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Was haben denn heute die da droben, daß sie so lustig sind?« fragte des Posthalters Zimmermädchen am Marktbrunnen des ehemaligen Reichsstädtchens, wo sie eine Wasserflasche bedächtig gespült und wieder gespült hatte und nun unter der Röhre übervoll laufen ließ. Ihre Frage begleitete sie mit einer Bewegung des hübschen Köpfchens, welche über die Schulter rückwärts nach einem der Post gegenüber liegenden Hause wies, dessen schmale Giebelseite dem kleinen Marktplatz zugekehrt war. Aus einem offenen Fenster im ersten Stock dieses Hauses kam wiederholt das überlustige Lachen einer Männerstimme, begleitet von klatschenden Tönen, wie wenn jemand einen ledernen Gegenstand bearbeitet. Unter dem besagten Fenster war eine hölzerne Tafel angebracht, auf welcher zwischen den naturgetreuen Abbildungen einer Lederhose, eines Hosenträgers und einer Kappe zu lesen stand: »Gebrüder Hölzle, Seckler und Kappenmacher.« Und unterhalb der Tafel zu ebener Erde zeigte eine Ladenthüre und ein kleines Schaufenster ähnliche Gegenstände, wie sie auf der Tafel abgemalt waren.
»Die tragen doch sonst ihren Namen Hölzle nicht zum Spaß! Weiß der Kukuk, was heute in die steifen Hölzer gefahren ist!« sagte das Mädchen wieder, erhielt aber eben so wenig als auf ihre erste Bemerkung eine Antwort von derjenigen, an welche sie ihre Worte richtete. Die Letztere, nach dem Stoff und Schnitt der sauberen Kleidung zu schließen eine Hausmagd, hob vielmehr schweigend eine blanke Wassergölte auf den Kopf und schritt einem stattlichen Hause neben der Post zu, dessen reichgeschnitzte Eichenthüre mit dem metallenen Klopfer nebst den Erkern und kunstvoll gearbeiteten Fensterverkleidungen das alte Patrizierhaus erkennen ließen.
Das Zimmermädchen rümpfte ein wenig die Nase und hüpfte dann mit ihrer Wasserflasche der Post zu, nicht ohne noch einmal einen Blick nach dem Fenster der Gebrüder Hölzle zu werfen.
Auf der Bank am Thorweg der Post saßen zwei Fremde in der milden Sonne des Septembermorgens – es war in den vierz'ger Jahren – und musterten, während der Postillon die Pferde an ihren Reisewagen schirrte, noch einmal den Marktplatz und was sich darauf bewegte. Die Augen des Aelteren folgten der Magd, die nach dem Hause nebenan schritt, und lebhaft sagte er:
»Alle Wetter, Freund, dort sehen Sie hin! Das sieht man sonst nur in Rom, in Deutschland jedenfalls nicht unter unsern Modedamen! Diese Gestalt, diese Haltung, und wie der Kopf auf dem kraftvollen Halse sitzt und seine Last trägt! Und wie sie gehen kann – ein Frauenzimmer, das gehen kann, sieht man auch nicht alle Tage bei uns zu Land!«
Die Besprochene war inzwischen an der Thüre des Erkerhauses angelangt, und während sie dieselbe öffnete, wandte sie den Fremden einen Augenblick das Gesicht zu.
»Das Gesicht stimmt zum Uebrigen,« erwiderte der Jüngere der Beiden – »kräftig geschnittene, regelmäßige Züge, ein herbgeschlossener, nicht unfeiner Mund – sehr jung ist das Mädchen nicht mehr und in ihrem Gesichte glaubt man eine Geschichte zu lesen.«
»Sie haben gute Augen, so scharf sehen die meinigen nicht mehr,« gab der ältere Herr lächelnd zurück. »Wenn die Pferde nicht schon angespannt würden, möchte ich sagen: forschen Sie der Geschichte nach, sie lohnt sich vielleicht.«
Inzwischen war der Posthalter herzugetreten, hatte die Unterhaltung seiner Gäste halb mitangehört und begann nun gesprächig:
»Sie reden von dem Mädchen da drüben, Herr Professor, von der Lore? Hm, eine Geschichte wäre von der vielleicht zu erzählen, wenn man sie nur wüßte. Aber das ists gerade: kein Mensch weiß eigentlich hier, wer und was sie ist, und sie selbst ist so stolz wie eine Gräfin und gibt nicht viel Red und Antwort. Die Liese, unser Zimmermädchen, ärgert sich alle Tage darüber. Nemlich – Sie wissen ja, das Haus daneben gehört einem alten Herrengeschlecht unserer Stadt – die Familie ist aber herabgekommen – von Mohr schreibt sie sich, Sie haben ja wohl den Mohren in dem Wappenschild über der Thüre gesehen und die vielen geschlossenen Fensterläden an dem großen Hause sind Ihnen wohl auch aufgefallen, nicht? Nun wissen Sie, meine Herren, das alte Fräulein von Mohr wohnt ganz allein noch im Hause und ist – wenns wahr ist – die letzte ihres Geschlechtes; sie ist eigentlich arm wie eine Kirchenmaus, manche Leute nennen sie auch geizig, aber sie hält noch etwas auf ihren Stand und ist auf ihre Art noch stolzer als die Lore – das heißt, verstehen die Herren, auf eine ganz andere Art! Nun, die Lore hat das Fräulein einmal von einer Badereise mitgebracht als ihre – ja, was weiß ich? Ob die Lore Kammerzofe oder Zimmerjungfer oder Küchenmagd oder Laufmädchen oder – kurzum, sie thut alle Dienste, seit das Fräulein ihre letzte Köchin fortgejagt hat, und ist wahrhaftig die einzige Bedienung im Hause. Eine alte Kutsche hat das Fräulein noch, aber Kutscher und Pferde muß ich stellen, wenn einmal ausgefahren wird. Und dann – –«
Der Posthalter unterbrach seinen Redestrom und wandte sich um. Aus dem Hause gegenüber erscholl wieder das Gelächter, ein Kopf zeigte sich für einen Augenblick am Fenster und dann ertönte ein Gerumpel, wie wenn Stühle hin- und hergeworfen würden, dazwischen wieder das Klatschen wie von einer ledernen Hose.
»Na, na, was haben denn die heute?« sagte nun auch der Posthalter, »die Liese hat vorhin schon gesagt, da drüben müsse es heute rappeln! – Sie müssen nemlich wissen, meine Herren,« fuhr er fort, während die Fremden sich belustigt ansahen, »das gehört in den Kalender oder ins Kamin, wenns da drüben lebhaft hergeht. Sie sehen, da ist ein Secklergeschäft und das gehört zwei ledigen Brüdern, die keine heurigen Häslein mehr sind. Heißt das, der jüngere, der Konrad ist kaum in den Dreißigen, der andere, der Philipp hat schon das Schwabenalter hinter sich. Der Alte, der Philipp Konrad Hölzle, ist ein Schulkamerad von mir gewesen – ein guter Kerl war er und verstand sein Geschäft – aber schon in der Schule hat er immer so was Besonderes gehabt – wissen Sie, dazumal hatten wir noch eine Lateinschule und auch die Bürgerssöhne giengen darein, wenn sie gleich später nichts anderes lernten als das Handwerk ihres Vaters. Nun also, der alte Hölzle – ja, was soll ich sagen? Wer ihn nicht gekannt hat, dem ist schwer im Handumdrehen ein Vers auf den Mann zu machen – die Herren wollen abfahren? O, es hat noch Zeit, der Postillon fährt gut – also, wissen Sie, nur noch so viel: aus dem Hölzle wäre vielleicht was anderes geworden als ein Seckler, aber die Verhältnisse littens nicht. ›Still und steif‹ hieß ihn schon unser Präceptor, und so war er sein Leben lang und so waren seine beiden Buben und sinds bis auf diesen Tag geblieben, der Philipp wenigstens, der Aeltere. Der Konrad war so mit achtzehn, zwanzig Jahren ein ziemlich lustiger Bursch, mehr seiner munteren Mutter Art, dann gieng er auf die Wanderschaft, inzwischen starb die Mutter und einige Jahre darnach auch der Vater, und wie er todt war, kam der Bankerott heraus. Man hat damals so allerlei geredet, auch von den Leuten da nebenan, von den Mohr'schen munkelte man etwas bei dem Handel – nun das interessirt die Herren nicht – kurz: es ist mir heute noch nicht recht klar, wie das schöne Geschäft des alten Hölzle so in Gant kommen konnte. Die Bauern von der ganzen Gegend kaufen ja dort ihre Lederhosen und Kappen. Nun also, der Philipp übernahm das Bischen, was aus der Gant übrig blieb, und trieb das Geschäft weiter, die Gläubiger, die im Gantverfahren nicht befriedigt werden konnten, hat er sich aus freien Stücken noch auf den Hals geladen. Nöthig hätt' ers nicht gehabt, aber er sagte öffentlich, er wolle keinen Flecken auf seines Vaters Namen lassen. Ein halb Jahr darnach kam auch der Konrad von der Wanderschaft zurück, aber ganz anders als er gegangen war. Jetzt war er grad so steif und still wie der Philipp und der Alte selig. Und so haben sie die fünf Jahre seither mit einander gearbeitet, steif und still, wie sie sind! Sie gehen nicht unter die Leute, am Werktag arbeiten sie, am Sonntag Vormittag geht der Philipp immer, der Konrad oft in die Kirche, am Nachmittag gehen sie spazieren an die Wasserfälle im Tobel draußen, immer den gleichen Weg, und Abends gehen sie zeitig zu Bett – kaum daß einmal der Konrad noch vorher einen einzigen Schoppen trinkt. Aber das Geschäft geht wieder und die Schulden werden zum Theil schon abbezahlt sein. Nun, sehen Sie, meine Herren, es ist da eigentlich nicht viel dran an der Geschichte, aber merkwürdige Leute sind sie doch, die Gebrüder Hölzle – und was die heute an einem Montag Vormittag für einen Lebtag verführen, was der Konrad zu lachen hat wie vor zwölf Jahren – und das Gepatsch und Gerumpel – das ist doch ein Ereigniß im Städtchen. Die Herren verzeihen, daß ich sie so lang aufgehalten habe – nun glückliche Reise, meine Herren, geben Sie mir übers Jahr wieder die Ehre – Sie kommen doch wieder, Herr Professor? Diener, meine Herren! Glückliche Reise!«
Damit schloß der Posthalter den Schlag des Wagens, in welchen die Fremden inzwischen eingestiegen waren, der Postillon knallte mit der Peitsche die Räder rasselten auf dem ehemals reichsstädtischen Pflaster davon und der alte Professor im Wagen sagte lachend zu seinem Begleiter: »Machen Sie eine Geschichte daraus, Doktor! Die Lore können Sie auch hineinbringen.«
»Wer weiß, ob sie nicht schon drin ist,« erwiderte der Andere nachdenklich.
