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Zweites Kapitel.
Die Berufung der Jünger

1

Es herrschen bereits große Meinungsverschiedenheiten betreffs Reihenfolge und Einzelheiten der Berufung der Nachfolger Sargons. Glücklicherweise sind wir in der Lage, die Umstände mit all der Genauigkeit wiederzugeben, die vonnöten sein dürfte, und zwar auf Grund einer Autorität, die jeder böswilligen Kritik vorbauen wird. Es war ungefähr halb sieben, als Sargon in der Cheapside erschien, eben als der Tagesverkehr in dieser geschäftigen Hauptstraße der City bereits abebbte. Sein Antlitz war verwandelt und leuchtete mit jener Art Glanz, die nur gründlichstes und ausgiebigstes Rasieren verleihen kann. Jugendliche Glattheit war ihm aufs neue geschenkt. Die Gesichtsmähne, der Riesenschnurrbart, der sein Antlitz so manches Jahr vor der Menschheit verschleiert gehalten hatte, war gefallen, war jetzt nur mehr ein Mischmasch von Haaren und Seifenschaum in einem Barbierbecken. Sein Gesicht war nun so kahl wie das des jungen Alexander, ein frischfarbiges, heiteres und unschuldiges Antlitz, das mit klarer Stimme sprach. Es glühte in begreiflicher Erregung. Sargon ging in der Cheapside dahin und musterte die Gesichter der Fußgänger mit geheimnisvoll forschenden Blicken. Die blauen Augen unter der Krempe des vornehmen Hutes leuchteten hell. Sollte es dieser Mann sein? Oder der?

2

Der erste, an den der Ruf erging, war ein junger Mann aus Leytonstone namens Godley, ein Jüngling mit großem, ungewöhnlich ernstem, grauem Gesicht und einer Bedächtigkeit im Sprechen, die ans Stottern grenzte. Er trug ein Mikroskop in einem Holzkasten. Er war Student der Biologie und hegte besondere Vorliebe für Zellenkunde; er war von Natur aus sehr höflich und seinem Temperament nach in allem, was er sagte oder tat, präzise und bedächtig. Er ging von der Station Liverpoolstraße nach dem Birkbeck-Institut und zwar auf großen Umwegen, da er beinahe noch eine Stunde Zeit hatte, bevor seine Vorlesung begann. Er stand balancierend auf der Gehsteig-Kante an einer Straßenecke, um zwei Fuhrwerke vorüber zu lassen, als ihn der Ruf ereilte.

Er sah einen sehr ernsten, bartlosen kleinen Mann neben sich, dessen blaue Augen sein Antlitz rasch durchforschten und der dann seinen Arm ergriff.

»Ich glaube,« sagte Sargon, »Sie sind es.«

Herr Godley, der nicht ohne Sinn für Humor war, machte Anstalten zu antworten, daß es sicherlich er sei, doch sein teilweise auf Veranlagung, teilweise auf Affektation beruhendes Stottern ließ ihn bei dem Wort ‹sicherlich› stecken bleiben, und er hatte den Mund noch offen, als Sargon schon wieder sprach.

»Ich benötige Ihre Hilfe«, sagte Sargon. »Die große Aufgabe beginnt.«

Herrn Godley gelang es, durch einleitende Krämpfe hindurch zu erklären, daß er eine freie Stunde vor sich habe und gerne bereit sei, in jeder vernünftigen Sache zu helfen, vorausgesetzt, daß ihm erst klar und genau dargelegt werde, worum es sich handle. Doch könne er nur für beschränkte Zeit seine Hilfe anbieten. Seine Pflicht, der Vorlesung im Birkbeck-Institut beizuwohnen, gehe vor. Sargon schenkte der Bedeutung der verschiedenen Laute, die Herr Godley abbiß und verschluckte, wenig Beachtung. Er führte seinen Gefangenen am Arm und erklärte ihm die volle Bedeutung dieser Berufung, indem er seine Rede durch Gesten seiner freien Hand unterstützte. »Wie ich merke, sind Sie ein junger Mann mit wissenschaftlicher Bildung. Diese wird vonnöten sein. Ich weiß nicht, ob Sie mich erkennen, – Ihr Gedächtnis mag noch unvollkommen sein – doch ich erinnere mich Ihres Gesichtes: Sie waren der Erste unter den weisen Männern an unserem alten Hofe. Ja, wahrhaftig, der Erste unter unseren weisen Männern.«

»Ich weiß n-ni-ni-nicht, ob ich Sie ag-ag-ga-ganz verstehe«, sagte der Jüngling. »Mei-mei-meine Ar-ar-ra-Arbeit isskau'mm noch bek-ke-ke-kannt.«

» Ich kenne sie,« sagte Sargon kühn, » ich kenne sie. Ich habe Sie gesucht. Lassen Sie sich durch mein einfaches Inkognito nicht täuschen. Glaube mir, ich habe ungeheure Kräfte hinter mir. Noch eine kleine Weile, und alle Menschen werden verstehen. Das Zeitalter der Verwirrung nähert sich seinem Ende; ein neues beginnt. Wir sind die beiden ersten Partikelchen, die allerersten, in einer großen Kristallisation –«

»Wo g-g-g-gehen wir eig-eig-g-eigentlich hinn?« fragte der Jüngling.

»Vertraue mir«, sagte Sargon tapfer. »Folge mir nach.«

Der Jüngling kämpfte mit einer komplizierten Frage. Doch jetzt gerieten drei neue Individuen unter den magischen Bann der Berufung, und des Jünglings Frage verhallte ungehört. Diese neuen Anhänger waren eine Gruppe von Männern, die am Rinnstein um eine kleine, fast unhörbare Drehorgel standen, an welcher ein Plakat folgendes verkündete: »Wir wollen Arbeit, nicht Almosen; aber es gibt keine Arbeit für Uns in diesem sogenannten zivilisierten Staate.« Sie waren in verblichenes Khaki gekleidet und alle jünger als fünfundzwanzig.

»Nun sieh dir das an!« sagte Sargon. »Ist es nicht Zeit, daß das neue Zeitalter beginne?«

Er wandte sich an den Mann zur Rechten des Orgeldrehers.

»Das alles muß anders werden, und zwar bald«, sagte er. »Ich habe Arbeit für euch.«

»So!« sagte der gewesene Soldat im Ton eines recht gebildeten Mannes. »Was für Arbeit?«

»Wir meinen es ehrlich«, sagte der Orgeldreher. »Jede Arbeit ist uns recht. Wenn wir sie können. Wir sind keine Schwindler. Was für eine Arbeit ist es denn?«

»Einen Schilling pro Stunde?« fragte der Dritte.

»Mehr als das. Viel mehr als das. Und eine sehr große, verantwortungsvolle Arbeit. Eine Ernte! Eine reiche Ernte! Ihr sollt Führer der Menschheit sein. Folgt mir nach.«

»Weit?« fragte der Mann, der zuerst gesprochen hatte.

