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Zweiter Teil.
Die Welt weist Saragon, den König der Könige, zurück

 

Erstes Kapitel.
Inkognito

1

Herr Preemby war aus Christina Albertas Welt verschwunden. Eine Zeitlang muß er nun fast ebenso vollständig aus dieser Erzählung verschwinden. Herr Preemby scheidet also aus. Während wir seine äußere Erscheinung beibehalten, haben wir nun von einer anderen, größeren Persönlichkeit zu erzählen, von Sargon dem Ersten, dem erhabenen Einen, dem König aller Könige, dem Erben der Erde.

Es ist ohne Zweifel wunderbar, zu entdecken, daß man nicht der ziemlich obskure Witwer einer Wäschereibesitzerin ohne besondere Aufgabe, sondern ‹Herr der ganzen Welt› ist; doch ist solch eine Entdeckung für einen gewissenhaften Mann, der darum besorgt ist, das Rechte zu tun, gewiß auch außerordentlich beunruhigend und bedrückend. Und es ist nur natürlich, daß diese ungeheure schillernde Idee zunächst etwas Verwirrendes hatte. War es doch eine Idee, die Erlösung und Vertiefung als Wirkung mit sich brachte. Zu irgendeinem noch dunklen Zwecke war unser Held, wie ein Tier im Käfig, in dem beschränkten und nichtssagenden Preembyleben eingefangen gewesen. Seine Phantasie hatte sich gegen diese Begrenztheit empört; ein tiefer Instinkt hatte ihm zugeflüstert, daß dies Leben eine Illusion sei; in Augenblicken der Träumerei, manchmal auch im Halbschlaf, hatte ihn die Ahnung eines Lichtes, eines Zweckes über der sichtbaren Wirklichkeit befallen. Als ob ein Tor aufgesprungen, als ob ein Vorhang weggerissen worden sei, ergoß sich dieses Licht jetzt plötzlich in blendender Fülle über ihn. Sein Leben war kein Einzelleben mehr, das Anfang und Ende hat, und wie ein leerer Gesang verhallt. Sein Dasein war vielmehr einem Faden vergleichbar, der in dem unendlichen Gewebe des Seins leuchtete, bald sichtbar, bald verdeckt, der in ein Zweckgebilde eingewoben war. In früher Vergangenheit war er Swein in der Stadt Kleb, später war er Sargon und Belsazar gewesen. Manch andrer war er auch gewesen, doch schlummerte die Erinnerung daran noch unter den dunklen Wassern der Vergessenheit. Aber die Erinnerung an Sargon schien hell und klar. Denn dieses Sargon-Selbst war wiedergekehrt. Aus irgendeinem noch unbekannten Grunde zwang ihn die Macht, die sein Leben lenkte, dazu, in der jammervollen Welt von heutzutage noch einmal Sargon zu sein. Sargon hatte sein Leben niedrig als ausgesetzter Säugling begonnen und sich dazu emporgerungen, ein Reich wiederherzustellen, zu regieren und zu vergrößern, das mächtiger war, als es die alte Welt je zuvor gesehen hatte. Bestimmte Eigenschaften hatten sich an Sargon offenbart, und wegen eben dieser Eigenschaften hatte die Macht zum zweitenmale den Ruf an ihn ergehen lassen.

Eine ganze Reihe von Erinnerungen entfaltete sich in seinem Geiste. Mit außerordentlich überzeugender Kraft rief er sich seine Jugend zurück, Erinnerungen an jene fernen Tage in Sumerien, da ihn die Macht in die Höhe gebracht hatte. Sie waren so strahlend und freundlich, daß sie seine Erinnerungen an Sheringham und Woodford Wells bereits in den Hintergrund drängten und aus seinem Preembydasein ein verschwebendes Phantom machten. Diese letzteren Erlebnisse hatte er niemals besonders geliebt, sie niemals mit besonderem Vergnügen in seinem Geiste wieder aufgefrischt. Bei den neu erwachten Erinnerungen aber verweilte er gerne. Da gab es Bilder aus seiner frühesten Zeit, als er noch ein Findelkind war, ein mysteriöses Findelkind am Hofe seines Vorgängers. (Der Name dieses Vorgängers wollte ihm noch immer nicht einfallen.) Jung Sargon war ein blondes, blauäugiges Kind, eine Seltenheit in dem braunen Sumerien. Er war aufgefunden worden, als er in einem kleinen, aus Schilf und Binsen geflochtenen Wiegenboote den großen Fluß hinunterschwamm, war von dem Herrscher des Landes aufgenommen und adoptiert worden. Schon als Junge ragte er durch seine außergewöhnliche Weisheit hervor und vermochte zu tun, was andere Menschen nicht zu tun imstande waren, ja, er war ein Herrschergenie. Nicht daß er große Klugheit, Geschicklichkeit oder Stärke besessen hätte. Viele aus seiner Umgebung überragten ihn in diesen minderwertigen Eigenschaften – besonders an Klugheit und Gedächtnisstärke übertraf ihn Prewm, der Sohn des Großveziers – doch er hatte vor allen die wahre, die königliche Weisheit voraus.

»Die wahre, die königliche Weisheit«, sagte Herr Preemby-Sargon laut vor sich hin und rannte gegen einen langen, dunklen Herrn, der aus dem St. James-Park nach dem St. James-Palast eilte. »Pardon!« rief Herr Preemby-Sargon.

»Meine Schuld«, sagte der lange, dunkle Herr. »Ich habe mich verspätet.« Und rannte weiter.

Komisch! Wo hatte Herr Preemby – oder Sargon – dieses Gesicht schon einmal gesehen? Wo nur? Etwas in ihm verknüpfte es undeutlich mit Sheringham und von der Abendsonne beleuchtetem Sand. Dann aber bekam Sumerien die Oberhand, und der lange, schwarze Herr wurde zum Häuptling eines Wüstenstammes, eines Stammes mitten im Wüstensand.

Die aufgeregte Oberfläche wurde wieder ruhig, und die Knabenzeit in Sumerien spiegelte sich aufs neue in dem blanken See der Erinnerung. Wo waren wir nur? Schon in frühen Tagen hatten die Erzieher einen Ernst in dem Jungen bemerkt, der über seine Jahre hinausging. Er mied die Spiele der Knaben. In allen seinen Existenzen hatte er Knabenspiele gemieden. War auch in Sheringham nicht Kricketspieler gewesen. Bescheiden, aber stark und sicher, hatte dieser Jüngling seine Stimme in der Ratsversammlung erhoben, und man erkannte, daß seine Worte Weisheit waren. Staunend und bewundernd saßen die Greise rings um ihn. »Er sagt wahr«, erklärten sie in ihrer altertümlichen, sumerischen Weise. Ein Wahrsager. Er wurde auch ‹der junge Pfadfinder› genannt.

Ehe noch Sargon sein fünfzehntes Lebensjahr erreicht hatte, wandte ihm der alte, kinderlose Herrscher, der rings von Feinden bedrängt und von Anschlägen bedroht war, seine Aufmerksamkeit zu: »Dieser Knabe kann den Staat retten.« Später, als er eben erst wenige Tage über achtzehn zählte, erhielt er den Oberbefehl in einem Feldzug, um dem Bergvolk des Nordens den Frieden zu bringen und es zu überreden, sich nicht mit dem ‹großen Feind im Norden› zu verbünden. Er tat mehr als ihm aufgetragen war. Er zog durch das Gebirgsland in die dahinterliegenden Ebenen, lieferte dem ‹großen Feind im Norden› eine Schlacht, besiegte ihn und schlug ihn empfindlich aufs Haupt. Daraufhin erkannten alle Menschen, daß er der neue ‹Herr und Meister› von Sumerien werden müsse, der Nachfolger seines gealterten Beschützers. Alle zollten aufrichtigen Beifall, ausgenommen Prewm der Gescheite (der schon damals mit einem vorzeitig aufsprießenden Backenbart geschmückt war); der zollte Beifall mit Neid in den Augen. Und dann kamen die Tage der Thronbesteigung und der feierlichen Einweihung des Harems, wunderschöne Tage. Und danach die Geburt der königlichen Prinzessin, seines einzigen Kindes, und jener große Feldzug in die Wüsten des Südens. Und noch mehr Feldzüge und große Gesetzesverkündungen, weiser und immer weiser, und Mengen ihm zujubelnden, dankbaren Volkes und glückliche Städte. Allenthalben war das Leben zur Glückseligkeit geworden. Prewn zettelte eine Verschwörung an und wurde nach der einfachen Sitte der damaligen Zeit behandelt. Das war eine traurige Notwendigkeit gewesen, und Preemby-Sargon verweilte nicht gerne bei dieser Erinnerung. Die Reichsgrenzen breiteten sich aus und mit ihnen der große Friede: Rußland, die europäische Türkei, Persien, Indien, Altägypten, Somaliland und so weiter und so fort, wurden erobert und beglückt. Amerika, Australien und die Reste der Atlantis, welche noch nicht vollständig versunken war, wurden entdeckt. Sie wurden nachher wieder vergessen, wurden aber damals wirklich entdeckt – und zahlten Tribut. Ein Völkerbund wurde errichtet.

Die ganze Welt sprach von der Güte und Milde Sargons und durchlebte ein goldenes Zeitalter. Denn Sargon regierte kraft des Lichtes der Gerechtigkeit in seinem Herzen. Er milderte die Opfer in den Tempeln und führte im Glaubensbekenntnis und beim Gottesdienst eine Art Protestantismus ein. Das Volk machte Lobgesänge auf ihn. Wo er vorüberging, kamen Frauen und Männer gelaufen, um ihm die Hand zu küssen. Er aber versagte sich auch nicht seinem Volke. Dieses Vertrauen sollte sein Ende sein. Kam doch, ach, des Meuchelmörders Stahl! Ein schwarzer Meuchelmörder, ein Wahnsinniger, ein Fremder –!