Der Posthalter hatte Recht: es gieng an diesem Morgen etwas ganz außerordentliches vor in der Stube der Gebrüder Hölzle. Diese Stube war Wohnstube und Werkstatt zugleich, eine Kammer nebenan diente als gemeinsames Schlafgemach, die andern Gelasse desselben Stockes und der obere Stock waren seit dem Tode des alten Hölzle vermietet. In der Wohnstube oder Werkstatt aber saßen an diesem Montag Vormittag gegen elf Uhr die Brüder Philipp und Konrad Hölzle nicht bei der Arbeit an Kappen und Lederhosen wie sonst, sondern – beim Wein. Und sie waren lustig, wie sichs beim Weine ziemt; auf Philipps langgeschnittenem glattrasirtem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln und er pfiff zuweilen leise vor sich hin, Konrad lachte unter seinem kurzgehaltenen militärischen Schnurrbart mit herzhaft geöffnetem Munde und aus vollem Halse, während er von Zeit zu Zeit mit einer alten Bauernlederhose, die zum Ausbessern auf einem Stuhle lag, einige klatschende Hiebe über diesen Stuhl zog.
Der Grund dieser verwunderlichen Ausgelassenheit schien sich deutlich in einer geleerten und einer halbgeleerten Weinflasche auf dem Tische darzustellen; der Staub, der an den Flaschen hieng, konnte als gutes Zeugniß für ihren Jahrgang gelten, und daß ein guter Tropfen die des Weines so wenig gewohnten Brüder ungewohnt lustig machen konnte, war nicht minder begreiflich. Doch mußte auch die Anwesenheit der Weinflaschen selbst hinwiederum ihren besonderen Grund haben, und dieser war folgender:
Am gestrigen Sonntag Nachmittag hatte Philipp an Stelle des gewohnten gemeinsamen Spaziergangs allein einen Gang in die Nachbarstadt gemacht und dort den letzten Schuldenrest an den letzten Gläubiger bezahlt. Konrad aber war indessen zu Hause gesessen, hatte die Geschäftsrechnungen und die Kasse sorgfältig noch einmal durchgeprüft und war zu dem erfreulichen Ergebniß gekommen, daß nicht nur das Geschäft nunmehr gänzlich schuldenfrei sei, daß vielmehr nach Abzug aller für die nächste Zeit nöthigen Ausgaben noch fünfunddreißig blanke baare Gulden völlig übrig, als reine Ersparniß daliegen.
Vor Jahren, als der alte Hölzle noch der wohlhabende Secklermeister, Philipp sein stillzufriedener Geselle und Konrad der muntere Lehrbube gewesen war, oder auch später auf sorgenloser Wanderschaft und zwischenhinein in den Militärjahren hätte Konrad sich nie träumen lassen, daß er einmal fünfunddreißig Gulden mit solcher Andacht betrachten werde, wie er es an diesem Sonntag Nachmittag that. Aber die fünf Jahre, die er seit dem Tode des Alten, an der Seite des stillen Philipp selbst immer stiller werdend, gearbeitet und geknausert hatte, um den Namen Hölzle von jedem Flecken unbezahlter Schulden zu reinigen und das Geschäft der Väter wieder empor zu bringen – diese fünf Jahre hatten ihn das Geld mit andern Augen ansehen gelehrt. Wer freilich genau und aufmerksam in seine Augen geblickt hätte, dem hätte es scheinen können, als ob zuweilen noch etwas anderes drin wetterleuchte als nur die stille ehrbare Sorge um Namensehre und Geschäft, die den Bruder Philipp umtrieb – etwas wie ein im Stillen kochender Groll, ein verbissener Schmerz.
Und auch jetzt, nachdem er die fünfunddreißig Gulden eine Weile so behaglich schmunzelnd betrachtet hatte, wie es sein Bruder nicht hätte behaglicher thun können, schob er den Mammon plötzlich mit einem Ruck zur Seite, daß eines der Guldenstücke über den Tischrand auf den Boden rollte, trat mit finsterer Miene ans Fenster und sah auf den Marktplatz hinunter, auf dem's sonntagnachmittäglich leer und still war. Nur zwei junge Hunde jagten und balgten sich um die Brunnenstufen und nach einer Weile kam die Postliese mit ihrer unvermeidlichen Wasserflasche und begann sie zierlich und kokett zu spülen und füllen. Dabei unterließ sie nicht, dann und wann einen Blick heraufzuwerfen, ohne daß jedoch Konrad ihn beachtet hätte. Als aber drüben an dem Erkerhause neben der Post der eine der großen Thorflügel sich langsam zu öffnen begann, da wandte sich Konrad rasch ab, ohne abzuwarten, wer aus der Thüre trete. Er rückte sich zurecht, als hätte eben sein alter Hauptmann »Stillgestanden« kommandirt, dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirne, versuchte zu lachen und brachte es auch glücklich zu Stande, hob den zu Boden gefallenen Gulden auf, verschloß ihn mit sammt seinen Kameraden und den zugehörigen Schriftlichkeiten in die alte Kommode – und nach einer Viertelstunde saß er vor der Stadt draußen auf dem Bierkeller. Als er mit Sonnenuntergang nach Hause kam, hatte er drei Schoppen getrunken anstatt des einen, den er sich sonst zuweilen an Sonntagabenden gegönnt hatte, und auch Philipp, der inzwischen nach Hause gekommen war, hatte so glitzerige Aeuglein, als hätte er unterwegs seiner Zufriedenheit mit ein klein wenig geistigem Getränke höheren Schwung gegeben.
Die beiden Brüder sahen sich an, als wollte der eine den andern fragen, was ihn so fröhlich mache, dann sagte Philipp:
»So weit wären wir, Konrad!«
»Ja, aber –« versetzte Konrad.
»Was – aber?«
»Es sind ja noch fünfunddreißig Gulden übrig!« Und damit machte Konrad Licht, schloß die Kommode auf, zählte die blanken Gulden dar, legte das Rechnungsbuch daneben und wies mit dem Finger auf die Stelle, wo der ziffermäßige Beleg für seine Behauptung zusammengestellt war.
Die Buchführung war nemlich ausschließlich Konrads Sache; Philipp war zwar, wie man sich heutzutage großartig ausdrücken würde, der eigentliche Chef des Geschäftes, aber in den althergebrachten soliden Handwerksgriffen war er bewanderter als im Schriftlichen. In die Welt war er nicht viel weiter hinausgekommen als der »Peter in der Fremde« selig; Konrad dagegen hatte von der Wanderschaft nicht nur manche neue, dem Bruder stets etwas verdächtige Handwerkskunst, sondern auch die Kenntniß der Buchführung mitgebracht, soweit sie für ein Secklergeschäft nöthig war.
Darum verzichtete Philipp darauf, die Rechnungszusammenstellung nachzuprüfen, er faltete nur die Hände und sagte:
»Das habe ich ja gar nicht gewußt!«
»Nun, jetzt weißt Du's,« erwiderte Konrad; »und jetzt sag: was fangen wir mit dem Geld an?«
Auf diese Frage war Philipp nicht vorbereitet, aber daß etwas mit dem Gelde angefangen werden müsse, dieser Gedanke schien ihm seines gereisten Bruders würdig. Er schwieg nachdenklich und ließ die Daumen umeinander laufen.
Konrad aber begann mit einer Redseligkeit, die den Philipp verblüffte und an welcher jedenfalls die drei Schoppen Bier nicht ohne Antheil waren, eine Reihe von Verwendungsmöglichkeiten zu entwickeln, zu beleuchten, schließlich aber als völlig unpraktisch darzuthun. Für einen lustigen Abend war die Summe doch zu groß und das Brüderpaar zu solid; für eine namhafte Geschäftserweiterung war sie zu klein, auch war dafür kein ausreichendes Bedürfniß vorhanden; das Geld den Armen zu geben, schien zwar großmüthig aber doch etwas über die Verhältnisse, zudem gabs in der glücklichen Stadt nur wenige Ortsarme und diese wurden von dem überreichen Spital überreichlich versorgt; eine fromme Stiftung aus Herzensfreude und Dankbarkeit wäre wohl auch etwas schönes gewesen, aber vielleicht hätten dabei, wie man ja Beispiele hatte, die Verwaltungskosten sich gerade mit dem jährlichen Zins gedeckt; zu einer Kapitalanlage war die Summe wieder zu klein, sie aber unumgetrieben liegen zu lassen, war nicht geschäftsmännisch. Kurz, es gab so viele Für und Wider, als es nur bei einer wichtigen Angelegenheit geben kann, welche unerwartet den einförmigen geweisten Weg des strengen Pflichtlebens kreuzt.
Philipp hörte Konrads Auseinandersetzungen so aufmerksam und ernsthaft an, als ob im Landtage eine neue Steuervorlage erörtert werde, und sah gar nicht, daß um Konrads Mund doch zuweilen der Schalk spielte, der vor Jahren dort manchmal zu Gaste gewesen, seit langem aber in Vergessenheit gerathen war wie ein entfernter Bekannter, der sich nicht mehr sehen läßt.