Sargon machte eine Geste, die seine eigene Unkenntnis eines definitiven Planes wirkungsvoll verbarg, und ging voraus.

»Vorwärts, Macbeth«, sagte der Orgeldreher und lud seine Drehorgel auf den Rücken. Die beiden anderen ausgedienten Soldaten tauschten ihre Meinungen darüber aus, daß die Sache ganz verlockend scheine und sie auf jeden Fall sehen wollten, was ihnen geboten werde. Herr Godley, der mit seinem Führer Schritt hielt, begann einen ungeheuren und zuguterletzt fruchtlosen Kampf mit einer neuen Frage.

Der nächste Jünger ward nicht eigentlich berufen, sondern geriet von ungefähr in die sich sammelnde Körperschaft der Sargoniten. Es war ein langer Mensch mit tiefbrauner Hautfarbe, gekräuseltem schwarzen Haar und einem breiten, entwaffnenden Lächeln. Er trug einen glänzenden grauen Frack, rosa Krawatte, Knöpfelschuhe mit hellgelbem Oberleder und einen Hut, der ebenso vornehm wie der Sargons war. Auch hatte er einen grauen Alpaka-Schirm. Er hielt ein Blatt Papier in seiner großen Mahagonihand und ließ in reicher, voller Stimme das Wort »Verzeihung« vernehmen. Auf dem Papier waren die gedruckten Worte ‹Lean und Mackay, Leadenhallstraße 329, E. C.› zu lesen, darunter stand mit Tinte geschrieben: ‹Herr Kama Mobamba.›

Sargon betrachtete sich die Person, die vor ihm stand, einen Augenblick lang und erkannte sie dann. »Der elamitische König!« sagte er.

»Nicht sprechen englisch«, sagte der schwarze Herr. »Portugiesisch.«

»Nein«, sagte Sargon mit einer Bewegung, die seine Absicht ausdrückte. »Die Vorsehung. Folge mir nach.«

Der farbige Herr schloß sich vertrauensvoll an.

»Aber, Herr,« protestierte der eine der gewesenen Soldaten, »sollen denn auch Farbige bei Ihnen arbeiten?«

»Frieden!« sagte Sargon. »Gar bald wird euch alles offenbar werden.«

»Ich hoffe, si-si-si-Sie sind nicht darauf aus, la-la-Leute zu fangen«, sagte Herr Godley, der an Sargons Vorgehen immer mehr Interesse fand und sich darüber immer mehr wunderte.

Sargon beschleunigte seine Schritte.

»Dieser – dieser Herr wo-wo-wollte b-b-b-bloß zu-zu-zu-zu-zu dieser Adresse«, sagte Herr Godley.

In dem Bestreben, sich Sargon verständlich zu machen, paßte er zu wenig auf seinen Mikroskopkasten auf und versetzte einem Passanten, einem Geschäftsmanne im Zylinderhut, einen plötzlichen, harten Schlag auf das Knie. Der Getroffene fluchte laut mit außerordentlicher Heftigkeit und hopste, die Hand am Knie, auf dem Pflaster herum. Dann packte ihn leidenschaftliche Wut, und er teilte Herrn Godley unverhohlen mit, was er von seinem Benehmen, seiner Erziehung und von menschlichen Wesen seiner Art halte. Er gesellte sich Sargons Nachfolgern zu, das heißt, er humpelte eilig hinter ihnen her und rief von Zeit zu Zeit mit atemloser Stimme »He!«. Ein ziemlich angetrunkener Mann in tiefer Trauer war Zeuge dieses Vorfalles gewesen. Er kam eilends an die Seite des aufgebrachten Herrn im Zylinderhut gelaufen.

»Unerhört!« sagte er. »Unerhört! Falls Sie einen Zeugen brauchen, bin ich Ihr Mann!«

Seine Absicht war, neben dem Herrn im Zylinder geradeaus weiterzugehen, doch gab es in seinem Wesen chemisch emanzipierte Faktoren, die ihn seitwärts trieben. Die Resultante war eine wellenförmige Linie, die ihn alsbald mit einem am Rande des Gehsteigs zur Schau gestellten Karren voll Orangen in enge Berührung brachte. Es war keine ernstliche noch langedauernde Berührung, doch hatte sie immerhin zur Folge, daß einige von den Orangen in den Rinnstein purzelten und daß infolgedessen zu der sich sammelnden Masse von Sargons Anhängern eine weitere Person hinzukam, nämlich der höchst aufgebrachte Obsthändlergehilfe, der Schadenersatz forderte.

Die Moral eines Sprichwortes hängt vollständig von dem Bild ab, das man gewählt hat, und wenn auch ein rollender Stein kein Moos ansetzt, so wächst ein Schneeball im Rollen. Eine dahineilende Gruppe von Leuten in einer Londoner Straße ist ein beweglicher Körper von der Art des Schneeballs; seine physikalische Anziehungskraft ist beträchtlich; er ruft Neugierde hervor und appelliert an den Herdeninstinkt der Menschheit. Sargon, blauäugig und in gehobener Stimmung, Herr Godley, aufmerksam und gesprächig, zu seiner Linken und Herr Kama Mobamba, lang, schweigend, lächelnd, zuversichtliche Hoffnung in seinem Ebenholzantlitz, daß man ihn zu den Herren Lean und Makay führen werde, bildeten die Spitze des Zuges. Dahinter kamen die drei arbeitslosen ausgedienten Soldaten, die nunmehr in unklare Auseinandersetzungen mit dem Herrn im Zylinder verwickelt waren, und ein schmucker, aber ziemlich schwer verständlicher junger Zeitungsreporter, der seine Muttersprache in Oldham erlernt hatte und eben nach London gekommen war, um sein Glück zu versuchen, und darauf ausging, einen sogenannten ‹Fang› zu machen. Er schien zu denken, daß Sargon ein solcher Fang sein könnte. Zwei sehr zweideutig aussehende Individuen mit Kappen und Halstüchern hatten sich, möglicherweise zu ruchlosen Zwecken, ebenfalls angeschlossen, eine junge Straßendirne mit leerem Gesicht, einen vom Wetter gebleichten Magentahut auf dem Kopf, fragte, was ‹ los› sei, und der angeheiterte Mann in Trauer versuchte, es ihr ebenso witzig wie unklar auseinanderzusetzen. Auch die unvermeidliche Nachhut sich balgender Gassenbuben fehlte nicht. Zuhinterst lief ein Schüler aus Eton, ein ganz junger Bursche mit frischem Gesicht, der Sprößling einer der ältesten und besten Familien Englands und ein überzeugter und glühender Kommunist. Er war gerade mit einem Busenfreunde auf dem Wege nach dem berühmten Modellmaschinenladen in Holborn gewesen, als Sargon an ihm vorübereilte und die Aufschrift auf der Drehorgel seinen Blick fesselte.

Er war ein Junge raschen Entschlusses und besaß einen hochentwickelten dramatischen Sinn.