Es war wunderbar. Er konnte sich erinnern, wie sein Volk um ihn trauerte, nachdem er tot war.

Der weiße Handschuh eines Polizisten gegen Herrn Preemby-Sargons Brust bewahrte ihn noch gerade davor, in einen Autobus hineinzurennen. Er sprang flink zurück. Er war auf dem Trafalgarplatz, einem großen Sammelplatz, einem Treffpunkt. Hier gab es in dem warmen Lichte des Oktobernachmittags eine größere Menschenmenge als sogar in Sumerien. Hier wollte er die Leute beobachten. Es waren dunkle Haufen, Haufen mit ängstlichen Gesichtern. Seine Wiederkunft hatte Bedeutung für sie. Es hatte einen großen Krieg gegeben, und viel Verwüstung; die Welt war wund, unfähig zu genesen. Die armen Herrscher und Politiker dieses Zeitalters besaßen keine Weisheit, hatten keinen Instinkt für das wahrhaft Rechte. Aufs neue war ein Führer und Erlöser nötig, einer, der echte Weisheit besitzt.

Sargon war es, der nun unter den Schnauzen der Löwen Nelsons hinweg und an der Statue Georgs des Vierten vorbei auf die Balustrade losschritt, von der aus man den Platz überschaut. Dort stand er lange, um einen gründlichen Überblick zu gewinnen. Er sah die Whitehall hinunter bis zum großen Turm des Parlaments; die breite Straße lag im goldenen Dunst des Sonnenunterganges, in dem die Omnibusse, Autos und Wagen glitzerten. Der Verkehrsstrom von dorther mischte sich mit den Strömen, die aus der Northumberland Avenue und dem Strand herauskamen, und der vereinigte Fluß trennte sich wieder zu seiner Linken und zur Rechten hin nach der Pall Mall, dort drüben über dem Platz. Die Straßenlaternen waren noch nicht angezündet, doch in den geschnörkelten Gebäudeschemen zur Linken waren einige Fenster von Licht erwärmt. Darunter fluteten dünne Ströme von Fußgängern wie Ameisen von einem Punkte zum anderen über den Platz, und die niedrige kleine Station der Untergrundbahn verschlang unaufhörlich einzelne oder ganze Klumpen von Individuen. Am Fuße der Nelsonsäule fand irgendeine Versammlung statt; nichts als ein Knäuel von Leuten ohne sichtliche Begeisterung. Männer mit weißen und roten Plakaten über die ‹Arbeitslosigkeit› verteilten weiße Zettel und schüttelten Sammelbüchsen. Unmittelbar unter der Balustrade liefen ein paar ärmlich gekleidete Kinder herum, spielten und balgten sich ... Gerade nur ein kleiner Flecken war das in einer seiner Städte. Denn, ihr müßt wissen, mit dem Lauf der Zeit und infolge der Entwicklung seines alten Reiches war er nunmehr der rechtmäßige Eigner und Beherrscher dieser Stadt und jeder anderen Stadt auf der Welt geworden.

Und war wiedergekommen, um die Krankheiten der ruhelosen Welt zu heilen und den tiefen Frieden Altsumeriens von neuem wiederherzustellen.

2

Doch wie sollte er mit dieser Aufgabe beginnen?

Hierin lag die Schwierigkeit. Seine Wiederkunft durfte nichts Halbes sein. Er mußte rasch und entschieden zugreifen, soviel war ihm klar, aber von der Balustrade vor der Nationalgalerie sah die Welt etwas weitläufig und vielfältig aus für einen, der von ihr Besitz ergreifen wollte. Vielleicht würde sie sich dagegen wehren. Wenn er jetzt anfing, wenn er anfing, von diesem Platz aus zu schreien, war es mehr als wahrscheinlich, daß ihn kein Mensch beachten würde. Er mußte sorgfältig auf eine günstige Gelegenheit passen und vor allem keine Fehler machen. Für den ‹Herrn und Retter der ganzen Erde› schickte es sich nicht, Fehler zu machen.

Das, zum Beispiel, mit dem Buckingham-Palast war beinahe ein Fehler gewesen. Es war ja noch glimpflich abgegangen, hätte aber ernste Folgen haben können. Die Leute kannten den Meister noch nicht, hatten keine Ahnung von ihm. »Man hätte mich«, sagte Sargon in den schlichten Preembyton zurückfallend, »einstecken können. Das wär' eine schöne Geschichte gewesen!«

Es durfte keine übereilte Handlung dieser Art mehr vorkommen.

Nein, es ziemte ihm wahrhaftig mehr, auf einen Wink von oben zu warten.

Die Macht, die ihn in die Welt zurückgeführt und ihn zu dem Gefühl seines wahren Wesens, seiner Sendung erweckt hatte, würde ihm zuversichtlich bald einen erleuchteten Helfer oder so etwas ähnliches senden – der ihn erkennen würde. Denn er mußte doch dem Monarchen ähnlich sehen, der er einst gewesen war – genau so wie Hockleby als Prewm zu erkennen gewesen war. Während er diesen Gedanken erwog, suchte seine Hand nach dem Schnurrbart und zwirbelte ihn gedankenvoll. Er war tatsächlich eine Verkleidung. Mittlerweile –? Mittlerweile mußte er soweit wie möglich die Stimmung des Volkes auskundschaften und dessen besondere Bedürfnisse und Nöte kennen lernen. Unerkannt konnte er unter seinem Volke wandeln – wie Harun al Raschid, doch zu einem weiseren Zwecke ...

»Harun al Raschid«, flüsterte Sargon, warf einen Blick zu Lord Nelson hinauf und nickte ihm freundlich zu. »Harun al Raschid. Ich wollte, meine Tasche wär' voller Goldstücke! Doch davon morgen. Jener Mann – wie war nur sein Name? – Preemby hatte irgendwo eine Bank.«

Er griff nach seiner Brusttasche. Das Scheckbuch war noch da. Man zeichnete die Schecks ‹ A. E. Preemby› – komisch, aber so war es. Dieser A.&nbsp;E. Preemby hatte die Rolle einer Schmetterlingspuppe gespielt. Seine Ersparnisse verblieben Sargon.

3

Auf dem Strand erblickte Seine Majestät ein Spiegelbild ihrer Erscheinung in einem Schaufenster. Sein Haar war etwas in Unordnung geraten, und das mißfiel ihm. Er trat in einen Hutladen, der ihm passend schien, und kaufte sich einen Hut.

Er zog seine kleine Brieftasche heraus, um zu bezahlen, – und das war sehr beruhigend. Denn darin waren nicht weniger als sieben Pfundnoten. Er zählte sie mit Genugtuung. Nachdem er in Tunbridge die Rechnung bezahlt hatte, hatte er sich auf seiner Bank wieder Geld geholt. Er überlegte, ob er dem Ladendiener ein Trinkgeld geben sollte, – und tat es nicht.

Es war nicht wieder ein grauer Filzhut mit schwarzem Band, den er sich kaufte; es war ein außergewöhnlicher Filzhut mit einer breiten Krempe, wie ihn ein Künstler oder eine literarische Persönlichkeit gewählt haben würde. Es war nicht der Hut, den Albert Eduard Preemby, der beschränkte, der zögernde, gekauft haben würde; es war vielmehr ein Hut nach Sargons Art. Doch nicht rein sargonesk; es haftete noch immer ein Anflug von Verkleidung daran, nur war die Verkleidung sichtbarer. Die Krempe hing ihm über die Augenbrauen herunter. Immer wieder konnte er in Schaufenstern und gelegentlich in Spiegeln sehen, daß jetzt ein geheimnisvoller Schatten über diesen brütenden blauen Augen lag.

Er lenkte die Schritte ostwärts, dem Aldwych zu und weiter in den Kingsway, indem er bald in die Auslagen schaute, bald wieder in den Gesichtern der Leute forschte. Heute war er ‹ der Unbekannte›. Kaum eine Seele, die ihn eines Blickes gewürdigt hätte. Bald aber würde die Entdeckung kommen, und diese ganze rücksichtslose, stoßende und drängende Menge würde dann magnetisiert sein; wo er vorüberginge, würde sie sich ihm einmütig zuwenden. Sie würden grüßen, flüstern und staunen. Er aber mußte dann bereit sein, ihr Schicksal fürderhin zu leiten. Es würde nicht angehen, hilflos dazustehn und ‹Ää› zu sagen, oder erst seine Gedanken zu sammeln und sich zu räuspern: ‹H'rrmp.›

Schrecklich, diese Verantwortung, die auf ihm lag! Doch er wollte sich nicht drücken. Was sollten doch seine ersten Worte sein, wenn der Augenblick der Offenbarung käme? ‹Erstlich: – Lasset Frieden sein!› Bessere Worte als diese konnte man sich nicht vorstellen. Er murmelte: »Frieden und nicht Krieg unter den Nationen. Frieden und nicht Krieg unter den Einzelnen. Frieden auf der Straße – in der Werkstatt – im Geschäft. Frieden.