»Kurzum,« schloß Konrad, »etwas ganz besonders Gescheites muß mit dem Glücksgeld angefangen werden. Aber was, darüber wollen wir zuerst einmal schlafen.«
Da Philipp nicht besseres wußte, so stimmte er dieser Meinung bei und nicht lange darnach lag Konrad in einem Schlafe, wie ihn nach ärztlicher Meinung ein wirklich gutes Bier befördern soll. Philipp dagegen fand lange keinen Schlaf; ihm, dessen Wünsche nie weit über Ehre und Solidität des väterlichen Geschäftes hinausgegangen waren, stand die besprochene Angelegenheit mit viel höherer Wichtigkeit vor der Seele als dem Bruder, dessen gesunder Schlaf ihm fast wie Leichtsinn erscheinen wollte. Es war ihm, als hänge an der Verwendung der fünfunddreißig Gulden das ganze künftige Geschick des Hauses Hölzle und als sei er, der zeitige Vorstand des Hauses, hiefür verantwortlich. Und mit dem vollen Bewußtsein dieser Verantwortlichkeit kam ihm auch die Erleuchtung – ja eine wahrhaftige Erleuchtung, denn im selben Augenblick, da er durchs Fenster am nächtlichen Himmel eine Sternschnuppe über den Rathhausthurm hinschießen sah, schoß auch der Gedanke durch seinen Kopf, den er bisher vergeblich gesucht hatte. Und nach dieser Erleuchtung beschloß er zu handeln, selbständig zu handeln als verantwortlicher Vorstand des Hauses Hölzle.
Und so kams, daß am Montag Morgen, als Konrad später denn sonst aber mit hellem Kopf erwachte, Philipp schon von einem Ausgange heimgekehrt war und dem Bruder schweigend aber selbstbewußt die Verwirklichung seines nächtigen Gedankens auf die Bettdecke legte: ein badisches Fünfunddreißiggulden-Loos.
Konrad sah zunächst das Loos und seinen Bruder mit Blicken an, als müsse er sich erst besinnen, um was es sich handle; dann nickte er gleichmüthig, sagte: »wird wohl das Gescheiteste sein, Philipp!« – und legte sich zu Philipps Erstaunen auf die andere Seite, doch nicht um wieder einzuschlafen. Er schaute nur noch eine Weile die Wand an, so wie einer, der bei Nacht einen Traum gehabt hat, dem er am Morgen gern noch ein wenig nachhängt. Gewöhnlich ist aber im schönsten Traum etwas, mit dem man nicht gerne länger zu thun hat, und auch Konrad sprang nach wenigen Minuten mit dem Ausruf: »Dummheiten!« aus dem Bette, und nach kurzer Zeit saßen die Gebrüder Hölzle schweigsam wie sonst am Handwerkstisch einander gegenüber. Aber während dem Konrad sein Geschäft aus der Hand gieng wie alle Tage, ließ Philipp alle Augenblicke sein Handwerkszeug ruhen und schaute vor sich hin oder durchs Fenster hinaus in die blaue Luft. Nach einer Stunde stand er bedächtig auf, nahm einen Schlüssel vom Nagel und gieng zur Thüre hinaus. Als er zurückkam, trug er in jeder Hand eine bestaubte Flasche, und indem er beide dem Konrad kräftig vor die Nase setzte, sagte er: »So!«
Konrad kannte die Flaschen: sie waren neben einem Kartoffelhaufen und einem kleinen Fäßlein mit Apfelmost der einzige Schatz des Hauskellers fünf Jahre hindurch gewesen, sie waren seinerzeit noch von der Hand des Vaters verkorkt und versiegelt worden und Philipp hatte sie aus dem einst gutbestellten Keller des Alten gerettet.
»So!« sagte Philipp noch einmal und seine Stimme wurde weicher als gewöhnlich – »jetzt kann keiner mehr sagen, daß er durch Philipp Konrad Hölzle um einen Heller gekommen sei, und jetzt wollen wir auch einmal lustig sein!« Damit räumte er den Tisch, legte das Fünfunddreißiggulden-Loos in die Mitte desselben, stellte auf jede Seite eine Flasche und holte Gläser.
Die Reihe des Erstaunens über den Bruder war jetzt an Konrad; doch erhob er keinen Einwand, kramte vielmehr schweigend unter altem halbverrostetem Handwerksgeräthe einen Korkzieher hervor und begann die Flaschen kunstgerecht zu öffnen.
Aber mit dem Lustigsein wollte es nicht so schnell gehen; die Brüder stießen wohl an, daß die Gläser klirrten, sie lachten auch beim Anstoßen, doch dann saßen sie schweigend vor ihren Gläsern – sie waren im Banne der Erinnerungen. Bei Philipp mochten diese einfacher Art sein, mochten den Eltern gelten, dem Unglück des Hauses und dann den Sorgenjahren, die jetzt zu Ende waren; und allmählig schienen sich seine Gedanken mehr der Zukunft zuzuwenden, denn sein Blick heftete sich über das Weinglas weg immer fester auf das Fünfunddreißiggulden-Loos und um seinen Mund gieng mehr und mehr ein stillzufriedenes Schmunzeln. Konrad dagegen hatte die Stirn in die Hand gestützt und der Blick, mit dem er in sein Glas starrte, wurde immer trüber, ein Zug finsteren Trotzes gieng über sein Gesicht. Doch der Wein that still aber sicher seine Wirkung – plötzlich richtete sich Konrad auf und mit Lachen rief er:
»Was hast Du gesagt, Philipp? Lustig wollen wir sein! Warum denn nicht? Wir könnens so gut als andere, wir sind ja im hellen Glück! Lustig, trink!«
Und das war der Punkt, wo das ausgelassene Gelächter und das Klatschen mit der Lederhose begann, das in der Nachbarschaft gerechtes Aufsehen erregte.
Es mag dahingestellt bleiben, ob Konrad in seine sonderbare Lustigkeit sich mehr gewaltsam hineinsteigerte, oder ob sie mehr natürliche Folge des Weines war. Philipp aber betrachtete immer zärtlicher das Fünfunddreißiggulden-Loos und endlich sagte er mit nachdenklichem Ernste:
»Du, Konrad, wenn wir nun aber das große Loos gewinnen? Fünfunddreißigtausend Gulden!«
»Dann sind wir reiche Leute,« lachte Konrad, »und schmeißen die Stube zum Fenster hinaus!« Und er machte Miene, schon jetzt mit der Lederhose das Hinauswerfen zu beginnen, begnügte sich aber damit, sie wieder auf den Stuhl zu schlagen.
»Mach' das alte Ding nicht vollends kaput!« sagte Philipp. »Wenn wir also das große Loos gewinnen –«
»Dann schmeißen wir die Stube zum Fenster hinaus!« rief Konrad abermals, sprang auf, sah einen Augenblick durchs Fenster, fuhr aber zurück, als er an einem Fenster des Mohr'schen Hauses das Gesicht der Lore erblickte, warf dann seinen Arbeitsstuhl in der Stube hin und her, als sollte es wirklich nun Ernst werden, und setzte endlich lachend seine zweckmäßige Bearbeitung der Lederhose fort.
Philipp schüttelte den Kopf und sagte: »Du, Konrad, jetzt ist's aber genug! Man meint ja in der Nachbarschaft, wir seien übergeschnappt. – Ich glaube, wir haben zu viel getrunken,« setzte er dann kleinlaut dazu.
»Kann sein!« sagte Konrad, gleichfalls in verändertem Tone, und setzte sich schweigend wieder dem Bruder gegenüber. Es wurde eine Zeit lang sehr still in der Stube; Konrad machte ein Gesicht, als schäme er sich, dann biß er sich grimmig auf die Lippen. Philipp aber versank wieder in nachdenkliche Betrachtung des Fünfunddreißiggulden-Looses und nach einer Weile begann er aufs neue:
»Es ist aber doch möglich, daß wir das große Loos gewinnen!«
»Meinethalb!« sagte Konrad.
Wieder eine Pause; dann fragte Philipp:
»Und was thun wir dann?«
»Ich hab's gesagt: dann schmeißen wir die Stube zum Fenster hinaus –«
»Dummes Zeug!«
»Oder Du kannst endlich einmal heiraten.«
»Ich?«
»Und Du auch!«
Konrad gab keine Antwort mehr; in Philipp schien aber doch die gegebene Anregung fortzuwirken, er lächelte immer vergnügter in sich hinein, kratzte sich zuweilen in den Haaren und sagte endlich:
»Wenn einer von uns heiraten wollte – das könnt' man vielleicht jetzt schon.«
»So thu's«, sagte Konrad verdrossen. »An Dir ists zuerst und für Dich ists höchste Zeit!«
»Höchste Zeit? Ich konnte aber doch nicht heiraten, ehe die Schulden abbezahlt waren.«
»Jetzt sind sie aber abbezahlt und das große Loos können wir auch noch gewinnen!«
Die Brüder schwiegen abermals, jeder hieng seinen Gedanken nach; bei Konrad war gar nichts mehr von seiner Lustigkeit zu spüren, Philipp aber wurde offenbar innerlich immer vergnügter. Bald fieng er wieder an, diesmal etwas stockend und schüchtern:
»Du, Konrad – angenommen, wir würden heiraten – das heißt, weil ich freilich der Aelteste bin – also angenommen –«
»Angenommen, Du würdest heiraten,« unterbrach ihn Konrad und es war, als ob ihm der Schalk doch wieder ein bischen kommen wollte – »so wäre die erste Frage: wen?«
»Freilich – und da wüßt ich –«
»Was? Du? Du wüßtest?« rief Konrad und lachte nun in der That wieder. »Philipp, Philipp, Du hasts hinter den Ohren!«
Philipp lächelte geschmeichelt und nickte, Konrad fuhr fort: »Heraus damit, Du Duckmäuser! Wen?«
Halblaut drückte Philipp heraus: »die Lore!« Dabei schlug er die Augen nieder und wurde roth wie ein Mädchen; er sah deswegen nicht, daß Konrad bleich wurde wie das Waschleder dort auf der Kommode und Augen machte, als habe Philipp eine Todsünde bekannt.