»Es tut mir leid, alter Junge«, sagte er zu seinem Freund. »Doch ich fühle, die Zeit ist gekommen. Wenn ich mich nicht sehr täusche, so ist dieser kleine Trupp der Anfang der sozialen Revolution, und ich muß meine Pflicht tun.«

»Aber, Hase!« sagte der Freund. »Komm, wir wollen jedenfalls erst die Dampfbarkasse kaufen.«

» Was ist eine Modell-Dampfbarkasse?« sagte Hase verächtlich und wandte sich, Sargon zu folgen.

Er hätte gerne noch rasch seinem Freunde die Hand gedrückt, aber wie kann man das bei einem Burschen, der immerfort beide Hände in den Hosentaschen stecken hat? So stürmte er davon, während sein Freund ihm in einem Zustande zwischen Belustigung und Unwillen heimlich folgte, jedoch in einer Entfernung, die ihn von jeder persönlichen Mitschuld an der sozialen Revolution entlastete.

»Wohin gehen wir?« fragte der junge Etonianer, als er auf den hintersten der arbeitslosen Soldaten stieß.

»Der weiß es«, sagte der arbeitslose Soldat und deutete auf Sargon.

3

Aber unser teurer Sargon wußte es nicht. Er war nämlich kein ganz und gar überzeugter Sargon mehr. Ein furchtsamer, zweifelnder und protestierender Preemby kämpfte sich in sein Wesen zurück.

Bis zum Beginn der Berufung der Jünger hatte Sargon in seiner eigenen Seele sicher und ungehindert regiert. Aber er hatte erwartet, daß seine Jünger auf seinen Ruf eingehen, daß sie ihn erkennen und sich seiner erinnern, daß sie sich sogleich verständnisvoll und hilfreich zeigen würden. Die Berufung hätte in ihrem Geist und in der Welt ringsum wie das erste Aufleuchten einer Lampe wirken sollen. Er hatte nicht nur auf die klare und fraglose Überzeugung in seiner eigenen Brust gerechnet, sondern auch darauf, daß sie durch andere verstärkt und vertieft werden würde. Von Seele zu Seele springend, sollte sich die Wiedererweckung der Menschheit, die Herrschaft Sargons ausbreiten. Auf Jünger, die Bedingungen machten, die seltsam gestikulierend, plappernd und schnatternd und beleidigende Kritiken stotternd nachfolgten, auf Jünger, die um ein Mindestgehalt fragten oder die hinter einem herhumpelten und, als ob man eine Droschke wäre, ‹He!› riefen, war Sargon ganz und gar nicht gefaßt gewesen.

Hatte er diese Jünger voreilig berufen? Hatte er wiederum verfrüht gehandelt? Hatte er zum andernmal einen Fehler begangen?

Es kann einem Meister nicht leicht fallen, solche Fragen zu lösen, während er mit einer Geschwindigkeit von mehr als sechs Kilometern in der Stunde ohne bestimmtes Ziel dahinmarschiert, einen wachsenden Schwarm von Leuten auf den Fersen. Vielleicht ist jede Führerschaft eine Art Flucht. Vielleicht ist noch in jedem Führer ein Ausreißer versteckt gewesen. In Sargon war er nun nicht mehr versteckt: er war erwacht und rege, und sein Name war Preemby.

Seit die Menschheit, in ihrem langsamen Aufstieg vom rein animalischen Dasein, für Propheten, große Lehrer und Führer empfänglich geworden ist, muß es stets einen inneren Konflikt zwischen der Größe der Sendung und etwas merklich Geringerem gegeben haben; ebenso muß stets ein starker Gegensatz zwischen den Fähigkeiten und Beweggründen der Jünger und den Erwartungen des Lehrers bestanden haben. Die Berufung von Jüngern scheint an und für sich vonseiten des Propheten ein Zugeständnis an ein Gefühl der Schwäche zu sein. Ihre Berufung verpflichtet ihn. Er verpflichtet sich ihnen gegenüber. Sie werden, das weiß er, einen Zwang auf ihn ausüben, wenn er schwankt; tiefwurzelnde Herdeninstinkte geben ihm Gewähr, daß er ihnen gegenüber seine Lehre nicht verleugnen werde, selbst wenn er sie vor sich selbst verleugnen müßte. Sie aber verleugnen ihn – unvermeidlich. Soweit die Welt sich zurückerinnern kann, gibt es nur einen unveränderlich treuen Jünger: Abu Bekr. Alle anderen Jünger verstanden ihre Meister nicht, lähmten sie und machten sie irre. Sie verleugneten ihren Propheten oder trieben ihn dahin, wohin er nicht gehen wollte. Große und kleine Dinge derselben Art folgen den gleichen Gesetzen. An der Spitze der kleinen, aufgeregten Schar, die in der Oktoberdämmerung durch die lampenerleuchtete Holbornstraße eilte, schritt Sargon, der Herr und Beschützer der Menschheit, der Wiederhersteller von Glauben und Gerechtigkeit, der herrliche Eine, und obzwar er bereits wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte und Gefahren drohten, blieb er doch noch entschlossen, seine Sache durch irgendeine wunderbare Gebärde zu retten. Doch dichter noch hinter ihm her als sein Schatten war Preemby, von Furcht geschüttelt und bereit, in irgendeine Seitengasse hinein kopfüber Reißaus zu nehmen, Reißaus vor jeder Erklärung, vor jeder Anstrengung, zurück zum Preemby-Dasein und zu unendlicher Nichtigkeit.

Plötzlich drang eine neuermutigende Stimme an Sargons Ohr, die Stimme eines, der, zumindest allem Anscheine nach, an ihn geglaubt und ihn anerkannt hatte.

Es hatte einen kurzen Wortwechsel mit Willy gegeben, ehe Bobby über die Straße gelaufen kam. »Da geht er!« hatte Bobby gerufen.

»Das ist nicht er«, sagte Willy. »Wo ist sein Schnurrbart? Er war doch fast nichts als Schnurrbart.«

»Er hat sich rasieren lassen«, sagte Bobby. »Ich erkenne ihn trotzdem. Es ist etwas Tänzelndes in seinem Gang. Es ist unser Prophet, Willy, und er rennt ins Unglück hinein.«

»Schaut eher wie ein Durchbrenner aus«, sagte Willy. »Wo hat er den ekstatischen Neger aufgegabelt? Das Ganze ist mir zu verrückt, Bobby, wahrhaftig. Bleib' davon. Eben nimmt sich ein Schutzmann der Sache an.«

Bobby zögerte. »Ich kann ihn nicht so laufen lassen«, sagte er und rannte über die Straße, als eben vier wettrennende Omnibusse die Sargoniten vor Willys Augen verbargen.

»Verzeihen Sie, aber wohin gehen Sie?« fragte Bobby, indem er sich trotz eines kräftigen Stoßes von Herrn Godley zu Sargons dankbarem Ohr neigte.