Liebe und Frieden. Ich, Sargon der Großmächtige, gebiete es. Ich, Sargon, bin nach so vielen Jahrhunderten wiedergekehrt, um der ganzen Welt Frieden zu geben.«

Ein Ladenfenster zog ihn an. Es war ein Landkartengeschäft, in dessen Auslage aufdringlich genug eine Landkarte von ‹Europa nach dem Friedensschluß von Versailles: – Zwei Schilling sechs Pence› hing. Er schaute sich das an. Das würde alles wieder geändert werden müssen. Das war ja gerade ein Teil seiner Aufgabe. Dann betrachtete er sich das übrige Schaufenster. Hinter der Karte von Europa hing eine Wandkarte der Welt. So eine Weltkarte würde er wohl brauchen; man kann doch nicht die Welt regieren, ohne eine Karte davon zu haben. Sonst könnte man ja weite Gebiete vergessen. Oder würde ein Globus besser sein? Karten kann man zur Gänze auf einmal überblicken, und außerdem sind sie handlicher. Überdies schien man in dem Laden keine Globen zu verkaufen, und er wußte nicht, wo solche zu bekommen waren. So trat er also ein und kaufte sich die Weltkarte, und als er nach einer Weile wieder auf dem Kingsway auftauchte, trug er eine ein Meter zwanzig lange Rolle unterm Arm. Außerdem eine sinnreiche, zusammenlegbare Sternkarte, die sein Interesse erweckt hatte, als er am Ladentisch stand. Sie mochte ihm, so fühlte er, zu astrologischen Zwecken dienlich sein.

Er begann unklar an das Ziel seines Weges zu denken. Wohin ging er eigentlich?

Er suchte Quartier, ja wahrhaftig, er suchte eine stille Einsiedelei. Er war der königlichen Prinzessin, die – ziemlich unnötigerweise, wie er fand, – ebenfalls wiedergekommen war, durchgebrannt, weil er unbedingt eine Zeitlang allein sein mußte. Er mußte einige Tage oder Wochen dem geistigen Kampf, der Betrachtung und der seelischen Läuterung widmen; erst dann konnte er sich der Welt offenbaren. Nicht einmal die königliche Prinzessin konnte ihm während dieser Periode behilflich sein. Sie war ergeben, aber sie hinderte ihn. Wahrhaftig, sie hinderte ihn sehr. Es mangelte ihr an Verständnis. Ihre Bemerkungen und Fragen brachten einen gewöhnlich aus der Fassung und machten einen bisweilen geradezu verdrießlich. Es war sehr leicht möglich, daß sich die Metamorphose niemals vollziehen würde, wenn sie in der Nähe blieb. Außerdem gab es in der Geschichte jeder wunderbaren Wiederkunft eine einleitende Periode der Zurückgezogenheit und der einsamen Betrachtung. Buddha, Mohammed; sie alle hatten eine solche Periode durchlebt. Vielleicht würde er fasten. Vielleicht würde es notwendig sein zu fasten. Vielleicht würden ‹himmlische Besucher› kommen.

Er wünschte, er hätte mehr über die Technik des Fastens gewußt. Hörte man bloß einfach mit seinen Mahlzeiten auf, oder gab es da Zeremonien und Vorsichtsmaßregeln? Doch davon später. Zuerst mußte er ein stilles Zimmer finden, den heimlichen Ort seiner letzten Vorbereitung.

Bald fand er sich in den grauen Straßen und Plätzen Bloomsburys, und jedes Haus, an dem er vorbeiging, trug in seinem Fenster eine vornehme Karte, die besagte, daß ‹Zimmer› oder ‹Bett und Frühstück› zu haben seien. Hier gab es auch ‹Privat-Hotels› und sogar eine einfache ‹Pension›. Gut, hier also, ohne Zweifel, sollte es sein. Ein einfaches Zimmer inmitten seines nichtsahnenden Volkes, ein einfaches, einfach möbliertes Zimmer.

4

Doch obwohl ganz Bloomsbury, nach den dunkelgrünen und silberfarbigen Karten zu schließen, die in den Fenstern der Erdgeschosse hingen, dem Heimatlosen und Fremdling Obdach und Herberge versprach, fand es der neue Herr der Welt doch nicht so ganz leicht, jenes einfache Zimmer, dessen er bedurfte, zu finden. Länger als eine Stunde wanderte er von einem Haus zum andern, klopfte, wartete auf den Vorstufen, betrat Vorzimmer, die mit uraltem Linoleum belegt waren, und fragte, ob er die angekündigten Zimmer besichtigen könne, nahm sie in Augenschein, fragte nach dem Preis und erweckte – das wurde immer klarer und deutlicher – Verdacht. Die Leute glotzten seine zusammengerollte Landkarte und seine Sternkarte an und schienen Anstoß daran zu nehmen. Er hatte so ungeschliffene Fragen und Erkundigungen gar nicht erwartet; das dunkel Geheimnisvolle an ihm war wie weggeblasen, und es fiel ihm schwer, sich verständlich zu machen. Die Leute wollen wissen, was seine Beschäftigung sei und wann er einzuziehen wünsche. Keiner schien darauf vorbereitet, daß er sich sogleich in sein Zimmer setze. Man erwartete, daß er fortgehe, um sein Gepäck zu holen. Es untergrub sein Selbstvertrauen, daß er kein Gepäck bei sich hatte. Es kam ihm immer deutlicher zum Bewußtsein, daß schließlich alle Zimmervermieter störrisch werden würden, weil er kein Gepäck mitbrachte. Er sah ein, daß ihnen die Bereitschaft, im voraus zu bezahlen, nicht genügte.

Er hatte damit gerechnet, hinter diesen Mietwohnungstüren freundliche und schlichte Leute zu finden, Menschen, die ihn aufnehmen, von allem Anfang zu ihm aufblicken, über ihn und seine Himmelskarte staunen, sich über die Bedeutung derselben den Kopf zerbrechen und ganz allmählich den wunderbaren Besucher, der zu ihnen gekommen war, erkennen würden. Doch die Leute, die er sah, waren keineswegs schlicht. Meist waren es schmutzige, verkommene Leute. Sie kamen in einer Stimmung forschenden Mißtrauens aus dem Kellergeschoß herauf; Männer in Hemdärmeln, größtenteils mürrisch und unrasiert; außerordentlich wissende und alles eher als jungfräuliche junge Frauen; und schmutzig aussehende ältere Frauen, entweder erbärmlich mager oder krankhaft fett. Eine hatte einen kropfähnlichen Auswuchs. Und in ihrer Haltung lag immer etwas wie Verteidigung.

Und die Zimmer, die er zu sehen bekam, waren noch weniger schlicht als die Leute. Ein Gefühl der ungeheuren moralischen Wandlung, die die Welt durchgemacht hatte, seit er die in weiße Gewänder gekleideten, rechtschaffenen sumerischen Bewässerer beherrscht hatte, bemächtigte sich seiner. Damals pflegte ein Zimmer einen Tisch zu haben, ein oder zwei Sitzgelegenheiten, ein Regal mit ein paar Phiolen, ein Heiligenbild oder dergleichen religiöse Gegenstände und, wenn der Bewohner gebildet war, vielleicht noch eine Tontafel mit einem Schreibgriffel. Diese Zimmer da aber waren mit Widersprüchen überladen. Sie hatten Fenster, um das Licht hereinzulassen, und dunkle Vorhänge, um es auszusperren. Sargons verborgene zweite Jugend in der Wäscherei hatte ihn gegen Unreinlichkeit empfindlich gemacht, und die Spitzenvorhänge dieser Räume waren in den meisten Fällen wirklich sehr schmutzig. Elektrisches Licht war in ‹Mietwohnungen› noch immer eine Seltenheit; meist waren sie durch Gasarme beleuchtet, die von der Mitte der Decke herunterhingen und Lampenglocken aus mattem, geschliffenem Glas trugen. Immer stand ein ansehnlicher Tisch in der Mitte und zwei unbequeme Lehnstühle daneben. Dazu noch ungefüge Büfetts aus glänzendem, leberbraunem Holz, Sofas, auf denen man kaum richtig sitzen konnte, und unglaublicher Zimmerschmuck. In mehreren Häusern gewannen die Räume, besonders die Schlafzimmer durch Kupferstiche von Damen im Naturzustand, die sich als allegorische Gestalten zu geben bemühten, oder von Bädern in den üppigen Harems mehr wohlhabender als gebildeter Orientalen einen unzüchtigen Anstrich. Die Kaminsimse spielten eine ganz hervorragende Rolle; sie waren mit Steingutgegenständen, kleinen Töpfen, niedlichen Engeln mit goldenen Flügelchen, roten Teufeln oder herausfordernd aussehenden Damen in zu engen Badekostümen überladen. Eine allgemeine Form der Ausschmückung bestand darin, Teller an die Wand zu hängen, ungefähr so, wie man oft allerlei Gewürm an eine Scheune genagelt sieht.

Eine beträchtliche Anzahl dieser vermietbaren Heime war so schäbig wie Landstreicher auf der Landstraße. Eines hatte sich seinem Gedächtnis besonders eingeprägt: es war über alle Maßen verschossen, staubig, grau und fadenscheinig. Seine Selbstversunkenheit wurde durch die verwunderte Frage gestört, wer in einem solchen Quartier leben könnte, wer da bisher gelebt haben mochte. Er hatte sein ganzes Leben in einer reinlichen, hellen Umgebung verbracht; selten nur hatte er einen Blick in jene traurige und schäbige Schicht des englischen Stadtlebens geworfen, in welcher der Hausrat zwar zusammengewürfelt und schlecht ist, dafür aber niemals irgendetwas ausgebessert, gereinigt oder gar ersetzt wird. Sogar die Luft in diesen Räumen schien uralt, und das Glas über den vergilbten Stichen an der Wand war von längst verstorbenen Fliegen beschmutzt.

»Wohnt denn hier jemals irgendjemand?« fragte Sargon die verfallene, alte Besitzerin der Wohnung.

Er merkte die Grausamkeit seiner Frage erst, als er sie gestellt hatte.