Erst als er keinerlei Antwort erhielt, erhob Philipp die Augen wieder, sein Blick streifte den Bruder kaum, richtete sich vielmehr steif in die Stubenecke, während er sagte:
»Die Lore ist nur eine Magd, das ist wahr – oder auch: die Lore ist die Kammerjungfer des Fräuleins von Mohr und ist sehr stolz – das ist auch wahr – und ob sie mich haben wollte, das weiß ich nicht – ich hab' sie noch nicht gefragt. Wo sie eigentlich her ist, weiß ich auch nicht. Aber eine bessere Hausfrau gäbs nicht unter der Sonne als die Lore – das weiß ich.«
Nun aber sprang Konrad auf, stellte sich vor Philipp hin, faßte ihn mit hartem Griff an den Schultern und indem er ihm niedergebeugt dicht ins Gesicht sah, sagte er rollenden Auges:
»Die Lore kriegst Du nicht und ich nicht, aber jemand anders auch nicht!«
Dann ließ er Philipps Schulter mit einem Ruck fahren, der jenen beinahe vom Stuhle warf, gieng an seinen Platz zurück, setzte sich polternd und füllte dann die Gläser wieder aus der halbgeleerten zweiten Flasche. Philipp starrte ihn sprachlos an, er sah, wie es auf Konrads Gesicht arbeitete und wie er alle Kraft aufbot, seine Erregung zu bändigen. Endlich sagte Philipp fast furchtsam:
»Konrad, ich versteh' Dich nicht!«
»Das glaub' ich!« erwiderte Konrad mit erzwungener Gelassenheit, »deswegen will ich Dir jetzt etwas erzählen, was ich noch keinem Menschen erzählt habe; ich würd's auch Dir nicht erzählen, wenn Du nicht gesagt hättest, Du wollest –« er lachte heiser – »Du wollest die Lore heiraten!«
Er leerte hastig sein Glas, drehte eine Weile schweigend den Schnurrbart und begann dann in leidlich ruhigem Tone:
»Dazumal, als ich in Baden-Baden in Arbeit stand, kurz vor dem Tod unseres Vaters, war ich ein ziemlich lustiger Kerl, es gieng mir auch so gut, als ichs haben wollte. Mein Meister hatte mich gern und gab mir einen schönen Lohn, die Meisterin hielt mich gut und ich glaube, sie hätte mich zum Schwiegersohn angenommen, wenn ich ihre Grethe gewollt hätte. Das war ein ganz hübsches Mädchen und sah mich nicht ungern, so wenig als ich sie. So recht verliebt war ich aber nicht in sie und eines Tages kam mir etwas anderes in den Weg, was mir alle Lust vertrieb, der Schwiegersohn der Meisterin zu werden. An einem Sonntag Abend im Spätsommer gieng ich durch die Allee nach Lichtenthal hinaus, einige Kameraden hatten mich dorthin in ein Wirthshaus zu einer Partie Kegel bestellt, ich hatte mich aber verspätet. Die Allee war fast ganz leer – ich weiß nimmer, um welcher Festlichkeit willen die Badegäste sich nach einer andern Richtung gezogen hatten. Wie ich so hingehe und mich grad besinne, ob eigentlich mein Herz an der Grethe hänge oder nicht, höre ich vor mir ein Gelächter und stoße auf zwei feine Herrlein, welche einem Mädchen den Weg verlegt hatten und ihr mit unziemlichen Reden zusetzten. Nun hab ich ein solches Wesen nie leiden können und bin von andern Gesellen oft darüber geneckt worden, daß ich gar so ein züchtiges Männlein sei; aber ich hab' das Wort unserer Mutter selig nicht vergessen können: ›ein Tropf, wer ein Mädchen schamroth macht!‹ Und wie ich nun sehe, daß das starke Mädchen sich vergebens den Weg frei zu machen sucht, geh ich schnell hinzu und sage den Herrlein, sie möchten das Mädchen gefälligst seiner Wege gehen lassen. Da fragt mich der Eine höhnisch, ob das vielleicht mein Schatz sei? Ich sage: ›nein, ich kenne sie gar nicht, aber ein Tropf, wer ein Mädchen schamroth macht!‹ Darauf heißt mich der Herr einen frechen Lümmel und holt zu einer Ohrfeige aus, ich aber werde falsch, pack' ihn und schmeiß' ihn in den Graben. Der Andere zieht mir währenddem sein Stöckchen über den Rücken, und bis ich auch ihn an der Brust gepackt und gegen den nächsten Baum geworfen hatte, stand der Erste wieder vor mir und hielt mir ein Taschenpistol entgegen. Ich meinte schon, es krache, aber da war inzwischen ein dritter Herr dazu gekommen und schlug das Pistol weg. Nun kamen die Zwei und der Dritte aneinander – ich meinte, ich müsse den Dritten kennen, konnte mich aber in der Geschwindigkeit nicht darauf besinnen, wo ich das Gesicht hinthun sollte; ich sah mich nach dem Mädchen um: sie stand sechs Schritte entfernt mit zusammengebissenem Mund und geballten Fäusten, zitterte aber am ganzen Leib. Ich sah nur noch, wie die Herren einander ihre Visitenkarten überreichten, hörte, wie sie mit höflichen aber scharfen Worten auseinander gingen, und sagte dann dem Mädchen, wenn sie nach Lichtenthal wolle, so wolle ich sie begleiten. Sie gab keine Antwort, ging aber mit mir. Wir sprachen kein Wort bis nach Lichtenthal, wenn ich sie aber so von der Seite ansah, so kam sie mir vor wie eine Fürstin oder Gräfin, obschon ihre Kleidung nicht dazu stimmte; sie hatte so etwas in ihrem Gang und wie sie die Schultern trug, und sah so stolz und zornig gerade vor sich hinaus. Und ich konnte das Trumm nicht finden, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Als wir aber in Lichtenthal ein paar Häuser weit gegangen waren – es war inzwischen fast dunkel geworden – hielt sie vor einer Wirthschaft an, in der ich noch nie gewesen war – es war dort auch ein bischen zu nobel für uns Handwerksgesellen – und da gab sie mir die Hand, sah mich freundlich an und sagte, hier sei sie zuhaus und sie werde mir das nicht vergessen, obwohl sie nicht wisse, wer ich sei. Aber eh ich ihr sagen konnte, wer ich sei, oder sie fragen, wer sie sei, hatte sie meine Hand los gelassen und war in das Haus hineingegangen. Und ich hatte wahrhaftig nicht das Herz, ihr nachzugehen, obwohl ich meinte, meine Füße müssen ihr von selbst nachlaufen. Ich gieng langsam weiter in das andere Wirthshaus, wo meine Kameraden waren, und wenn die Kegelpartie nicht schon zu Ende gewesen wäre wegen der Dunkelheit, so hätte ich wahrscheinlich an diesem Abend mehr Pudel geschoben als bis dahin in meinem ganzen Leben. Ich mußte aber manche Hänselei über den stillen braven Konrad noch anhören, und als ich wieder zuhaus war und in meiner Kammer meine fünf Sinne zusammen suchte, da sagte ich zu mir: ›Konrad, die oder keine, und wenn sie eine Gräfin ist!‹ – Nun, siehst Du, Philipp, das war meine erste Bekanntschaft mit der Lore!«
Konrad hielt aufathmend inne; er war sehr ernst geworden und sein Gesicht hatte einen andern Ausdruck angenommen, es war fast, als obs ihm in der Erinnerung wehmüthig weich ums Herz werde. Philipp sprach kein Wort, er schaute vor sich hin und spielte mit einem Kork. Als Konrad eine Weile geschwiegen hatte, sagte er nur leise: »Mach weiter!«
Konrad fuhr fort: »Ja, das war also die Lore. Sie war Schenkmädchen in selbiger Wirtschaft und war, wie ich bald hörte, dafür bekannt, daß sie ebenso stolz als schön sei und daß noch jeder bös angekommen sei, der mit ihr habe freundlich thun wollen, wie es Wirthsgäste mit Kellnerinnen zu thun pflegen. Und daß ich das auch gleich sage: ihre Mutter, die dazumal schon todt war, ist eine Putzmacherin gewesen, ihren Vater aber hat sie nie gekannt. Du magst dir aber denken, daß ich sie nie darum gefragt habe, auch nicht als wir schon Liebesleute waren. Ich hätt's nicht über die Lippen gebracht, es waren mir diese Dinge auch ganz gleichgiltig; wegen meiner hätte sie mögen ein Zigeunermädchen oder hinter einer Hecke gefunden sein.
»Doch daß ich in der Ordnung erzähle – ich will's aber kurz machen – nach acht Tagen faßte ich mir ein Herz und gieng zu einer Zeit, da die Wirthshäuser gewöhnlich leer sind, nach Lichtenthal hinaus. Das Herz klopfte mir doch ein bischen, als ich in die Wirthschaft hinein gieng, aber die Lore sagte mir so freundlich ›Grüß Gott‹, wie wenn wir alte Bekannte wären, und nachdem sie mir meinen Schoppen vorgesetzt hatte, fieng sie ein Gespräch mit mir an, wobei dann ganz von selber heraus kam, daß ich der und der und von da und da sei. Sie hatte aber dabei doch so eine vornehme Art, daß mir's Anfangs grad zu Muthe war, wie wenn eine hochadelige Dame sich zu Unsereinem herabläßt und ihn freundlich über seine Verhältnisse fragt. Und dann wars auch wieder nicht so, sondern so ganz einfach, als ob sich alles von selbst verstünde. Ich wußte schon nicht mehr, was größer bei mir war, mein Respekt vor ihr oder meine Liebe zu ihr – ich kam, so bald ich konnte, wieder und immer wieder und es dauerte nicht gar lang, so merkte ich, daß auch sie mir gut war. Und abermals dauerte es nicht lang, so sagte ich ihr, daß ich im nächsten Frühjahr Meister werden wolle, nur von meinem Ersparten und von dem, was mir mein Vater zuschießen werde, ein eigenes Geschäft gründen könne, und daß ich dazu auch eine Frau Meisterin brauche – es komme aber nur auf sie an, ob ich die Rechte finde; denn eine Andere wolle ich nicht, das stehe bei mir fest, seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Darauf antwortete sie mir kurz und gut, daß auch sie keinen andern nehme als mich, ich dürfe sie aber nicht meine Braut nennen, ehe mein Vater seine Einwilligung dazu gegeben habe – unsere Mutter war ja damals schon gestorben. Als ich sagte, daran werde es nicht fehlen, machte sie so eigene Augen, halb zornig, halb scheu, und antwortete, das sei noch nicht gewiß, ich wisse ja, wer und was sie sei. Dann gab sie mir die Hand und gieng rasch weg.