»Ich habe mich verkündet«, sagte Sargon, und mit einem Male kehrte ihm die Sicherheit wieder. War dieser doch der ‹Erste der Jünger›; und er hatte den Weg zu seinem Meister zurückgefunden. Nunmehr sah Sargon ganz klar, was er zu tun hatte. Die ersten Nachfolger mußten unterrichtet werden. Er mußte zu lehren beginnen. Um das zu tun, war es notwendig, sie aus dem Lärm und Getriebe der Straße heraus abseits zu führen. Sargon kam die Vision eines langen, hellerleuchteten Tisches, einer Tafelrunde von Schülern, die Fragen stellten und denkwürdige Antworten empfingen, durch große Aussprüche belehrt wurden. Und gerade vor ihnen türmte sich glühend, sprühend von Licht, ein alter Freund bereits, der einladende Koloß des Rubicon-Restaurants auf, dieses Pioniers in dem großen Unternehmen, Diners de luxe zu populären Preisen herzustellen.

»Dort drüben,« sagte Sargon und fegte mit der Hand durch die Luft, »dort drüben wollen wir rasten und uns zum Mahle setzen, und ich will sprechen, und alles soll erklärt werden.«

Die leuchtende Vision einer Ansprache an eine Schar von Jüngern rings um eine Tafel hatte die Herrlichkeit Sargons in solchem Maße wieder hergestellt, daß er in der Zeit, bis er den Eingang in das Rubicon-Restaurant, welcher einladend an einer Straßenecke vorspringt, erreicht hatte, zwei weitere Jünger berief. Der eine von diesen beiden war ein Bettler von ehrwürdigem Aussehen, der Streichhölzerschachteln in der Hand hielt; der andere ein höchst intelligent aussehender Mann von vielleicht fünfzig Jahren, hager und mit dünnem Bart, der ein Buch über die Doukhobors unterm Arm hielt und Handschuhe ohne Finger und einen hohen, schwarzen Filzhut trug – einen Hut von ungewöhnlicher Form, der Dampfkuppel einer Eisenbahnlokomotive nicht unähnlich. Diese letzte Errungenschaft wurde gerade am Tor des Restaurants selbst gemacht.

»Kommen Sie hier hinein,« sagte Sargon und ergriff seinen Arm, »und setzen Sie sich mit mir zum Mahle. Ich habe Ihnen Dinge zu erzählen, die Ihr ganzes Leben umgestalten werden.«

»Das kommt sehr plötzlich«, sagte der intelligent aussehende Mann, der in dem hohen, wiehernden, protestierenden Ton eines englischen Gelehrten und Gentleman sprach, als er Sargons Griff nachgab.

4

Der Eintritt in das Rubicon-Restaurant erfolgte verworren und hastig. Sargon wußte nunmehr klar und deutlich, was er zu tun hatte: er mußte jene Vision der langen, weißen Tafel, mit den Jüngern in der Runde, zur Wirklichkeit machen oder auf eine große Niederlage gefaßt sein. Sein Gefolge hatte sich aus einem Gemisch ungleicher und unvereinbarer Beweggründe zusammengefunden, wie das bei Gefolgschaften stets der Fall ist; es war nunmehr bereits auf nahezu dreißig Personen angeschwollen – die genaue Anzahl steht nicht fest, weil die Gruppe am Rande in bloße Zuschauer und Passanten überging –; die Schar war nämlich durch die Tätigkeit des unwürdigsten der drei arbeitslosen Kriegsentlassenen beträchtlich gewachsen, der, seit das Rubicon-Restaurant in Sicht gekommen war, unaufhörlich die magischen Worte ausgestoßen hatte: »Ein Abendessen gratis!«

Die Aufmerksamkeit des Türstehers war glücklicherweise durch die Ankunft von Gästen in einem Automobil abgelenkt worden, als die Sargoniten daherkamen. Sie gelangten also durch den äußeren Eingang ohne einem anderen Hindernis als der Drehtür zu begegnen, welche unsere kleine Truppe in einzelne Personen auflöste, ehe sie die Eingangshalle erreichte. Vielleicht zwanzig waren so in die Eingangshalle, jenen von herumstehenden Garderobedienern erfüllten Raum aus Marmor und Mahagoni, gedrungen, als der schwankende Gang des Mannes in tiefer Trauer den höflich indignierten Türsteher bewog, diesen zurückzuhalten – wobei sich der Obsthändlergehilfe ungeschickt einmengte –; infolgedessen geriet die Drehtür ins Stocken. Der Herr mit dem zerschundenen Schienbein schien abgefallen zu sein, bevor man das Restaurant erreicht hatte, und die junge Frau mit dem ausdruckslosen Gesicht im Magentahut hatte sich in einem unbewachten Augenblick davongemacht.

In der geräumigen, schimmernden und von aufmerksamen Blicken erfüllten Halle befiel die Gefolgschaft eine Neigung, sich zu zerstreuen. Der arbeitslose Kriegsentlassene mit der Drehorgel begab sich, von plötzlicher Schamhaftigkeit erfaßt, nach der Herrengarderobe, um sein Instrument abzulegen, und verwickelte sich in eine Auseinandersetzung mit seinen Kollegen. Die beiden zweideutigen Burschen in Kappe und Halstuch schienen betreffs der Korrektheit ihres Anzuges Bedenken zu tragen. Sargon aber hielt den kürzlich gefangenen Herrn fest, und der ehrwürdige Streichholzverkäufer hatte nicht die Absicht, sich an diesem hellen, luxuriösen und gefährlichen Platz von seinem Schutzherrn trennen zu lassen. Herr Kama Mobamba, lang, lächelnd und strahlend, übergab Hut und Regenschirm einem Diener und folgte seinem Meister auf dem Fuße, heiter in dem sicheren Gefühl, dies seien die vornehmen Portale der langgesuchten Firma afrikanischer Händler, Lean und Makay. Herr Godley aber wollte, infolge seiner natürlichen Leidenschaft, sich deutlich auszudrücken, Sargon nicht verlassen, ehe er ihm nicht vollständig klargelegt hatte, warum er sich nicht mehr verpflichtet fühle, ihm weiterhin Gesellschaft zu leisten. Er kam dicht hinter Sargon in den Großen Speisesaal, lärmend wie eine Kuckucksuhr, die die Kontrolle über sich verloren hat. Der Reporter aus Oldham war auch noch immer da, obzwar er schon beträchtliche Zweifel darüber hegte, was für eine Geschichte er zu berichten haben werde. Der Etonjunge, bereits halb überzeugt, daß er sich geirrt habe, und daher auch geneigt, sich ein wenig abgesondert zu halten, betrat den Speisesaal erst, nachdem er Hut und Schirm draußen abgelegt hatte.