»Mein letzter Herr wohnte fünfzehn Jahre hier«, sagte die verfallene Dame. »Er war Kopist. Er starb heuer im Juni im Spital. An Wassersucht. Er war hier immer sehr zufrieden – sehr zufrieden. Ich wüßte nicht, daß er sich jemals beklagt hätte. Er war immer freundlich zu mir.«

Große Sehnsucht nach frischer Luft überkam Sargon. »Was kosten die Zimmer?« fragte er. »Ich muß es mir erst überlegen. Ich werde mir's überlegen und Ihnen dann Bescheid sagen.«

Sie nannte einen Preis, es war der in dieser Straße übliche, doch als sie ihn zur Eingangstür hinunterführte, sagte sie: »Wenn es zuviel sein sollte – vielleicht machen Sie einen Vorschlag, mein Herr –«

Verzweiflung schaute aus ihren von Schmutz umränderten Augen.

»Ich muß mir's überlegen«, sagte Sargon und fand sich wiederum auf der Straße.

Warum waren diese Leute so schmutzig, so elend und zusammengebrochen? Sicherlich, in Sumerien hatte es niemals Existenzen wie diese gegeben! Das mußte anders werden! Vieles mußte anders werden, sobald das ‹Königreich› gekommen sein würde.

5

Als dann das Zwielicht zum Dunkel wurde, entdeckte Sargon just das friedliche Zimmer, das er sich wünschte. Verheißungsvoll kündigte es sich nicht durch die übliche bedruckte Karte, sondern durch eine handgeschriebene Tafel an, auf der ‹Ein Zimmer zu vermieten› stand, und die in einem Fenster hing, das keine Spitzenvorhänge, sondern kleine violette hatte, die einen schmucklosen, weißen, durch ein flackerndes Feuer freundlich erhellten Raum nicht so sehr verbargen, als vielmehr umso besser zur Geltung brachten. Ein oder zwei Bilder – wirklich gemalte Bilder – hingen an der weißen Wand. Ziemlich müde und verzagt hob Sargon den Klopfer und unterstützte dessen Schall noch, indem er auf die elektrische Klingel drückte.

Zunächst meldete sich niemand, und so klopfte er ein zweites Mal, bevor sich die Tür öffnete. Ein schlanker junger Mann erschien, auf dessen Schultern ein kleines Mädchen hockte. Sie betrachtete Sargon ernst mit tiefdunklen, graublauen Augen.

»Alle scheinen ausgegangen zu sein«, sagte der schlanke Jüngling mit sehr angenehmer Stimme. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Sie haben ein Zimmer zu vermieten«, sagte Sargon.

»Ja, es ist hier ein Zimmer zu vermieten«, sagte der schlanke Jüngling, und seine klugen, dunklen Augen nahmen jede Einzelheit der Gestalt vor ihm in sich auf.

»Könnte ich es sehen?«

»Wir können es wohl zeigen, Suschen«, meinte der junge Mann zögernd.

»Natürlich darf es der Herr sehn«, sagte das kleine Mädchen. »Wenn Frau Richman hier wär', würde sie es ihm gleich zeigen, alter Dummian.« Und sie zog den schlanken Jüngling beim Haar – liebevoll zwar, aber recht stark.

»Die Hausfrau«, erklärte der junge Mann, »ist nämlich ausgegangen. Hör auf, Suschen! Und die Stütze der Hausfrau ist auch ausgegangen. Alle sind sie ausgegangen – nur wir beide hüten das Haus. Eigentlich hätte ich Ihnen wohl gar nicht die Tür öffnen sollen.«

»Aber ich hab' dir doch gesagt, du sollst – Dummkopf!« rief das kleine Mädchen.

Der junge Mann rührte sich nicht vom Platz. Dafür stellte er eine Frage. »Ist das eine Landkarte, Herr, die Sie da tragen?« fragte er.

»Es ist eine Karte der Welt«, sagte Sargon.

»Ein sehr nützlicher Gegenstand. Und damit haben Sie also hierher gefunden. Schön – das Zimmer ist oben, falls Sie hinaufkommen wollten. Halt dich fest, Suschen, aber gibt acht, daß du mich nicht erwürgst.« Damit ging er die Treppe voran.

Es war dieselbe Treppe und dasselbe Stiegenhaus wie überall, mit Linoleum und Tapeten, die irgendein besonders grobfaseriges Holz imitierten. Als sie hinaufstiegen, geriet die junge Dame infolge ihres Entschlusses, die Augen keinen Augenblick von Sargon und seiner Landkarte abzuwenden, in große Gefahr. Sie bog sich zu einem Ring zusammen und zwang ihren Träger, auf dem ersten Treppenabsatz halt zu machen und sie wieder zurecht zu setzen. »Wenn du mich noch einmal bei den Haaren ziehst,« sagte der schlanke Jüngling, »so setz' ich dich ab und laß dich nie, nie, niemehr wieder reiten. Es ist im nächsten Stock, Herr; wollen Sie bitte vorausgehen.«

Das Zimmer zeigte sich herrlich frei von unnötigen Möbeln. Es stand ein kleines, einfaches Bett darin, ein Tisch unterm Fenster, und ein Gasofen; die Wände waren braun tapeziert und mit ganz gewöhnlichen, aber wenigstens erfrischenden japanischen Farbendrucken behangen. Auf der einen Seite des Kamins befand sich eine Vertiefung mit drei leeren Bücherbrettern, die ebenso wie das Kaminsims dunkelblau angestrichen waren. Der junge Mann hatte eine elektrische Lampe angeknipst, die einen hübschen Schirm aufwies.

»Es ist ziemlich einfach«, sagte der junge Mann.

»Das ist mir recht«, sagte Sargon. »Ich möchte nichts Überflüssiges in meinem Zimmer haben.«

»Es war früher mein Zimmer,« sagte der junge Mann, »aber jetzt teile ich die Eßzimmeretage mit den Leuten unten und hab' das hier aufgegeben. Eigentlich hab' ich's auf dem Gewissen –«

»Mit den Leuten unten – was für Leute unten? Unten sind keine ‹Leute›. Er meint Vati und Mutti«, sagte die junge Dame.

»Eigentlich hab' ich's auf dem Gewissen,« sagte der junge Mann, »daß Frau Richman die Einrichtung geändert hat. Sie ist nicht nach jedermanns Geschmack.«

»Darf ich fragen,« sagte Sargon, »wie viel das Zimmer kosten mag?«

»Dreißig Schilling, glaub' ich«, sagte der Jüngling, »mit Frühstück.«

Sargon legte seine Karten auf den Tisch. Er fühlte, daß er sich dieses Zimmer sichern müsse oder auf ewig verloren sei.

»Ich bin gewillt,« sagte er, »das Zimmer zu nehmen. Ich würde im voraus dafür bezahlen; und sogleich einziehen. Doch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß meine Stellung in der Welt eine eigenartige ist. Ich gebe keinerlei Auskunft, ich bringe kein Gepäck.

»Außer diesen Karten da«, sagte der junge Mann. »Haben Sie nicht – zum Beispiel – eine Zahnbürste?«

Sargon dachte nach. »Nein. Ich muß mir eine Zahnbürste beschaffen.«

»Ich denke, das würde doch besser aussehen«, sagte der junge Mann.

»Nötigenfalls«, sagte Sargon, »will ich für zwei Wochen im voraus bezahlen. Und werde mir alle notwendigen Dinge besorgen.«

Der Jüngling betrachtete ihn mit liebevollem Ausdruck. »Wenn es mein Zimmer wäre, würde ich es Ihnen auf der Stelle vermieten«, sagte er. »Aber Frau Richman ist die Hausfrau, und sie ist in mancher Hinsicht ganz anders als ich. Sind Sie – weit gereist, mein Herr?«

»Im Raum,« sagte Sargon, »nein.«

»Doch in der Zeit vielleicht?«

»In der Zeit, ja. Ich möchte mich aber gegenwärtig lieber nicht auf Erklärungen einlassen.«

Interesse und Gefallen des jungen Mannes vertieften sich. Er stellte Suschen auf ihre Füße nieder. »Dürfte ich einen Blick auf Ihre Karte werfen?« fragte er.

»Mit Vergnügen«, sagte Sargon. Er entrollte die Karte auf dem Tisch und wies mit dem Finger auf London. »Hier sind wir«, sagte er.

»Ganz richtig«, bestätigte der Jüngling, während er Sargon half, die Karte festzuhalten, die vom Tische herabzugleiten drohte.

»Es ist immer noch das günstigste Zentrum in der Welt«, sagte Sargon.

»Für so ziemlich jeden Zweck«, sagte der Jüngling.

»Für meinen, gewiß«, sagte Sargon.

»Und diese Sternkarte da – die ist wohl erst recht nützlich?«

»So ist es«, sagte Sargon.

