Händen zur Musik Takt, und das tat auch Herr Preemby.

Und dann kam der nächste Überfall. Fünf Leute in Verkleidung verlangten Bier. Sie kamen Herrn Preemby sonderbar und bunt, aber gänzlich uninteressant vor. Einer trug einen roten Hahnenkamm und war als Narr in Kappe und Schellen gekleidet. Die anderen trugen bloß Trikots und glänzende Dinge, die gar nichts vorstellten. Sie waren bei einem Fest gewesen, das von irgend jemandem für die ‹jungen Leute› gegeben worden war. Mit Geschrei kündigten sie an: »Sie haben um Mitternacht Schluß gemacht. Um Mitternacht! Wenn eben die jungen Leute zu Bett gehn.«

Es war nur zu offensichtlich, daß man in den Lonsdale-Stallungen Nr. 8 an nichts dergleichen dachte.

Bier. Herr Preemby lehnte ab. Das letzte Bier. Zigaretten. Viel Rauch. Der letzte Whisky. Und Grammophon, und Tanzen, und Harold Crumbs Stimme, die sich wieder in Rezitationen erging. Bier oder Whisky hatten sie getrübt; doch gab es auch entgegenwirkende Geräusche. Bewegung. Ein Kreis wurde gebildet. Nicht mehr Tanzen! Nein. Kraft- und Geschicklichkeitsproben mit Sesseln, hauptsächlich von Teddy Winterton, dem Grammophonbesitzer und Harold ausgeführt. Diese Narreteien hörten bald auf, und die Gesellschaft strömte wieder in die Mitte des Raums zurück. Ein Gespräch, dem Herr Preemby nicht folgen konnte; Ausdrücke, die er nicht verstand. Niemand, der auch nur die geringste Notiz von ihm nimmt.

Ein Gefühl von Müdigkeit, Überflüssigkeit und Verlassenheit überkam ihn. Wie anders waren die Abende der Vergangenheit von den guten, weisen Bewohnern der verlorenen Atlantis verbracht worden! Philosophische Zwiegespräche gab es da, die Laute, die Leier. Erhabene Gedanken.

Zufällig erblickte er Frau Crumb, wie sie verstohlen gähnte. Plötzlich – wider Willen, gähnte er auch. Und gähnte noch einmal.

»Jaau«, sagte er zu Paul Lambone, der an seiner Seite saß. »Wajauauu – wir sitzen hier auf meinem Bejauauwtt.«

»Sie wohnen hier?« fragte Herr Lambone.

»Heute angekommen. Christina Albjauauauter hat das arrangiert.«

»Den Teufel hat sie!« sagte Herr Lambone und schaute quer durch das Atelier nach ihr hin. Einige Augenblicke schien er in Gedanken versunken.

»Eine sehr bemerkenswerte junge Frau, diese Ihre Tochter«, sagte er. »Ich komme mir neben ihr ganz altmodisch vor.«

Er schaute auf die Armbanduhr, die er trug. »Halb zwei«, sagte er. »Ich werde mit dem Weggehen anfangen ...«

7

Herr Preemby hörte ein paar Sätze, als sich Teddy Winterton und Christina Alberta voneinander verabschiedeten. »Ja oder nein?« fragte Teddy.

» Nein«, sagte Christina Alberta mit Nachdruck.

»Doch!« sagte Teddy.

»Ich mag aber nicht«, sagte sie.

»Du magst wohl.«

»Ach, geh zum Teufel!«

»Du riskierst doch nichts dabei.«

»Ich werde nicht kommen. Es ist unsinnig.«

»Ich werd' auf jeden Fall warten.«

»Du kannst warten.«

»Klein-Christel Traumichnicht. Ich tue, was du willst.«

8

Es war zwei Uhr vorbei, als der letzte der Gesellschaft ging.

»Alle Mann ans Aufbetten«, rief Fee. »Es ist nicht immer so wie heut', Herr Preemby.«

»Ich gestehe, ich bin sehr müde«, sagte Herr Preemby. »Das war ein langer Tag heute.«

Christina Alberta betrachtete ihn mit etwas verspäteten Gewissensbissen. »Es ist gerade heute alles so zusammengekommen«, sagte sie.

»Ich bin nicht gewohnt, so lange aufzubleiben«, sagte Herr Preemby, auf seinem Bett sitzend, das endlich gemacht war, und tat einen Gähner, der seine Kinnbacken beinahe ausrenkte.

»'t' Nacht«, sagte Fee, ebenfalls gähnend.

»Wir wollen schlafengehen«, sagte Harold. »Auf Wiedersehen, Herr Preemby.« Das Gähnen steckte auch Harold an. Was für ein Gesicht er hatte!

»Gud-Na'.«

»Gauoui-Na'.«

Die Tür schloß sich hinter ihnen.

Es wäre noch eine Menge zu Christina Alberta zu sagen gewesen, aber es war zu spät, und Herr Preemby war zu schläfrig, um es jetzt zu sagen. Außerdem hatte er keine Ahnung, was er eigentlich sagen sollte.

Zufällig entschlüpfte ihm eine Bemerkung. »Mir gefiel dieser Mann mit dem weißen Haar«, sagte er.

»So?« sagte Christina Alberta abwesend.

»Er ist intelligent. Er zeigte großes Interesse für die verlorene Atlantis.«

»Er ist stocktaub,« sagte Christina Alberta, »und schämt sich, es einzugestehen – der Ärmste!«

»Oh!« sagte Herr Preemby.

»Das ist alles ein bißchen zu lärmend für dich, Vati«, sagte sie, auf den Punkt kommend, der ihr im Sinn lag.