Bobby gelangte nicht hinein. In der Eingangshalle holte ihn Willy ein und hielt ihn zurück. »Die Geschichte geht dich doch nichts an, Bobby«, sagte Willy. »Die Geschichte geht dich doch wirklich nichts an.«

»Ich begreife nicht, was er eigentlich vorhat«, sagte Bobby. »Er wird sich bestimmt in Unannehmlichkeiten stürzen.«

»Macht nichts.«

»Aber mir macht es etwas!«

»Die Direktion ist beängstigt«, sagte Willy. »Sie schicken um die Polizei. Draußen ist ein Auflauf. Schau die Gesichter, wie sie hereingucken. Siehst du diesen Kerl, wie er durch das Loch im Glas lugt? Schöne Geschichte für Tessy und Suschen, wenn wir's mit dem Polizeigericht zu tun bekämen.«

»Aber wir können ihn nicht hier in der Patsche sitzen lassen.«

»Aber wie können wir ihm denn helfen?«

5

Im Speisesaal machte Sargon seine äußerste und letzte Anstrengung und erfuhr eine rasche, überwältigende Niederlage. Doch jedenfalls lief er nicht davon. Er machte auf die Welt, die zu unterwerfen er ausgezogen war, einen Frontangriff – als Sargon. Als Sargon ereilte ihn das Unglück.

Im Rubicon-Restaurant ging es noch nicht sehr lebhaft zu. Allerdings geht es am Abend niemals so lebhaft im Rubicon zu wie zur Mittagszeit; es ist, weit vom Westen entfernt, vorzüglich ein Mittags-Restaurant. Auch war die Stunde des stärksten Abendbesuches noch nicht gekommen. Die säuberlichen Reihen der kleinen weißen Tische, jeder mit seiner Lampe und seinen Blumen, waren nur hie und da von Gästen unterbrochen: eine Familiengruppe, die in den Zirkus wollte; eine kleine Verbindung von Leuten, die zu einer Versammlung in der Kingsway-Halle gingen; drei oder vier Paare von Theaterbesuchern in Abendkleidung; drei oder vier jener ungleichen Paare, er ein ziemlich unerfahren aussehender Geschäftsmann in mittleren Jahren und sie eine äußerst unerfahren aussehende junge Frau in einem geschmacklosen Abendkleid, wie man sie überall in London antreffen kann; und eine Gruppe von drei Geschäftsleuten aus dem Norden, die in ein praktisches Grau gekleidet waren und mit rücksichtsloser Vollständigkeit vom Cocktail bis zum Liqueur dinierten: das war die ganze Gesellschaft, die in dem Speiseraum des Restaurants versammelt war. Ein oder zwei Gäste saßen auf der unteren Galerie, waren aber nur undeutlich zu sehen; die obere Galerie war nicht beleuchtet. Die Atmosphäre war noch verzagt und frostig; selbst die drei Herren aus dem Norden führten ihr Gespräch über den Londoner Luxus leise und verstohlen.

Das Personal war größtenteils noch unbeschäftigt. Die Oberkellner, Weinkellner und Tischkellner schoben unruhig an den Servietten und Gläsern hin und her oder standen mit jenem Ausdruck melancholischer Selbstzufriedenheit auf den Gesichtern da, der Kellnern gewöhnlich eigen ist. Eine kleine Aufregung in der Eingangshalle und der Klang der zerbrechenden Glasscheibe in der Drehtür, welche der Mann in Trauer mit einer letzten Anstrengung zerschlug, gingen dem Eintreten Sargons voraus.

Jedermann blickte auf. Die Gäste vergaßen ihr Essen und ihre gesellschaftlichen Pflichten; die Kellner vergaßen ihren geheimen Kummer. Sargon erschien, eine unauffällige Gestalt mit etwas blassem, beinahe leuchtendem Gesicht und runden hellen Augen. Mit einer Hand hielt er noch immer seinen letzten Jünger fest. Mit der anderen wehrte er die Redehappen ab, die ihm Herr Godley zuwarf. Ein langes, erwartungsvolles Negergesicht ragte gleich einem Schild aus Ebenholz und Elfenbein über ihn empor. Dahinter kamen der Streichholzverkäufer und andere Nachfolger, die man weniger deutlich unterscheiden konnte.

Ein Oberkellner trat ihm entgegen. Hinter dem Kellner stand ein Direktor auf der Lauer und ein wenig weiter machte sich ein Hilfsdirektor mit dem Obst auf dem Büfett allerlei zu schaffen.

Sargon ließ seinen letzten Fang los und trat vor.

»Decken Sie hier eine Tafel«, sagte er mit großartiger Geste. »Decken Sie hier eine Tafel für eine große Gesellschaft. Ich habe mir ein Gefolge berufen und muß notwendig mit den Leuten sprechen.«

»Eine Tafel, Herr«, sagte der Oberkellner. »Für wie viele Personen?«

»Für eine große Gesellschaft.«

»Sehr wohl, Herr,« sagte der Oberkellner mit einem hilfesuchenden Blick nach dem Direktor, »wir würden gerne wissen, wie viele Personen ungefähr.«

Der Direktor kam heran, um die Sache in die Hand zu nehmen, und der Hilfsdirektor verließ seinen Aufbau von Früchten und kam ebenfalls hilfreich herzu. Sargon merkte, daß er einer Opposition gegenüberstand, und sammelte alle seine Kräfte im Innern. »Es ist eine große Gesellschaft«, sagte er. »Sie soll sich mit mir hier zum Mahle setzen, und ich werde zu ihr sprechen. Die andern Gäste können sich uns anschließen. Stellen Sie alle Tische zusammen. Die Tage der Einzeltische, die Tage der Einzelleben sind gezählt. Auch die Tische sollen von der Bruderschaft der Menschen zeugen. Unter Unserer Herrschaft. Stellt sie zusammen.«

Auf die Worte ‹Bruderschaft der Menschen› hin ging dem einen der drei Geschäftsleute aus dem Norden ein Licht auf. »Es ist ein blutrünstiger Bolschewik«, sagte er, oder Worte ähnlichen Inhalts. »Drängt sich hier herein! Just hier!«

»Das sollte nicht erlaubt sein«, sagte sein Freund. »Soll man denn nirgends Ruhe haben vor ihnen?«

Der erste Geschäftsmann gab seiner Antipathie gegen die Bolschewiken Ausdruck und fuhr dabei fort, hastig, nervös und gereizt Brot zu verschlingen. »Wann kommt endlich dieses Hühnerfrikassee?« sagte er. »Sie müssen es fallen gelassen haben oder sonst was.«

Doch des Direktors Intelligenz war sogar noch rascher gewesen als die des Geschäftsmannes. Ein schnelles Signal war sogleich zu Beginn von Sargons Rede gegeben worden. Der Kellner, den man um die Polizei geschickt hatte, war bereits an Willy und Bobby und der übrigen verwirrten Menge in der Eingangshalle vorübergeeilt, in der es jetzt infolge der zerbrochenen Glasscheibe der Drehtür, die der Mann in Trauer zerschlagen hatte, zugig und unbehaglich war.