»So waren wir also erklärte Liebesleute und am selben Abend noch setzte ich mich hin, um nach Hause zu schreiben. Aber, obwohl ich selber, wie gesagt, nach der Herkunft der Lore gar nichts fragte, so war mir's doch nicht ganz wohl bei dem Gedanken, was ihr, der Vater und Du, Philipp, zu diesem Punkte sagen werdet. Ich dachte, es werde doch besser sein, wenn ich die Sache nicht in einem Briefe abmache, sondern warte bis Weihnachten, um welche Zeit ich einen Besuch bei euch machen wollte. Als ich das der Lore sagte, war sie's zwar zufrieden, aber es blieb auch dabei: so lieb und gut sie zu mir war, so kurz hielt sie mich; nicht einen Kuß durfte ich ihr geben, selbst wenn wir einmal eine Weile mutterseelenallein waren. Das gefiel mir nicht und gefiel mir doch wieder ausnehmend, denn es paßte zu der ganzen Lore.
»So gieng es bis in den Herbst und ich kann sagen, ich war dazumal ein glückseliger Mensch und machte mir und der Lore die allerschönsten Pläne, wie es in Zukunft werden solle. Die Wirthin, bei der die Lore war, wußte um unser Verhältniß, und weil sie auf die Lore große Stücke hielt, auch sah, daß wir's ehrbar und ernstlich meinten, machte sie es uns leicht, daß wir in ihrem Hause uns aussprechen konnten, so oft wir Zeit hatten. Da sagte mir die Lore eines Tages – doch halt, etwas hab' ich vergessen! Einige Tage nach dem Abend, an dem ich die Lore kennen gelernt hatte, sprach man in Baden-Baden von einem Duell, das ein fremder junger Herr gehabt habe und in dem er verwundet worden sei; der Name war Ferdinand von Mohr. Nun gieng mir auf einmal ein Licht auf, wer der dritte junge Herr gewesen war, der in der Lichtenthaler Allee sich in unsern Handel gemischt hatte. Das war also der Ferdinand, der verzogene Nestkegel aus dem Haus da drüben. Du weißt, er war in meinem Alter; als wir noch Buben waren, habe ich ihm manchen Streich ausführen helfen, damals aber hatte ich ihn seit lange nicht mehr gesehen. Ich wußte nur, daß er nicht gerathen war und seiner ältesten Schwester drüben, die jetzt Mutterstelle an ihm vertreten sollte, viele Sorgen machte. Er hatte studirt, aber kein Examen gemacht, dann war er Offizier gewesen und hatte auch das nicht lange ausgehalten – damals trieb er sich in der Welt herum und lebte von seinen Schulden. Ein gutmüthiger Mensch war der Ferdinand, glaub ich, immer gewesen, aber leicht wie die ganze Familie da drüben, das alte Fräulein vielleicht ausgenommen. Und wie er sich damals in den Streit wegen der Lore gelegt hat, das sah ihm auch gleich – so etwas Nobles und Ritterliches hat er schon als Bub gehabt. Eigentlich hatte er mir wohl das Leben gerettet, das fiel mir damals erst ein, wie von seinem Duell die Rede war; und ich dachte eine Weile daran, ich wolle zu ihm gehen und ihm dafür danken. Aber ich hatte dann doch wieder das Herz nicht dazu, dachte auch, er werde mich gar nicht mehr kennen und mich vielleicht von oben herunter behandeln – vielleicht hatte er auch ohnedies einen Handel mit den beiden andern Herrn gehabt und hätte über den Dank eines Handwerksgesellen nur gelacht – kurz, ich war auch wieder zu stolz, ihn aufzusuchen, und am Ende vergaß ich ihn ganz über der Lore.
»Nun aber sagte mir eines Tages die Lore, sie habe ihre Stelle in der Wirthschaft gekündigt und trete schon in den nächsten Tagen bei einem alten adeligen Fräulein als Jungfer ein. Es sei das ein Fräulein von Mohr, die ich kennen müsse, denn sie sei in meiner Heimat zu Haus; seit einigen Wochen sei sie hier im Bade, es müsse eine etwas eigene Dame sein; ihre bisherige Jungfer sei ihr dieser Tage auf und davon, da habe sie schnell eine andere gesucht, man habe ihr, der Lore, davon gesagt und sie habe die Stelle angenommen. Die Wirthin habe ihr nicht abgeredet – obwohl sie selbst die Lore gerne noch länger behalten hätte – aber es sei eine gute Stelle, und ich selbst werde am wenigsten dagegen einzuwenden haben, da sie ja auf diese Weise gleich in meine Heimat komme – in acht Tagen reise das Fräulein ab.
»Ich wußte nicht recht, was dazu sagen. Daß die Lore aus der Wirthschaft heraus und in eine bessere Stelle kommen solle, war mir schon recht, das krittlige Wesen des alten Fräuleins machte mir so wenig Sorge als der Lore, und daß die Lore auf diese Weise in unsere Vaterstadt kommen solle, wollte mir auf der einen Seite auch einleuchten, aber andererseits wußt' ich doch nicht recht, ob das so und gerade jetzt gut sei. Und dann war doch noch etwas an der Sache, ich wußte selbst aber nicht, was – es war mir nur so dunkel, als ob daraus ein Unheil werden könne. Auch wollte mir's nicht gefallen, daß die Lore nicht früher mit mir von der Sache gesprochen hatte; und als ich fragte, wie und durch wen das eigentlich so schnell ins Reine gekommen sei, da schien mir's, als wolle sie nicht so recht mit der Sprache heraus. Nun, ich konnte mich in diesem Punkte auch täuschen, ich fragte nicht weiter, das war auch am Ende Nebensache – und zuletzt sagte ich, ich könne und wolle ihr da nichts dreinreden und es werde wohl auch so gut sein. Wir machten nur noch aus, daß die Lore dem Fräulein bei schicklicher Gelegenheit, aber bald sagen solle, wie es zwischen uns Beiden stehe – schon darum, daß ich vor der Abreise noch das eine oder andere Mal ungehindert mit ihr sprechen könne.
»Als ich nach Hause gieng, indes ich nicht gerade vergnügt weiter über die Sache nachdachte, und an die bekannte Stelle in der Allee kam, da wußte ich nicht, warum mir auf einmal siedend heiß wurde, indem mir der Ferdinand einfiel; ich hätte nur spornstreichs umkehren und die Lore um Gottes Willen bitten mögen, sie solle doch dem Fräulein wieder absagen. Doch dann schämt' ich mich vor nur selbst und vor der Lore und gieng weiter. Aber wohl war mir's von der Stund an nimmer.
»Die Lore trat richtig nach wenigen Tagen ihre Stelle bei dem Fräulein von Mohr an. Auch das Fräulein wohnte nicht in Baden selber, sondern in Lichtenthal, in einem kleinen Hause am Ende des Ortes; es war ein hübsches Gärtchen um das Haus. Das erste Mal aber, daß ich die Lore in diesen Tagen wieder sah, geschah's nicht dort draußen, sondern noch einmal in der Wirthschaft. Sie sagte, es gefalle ihr gut, das Fräulein sei nicht so gar wunderlich, wie man meinen könne, und habe sie recht liebreich aufgenommen. Und der Bruder des Fräuleins, der Herr Ferdinand von Mohr, wohne zwar in Baden, komme aber jeden Tag heraus, und das sei der Herr, der damals in der Allee dem andern das Pistol weggeschlagen habe; er reise übrigens in einigen Tagen ab, und zwar nach Amerika. Das alles sagte die Lore so hin, anscheinend ganz ohne Arg, und ich schämte mich noch einmal meiner unnöthigen Gedanken; zugleich aber wollte mir's doch eine Art Trost sein, daß der Ferdinand nach Amerika gehe. So gieng ich diesmal mit leichterem Herzen nach Haus, aber zwei Tage darauf erhielt ich Deinen Brief mit der Nachricht vom Tod unseres Vaters. Du weißt, daß es für mich zu spät war, zur Beerdigung zu kommen; aber daß ich jetzt so bald als möglich nach Haus müsse, war mir klar. Am Nachmittag dieses Tages nahm ich Urlaub von meinem Meister und gieng betrübt nach Lichtenthal; ich mußte doch der Lore sogleich Mittheilung machen, und jetzt war sie ja meine Braut, nur wußt' ich nicht, warum ich mich darüber nicht recht freuen konnte – nun natürlich, ich war ja in Trauer.