»Sie würden wahrscheinlich in dem Zimmer arbeiten. Und meist allein sein? Oder würden viele Leute zu Ihnen kommen?«

»Keineswegs. Solange ich hier wäre, würde mich niemand kennen. Später vielleicht. Aber das ist eine Sache für sich. Hier würde ich nur inkognito wohnen.«

»Inkognito«, wiederholte der junge Mann, als ob er das Wort erwäge. »Ja. Natürlich. Übrigens, Herr, dürfte ich Sie um Ihren Namen bitten? (Wenn du mich noch einmal haust, Suschen, werd' ich dir etwas Grausames und Schreckliches antun.) Wir müßten Ihren Namen wissen.«

»Vorläufig denke ich Herr – Herr Sargon.«

»Ja – gut –« sagte der junge Mann, »vorläufig. Sargon – das war ein assyrischer König, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt?«

»In diesem Fall ist es nicht der assyrische Sargon, es ist vielmehr der sumerische Sargon, sein Vorfahre.«

»Kein Wort weiter, Herr – ich verstehe. Sie müssen nach Ihrer langen Reise ermüdet sein, und es würde mich freuen – es würde mich von Herzen freuen, Ihnen das Zimmer zu vermieten. Au! Suschen, du gehst hinunter. Zwicken kann ich nicht vertragen. Vorwärts! du gehst hinunter in dein eigenes Zimmer, und zwar ohne Widerrede. Marsch!«

Suschen zog sich gegen die Mauer zurück, offenbar bereit, sich nach Kräften zu wehren. »Ich hab' dich nicht 'wicken wolln, Bobby, ich hab' dicht nicht 'wicken wolln«, sagte sie. »Wirklich nicht! Ich hab' nur mal deine Hose anfassen wolln. O, schick mich nicht hinunter, Bobby! Nicht hinunterschicken. Ich will brav sein. Ich werd' fuchbar brav sein. Ich werd' nur hier 'tehn und den komischen Herrn anschaun. Wenn du mich hinunterschickst, Bobby –«

»Nun, ist das eine wirkliche Besserung, Suschen – eine Bekehrung, Reue des Herzens? Willst du musterhaft brav sein, wenn ich dir verzeihe?«

»Ich will allef sein, du lieber Bobby, laf mich hier.«

»Gut! Wenn du mucksmäuschenstill dort stehen bleibst, will ich dir verzeihen. Was soll sich der nette Herr von dir denken, Suschen? Du bist schon fünf Jahre alt. Pfui! Wovon sprachen wir gerade, Herr Sargon –? Ja natürlich, ich sagte gerade, Sie sollten das Zimmer nehmen. Die Vorausbezahlung wird angenommen. Aber – die Zahnbürste. Und andere kleine – wie soll ich sagen? – realistische Nebensächlichkeiten. Mir persönlich würde dergleichen nichts machen, aber ich bin sozusagen bloß Agent. Eigentlich bin ich so etwas wie Schriftsteller. Eigentlich sollte ich jetzt einen Roman schreiben, aber, wie Sie sehen, hat Frau Richman mir das Haus anvertraut, und meine Freunde unten haben mir diese reizende junge Dame anvertraut – wirst du sofort die Zunge zurückziehen, Suschen. Ungezogenes Kind! – Doch wie gesagt, Frau Richman ist die Hausfrau. Sie hat über Mieter ihre eigenen Ansichten. Es ist ganz zwecklos, sich mit ihr darüber in Auseinandersetzungen einzulassen. Sie wird verlangen, daß Sie Gepäck vorzeigen. Sie wird darauf bestehen. Das ist aber wirklich keine unübersteigliche Schwierigkeit. Dies hier – wollen Sie sich den Namen bitte merken! – ist Midgardstraße Nummer neun. Wenn Sie aus dem Haustor treten und sich nach links wenden, in die dritte Seitengasse rechts einbiegen und immer geradeaus gehen, kommen Sie zu einer Hauptstraße, die voll von Autobussen, Tramways, Verkehr, Licht und Lärm ist, und dort werden Sie an der Ecke einen Laden finden, wo alte Koffer und Handtaschen verkauft werden. Nun, wenn Sie sich dort einen gebrauchten, schäbigen und ziemlich großen Handkoffer kauften – und dann über die Straße vis-à-vis in die Drogerie gingen und sich das nötige Waschzeug besorgten – O! und einen oder zwei Reservekragen in dem Herrenmodegeschäft gleich nebenan – Sie müssen diese Dinge haben ... Sehen Sie das ein?«

Sargon stand vor dem ungeheizten Gasofen. »Das scheint mir doch eine Vorspiegelung falscher Tatsachen.«

»Aber Sie müssen doch gelegentlich einen frischen Kragen nehmen«, wandte der junge Mann ein.

»Das gebe ich zu«, sagte Sargon.

»Und dann können Sie sich's hier bequem machen und mir von Ihrer Angelegenheit erzählen. Andernfalls, wissen Sie, werden Sie ziellos umherwandern.«

»Ihr Vorschlag ist wirklich recht brauchbar«, sagte Sargon, indem er die Sache schärfer ins Auge faßte. »Ich will ihn annehmen.«

»Sie werden hieher zurückfinden?«

»Warum sollte ich nicht?«

»Midgardstraße neun.«

»Ich werde mir's merken.«

»Eine komische Welt ist das,« sagte der Jüngling, »nicht? Wie haben Sie die alten Völker in – Sumerien verlassen?«

»Mein Volk war glücklich«, sagte Sargon.

»Ganz richtig. Ich bin inzwischen dort gewesen. Ganz kürzlich erst. Leider war das Wetter nicht gut, und ich wurde von einer Granate getroffen und verlebte böse Tage als verwundeter Gefangener. Heiß. Viele Leute. Keine Unterkunft. Nichts Kaltes zu trinken. Doch zu Ihrer Zeit war das anders.«

»Vollkommen«, sagte Sargon.

»Und jetzt – beim Zeus! das Wasser im Teekessel kocht gewiß längst über, Suschen. Kommen Sie hinunter in mein Zimmer, Herr, – wenn es dort auch nicht sehr schön ist – und nehmen Sie eine Tasse Tee. Dann können Sie ausgehen und die erwähnten kleinen Besorgungen machen und sich sozusagen hier verschanzen, bevor Frau Richman nachhause kommt. Das, nebenbei, ist Ihr Gasometer. Sie bekommen das Gas pro Schilling nach dem Automatensystem.«

»Sie sind wirklich sehr, sehr freundlich und hilfsbereit«, sagte Sargon. »Das soll nicht vergessen werden, wenn meine Zeit kommt.«

»Nicht der Rede wert. Es traf sich bloß gerade so, daß Sie mir in die Hände gerieten, sozusagen. Nein, Suschen, daraus wird nichts. Du gehst hinunter. Das Zwicken ist vergeben, aber nicht vergessen. Sie können Ihre Landkarte dalassen, mein Herr – und die Sternkarte – als sichtbare Zeichen Ihrer Besitzergreifung. Nein, Suschen, – zu Fuß.«

6

Das Zimmer des jungen Mannes war voll von Büchern und sah ziemlich unordentlich aus, und Suschen hatte auf dem Teppich Spielzeug umgebracht – eine Puppe mit einem Porzellankopf und irgendetwas aus gelbbemaltem Holz schienen die Hauptopfer gewesen zu sein. Die Puppe hatte reichliche Ströme von Sägespänen vergossen. Die dunklen Vorhänge waren zugezogen, und der grüne Schirm einer elektrischen Lampe setzte, außer dem Fußboden, den ganzen Raum in Dunkelheit. Auf einem Gasofen mit einem Gasring dampfte der kochende Teekessel wie ein aufgeregter Vulkan; auf einem Tisch aus Tannenholz lag ein ungeheurer Stoß von Briefen, die an ‹Tante Susanna› p.&nbsp;A. Herausgeber von ‹Wilkins Wochenzeitschrift› adressiert waren, und außerdem war noch ein großer, unordentlicher Schreibtisch da, auf dem ein andrer Haufen von Briefen lag, die augenscheinlich gerade erledigt wurden, und mitten darauf ein Schreibblock und auf diesem eine Tube flüssigen Leims und ein halbausgebessertes Spielzeug. Der Leim quoll langsam über das oberste Blatt des Schreibblocks unterhalb folgender Worte hin, die in schönen, sauberen Zügen geschrieben waren:

Auf und ab

Der Roman eines Fußgängers
von Robert Roothing

Erstes Kapitel.
Welches unseren Helden einführt.

Darüber hinaus schien der Roman nicht gediehen zu sein.

Mit der Geschicklichkeit langjähriger Übung machte Bobby Tee und holte Rosinenbrot und Butter hervor. Gleichzeitig behielt er Suschen im Auge, die sich neben dem Papierkorb niedergesetzt hatte und Papier zerriß, und widmete den Bemerkungen und Bewegungen seines merkwürdigen Gastes volle Aufmerksamkeit.

Sargon liebte diesen jungen Mann bereits über alles. Es war äußerst wohltuend und ermutigend, nach der Frostigkeit, Zweifelsucht und Häßlichkeit der vorhergehenden Stunden auf solch freundliche Aufnahme und solch inniges Verständnis zu stoßen. Es war auch angenehm und erfrischend, Tee zu trinken. Das Gefühl grauer Unsicherheit, drohender Niederlage, das sich seines Gemüts bemächtigt hatte, verschwand in dieser freundlichen Atmosphäre. Das zusammengeschrumpfte Inkognito dehnte sich wieder aus. Das dahinter versteckte Geheimnis wurde von neuem groß und bedeutungsvoll. Dieser Jüngling – schien er nicht bereit, alles zu glauben? Sargon schritt, die Hände auf dem Rücken, auf und nieder, als ob er in tiefstes Nachdenken versunken wäre. Er hätte gern ein paar Sätze auf Sumerisch gemurmelt, hätte er nicht diese vergessene Sprache aus irgendeinem Grunde gänzlich vergessen gehabt.

»Und Sie schreiben also Bücher?« fragte er königlich.

»Bücher nicht«, antwortete Bobby über die Schulter; er röstete eben eine Scheibe Rosinenbrot. »Bücher noch nicht. Ich bin aber – es ist lächerlich – so etwas wie ein Dichter und auch eine Art Journalist. Ich schreibe Antworten an Korrespondenten – mühsam, aber zum Auskommen.« Er zeigte auf den Stoß Briefe auf dem Tisch von Tannenholz. »Was Bücher betrifft – um die Wahrheit zu sagen, habe ich einen Roman angefangen – er liegt dort auf dem Schreibtisch – aber erst vor ein paar Tagen. Und es ist so schwer, die nötige Zeit zu finden, daß man sich der Sache einmal wirklich ganz hingeben kann.«

»Inspiration«, sagte Sargon verständnisvoll.