Sargon jedoch achtete dieses stummen Spieles nicht. Er hielt sich an den einzigen Kurs, den er vor sich sah, und der war, die Opposition, die sich ihm gegenüber sammelte, zu überwinden.

»Wir geben in diesem Raum keine Bankette, Herr«, sagte der Direktor, um Zeit zu gewinnen. »Bankette können Sie in der ‹Syrischen Halle› oder in der ‹Elysischen Stube› oder in der ‹Großen› oder ‹Kleinen Freimaurerhalle› haben – bei vorheriger Anmeldung und nachdem die gehörigen Anordnungen getroffen sind; das hier aber ist ein allgemein zugänglicher Speisesaal. Sie können hier nicht plötzlich einer unbekannten Gesellschaft oder Versammlung ein Bankett geben oder dergleichen. Wir sind nicht darauf eingerichtet. Das geht nicht.«

»Es wird heute abend gehen«, sagte Sargon mit einem Blick, einer Betonung und Geste, die ganz Traum-Sumerien in die Knie gebeugt haben würden.

Doch die Direktoren der europäischen Restaurants scheinen aus härterem Holz zu sein als die alten Sumerier. »Ich bedaure, mein Herr«, sagte der des Rubicon und verstellte Sargon ruhig den Weg.

»Wissen Sie auch,« schrie Sargon, »mit wem Sie es zu tun haben?«

»Jedenfalls nicht mit einem unserer Stammgäste«, sagte der Direktor und machte eine entschuldigende Miene, wie einer, der notgedrungen den Sieg davonträgt.

»Hören Sie«, sagte Sargon. »Der heutige Tag ist epochemachend. Er ist Ende und Anfang eines Zeitalters. Die Menschheit wird dieses Bankett, das ich hier veranstalten werde, als den Sonnenaufgang einer neuen Welt bezeichnen. Ich bin Sargon, Sargon der Große, Sargon der Erneuerer, gekommen, mich zu verkünden. Diese große Menge meiner Nachfolger muß hier gespeist und unterrichtet werden, muß körperlich und geistig gespeist werden. Sehen Sie, daß Sie Ihr Teil an dem Werk tun.«

Er wies hinter sich, als er von seinen Nachfolgern sprach, doch da stand jetzt kein Gefolge mehr bis auf den einen treuen, aber betrogenen Afrikaner und den erstaunten, doch standhaften Reporter aus Oldham. Der Etonjunge hatte sich nunmehr vollständig abgesondert. Er saß an einem Tisch weit weg, wo sich sein Freund zu ihm gesellt hatte; sie sprachen in unterdrücktem Tone miteinander und sahen zu. Auch Herr Godley mit seinem Mikroskop und der Herr mit dem Buch über die Doukhobors waren zu dieser Zeit bereits verschwunden; sie gingen Holborn entlang, wobei sie, einander ins Wort fallend, Erklärungen und Vermutungen über das einzigartige Erlebnis austauschten, das ihre lobenswerten und vernünftigen Bestrebungen so unerwartet unterbrochen hatte.

»Ich kann nur an-äm-äm-annehmen, daß-der-Kerl-verrückt-war«, sagte Herr Godley.

Während Sargons Gefolge zusammengeschmolzen war, hatte sich das des Direktors vermehrt. Hinter ihm stand jetzt eine Schlachtordnung von Kellnern jeder Art, drei Dutzend vielleicht verschiedener, aber einmütiger Kellner, lange Kellner und kurze, dicke und dünne, mit Haarschöpfen und mit Glatzen, junge und alte, Kellner in Schürzen, einer sogar in Hemdärmeln.

»Ich bedaure, doch Sie verursachen hier eine Störung«, sagte der Direktor. »Ich bedaure sehr, aber ich muß Sie ersuchen zu gehn, Herr.«

Sollte er gehen? Niemals!

»O Geschlecht der Blinden und Tauben!« rief er, indem er die Stimme erhob, um über die lauernden Kellner hinweg die zerstreuten Gäste zu erreichen. »Erkennt ihr mich denn nicht? Habt ihr weder Erinnerungen noch Gesichte? Seht ihr denn nicht das Licht, das sich euch darbietet? Könnt ihr den Ruf nicht vernehmen, der durch die ganze Welt erzittert? Die Stunde ist gekommen, da ihr erwachen sollt. Heute, jetzt sollt ihr erwachen. Ihr sollt aufhören, Sklaven der Gewohnheit, der Knechtschaft zu sein. Ihr sollt Meister einer neuen Welt werden. Jetzt! In diesem Augenblick. Wollet mit mir die Verwandlung, und die Verwandlung ist über euch! Sargon ruft euch, der Uralte und Ewige, der weise Herrscher und der Kühne, zum Licht, zu Edelmut, zu Freiheit –«

»Ich bedaure, wir können Sie hier keine Reden halten lassen«, sagte der Direktor mit ausgestreckter Hand.

»Werfen wir ihn hinaus«, sagte ein kurzer, untersetzter Kellner.

»Werft ihn hinaus!« rief der anti-bolschewistische Geschäftsmann, indem er aufstand, und während seine Stimme voll Unwillens an Stärke zunahm, fuhr er fort: »Und dann bringt uns unser Hühnerfrikassee. Wir warten jetzt schon zehn Minuten auf dieses Hühnerfrikassee!«

Darauf ließ sich eine Stimme hören: »Was gibt es hier?« Und plötzlich stand ein Polizist neben Sargon und überschattete ihn.

Ein Schauder durchzuckte seine Seele, ein Schauder, der vollkommen Preemby war. Während seines ganzen tugendsamen Lebens war er nicht ein einziges Mal mit der Polizei in Konflikt geraten. ‹O Herr! o Herr!› rief dieser Schauer in seiner Seele. ‹Was habe ich getan? Jetzt werde ich eingesperrt werden!› Seine blauen Augen weiteten sich, und er schnappte nach Luft, doch niemand merkte, wie nahe er dem schmählichsten Zusammenbruch war. Preemby schauderte und ging vorüber. Sargon rang nach Atem und sprach dann mannhaft: »Was ist das, Schutzmann?« sagte er. »Wollt Ihr Hand anlegen an den Meister der Welt?«

»Es ist meine Pflicht, Herr, falls er eine Störung verursacht«, sagte der Polizist. »Meister oder nicht Meister.«

Auffallend rasch fand sich Sargon in diese neue Wendung der Dinge. Er war geschlagen. Er sollte abgeführt werden. Ja, aber er war noch immer Sargon. Die ‹Macht›, die über ihm waltete, hatte ihn in Erniedrigung gestoßen, aber das konnte nur sein, um ihn zu prüfen. Er hatte das nicht von der ‹Macht› erwartet, doch da es die ‹Macht› so wollte, mußte es geschehen.

»Sie wissen, Schutzmann, was das, was Sie tun, bedeutet?« sagte er großartig und sanft.