»Die Lore erwartete mich an diesem Tage nicht, ich wußte auch nicht, wie ich sie geschickt finden solle; ich gieng deswegen zuerst um das Gärtchen herum, die Gelegenheit zu erkunden; das Gärtchen hatte aber einen ziemlich hohen Zaun, der mit wilden Reben überwachsen war, so daß ich lange nirgends hineinsehen konnte. Endlich fand ich eine Stelle, wo der Zaun schadhaft und das rothe Laub der Reben schon etwas dünner geworden war, und hier konnte ich durch den Zaun nach der Rückseite des Häuschens sehen. Und da – –«
Konrad hatte schon das Letzte nicht mehr mit der anfänglichen Ruhe erzählt, sondern hastiger, zuweilen stark aufathmend. Jetzt brach er einen Augenblick ab, biß wieder die Zähne zusammen, fuhr sich durch die Haare und setzte dann schnell hinzu:
»Und da sah ich das saubere Paar, die Lore und den Ferdinand, sie standen nicht weit vom Zaune im Gärtchen, der Ferdinand hielt ihre Hand und ich hörte ihn deutlich sagen: ›also Du versprichst mir's und vertraust mir, bis ich zurückkomme? Ich komme bald!‹ Sie nickte und er zog sie an sich und küßte sie. Und die Lore ließ sich's gefallen.«
Konrad schlug mit der Faust auf den Tisch, daß Gläser und Flaschen hüpften, dann sprang er auf und gieng in die Kammer. Als ihm Philipp nach einer Weile dorthin folgte, stand der große starke Mann an die Wand gelehnt und weinte wie ein Kind. Philipp legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte nur: »komm, erzähl' vollends! 's ist besser so.«
Und Konrad gieng wieder mit ihm in die Stube zurück; nach einer Weile fuhr er gefaßter fort:
»So 'was packt einen, wenn man zum ersten Mal davon spricht, auch wenn man meint, man habe fünf Jahre lang Zeit genug gehabt, es zu verschmerzen. Aber doch – ich weiß noch ganz genau – obwohl ich angedonnert stand vor Schreck und Wuth, so gieng mir doch zugleich der Gedanke durch den Kopf: das ist ein schönes Paar! Der Ferdinand war ja fast noch größer als ich und die Lore stand vor ihm, wie wenn sie zu ihm gehörte! – Sie gehörte aber nicht zu ihm,« sprach er wieder heftiger, »sondern sie gehörte zu mir und hatte mich auf's Hinterlistigste betrogen! – Wo ich an diesem Tag noch gewesen bin und was ich getrieben habe, das weiß ich nicht mehr. Am andern Morgen erwachte ich mit einem dumpfen wüsten Kopf und mein Meister sagte mir, er hätte nicht gedacht, daß ich die Leichenfeier meines Vaters mit einem Rausch begehen würde. Ich sagte, von einem Rausch sei mir nichts bewußt, aber an Martini wolle ich wandern, ich müsse nach Haus. Dann suchte ich während der Arbeit meine Gedanken nothdürftig zusammen, schrieb am Feierabend ein Brieflein an die Lore des Inhalts: ich wolle ihrem Glück mit dem Herrn von Mohr nicht im Wege stehen und sie solle dafür sorgen, daß das Loch im Gartenzaun geflickt werde. Eine Antwort erhielt ich nicht, zwei Tage darauf mußte die Lore und ihre Herrschaft abgereist sein. Nach Martini kam ich dann nach Haus – ich weiß noch gut, wie Du und andere Leute sich gewundert haben, was aus dem lustigen Konrad für ein stilles steifes Hölzle geworden sei – nun, ich bin auch meines Vaters Sohn, aber das sag ich Dir: daß ich die fünf Jahre her so wie ein Feind gearbeitet und geschabt und gescharrt habe, das war nicht nur um der Schulden und um der Namensehre unseres Vaters willen, das war auch, weil ich mich mit aller Macht ins Geschäft verbohrt habe, um nicht an die Lore denken und womöglich nichts von ihr sehen und hören zu müssen. Aber ich hab' sie doch oft sehen und doch von ihr hören und doch an sie denken müssen, und ich weiß nicht, wie lang ich's noch hier aushalte. Jetzt ist das Geschäft schuldenfrei, jetzt kannst Du's ohne mich mit einem Gesellen weiterführen. Ich hab's jetzt grad genug, auf fünfzig Schritt von der Lore zu sein, und ich müßt' ja blind und taub sein, wenn ich nicht merken sollte, daß sie trotz all ihres Magdgeschäftes so stolz und still herum geht, als ob jeden Tag der Ferdinand mit seinen Millionen aus Amerika kommen und sie zur Frau von Mohr machen müßte. – Na,« schloß Konrad höhnisch, »damit wird's gute Weile haben! Entweder ist der Ferdinand todt, wie die Leute sagen, oder er kommt jedenfalls nicht als getreuer Liebster der Lore heim. Einen Spaß hat er sich damals als flottes Herrlein mit der Lore gemacht und sie – war nichts nutz!«
»Das glaubst Du selber nicht!« erwiderte jetzt Philipp trocken. Konrad sah ihn mit großen Augen an und rief dann heftig:
»Willst Du sie auch noch in Schutz nehmen? Ja so, Du willst sie ja heiraten!« Und er lachte grimmig auf. Da erhob sich Philipp und trat zu Konrad, wie vorher Konrad zu ihm, faßte ihn gleichfalls hart an den Schultern und sagte:
»Konrad, die Lore heirat' ich nicht und der Ferdinand von Mohr auch nicht – aber Du!«
Konrad schüttelte ihn ab und fragte: »Und wer war an dem Bankerott vor fünf Jahren schuldig?« Ruhig erwiderte Philipp:
»Das wissen wir nicht. Die Leute haben viel geredet, als ob der Vater sein Geld ins Mohr'sche Haus gesteckt und dadurch sein eigenes geschädigt habe. Aber das ist alles dummes Zeug! Jedenfalls weiß ich davon so wenig als Du und irgend jemand, und ich sag: unser Vater hat immer gewußt, was er gethan hat, mag er nun gethan haben, was er will. Da hilft jetzt kein Reden mehr und das gehört auch gar nicht hieher!«
Das war für Philipp schon eine lange Rede und er glaubte, großen Eindruck damit gemacht zu haben. Konrad war auch etwas nachdenklich geworden, doch sagte er bald wieder finster:
»Nun ja! Mit der Lore ist's aus und dem Ferdinand trag ich eigentlich nichts nach – der war halt, wie diese vornehmen Bürschlein sind. Aber ich sag Dir: von dem Haus da drüben kam unser Unglück und« – er goß den letzten Rest des Weines in die Gläser – »stoß an, Philipp, wir zwei wenigstens wollen über all' dem Zeug nicht auseinander kommen! Jetzt wird nicht weiter davon geredet und von nun an sind wir wieder die stillen, steifen Gebrüder Hölzle!« –
Konrad hatte aber Unrecht, wenn er meinte, es werde alles weitergehen wie bisher, höchstens daß er selbst sich's im Stillen überlege, ob er nicht einen andern Platz in der Welt sich suchen solle.
Es ist manchmal im Sommer lange Zeit helles ruhiges Wetter gewesen; da kommt so ein kleines Gewitterlein, man meint, es werde schnell vorüber gehen, und am Abend scheint auch die Sonne wieder ganz schön und lustig durch die Wolken hindurch – aber dann regnets doch die ganze Nacht und den andern Tag, und regnet acht, vierzehn Tage weiter oder noch länger. – Und der närrische Montag Vormittag im Hause der Gebrüder Hölzle war auch so ein Gewitterlein, nach welchem das Wetter völlig umschlug.
Dem Philipp freilich war äußerlich nicht viel anzumerken; Konrad aber war zwar nicht schon am andern Tag ein umgewandter Handschuh, aber er war doch von dem Tag an nicht mehr wie vorher. Er war langsam und gleichgiltig in der Arbeit, er fing an, Abends ins Wirthshaus zu gehen, zuerst nur einmal, zweimal in der Woche, dann aber bald jeden Abend. Dabei saß er in der ersten Zeit still und nachdenklich wie sonst bei seinem Glase, abseits von andern Gästen, bald aber mischte er sich unter die andern, sprach mit über dies und das, wurde laut und lustig – und die richtigen Zechbrüder sagten in Kurzem, es sei jammerschade, daß der Konrad Hölzle so manches Jahr daheim verhockt habe, es gebe ja in der ganzen Stadt keinen fideleren und unterhaltenderen Kerl als ihn. Was er am Morgen nach einem lustigen Abend für ein Gesicht machte, wenn er wieder seinem Bruder am Arbeitstisch gegenüber saß, das freilich wußten seine Lobredner nicht. Es dauerte jedoch nicht gar lange, so war Konrad auch schon Vormittags im Wirthshaus zu sehen; er hatte seinen Bruder überredet, einen Gesellen anzunehmen und einen Lehrjungen zu halten; der Geselle war geschickt und fleißig und Konrad deswegen im Geschäft überflüssig. So meinte er wenigstens; dagegen im Wirthshaus war er nicht nur nicht mehr überflüssig, sondern allmählig eine sehr wichtige Person.
Es waren nemlich dazumal, wie schon gesagt, die vierziger Jahre, genauer gesagt war es jetzt der Winter von Siebenundvierzig auf Achtundvierzig und die Welt war im Begriff, sich wieder einmal ein bischen auf den Kopf zu stellen. Ueberall rumorte es in den Köpfen und die meisten Leute waren unzufrieden – worüber, das wußten sehr viele nicht; andere glaubtens wenigstens zu wissen, noch andere wußtens auch in der That, aber unzufrieden waren sie alle, und daß etwas anders werden müsse, das stand fest. Wie und was, darüber waren die Meinungen wieder verschieden, darüber gabs aber deswegen auch viel zu reden. Und Konrad Hölzle konnte, wenn er einmal überhaupt seinen Mund aufthat, gar nicht übel reden; auch war er weit in der Welt gewesen und hatte auf seine Art mancherlei gesehen und erfahren. Unzufrieden war er nicht minder und er glaubte ganz genau zu wissen, warum? Von der Hauptsache zwar, über die er unzufrieden war, sprach er mit Niemand, auch mit Philipp nicht mehr seit jenem Morgen; aber was er damals gegen Philipp geäußert hatte, daß das Unglück des Hauses Hölzle aus dem Mohr'schen Hause gekommen sei, das wurde ihm immer gewisser, je weniger er sich etwas Klares dabei denken konnte; weil aber das Mohr'sche Haus ein adeliges war, so war's natürlich, daß Konrad nun mit dem Adel und mit den bevorzugten Ständen im Allgemeinen, sodann mit der Regierung, mit dem deutschen Bundestage, nicht minder aber auch mit dem Stadtrath und dem Stadtschultheißen und mit noch vielen Anderen immer unzufriedener wurde – und davon konnte man sprechen und erntete Beifall obendrein; hatte man Recht, so war der Beifall wohlverdient, hatte man Unrecht, so fehlte der Beifall dennoch nicht. Und hatte man einmal angefangen, unzufrieden zu sein, so gieng der Stoff dazu nicht mehr aus – waren ja doch die Zeiten im Allgemeinen schlecht, wenn es auch im Besonderen manchem, zum Beispiel dem Konrad Hölzle recht ordentlich gieng. Daß dieser mit sich selbst am allerunzufriedensten war und täglich unzufriedener wurde, davon sprach er natürlich am allerwenigsten, kaum mit sich selbst; aber je unzufriedener er mit sich selbst wurde, desto mehr schimpfte er über andere Leute und über alle Welt. Und so war er ganz der Mann, wie man ihn damals in den Wirthshäusern einer kleinen Stadt brauchen konnte, und sein Ansehen unter seinesgleichen wuchs von Tag zu Tag.