»Jawohl, man muß sich doch wohl so einem Versuch ganz hingeben können, glaube ich; besonders zu Anfang. Aber immer wieder kommt was andres dazwischen, das einem daran hindert.«

»Bei mir auch.«

»Zweifellos.«

»Das ist ja der Grund,« sagte Sargon, »warum ich mich in die Einsamkeit zurückziehen will. Um meine Kräfte zu sammeln. In Sumerien war es stets der Brauch, vor jedem größeren Unternehmen für eine bestimmte Anzahl von Tagen in die Wildnis hinauszugehen.«

»Wenn ich in die Wildnis hinausgehe, wird mir am Abend immer so einsam zumute«, sagte Bobby. »Pst! Das war die Haustür.«

Er ging auf den Treppenflur hinaus und horchte.

»Frau Richman«, hörte ihn Sargon rufen.

»Ja, ich bin's«, sagte eine Frauenstimme.

»Ein Mieter für das vordere Zimmer im zweiten Stock ist da.«

»Ich bin im Kino gewesen«, sagte die Stimme draußen. »Mary und Doug – ein feines Stück.«

Eine beleibte Dame mit schwarzer Haube trat heftig atmend ein. Sie keuchte ein paar selbstverständliche Fragen her, während Bobby hilfsbereit hinter Sargon stand, um ihn daran zu hindern, daß er Fehler mache. »Er will im voraus bezahlen«, sagte Bobby. »Das ist recht«, sagte Frau Richmann. »Wann will er denn einziehen?«

»Er wird sein Gepäck jetzt gleich holen«, sagte Bobby.

»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, sagte Frau Richman.

»Ich kenne seine Leute. Zumindest weiß ich von ihnen. Ich bin in der Gegend gewesen, aus der er stammt. Sie können ganz beruhigt sein«, sagte Bobby.

»Na, dann ist es gut«, sagte Frau Richman. »Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen, Herr –«

»Sargon.«

»Herr Sargon.«

Und nach ein paar ziemlich gleichgültigen Bemerkungen über das Wetter zog sich Frau Richman zurück. »Und jetzt«, sagte Bobby, »will ich ihr bloß noch Suschen anhängen und dann gleich mit Ihnen um den Handkoffer gehen. Es ist nämlich unglaublich, wie leicht man sich in London verirrt.«

7

»Ich hab' das vordere Zimmer im zweiten Stock an einen Irrsinnigen vermietet«, sagte Bobby, die Neuigkeit seinen Freunden im Erdgeschoß, Herrn und Frau Malmesbury, mitteilend.

»O Bobby! wo Suschen im ganzen Hause herumläuft!« rief Frau Malmesbury vorwurfsvoll.

»Aber es ist ein ganz harmloser Irrsinniger, Tessy – und irgendwo muß er unterkommen.«

»Wenn er aber doch irrsinnig ist!« sagte Frau Malmesbury.

»Das hab' ich bloß um des Effektes willen gesagt«, sagte Bobby. »In Wirklichkeit ist er bei übergesundem Verstand. Ich würde ihn um nichts in der Welt fortgelassen haben. Wenn ich eines Tages wirklich dazu komme, an meinem Roman zu arbeiten, werd' ich ihn hineinbringen. Ich muß Material haben, Tessy. Und er ist wunderbar.«

Er bereitete gerade das Abendbrot für die Malmesbury und sich selbst. Er briet einige Würstchen und Kartoffeln über einem Gasring. Vorher hatte er Suschen zu Bett gebracht, sich neben sie gesetzt und ihr der Gewohnheit gemäß Geschichten erzählt, bis sie fest eingeschlafen war. Tessy Malmesbury war unpäßlich; sie hatte neuralgische Kopfschmerzen, Willy Malmesbury hatte sie auf einen Spaziergang im Regent's-Park mitgenommen, und sie war erschöpft nachhause gekommen; alles wäre drunter und drüber gegangen, hätte Bobby es nicht in die Hand genommen.

Tessy war in der letzten Zeit nie recht wohl; sie war ein schmächtiges, zerbrechliches kleines Ding, und Suschen war schon, ehe sie geboren wurde, ein heftiges, wildes Kind gewesen. Als Bobby Tessy in den längst vergangenen Tagen der Vorkriegszeit kennen gelernt hatte, war sie das zarteste, zierlichste und vollkommenste Geschöpf gewesen, das man sich vorstellen konnte; er hatte sie mit einem weißen Blumenblatt verglichen, das auf Sonnenstrahlen herniederschwebt, und hätte beinahe ein Gedicht auf sie gemacht; er hatte sie glühend geliebt. Doch war es ihm als eine Unmöglichkeit erschienen, einem so auserlesenen Wesen den Hof zu machen, und Willy Malmesbury, skrupelloser als er, war ihm zuvorgekommen und hatte sie geheiratet; das Zartgefühl, das ihm verboten hatte, ihr den Hof zu machen, hatte sie nicht gewürdigt. Dann kam der Krieg und die Verwundung, und jetzt waren sie wieder alle hier beisammen, abgearbeitet und nahe den Dreißigern, in einer Welt, in der sie für ihre schmalen Jahresrenten viel weniger bekamen, als sie sich versprochen hatten. Willy war der jüngere Mitarbeiter eines Architekten und zwischen Reißbrettern völlig eingeengt. Er war ein hochgewachsener junger Mann, mit einem großen, runden, hübschen, ein wenig staunenden und von freundlichen Sommersprossen getüpfelten Gesicht. Für Bobby hegte er eine große, gönnerhafte Zuneigung. Jetzt saß er da, entwarf den Plan zu einer neuartigen, Arbeit ersparenden Anrichte und ließ Bobby mit einer Miene grenzenloser Protektion das Mahl bereiten.

»Und jetzt kann ich euch erzählen«, sagte Bobby, als endlich alle drei um den Tisch saßen.

»Es ist ein lieber, kleiner Irrsinniger«, sagte er. »Wenn's überhaupt ein Irrsinniger ist.«

»Hoffentlich nicht«, sagte Tessy.

»Er ist ordentlich in seiner äußeren Erscheinung und spricht zusammenhängend, Und seine Augen sind nicht im geringsten wild. Ein bißchen zu leuchtend und offen vielleicht. Aber er bildet sich ein, die Welt gehöre ihm.«

»Na, das tut Suschen auch«, sagte Willy.

»Und Willy ebenfalls«, sagte Tessy.

»Aber nicht mit ganz derselben Miene großartiger Verantwortung. Seht ihr, er glaubt, er sei ein gewisser mesopotamischer Herrscher namens Sargon – ich hab' von ihm gehört, weil wir mit den Türken einen kleinen Tanz rund um seinen Tummelplatz hatten – er glaubt, er sei dieser Sargon, sei wiedererstanden und zur Herrschaft über die ganze Erde berufen. Sargon hat nämlich, müßt ihr wissen, mit all den britischen Löwen und kaiserlichen Adlern auf der Welt den Anfang gemacht. Und da nimmt er sich also vor, von dem Planeten Besitz zu ergreifen, der sich in einer so gräßlichen Verwirrung befindet –«

»Hört, hört!« sagte Willy.

»Und ihn in Ordnung zu bringen.«

»Nichts einfacher als das!« rief Tessy.

»Sehr richtig. Warum sind wir nicht alle schon längst auf den Gedanken verfallen?« sagte Willy.

»Woher kommt er denn aber?« fragte Tessy.

»Kein Anhaltspunkt. Er könnte ein Vorstadtgärtner sein oder ein kleiner Tuchhändler oder etwas dergleichen. Ich kann ihn nirgends unterbringen. Eine oder zwei Phrasen, die er gebrauchte, ließen auf einen Hausagenten schließen. Aber er kann sie auch aus Annoncen aufgeschnappt haben. Sein erster Schritt war, – vollkommen sachgemäß – sich eine Karte der Welt zu kaufen. Wenn man darangehen will, die Welt zu beherrschen, muß man eine Karte von ihr zur Hand haben.«

»Hat er Geld?«

»Zunächst offenbar genug. Er hat eine kleine Brieftasche. In dieser Hinsicht scheint alles in Ordnung zu sein. Nachdem ich mit ihm einen Koffer besorgt hatte – er besaß kein Gepäck, und ich dachte, es sei besser, einen zu kaufen, um Frau Richman zufriedenzustellen – setzten wir uns oben hin und hielten eine einfache, offene Aussprache über die Welt und was mit ihr zu geschehen habe. Es war äußerst lehrreich.«

Bobby nahm sich noch ein paar gebratene Kartoffeln.

»Und was soll denn nun mit ihm geschehen?«

»Wartet mal«, sagte Bobby. »Er hat ein reizendes kleines Programm. So ziemlich nach den Richtlinien des sozialistischen Programms, glaub' ich. Bloß einfacher und etwas gründlicher. Der Unterschied zwischen arm und reich muß abgeschafft werden. Ebenso muß jede Benachteiligung der Frauen aufhören. Es darf keinen Krieg mehr geben. Er geht den Dingen jedesmal bis auf den Grund.«

»Falls das der Grund ist«, sagte Willy.

»Aber handelt es sich nicht vor allem darum, wie das anzufangen sei?« fragte Tessy. »Sind wir uns nicht alle über diese Dinge einig – theoretisch?«

»Theoretisch ja«, sagte Bobby. »Aber nicht in Wirklichkeit. Wenn jedermann wirklich den Unterschied zwischen reich und arm abschaffen wollte, so wäre das Wie sehr leicht zu finden. Das Wie findet sich immer, wenn man etwas nur stark genug will. Aber niemand will jene Dinge wirklich durchführen. Nicht so, wie wir zu essen haben wollen. Alles mögliche andere wollen die Leute, aber der aufrichtige Wille, arm und reich abzuschaffen, ist nicht vorhanden; dergleichen ist höchstens ein frommer Wunsch. Und dasselbe ist's mit dem Krieg. Wir wollen nicht arm sein und wollen durch den Krieg nicht zu leiden haben, aber das heißt noch nicht, diese Übel abschaffen wollen. Er aber will sie abschaffen.«

»Aber wie will er das anfangen?« fragte Willy.