»Vollkommen, Herr. Ich hoffe, Sie werden uns nicht viel Unannehmlichkeiten machen.«

Ein Gefangener! So hatte er sich die Offenbarung des Meisters nicht vorgestellt. Er ließ einen letzten Blick über die reiche Dekoration des großen Restaurants gleiten, in dem das Eröffnungsbankett hätte stattfinden sollen. Nicht hier denn, sondern in irgendeinem schmutzigen Polizeigericht sollte das neue Reich der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit verkündet werden.

Schweigend wandte er sich um und ging gelassen an des Polizisten Seite hinaus, tief in Gedanken versunken.

6

So endete Sargons erster Versuch, in sein Reich einzugehen. Wenn wir nicht den Besuch im Buckingham-Palast als seinen ersten Versuch betrachten.

Bevor wir jedoch darangehen, von den unerwarteten und schrecklichen Erlebnissen zu berichten, die er nunmehr hatte, müssen wir ein oder zwei geringfügigere Vorfälle bei seiner Gefangennahme erwähnen.

Einer ist das Gehaben Herrn Kama Mobambas. Er beobachtete die letzten Vorgänge im Restaurant mit wachsendem Erstaunen auf seinem großen Bronzegesicht. Hatte ihn dieser kleine blauäugige Mann am Ende falsch geführt? Als Sargon schließlich abgeführt wurde, machte Herr Mobamba zuerst eine Bewegung, als ob er noch halb geneigt wäre, ihm zu folgen. Dann stand er still, runzelte nachdenklich die Stirn und tappte nach seiner Brieftasche. Mit einiger Anstrengung zog er endlich das Blatt Papier heraus, das seinen einzigen verständlichen Zusammenhang mit London zu bilden schien; es befand sich jetzt in ziemlich zerknittertem Zustande. Indem er es mit seinen großen Händen geradestrich, ging er auf den Direktor zu und hielt es ihm ausgebreitet vor.

»Was ist das?« fragte der Herr Direktor.

Der schwarze Herr verbeugte sich mit unendlicher Grazie, sein Papier noch immer darbietend. »Nicht sprechen englisch«, sagte der schwarze Herr. »Portugiesisch. Lean-a-Kay. Lemonallstrass.«

Es war schwierig, ihm den Weg zu beschreiben.

Inzwischen leugnete Bobby in der Eingangshalle schweigend jede Bekanntschaft mit Sargon. Er wartete dort noch immer ungeduldig mit Willy, durch eine neugierige, halb mütterliche Besorgnis festgehalten. Die Kriegsentlassenen waren beim Erscheinen der Polizei ‹verduftet›, um das ausdrucksvolle Wort des Mannes mit der Drehorgel zu gebrauchen; der Mann in Trauer war verschwunden, was er angerichtet hatte, war weggeräumt worden; doch gab es noch eine ganze Anzahl von Leuten, die in einem Zustand unbestimmter Erwartung herumstanden, und der junge Reporter war eben auf der Suche nach jemandem, der die seltene und dunkle Sprache von Oldham verstand, um sich die Richtigkeit der Tatsachen beglaubigen zu lassen. Außerdem waren einige Polizisten anwesend; einer, augenscheinlich höheren Ranges, war ein recht hübscher Mann in Pickelhaube und mit Schnüren besetztem Rock.

»Hier kommt er!« sagte Willy, und Sargon wurde hinausgeführt.

Als er durch die Halle nach der Drehtür schritt, herrschte Stille im Raum. Und auf Sargon, so schien es Bobby, ruhte eine bisher unbekannte Würde. Er schaute weder zur Rechten noch zur Linken, seine Augen waren ungewöhnlich traurig.

»Aber was werden Sie mit ihm machen?« fragte Bobby.

»Sie kennen ihn nicht zufällig, Herr?« fragte der Polizei-Inspektor unvermutet.

»Nicht im mindesten«, sagte Willy, indem er Bobby die Antwort aus dem Mund nahm. »Wir haben ihn nie zuvor gesehn. Wir sind bloß hereingekommen, um zu sehn, was los ist.«

Und durch sein Schweigen stimmte Bobby bei.

»Ich bin nicht ermächtigt, Sie von hier fortzuschicken«, sagte der Polizist und gab Willy durch ein Lächeln die Unerwünschtheit ihrer Anwesenheit zu verstehen. Darauf bedeutete er seinen Trabanten, daß ihre Arbeit hier beendet sei.

»Wir gehen besser nachhaus«, sagte Willy, das Lächeln interpretierend.

7

Die drei Freunde saßen in dem weißen Zimmer mit den violetten Vorhängen ums Feuer und Bobby gab seiner Reue darüber Ausdruck, daß er Sargon verleugnet hatte. »Sie haben ihn abgeführt, Tessy,« sagte er zum dritten Male, »und ich weiß nicht, was sie mit ihm anfangen werden.«

»Sie werden ihn mit einer Verwarnung entlassen«, sagte Willy, der ein Reißbrett auf den Knien hielt. »Er hat sich, soweit ich die Sache beurteilen kann, kein besonderes Vergehen zuschulden kommen lassen.«

»Und dann?« fragte Bobby und blickte nachdenklich ins Feuer.

»Ich will aufs Polizeigericht gehen und versuchen, ob ich ihn wieder aufgabeln kann, wenn sie ihn laufen lassen«, sagte er nach einer Weile.

»Laß das lieber bleiben«, sagte Willy.

Tessy saß in einem Lehnstuhl zwischen Willy und dem Feuer und schaute nach Bobbys gedankenschwerem Profil hinüber. Ihr Gesicht sah im warmen Halbdunkel allerliebst aus, aber keiner beachtete es.

»Sie werden ihm eine Verwarnung erteilen, und er wird aus eigenem Antrieb hierher zurückkommen, Bobby«, meinte Tessy tröstend.

»Bestimmt wird er zurückkommen«, sagte Willy.

»Höchstwahrscheinlich, Tessy«, sagte Bobby. »Wenn man ihn aber nicht laufen läßt?«

Er stand auf und trat ans Feuer. »Ich sollte hinaufgehen und was arbeiten.«

»Jawohl, das solltest du«, sagte Willy.

»Was macht denn der Roman?« fragte Tessy.