Philipp schüttelte den Kopf dazu, aber er sagte nicht viel. Wenn Konrad ihm gegenüber anfangen wollte, Reden zu halten wie im Wirthshaus, so schwieg Philipp entweder beharrlich oder er sagte nur: »Dumm's Zeug!« Um Welthändel und Weltverbesserung, um den Franzosen und den Bundestag und was dergleichen sein mochte, kümmerte sich Philipp herzlich wenig; er war der Ansicht, daß er in all diesen Dingen nichts davon und nichts dazu thun könne und daß das alles schon von selber sich machen werde. Wenn nur sein Geschäft schön im Gang und in der Ordnung blieb und er jederzeit seine Steuer pünktlich zahlen konnte, so glaubte er seine Schuldigkeit fürs allgemeine Wohl gethan zu haben; und wenn er gar einmal das große Loos gewinnen würde, dann – nun darüber, was dann, war er immer noch nicht recht im Klaren. Jedenfalls sprach er sein Wort »dumm's Zeug!« mit der vollsten Ueberzeugung eines ruhigen Bürgers. Als aber Konrad einmal vor den Ohren des Gesellen loslegen wollte, schickte Philipp den Gesellen mit einem Auftrag fort, den Lehrjungen hinterdrein und sagte nachdrücklich:
»Konrad, ich red' dir sonst nichts drein! Du bist alt genug und kannst's selber wissen, wenn du Dummheiten machst! Ich weiß auch wohl, was Dich außer Rand und Band gebracht hat – wirst schon wieder zurecht kommen, kannst auch einmal den Kopf anstoßen! Aber, was ich sagen wollte: wenn Du mir den Gesellen und den Lehrjungen aufsäßig machst, dann hat der Fried' ein End! Ich bin auch noch da! Verstanden?«
Konrad wollte auffahren, aber er thats nicht. Wenn Philipp einmal so redete, so mußte doch etwas dran sein; das fühlte er. Er gieng einige Tage wieder stiller und nachdenklicher umher, nahm sich auch wieder etwas mehr ums Geschäft an – aber es dauerte nicht lang, so wars wie vorher.
Philipp aber sorgte sich im Stillen mehr um seinen Bruder, als er merken ließ; und mehr als über das große Loos dachte er darüber nach, wie dem Konrad zu helfen sei. Das war nun allerdings eine schwierige Sache, und für Philipp stand nur so viel fest: ohne die Lore geht's nicht! – Ja, die Lore! Er hatte sichs ganz in aller Stille ausgedacht, wie es wäre, wenn er die Lore heiraten würde; aber damit wars ja jetzt aus und vorbei – natürlich! Wie konnte er jetzt noch die Lore heiraten wollen, nachdem er wußte, was er wußte? Schön hätt's werden können, aber – »Philipp,« sagte er zu sich selbst, »du bist ohnedies nachgerade ein alter Kerl – sechsmal sieben ist zweiundvierzig, heißt's im Einmaleins – mit der Lore wär's vielleicht noch gegangen, aber weils nun mit der Lore einmal nicht sein kann, so ist's das Gescheiteste, du denkst nicht mehr an's Heiraten! Bis du eine andere findest, kannst du fünfzig und darüber werden, und dann nimmt Dich Keine mehr; wenn dich aber Eine noch nähme, das wär' dann vielleicht grad nicht die Rechte! Also fertig damit! Wenn man's nur so schnell vergessen könnt' – wird auch gehen, muß gehen! – Nun aber der Konrad – das heißt: zuerst die Lore! Schön ist's nicht, was der Konrad von ihr erzählt hat – heißt das: das Letzte, das mit dem Ferdinand! Und gelogen hat der Konrad gewiß nicht. Aber – – ja wenn ich's wüßte! Aber es ist etwas an der Sache, was nicht stimmt. Und wenn ich jetzt so die Lore ansehe und nicht mehr denke, sie könnte vielleicht nach mir gucken, so ist mir's manchmal, als gucke sie nach dem Konrad – heißt das: ganz verstohlen, wenn sie meint, kein Mensch könne es sehen, am wenigsten der Konrad. Ja, richtig ist's nicht! Und wenn ich dahinter kommen könnte – lieber Gott, der Konrad! Er macht mir noch ganz dumme Sachen, wenn's so fort geht, und daran ist im Grund nichts schuldig als die Geschichte mit der Lore! Wenn man aber hier das rechte Trumm finden könnte – ja wenn, da liegt der Haas im Pfeffer! Wenn ich das Herz hätte, ich würde grad einmal die Lore selber drum fragen, aber bis ich drei Worte gesagt hätte, wäre sie davon gelaufen. Ja, stolz ist sie. Aber so stolz und so schlecht? Das geht nicht zusammen. Nein, der Lore laß ich doch nichts geschehen! Aber, aber – ja was denn – –?«
Vor sich selbst, namentlich wenn er gerade an einer Arbeit war, welche wenig Aufmerksamkeit forderte und so ganz von selber aus der Hand gieng, konnte Philipp lange Reden halten; nur zum Mund wollten sie nicht heraus. Aber das schönste und längste Selbstgespräch brachte ihn hier nicht vom Fleck.
Und dann war noch etwas, was ihn zuweilen wurmte. So lange er alle Kräfte hatte anspannen müssen, um den Schaden gut zu machen, den der plötzliche Tod seines Vaters über Haus und Geschäft gebracht hatte, war er nicht dazu gekommen, über die Ursache des Schadens viel zu grübeln. Er war von Jugend auf gewohnt gewesen, alles in Ordnung zu finden, was sein Vater that und wie er's that, ohne weiter darüber nachzudenken. Jetzt konnte er seine Arbeit etwas gemächlicher treiben – es war alles wieder im schönsten Gang, es gieng zwar nicht so wohlhabend her wie zu des Vaters Zeiten, der Konrad verklopfte mehr, als gerade gut war, und die theuren Jahre spürte man auch; aber das Handwerk hatte doch immer noch und aufs neue seinen goldenen Boden, und das große Loos der badischen Lotterie – nun, sicher wars ja nicht, aber Möglichkeit war doch, daß es auf die Gebrüder Hölzle falle, ja es war eigentlich gar kein Zweifel dran; denn – – nun ja, kurzum! Der Glaube macht selig und man konnte jetzt über mancherlei nachdenken. Und da wars doch ein eigen Ding, daß die Leute so allerhand von den Mohr'schen geredet hatten; was sie geredet hatten, das war ja alles reines dummes Zeug, das wußte Philipp ganz sicher. Aber hinter dem dümmsten Zeug, das völlig im Dunkeln tappt, steckt oft etwas, wovon die Leute, die alles wissen, keine Ahnung haben – freilich steckt oft auch gar nichts dahinter, es ist alles Lüge und Bosheit! Aber daß der Konrad gerade damals, wie er von der Lore und dem Ferdinand erzählte, auf einmal nach diesen Dingen gefragt hatte? Ach was – was wußte der Konrad! Nichts, beim Licht besehen. Aber doch – –
Philipp mochte auch diese Sache drehen und wenden, wie er wollte: er kam auf keinen grünen Zweig.
Da geschah's eines Tages, als er in alten Rechnungen und sonstigen vergilbten Schriftlichkeiten aus dem Nachlaß seines Vaters kramte, daß ihm ein abgegriffenes Notizbuch seines Vaters wieder in die Hand fiel. Er hatte es schon öfter in der Hand gehabt und nichts besonders Wichtiges darin gefunden; nur hatte es ihn gefreut – denn das war so ganz in der Art des Alten – daß oft bei der gleichgiltigsten Geschäftsnotiz eine Bemerkung stand, die – sei's in warmem Ernst, sei's mit trockenem Witz – irgend ein Licht auf die Dinge warf, die neben und zwischen dem Geschäft herzugehen pflegen, aber gewöhnlich vom Geschäft in den Winkel gedrückt werden.
Als Philipp diesmal wieder in dem Buche blätterte, löste er, ohne etwas dabei zu denken, zwei Blätter auseinander, die zufällig aneinander klebten. Und dann las er die Worte, von der kräftigen, etwas steifen und altväterischen Handschrift seines Vaters geschrieben: »Für das Fräulein v. M. noch einmal 10 000 Gulden. Acht Tage Zeit. Geht hart, aber muß. Gedenke der vorigen Zeiten bis daher. Fünften Mosis im Zweiunddreißigsten, Vers 7.« Dann war noch eine Straße und Hausnummer notirt, die sich wohl auf die nächste größere Stadt bezog.
Philipp betrachtete lange das Blatt. Dann riß ers aus dem alten Notizbuch heraus und legte es in das seinige. Es war ihm wieder eine plötzliche Erleuchtung gekommen, wie damals, als er sich zu dem Fünfunddreißiggulden-Loos entschlossen hatte.
Wenn Philipp einmal einen Entschluß gefaßt hatte, so pflegte er ihn möglichst rasch auszuführen; denn er wußte wohl, daß ihm sonst bald wieder Zweifel kamen und dann wieder Zweifel an den Zweifeln, und daß er auf diese Weise leicht zu spät bereute, seinen Entschluß gar nicht ausgeführt zu haben. Gieng er aber rasch auf die Sache los, so faßte er sie gewöhnlich fest und am rechten Ende.
Deswegen zauderte er auch diesmal nicht lange, und da es gerade ein Sonntag Vormittag war, zog er seinen Sonntagsrock an und machte sich auf den Weg über den beschneiten Marktplatz nach dem Erkerhause gegenüber. Am Marktbrunnen aber verlangsamte er doch seinen Schritt, als er einige Leute, die gerade aus der Kirche kamen, vorüber gehen sah. Er war gegen seine Gewohnheit heute nicht in der Kirche gewesen, und das wollte ihm einen Augenblick kein gutes Vorzeichen für sein Unternehmen scheinen. Aber was konnte er dafür, daß ihm gerade, als es zur Kirche läutete, seines Vaters altes Notizbuch in die Hand gefallen war? Nach dem, was er dort gelesen hatte, hätte er doch schwerlich seine Gedanken in der Kirche ordentlich auf die Predigt richten können und es war ohne Zweifel besser gewesen, indessen über diese wichtige Entdeckung nachzudenken und zu einem gescheiten Entschluß zu kommen, als mit zerstreuten Sinnen im Kirchenstuhl zu sitzen. Und wenn er jetzt seinen Zweck im Mohr'schen Hause erreichte, vielleicht war dann auch der Konrad wieder dahin zu bringen, daß er am Sonntag in die Kirche gieng, statt im Wirthshaus zu sitzen wie heute. Also vorwärts!