»Das ist noch etwas unbestimmt. Ich glaube, es soll eine Art Proklamation stattfinden. Er denkt sich das jetzt oben aus. Er scheint der Meinung zu sein, daß er so etwas wie Jünger berufen müsse. Dann, glaub' ich, will er nach Westminster gehen und den Platz des Vorsitzenden auf dem ‹Wollsack› einnehmen oder so was ähnliches. Es ist doch der Vorsitzende, der auf dem ‹Wollsack› sitzt, nicht? Oder ist es der Lord Chancellor? Auf jeden Fall muß es also Demonstrationen geben – in großem und würdigem Stil. Das Volk hat die uralten, einfachen Gesetze vergessen, sagt er. Er selbst hatte sie auch vergessen. Aber jetzt hat er sich daran erinnert; sie sind ihm wieder eingefallen, und gar bald wird sich jeder an all die großen alten Dinge erinnern, an Gerechtigkeit, Glauben, Gehorsam, gegenseitiges Dienen. Wie es im alten Sumerien war. Das alte Sumerien ist Traumland, müßt ihr wissen. Die gute, alte, goldene Zeit! Er ist gekommen, um die Menschen an die wahrhaft wichtigen Dinge im Leben zu erinnern – die jedermann vergessen hat. Und wenn er sie daran erinnert hat, wird sich jedermann darauf besinnen. Und gut sein. Jawohl, Tessy! Hoffentlich wird es auf Suschen Einfluß haben – aber ich bin garnicht sicher. Ich hab' so ein Gefühl, als ob Suschen jedem goldenen Zeitalter, das heraufkommt, in zirka fünf Minuten den Garaus machen könnte, aber vielleicht bin ich ein bißchen voreingenommen gegen sie.«

»Immerhin, die Geschichte ist erstaunlich«, sagte Willy.

»Das ist sie. Er sitzt aufrecht da und schaut einen mit seinem kleinen, runden, unschuldigen Gesicht an und erzählt einem all das. Und wenn man annimmt, daß er der Herr der Welt ist, so sind seine Worte vollkommen richtig und logisch. Er sitzt da, die aufgerollte Weltkarte vor sich auf dem Tisch. Ich machte so von ungefähr die Bemerkung, daß er eine Menge untergeordneter Herrscher und Führer benötigen werde. ‹Die werden kommen›, sagte er. ‹Kein Amt, kein Dienst soll fürder durch andere als durch die Berufenen versehen werden. Das ist zu lange Zeit vernachlässigt worden. Laßt jedermann tun, wozu er am besten geeignet ist. Dann wird alles gut sein.›«

»Und wann soll das alles beginnen?« fragte Willy.

»Bald. Ich glaube nicht –« Bobbys Ausdruck wurde tiefernst, »ich glaube nicht, daß er heute oder morgen etwas unternehmen wird. Ich stellte ihm vor, daß er seine Kundgebungen sehr sorgfältig überlegen müsse, bevor er darangehe, sie ins Werk zu setzen, und er schien geneigt, dem zuzustimmen. Ein Fehler, sagt er, sei bereits unterlaufen – ich konnte nicht herausbekommen, was. Morgen will er anscheinend nichts weiter tun, als sich London ruhig aber genau vom Monument und von der Kuppel der St. Paulskirche aus anschaun. Ebenso wünscht er das Benehmen seiner Untertanen in den Straßen, den Bahnhöfen und wo immer viele Leute zusammenkommen, zu beobachten. Die Schuppen sind ihm von den Augen gefallen, erklärt er, und nun, da er weiß, daß er der Herr der Welt ist, gewahrt er erst, wie jämmerlich und unbefriedigend jedermanns Leben ist – wenn auch die meisten Leute das selbst garnicht merken. Sein eigenes Leben sei schrecklich unbefriedigend gewesen, sagt er, unwirklich und sinnlos, bis er erwachte und die ganze Größe seiner Bestimmung erkannte.«

»Und worin bestand dieses sein Leben?« fragte Tessy.

»Ich versuchte das herauszubekommen. Er aber merkte vermutlich den neugierigen Ton in meiner Stimme und klappte zu wie eine Auster. Weiß der Himmel, was er gewesen ist. Tuchhändler. Oder Milchmann.«

»Aber Bobby,« schrie Willy in herausforderndem Tone, wie einer, der sich gegen blinde Unvernunft wehren will, »er muß doch von irgendwo herkommen!«

»Sehr richtig«, sagte Bobby. »Und dieses Irgendwo muß auch nach ihm auf der Suche sein. Aber man kann dergleichen nicht immer überstürzen. Und vorläufig ist es, wie mir scheint, unsere Pflicht und Schuldigkeit, ihn zu behüten und aufzupassen, daß er nicht zu Schaden kommt oder in schlechte Hände gerät ... Bis jemand auftaucht ... Bleib sitzen, Tessy, du bist müde.«

Und Bobby sprang auf und machte sich daran, die Teller und Schüsseln zu wechseln, während Willy in tiefes Nachdenken über das Problem seines neuen Hausgenossen versank.

Bald lächelte er und schüttelte in freundlicher Mißbilligung den Kopf.

»Das taugt Bobby gerade«, sagte er zu Tessy. »Wenn er von rechtswegen in seinem eigenen Zimmer sitzen und an seinem Roman arbeiten sollte, wird er oben im zweiten Stock sein, um mit – was war's nur? – mit Sargon zu sprechen.«

»Um Material zu sammeln«, korrigierte Bobby vom Büfett her, wo er eben eingemachte Pfirsiche aus dem Glas in eine Schüssel tat. »Um Material zu sammeln ... Nicht einmal eine Spinne kann aus einem leeren Magen einen Faden spinnen. Tessy, wo hast du die Sahne gelassen? Hast du sie besonders sorgsam an einem neuen Platz versteckt, den ich erraten solle? O, schon gut! Ich hab' sie.«

8

Wir wollen offen bekennen, daß Sargon seine Zweifel hatte.

Nicht immer. Es gab Zeiten, da seine Phantasie tapfer und unerschrocken war und ihn hoch über jeden Schatten von Ungewißheit hinaushob; da er das war, was zu sein er sich nur jemals hätte wünschen können. In solchen Stunden war Herr Preemby beinahe vergessen. Aber es gab auch Momente, es gab Phasen, da sich eine kalte Unterströmung bemerkbar machte und ihn überzeugte, daß er schließlich und endlich eben doch bloß Herr Preemby sei, Herr Preemby aus der Wäscherei ‹Zum klaren Bach›, der sich etwas vormachte, dieses Etwas mit Keckheit aufrecht zu erhalten suchte, aber es vielleicht bald nicht mehr aufrechtzuerhalten imstande sein würde. Diese eisige Flut von Zweifeln konnte ihn sogar dazu bewegen, mit sich selbst zu rechten, sich seiner selbst endgültig zu vergewissern. Er überlegte die ganze Frage aufrichtig und ehrlich. Was jene Seance anbelangte – da war doch keinerlei Täuschung möglich, konnte keinerlei Täuschung möglich sein. »Sagte mir Sachen, die niemand als ich wissen konnte«, wiederholte er sich. »Davon bin ich überzeugt.«

Er wußte, daß Christina Alberta nicht wirklich geglaubt hatte. War es doch gerade wegen ihres offen zur Schau getragenen Skeptizismus, daß er vor ihr geflohen war. Sie hatte Fragen gestellt, und zwar verletzende, quälende Fragen, und sie hatte ‹Hm› gesagt. Es gehört sich sicher nicht, zu Weltherrschern ‹Hm› zu sagen. Falls er einmal fasten oder in Trance fallen sollte, würde sie sich gewiß neben ihn hinstellen und ‹Hm› sagen; und die ganze Sache verderben. Nun, dem war er jedenfalls für eine Zeit aus dem Wege gegangen. Aber dem Zweifel aus dem Wege zu gehen, war nicht genug. Die große Entdeckung drohte, sich zu verflüchtigen. Er bedurfte des Trostes, den Jünger gewähren. Er bedurfte der Hilfe, der Bestätigung durch andere.

Bobby hatte ihn sehr getröstet. Während Sargon von einem argwöhnischen Wohnungsvermieter zum anderen gewandert war, hatte der Glaube an den neuen Erlöser der Menschheit bedenklich gewankt. Bobby jedoch hatte von Anfang an etwas wie Ehrerbietung gezeigt, hatte zu verstehen geschienen. Seine Fragen waren immer verständnisvoller geworden. Vielleicht sollte er der erste der wiedererweckten Anhänger sein. Vielleicht würde er bald als einer der treuen Untertanen aus der immer noch zum großen Teile vergessenen Vergangenheit zu erkennen sein, als ein verläßlicher General vielleicht oder irgendein vertrauter Hofbeamter.

Doch selbst wenn Sargon zweifelte, glaubte er. Das ist ein leicht begreifliches Paradoxon. Er wußte klar: Sargon zu sein, hieß, wirklich zu sein, bedeutend zu sein und die ganze Welt bedeutend zu machen, hieß, der Vergangenheit und auch der Zukunft angehören, hieß vor allem, der kläglichen Bedeutungslosigkeit des Preembylebens zu entrinnen. Sargon zu sein hieß nicht nur, sich zur Größe emporzuschwingen, sondern auch zur Güte. Sargon konnte geben und Sargon konnte wagen. Sargon konnte Löwen Aug in Auge gegenüberstehen und für sein Volk sterben, aber Preemby hatte einen großen Umweg gemacht, um dem feindlichen Gekläff eines bellenden Terriers auszuweichen. Preembys Welt war Staub und Schmutz, ein Kotspritzer im unendlichen Raum, an dem kein Leben war, sondern bloß Verächtlichkeit. Preemby, das war der Tod; Sargon aber, das war die Wiedergeburt in einer Welt bedeutungsvoller Wesenheiten. Zu diesen Erkenntnissen gelangte Sargon zwar nicht ganz deutlich, doch fühlte er sie durch sein ganzes Wesen. Etwas von unschätzbarem Wert, unschätzbarer Wahrheit war ihm begegnet; er mußte sich an dieses Geschenk klammern, mußte es festhalten und bewahren oder auf ewig verdammt sein. Trotz Christina Alberta, trotz der ganzen Welt.