»Ja, es war ein rechter Radau«, sagte Herr Preemby.

»Wir müssen recht bald nach Tunbridge Wells fahren und uns dort umseh'n.«

»Morgen«, sagte Herr Preemby.

»Nein, nicht morgen.«

»Warum nicht?«

»Übermorgen«, sagte Christina Alberta. »Ich weiß nicht recht, ob ich morgen kann. Ich hab' halb und halb versprochen, irgendwo anders hinzugehen. Aber das ist eigentlich nicht sehr wichtig.«

»Ich möchte ganz gern morgen nach Tunbridge Wells fahren«, sagte Herr Preemby.

»Warum auch nicht?« sagte Christina Alberta wie zu sich selbst und zögerte.

Sie ging zur Türe und kam zurück. »Gute Nacht, kleiner Vati«, sagte sie.

»Fahren wir dann also? Morgen?«

»Nein ... Ja ... Ich weiß nicht. Ich hatte mir zwar für morgen etwas vorgenommen. Etwas, was in einer Hinsicht wichtig ist ... Wir wollen morgen fahren, Vati.«

Sie ging von ihm weg, die Arme in die Seiten gestemmt, und starrte auf jene wunderlichen Bilder.

Plötzlich drehte sie sich auf den Absätzen herum. »Ich kann nicht morgen fahren«, sagte sie.

»Ja doch, ich werde morgen fahren«, widersprach sie sich.

»Zum Teufel!« rief sie ganz unerwartet und unweiblich aus. »Ich weiß nicht, was ich tun soll!«

Herr Preemby blickte sie mit schweren und müden Augen an. Das war für ihn eine neue Christina Alberta. Sie brauchte doch nicht gleich zu fluchen. Sie brauchte doch wirklich nicht gleich zu fluchen. Das hatte sie diesen Leuten da abgelauscht. Sie wußte gar nicht, was es bedeutete. Er mußte mit ihr sprechen – morgen. Darüber und über einiges andere. Aber du lieber Gott! wie müde er war!

»Du –« Er gähnte. »Du mußt auf dich aufpassen, Christina Alberta«, sagte er.

»Das werde ich schon ganz gehörig tun, Vati. Verlaß dich auf mich.«

Sie kam und setzte sich neben ihn auf sein sogenanntes Bett. »Wir können jetzt nichts entscheiden, Vati. Wir sind zu müde. Wir werden es morgen besprechen. Wir müssen ja auch erst seh'n, wie das Wetter ausschaut, vor allem. War doch nichts, in Tunbridge herumzugeh'n, wenn's regnet. Wir werden uns morgen entscheiden – wenn wir klar im Kopfe sind. Schau! Du lieber kleiner Vati! Es ist gerade halb drei.«

Sie legte einen Arm um seine Schultern und küßte ihn auf den Kopf und aufs Ohrläppchen. Er liebte es, wenn sie ihn streichelte und küßte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie sehr er es liebte, wenn sie ihn küßte.

»Lieber müder kleiner Vati«, sagte sie mit ihrer sanftesten Stimme. »Du bist stets so gut zu mir. Gute Nacht.«

Fort war sie.

Eine Zeitlang saß Herr Preemby ganz bewegungslos im Banne eines beinahe starren Nachdenkens da.

Der Boden des Ateliers war mit verbrannten Zündhölzchen und Zigarettenstümpfchen bestreut, und die Luft roch nach kaltem Rauch und Bier. Auf dem blaugemalten Tisch standen eine leere Bierflasche und zwei oder drei Gläser mit einem Bodensatz von Bier und Zigarettenasche.

Das war doch alles ganz anders als in Woodford Wells – ganz anders, in der Tat.

Aber es war ein Erlebnis.

Herr Preemby machte sich ans Ausziehen.

Das Nachthemd aus sächsischem Flanell mußte noch ausgepackt werden.

9

Am Morgen war Christina Alberta noch unsicher und konnte sich nicht entscheiden, nach Tunbridge Wells zu fahren, obzwar das Wetter ganz prächtig war. Gegen halbzwölf verschwand sie, und nach einem leichten Mittagessen mit Fee – Harold war auch ausgegangen – wurde es für Herrn Preemby zur ausgemachten Tatsache, daß der Besuch von Tunbridge Wells für heute aufgegeben war. So ging er nach South-Kensington, um sich dort die Museen anzuschauen. Er ging nicht wirklich hinein, sondern schaute sie sich nur von außen an; ebenso die Universitätskollegien und die Bauten im allgemeinen. Es war ein vorläufiger Rekognoszierungsgang.

Die Museen sahen sich von außen ganz gut an. Größer, ausgedehnter als das Britische Museum. Wahrscheinlich enthielten sie – alles mögliche.

Christina Alberta erschien, strahlend und aufgeregt, erst nach halb sieben im Atelier. Es war, als ob sie innerlich triumphierte.

Sie gab keine Erklärung über ihr Verschwinden ab. Sie war voll von der Reise nach Tunbridge Wells am nächsten Morgen. Sie mußten einen Zug bald nach neun Uhr erreichen, um dann einen guten, langen Tag vor sich zu haben. Sie war ungewöhnlich liebevoll gegen ihren Vati.

Harold war diesen Abend nicht zu Hause, und Fee hatte einige Rezensionen auszuarbeiten, also verbrachten sie einen ganz stillen und häuslichen Abend miteinander. Herr Preemby las mit wechselnder Aufmerksamkeit ein schönes, tiefes, verwirrendes Buch, das er im oberen Zimmer gefunden hatte; es hieß ‹ Phantasie des Unbewußten› und handelte von der verlorenen Atlantis und ähnlichem.


 << zurück weiter >>