»Ich hab' noch nicht sehr viel daran gearbeitet«, sagte Bobby. »Der Prophet hat mich am Schreiben gehindert. Aber ich hab' eine Menge Dinge gelernt, die ich eines Tages verwerten werde. Auch hab' ich mein ganzes Tante-Susanna-Zeug zu machen. Tante Susanna wird von Tag zu Tag populärer. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Sachen sie mich fragen. Das ist lauter Material für später. Immerhin – es nimmt einem Zeit ... Wahrscheinlich haben sie ihn irgendwo in eine scheußliche kleine Zelle gesperrt. Und er wundert sich, warum sie nicht sehen, daß er wirklich der große Sargon ist, der wiedererstandene Sargon ... Willy, die Welt ist ein gefährlicher Ort, ein gefährlicher, unfreundlicher Ort. Warum hat man ihn nicht ein wenig herumtoben lassen? Und seine arme kleine Landkarte der ‹ganzen Welt› oben – er nannte sie immer ‹die Karte der ganzen Welt› – und sein kleiner Sternenhimmel aus Papier und sein armes, kleines, leeres Zimmer und sein armes, kleines, leeres Bett.«

»Ich protestiere«, sagte Willy und legte sein Reißbrett nieder. »Bobby, du bist ein Fall krankhafter Sympathieauswüchse. Du hast eine neue Krankheit. Du bist der typische Fall von Bobbyismus. Es ist schon schlimm genug, daß du mit dem kleinen Racker, dem Suschen, offenkundig Mitleid hast, wenn ich sie durchgewichst hab', und so meine ganze Erziehung zunichte machst. Es ist schlimm genug, daß du ungefähr ein Drittel von Frau Richmans Arbeit tust, bloß weil sie Licht und Luft braucht. Ich kann sogar noch etwas von deinen gefühlvollen Beziehungen zu diversen verlaufenen Katzen und Tauben verstehen. Aber wenn die Sache so weit geht, daß du wegen eines armen, kleinen, leeren Miethausbettes traurig bist, dann ist es mir zu viel. Unbedingt, Bobby; das ist mir zu viel. Armes, kleines, leeres Bett! Es ist – es ist krankhaft, Bobby.«

»Aber er dachte doch natürlich an Sargon«, sagte Tessy. »Wirst du morgen zum Polizeigericht gehn, Bobby?«

»Ich werde hingehen – trotz Willy. Es macht mir nichts, wenn es auch eine Krankheit ist. Ich bin unruhig wegen dieses kleinen Mannes. Ich bin in Sorge um ihn. Er ist zu rundäugig für diese grausame Welt.«

Und am nächsten Morgen ging Bobby auf das Polizeigericht am Lemonplatz, saß einen frostigen Morgen lang dort und wartete auf Sargon, der nicht erschien. Er sah ‹Frühbetrunkene› und dergleichen Leute mehr vor Gericht erscheinen, hörte eine Verhandlung über gestohlene Sodawasserflaschen an, ferner zwei über Ehezwistigkeiten, sowie die ganze Geschichte eines Mannes, der, angeblich in der Absicht zu rauben, eine Spiegelglasscheibe zerschlagen hatte; von Sargon aber hörte er nichts. Der Polizeirichter verschwand, und der Gerichtshof begann sich zu zerstreuen. Er befragte einen Polizisten, der niemals etwas von Sargon und dem Vorfall im Rubicon-Restaurant gehört hatte. Ob er denn auf das richtige Gericht gekommen sei, fragte ihn der Polizist. Bobby lief schleunigst nach der Mintonstraße. Auch in der Mintonstraße hatte man nie von Sargon gehört. Es fiel Bobby nicht ein, in einer der Wachstuben nachzufragen. Er kehrte enttäuscht nachhause zurück. Er versuchte, in den Abendblättern etwas über Sargon zu finden; es war nicht eine Zeile über das Rubicon oder ihn darin. Vielleicht war er nicht bestraft worden! Er eilte nachhause und stürmte voll banger Ahnungen hinauf; das Zimmer war leer, das Fenster offen, die Karte der Welt lag auf dem Fußboden. War Sargon aus dem Leben geschwunden und unter die Geister gegangen?

Der nächste Tag brachte weder Sargon noch Nachrichten von ihm. Bobby lag die Nächte hindurch schlaflos.

Nach drei vollen Tagen bemerkte Willy, der seinen Freund heimlich beobachtet hatte, so nebenbei: »Warum gehst du nicht zu dem Oberbonzen auf der Polizeiwachstube am Lemonplatz? Der muß doch alles wissen.«

In das Zimmer des Inspektors Mullins gewiesen, sah sich Bobby jenem hübschen Beamten gegenüber, den er aus der Eingangshalle des Rubicon-Restaurants kannte. »Sie sind der junge Mann, der vor drei Tagen nichts von ihm wissen wollte«, sagte Inspektor Mullins, ohne auf Bobbys Fragen zu antworten.

Bobby erklärte die Lage aufrichtig.

»Das alles nützt jetzt nicht mehr viel«, sagte der Inspektor. »Doch ist alles in Ordnung. Wir haben ihn nach dem Armenhausspital gebracht – zur Untersuchung seines Geisteszustandes. Die Leute bleiben drei Tage dort. Dann werden sie entweder qualifiziert oder laufen gelassen. Oder bestraft.«

»Qualifiziert?« fragte Bobby.

»Als Irrsinnige«, sagte Inspektor Mullins.

»Und was ist mit ihm geschehen?«

»Was gewöhnlich geschieht, wahrscheinlich. Er war ein ziemlich klarer Fall. Er dürfte heute als irrsinnig erklärt worden sein und befindet sich jetzt wahrscheinlich bereits in Cummerdownhill oder auf dem Weg dorthin. Oder wenn es dort voll ist – irgendwo anders.«

»Ach!« sagte Bobby, »so schnell!«

Verstört saß er da. »Kann ich ihn in Cummerdownhill besuchen?« fragte er.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Inspektor Mullins. »Mit Rücksicht darauf, daß Sie nicht zur Verwandtschaft gehören.«

»Ich habe Interesse an ihm.«

»Es ist nicht Ihre Sache.«

»Ganz richtig. Aber ich hab' ihn gern. Und ich glaube nicht, daß er wirklich verrückt ist ... Seine Leute scheinen sonderbar zu sein – wissen Sie irgendwas über seine Leute? Vielleicht könnte ich zu ihnen gehen und mit ihnen über seinen Fall sprechen?«

»Gewiß«, sagte der Inspektor. »Ich weiß nicht, wer sie sind. Sie könnten es im Armenhausspital oder in Cummerdownhill erfahren. Ich weiß es nicht. Höchstwahrscheinlich wissen sie auch dort nicht, wer seine Leute sind. Es gibt alle möglichen Strabanzer auf der Welt. Vielleicht hat er gar keine Verwandten – Verwandte, die sich um ihn kümmern, meine ich. Ich glaube, wenn einer einmal als verrückt erklärt und abgeschafft worden ist, so wird es für einen Außenstehenden ziemlich schwer sein, zu ihm zu gelangen. Aber Sie können es ja versuchen. Leider kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Ich selbst habe ihn überhaupt nicht gesehen – außer als er an mir vorüberging. Die Angelegenheit gehört nicht in mein Ressort ...

Jawohl, das ist unser übliches Vorgehen in einem solchen Fall ... O! bitte sehr, gerne geschehen. Guten Morgen.«

Aufrecht und vierschrötig, eine Verkörperung unversöhnlichen, unparteiischen Gesetzes und Rechtes, blieb er sitzen.


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