So schritt er in seiner kleinen Dachstube in der Midgardstraße auf und ab und arbeitete den Plan zu seiner neuen Rolle als Herr und Beschützer der ganzen Welt aus. Die Dämmerung wich der Nacht, doch zündete er das Licht nicht an. Er liebte die freundliche Dunkelheit. Alle sichtbaren Dinge sind begrenzt, aber die Dunkelheit leitet hinaus und über alles hinweg zu Gott: »Ich muß schauen«, sagte er. »Ich muß wachen und beobachten. Doch nicht zu lange. Es gilt zu handeln. Handeln zeugt Leben. Dieser Bursche Preemby, die arme Seele, konnte die Dinge wohl anstaunen, aber wagte er es, einen Finger zu rühren? Nein! Allenthalben Leiden, allenthalben Ungerechtigkeit und Krankheit, drohender Niedergang rings um uns, und er tat nichts. Wenn man nicht ruft und laut ruft, wie kann man da eine Antwort erwarten? In dieser weiten, schrecklichen Welt – Streiks – Riesenplakate – Ehebrüche – Kriegsgewinner ... Nichtsdestoweniger Menschen, die einst mutig gelebt und ihre Pflicht getan haben ... Sie werden sie wieder tun ... Wenn sie nur den Ruf hören. Wacht auf! Besinnt euch! Gedenkt des rechten Wegs. Der schlichten Ehrfurcht. Sargon ruft euch ... H'rrmp ...«

Er machte vor seinem Fenster, dessen Vorhang nicht zugezogen war, halt und sah auf die schmucklose, flache Front der gegenüberliegenden Häuser hinaus, welche hie und da von einem erleuchteten Fenster durchbrochen war. Die meisten zeigten heruntergelassene Rolläden, doch gerade gegenüber arbeitete eine Frau bei Lampenlicht an einem Tisch; sie nähte etwas, ihre rechte Hand flog beständig auf und nieder, auch das Buch, eine Hand und ein Stück Ärmel eines Lesenden waren zu sehen, während alles andere hinter dem Vorhang verborgen blieb. An einem Schlafzimmerfenster stand ein Spiegel, vor dem ein Mädchen seinen Hut probierte, indem es ihn bald von dieser, bald von jener Seite betrachtete; dann verschwand es plötzlich und nach einer kleinen Weile wurde das Licht ausgelöscht.

»All ihr zerstreuten Leben,« sagte Sargon und breitete mit einer liebevollen Gebärde die Arme aus, »ihr sollt miteinander verknüpft – sollt durch Weisheit und Liebe zusammengehalten werden. Ein Ruder für die dahintreibende Welt.«

Es klopfte an die Tür. »Herein«, sagte Sargon.

Bobby erschien. »Nun, wie geht es, mein Herr?« fragte er in seiner einnehmend ehrerbietigen Art. Er knipste das elektrische Licht an und trat ins Zimmer. (Was für ein leichenblasses, freundliches Gesicht er hatte; sicherlich würde man sich bald erinnern, was er einst gewesen war.) »Ich wollte nur fragen, ob Sie denn heute abend etwas gegessen haben?« sagte er.

»Ach, ans Essen hab' ich gar nicht gedacht«, erwiderte Sargon. »Ich bin mit so vielen ernsten Dingen beschäftigt. Ich habe an vieles zu denken, viele Pläne zu machen. Es ist bald an der Zeit. Die Stunde rückt näher. Vielleicht kann das Dienstmädchen hier –?«

»Nur Frühstücke«, sagte Bobby. »Wir halten uns hier strikte an die Bedingungen: Bett mit Frühstück. Um alles andere haben wir uns selbst zu kümmern. Für einen Notfall wie diesen gibt es nichts Besseres als das Rubicon-Restaurant. Es bleibt ziemlich lange geöffnet. Man macht Ihnen da ein Schnitzel oder ein Kotelett. Oder Schinken mit Ei. Sehr guten Schinken mit Ei – knusprigen Schinken. Sie gehen von hier bis zur zweiten Seitenstraße links und dann die Hampshirestraße gerade hinunter, bis Sie hinkommen. Sie werden es leicht finden.«

Das Wort ‹knusprig› hatte den Ausschlag gegeben.

»Ich werde Ihrem Rat folgen«, sagte Sargon.

»Und es ist ebenso leicht, den Weg zurückzufinden«, sagte Bobby, mit einer leisen Spur von Besorgtheit in der Stimme.

»Seien Sie unbesorgt, junger Mann«, sagte Sargon im Tone fröhlicher Beruhigung. »Seien Sie unbesorgt. Hab' ich doch meinen Weg unter manchem Himmelsstrich gefunden, unter mannigfaltigen Bedingungen – in wilden Bergen – in fährteloser Wüste. In Zeit und Raum.«

»Natürlich«, sagte Bobby. »Das hab' ich vergessen.

»Immerhin – London ist anders«, sagte Bobby.

9

Am nächsten Nachmittag um ungefähr halb fünf tauchte eine kleine Gestalt mit mächtigem Schnurrbart und Augen voll blauer Entschlossenheit unter dem Eingang der St. Pauls-Kathedrale auf und blieb oben auf den Stufen vor den großen Portalen stehen, von wo aus sie das Gedränge des Verkehrs auf dem Ludgate Hill und dem Kirchplatz überschaute. In der Haltung des kleinen Mannes lag etwas wie Unsicherheit, als ob er ebenso entschlossen sei zu handeln, wie darüber im Unklaren, was er eigentlich tun solle. London war von der Spitze des Monuments und von der Kuppel des Domes aus an einem kristallklaren Oktobertag betrachtet worden und hatte unter dem goldenen Sonnenschein ungewöhnliche Schönheit und Würde verraten. Doch hatte es sich gleichzeitig in seiner ungeheuren, verträumten Mannigfaltigkeit gezeigt, in welcher nur der dem Verschlungenwerden zu entgehen hoffen darf, der tüchtig und entschlossen zu handeln versteht. Da lag es ausgebreitet, bis zu weiten sonnenbeschienenen Geländen hin, die den Horizont zu bilden schienen, doch dann waren in dem bleiernen Grau neue Linien von Häusern, von Schiffen und fernen Hügeln sichtbar geworden. Die Geschäfts- und Privatautos in den schattigen Straßen unten hatten wie Spielzeug ausgesehen; von den Leuten waren nur Hüte zu sehen gewesen und eilende Beine und Füße, in komischen Proportionen. Und über dem allen der unermeßliche Dom eines freundlichen, leicht bewölkten Himmels.

Er war um die kleine Galerie unter dem Knauf herumgewandert und hatte dabei gemurmelt: »Eine Wildnis. Eine Stadt, die vergessen hat ...

Wie schön sie sein könnte! Wie groß sie sein könnte!

Wie schön und groß sie sein soll

Und jetzt war er von der erhabenen Höhe wieder herabgestiegen, und es schien ihm die Zeit gekommen, Schüler und Jünger zu sammeln und die ‹neue Welt› einzuweihen. Er mußte sie berufen. Er konnte keine Anhänger gewinnen, ohne daß er sie rief; sie warteten darauf, daß er handle, wußten wohl nicht einmal, was ihnen bevorstand, ehe er sie nicht rief. Wenn er sie aber rief, würden sie sicherlich kommen.

Mit dem Gefühl außergewöhnlicher Macht über der Menschen Schicksale stand er nun auf den Stufen der St. Pauls-Kirche und bedachte, daß sich eben jetzt unter diesen geschäftigen Menschen, die sich auf dem Pflaster drängten, unter den Leuten in den Omnibussen, unter den Mädchen, die hinter den Fenstern oben an ihren Schreibmaschinen saßen, Männer und Frauen befinden mochten, über deren geschäftigem, kleinlichem, unbedeutendem Leben der Ruf seiner Aufforderung schwebte. Jener dort vielleicht war sein Abu-Bekr, seine rechte Hand, sein Petrus. Mochten sie noch ein wenig warten. Mit einer freundlichen Handbewegung munterte er den Verkehr auf. »Bald,« sagte er, »sehr bald. Fahret fort, solange ihr noch könnt. Eben jetzt beginnt die Auswahl der Gerechten.«

Doch noch einen Augenblick lang stand er still und schweigend, eine kleine Schicksalsstatue, da. »Und jetzt,« flüsterte er, »und jetzt ...

Und zuerst –«

Die Frage, warum er die sumerische Sprache vergessen habe, quälte ihn nicht mehr. In der Nacht hatte er die Gabe der Zungen wiedererlangt; fremdartige Worte hatte er in der Dunkelheit gemurmelt und verstanden.

»H'rrmp«, sagte er, ein Wort, das vielen Sprachen gemein ist; mit ihm hob nach fünftausend Jahren ein erneuter Gebrauch vergessener Klänge in der Welt der Menschen an.

»Dadendo Fizzoggo Grandioso Magnificendodidodo – ja«, flüsterte er. »Die Entschleierung des Antlitzes. Die erste Offenbarung. Dann werden sie vielleicht sehen.«

Und langsam stieg er die Stufen hinab, während seine Augen an den zusammenlaufenden Häuserfronten des Kirchplatzes nach den Anzeichen eines Friseurladens suchten.


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