Als er in dem Hause mit dem Mohrenwappen die breite eichene Treppe zum ersten Mal hinauf stieg, klopfte ihm doch das Herz, nicht gerade aus purem Respekt, sondern mehr noch, weil oben an der Treppe die Lore stand. Sie war heute nicht wie eine Magd, sondern mehr wie eine Jungfer gekleidet – sie war ja bei ihrem gnädigen Fräulein bald das Eine, bald das Andere, und man lachte schon lange in der Stadt darüber, daß das alte Fräulein darauf hielt, ihre einzige Bedienung, die Lore, stets in dem Anzug zu sehen, der ihrer augenblicklichen Dienstleistung entsprach: am Brunnen oder bei Ausgängen mit dem Armkorb im Kleid einer Köchin oder Hausmagd, zur Besuchszeit oder zuweilen beim Ausfahren im Wagen als schmucke Zofe gewandet. Was ihr besser stand? – Philipp dachte jedenfalls jetzt nicht darüber nach, es schoß ihm nur der Gedanke durch den Kopf: »eigentlich würde sie unter allen Umständen besser zu dem Konrad passen als zu dir! Der Konrad ist doch weltmäßiger.« Und dann: »solltest sie aber doch fragen wegen der Sache mit dem Konrad!« Aber ehe er den letzteren Gedanken ausgedacht hatte, stand er schon auf der obersten Treppenstufe, die Lore fragte ihn ruhig und gemessen nach seinem Begehr und sah ihn dabei mit ihren steten großen Augen so an, daß er nur schüchtern herausbrachte, er möchte das gnädige Fräulein in einer besonderen Angelegenheit sprechen. Die Lore führte ihn in ein großes, fast leeres Zimmer und ging dann ins nächste, ihn zu melden; indessen besann sich Philipp noch einmal, wie er seine Sache am besten vorbringen solle und am Ende auch etwas über die Lore und den Ferdinand herausbringen könnte. Dabei sah er von einem der halbverdunkelten Bilder zum andern, die da an der Wand hiengen und allerlei Herren und Damen aus dem altreichsstädtischen Geschlechte derer von Mohr vorstellen mochten. Hier der grauhaarige Mann mit der goldenen Kette und dem dunkeln Gewand, wie mans zu Doktor Luthers Zeiten trug, war wahrscheinlich noch ein bloßer Herr Mohr, aber ein reicher Kaufmann, vielleicht Bürgermeister; dort der Herr in dem Panzer und der großen Lockenperrücke, das war wohl derjenige, welcher mit Prinz Eugen, dem edeln Ritter, vor Belgrad lag, wegen seiner Heldenthaten geadelt wurde und den Mohren ins Wappen bekam; und dort das junge leichtsinnige Milchgesicht in der Offiziersuniform mit dem hohen Kragen und dem kübelartigen Tschako – das konnte ja wahrhaftig kein anderer sein als der Ludwig von Mohr, einer der älteren Brüder des Ferdinand, der als blutjunger Offizier den russischen Feldzug und die Befreiungskriege mitgemacht hatte und dann später um die Dreißig herum, bei den Revolutionsgeschichten in Paris sein verlüderlichtes Leben verlor – gestorben, verdorben wie seine Brüder, den Ferdinand wahrscheinlich nicht ausgenommen!
Philipps Gedanken begannen von seiner eigenen Angelegenheit abzuschweifen; da trat die Lore wieder heraus und einen Augenblick war's dem Philipp, als sei in ihrem Gesicht etwas, was an das Bild erinnere, das er zuletzt betrachtet hatte – nur freilich, daß man in dem Gesicht der Lore vergeblich den leichtsinnigen Zug gesucht hätte, der in dem bartlosen, fast mädchenhaften Gesicht des jungen Offiziers sofort auffiel. Doch brachte sich Philipp diese Vergleichung kaum recht zum Bewußtsein, denn die Lore hieß ihn ins nächste Zimmer eintreten.
Das war ein Zimmer, grad so ungefähr, wie's zur Zeit gewesen sein mochte, als der Großvater die Großmutter nahm: das Weiß und Gold an den Wänden, Thüren und Fensterbekleidungen mutheten so kühl und vornehm und langweilig an, die Herren und Frauen, die aus den wenigen Pastellbildern und Silhouetten an den Wänden schauten, waren so zopfig und gepudert oder hochkragig und titusköpfig, Tisch, Sessel und Sopha hatten so hohe und steife Füße und Lehnen – dem unternehmenden Philipp wurde es gleich beim Eintreten etwas unbehaglich. Und dort auf dem Sopha saß das Fräulein von Mohr und schien ganz in ihre Umgebung zu passen, obwohl ihre lange schmächtige Gestalt nicht nach der Mode aus der Zeit des alten Napoleon, freilich auch nicht nach der neuesten, sondern nach der letztvergangenen Mode gekleidet war. Aber unter ihrem schon ergrauenden Haar schauten ein paar Augen hervor, von denen Philipp im Augenblick nicht hätte sagen können, ob sie mehr gutmüthig, fast ängstlich, oder mehr hochadelig, herrisch und launisch blickten.
»Was wünschen Sie? fragte sie ziemlich vornehm, aber nicht unfreundlich.
»Ich möchte – wenns das gnädige Fräulein nicht ungütig nehmen – ich« – begann Philipp etwas stotternd; aber dann faßte er sich, und während er sein Notizbuch hervor zog, fuhr er entschlossen fort:
»Ich habe da in den Schriftlichkeiten meines Vaters selig etwas gefunden, was ich nicht verstehe, und ich meine, wenn Sie so gütig sein wollten, könnten Sie mir eine Erklärung drüber geben, gnädiges Fräulein!«
Damit reichte er, näher tretend, dem Fräulein ohne Weiteres das Blatt, das er aus dem Notizbuch seines Vaters gerissen. Sie nahm das Blatt und schaute währenddessen den Nachbar Seckler mit einem Blicke an, in welchem wiederum ein fast kindlich gutmüthiges Erstaunen mit einer Art vornehmer Verwunderung sich mischte. Dann sah sie auf das Blatt, zuerst neugierig, dann mit dem Ausdruck unangenehmer Ueberraschung, dann wehmüthig lächelnd – sie that offenbar sich vor dem Nachbar Seckler durchaus keinen Zwang an. Aber dann, als habe sie jetzt erst ganz begriffen, um was es sich handle, zog sie plötzlich ihr Gesicht in strenge Falten und fragte:
»Warum bringen Sie mir das? Was soll ich Ihnen hier erklären, Herr Hölzle?«
»Was die Buchstaben ›v. M.‹ bedeuten, wenn Sie so gütig sein wollen!« erwiderte Philipp, dem der Wechsel des Ausdrucks auf ihrem Gesicht nur den Eindruck gemacht hatte, daß er vielleicht seiner Sache sicherer sei als das gnädige Fräulein.
»Was sie bedeuten? Meinen Namen natürlich. Das müssen Sie doch selber wissen!« sagte nun das Fräulein.
»Wie so?«
»Ja, hat denn Ihr Vater – –« sie stockte, als käme ihr ein ganz neuer Gedanke, und ihre Augen giengen unruhig von Philipp auf das Blatt in ihren Händen und wieder zurück.
»Ist mir nicht bewußt, was ich wissen sollte,« sagte Philipp, »ich weiß gar nichts; aber es wäre mir recht lieb, wenn Sie mir ein Licht aufstecken würden – – das heißt,« fuhr er fort, »hat denn mein Vater selig Ihnen Geld geliehen?«
»Mir Geld geliehen?« wiederholte das Fräulein, »wer sagt das?«
»Ich nicht, ich weiß ja nichts! Ich weiß nicht einmal, ob Sie überhaupt die zehntausend Gulden erhalten haben?«
»Gewiß habe ich sie erhalten!«
»Also war mein Vater das Geld Ihnen schuldig?«
»Nicht, daß ich wüßte!«
»Geschenkt aber hat er's Ihnen wohl auch nicht?«
Das Fräulein richtete sich stolz in die Höhe und antwortete nicht; aber Blick und Haltung waren für Philipp verständlich genug.
»Nun,« sagte er, »dann mögen mir's das gnädige Fräulein nicht übel nehmen, aber das ist dann eine kuriose Geschichte! Sie haben von meinem Vater zehntausend Gulden erhalten, er hat sie Ihnen nicht geliehen, war sie nicht schuldig, hat sie noch weniger geschenkt – das mag der Kukuk begreifen, verzeihen Sie!«
Wenn aber Philipp hier am Rande seines Witzes war, so schien dies bei dem Fräulein nicht weniger der Fall zu sein. Sie sah ganz verwirrt umher, griff nach dem und jenem auf dem Tische, zupfte an ihren Bändern – endlich sagte sie:
»Aber, um Gotteswillen, Herr Hölzle, ich weiß wahrhaftig selbst nicht, was ich denken soll! Sie müssen doch wissen –«
»Ich weiß gar nichts!« unterbrach Philipp hartnäckig.
»Aber eh' Ihr Vater starb, muß er Ihnen doch gesagt haben, wie sich's mit der Sache verhält?«
»Ist mir nichts bewußt! Heißt das« – er sann einen Augenblick nach – »ja er hat vielleicht noch etwas sagen wollen, aber – gnädiges Fräulein wissen ja wahrscheinlich, wie schnell damals der Schlaganfall kam, und daß es dann mit dem Sprechen nicht mehr gehen wollte –«
»Aber das ist ja –«
»Eine ganz kuriose Geschichte! Und nun sehen Sie, gnädigstes Fräulein, auf dem Zettel dort steht auch noch eine Straße und eine Hausnummer notirt, und das kann meines Wissens nichts anderes sein als die Adresse des Juden Löwenthal, der in der Gant unseres Geschäftes die Forderung von zehntausend Gulden angemeldet und rechtlich erwiesen hat – es wußte aber kein Mensch und es war in keinem Buch zu finden, wohin das Geld gekommen ist.«
»Aber das ist ja entsetzlich!« rief das Fräulein und rang die Hände. »Und die andern zehntausend und die fünfzehntausend Gulden?«
»Ist mir nichts bekannt!« sagte Philipp erstaunt. »Heißt das: es kamen dazumal wohl noch etliche Forderungen zum Vorschein, aus denen nicht klug zu werden war, aber so viel Geld wars nicht – Gottlob! sonst wüßt' ich nicht, wie wir in der Zeit mit den Schulden hätten fertig werden sollen!«
Das Fräulein athmete ein wenig auf; aber dann sprach sie aufs neue in augenscheinlicher Verwirrung:
»Ich weiß mir nicht zu helfen, ich bin zu unerfahren in Geldsachen – ich –« sie fuhr mit dem Taschentuch nach den Augen und dann sah sie mit einem wahrhaft hilfeflehenden Blick nach Philipp. Dieser schüttelte den Kopf, sagte aber gutmüthig:
»Ja sehen Sie, gnädiges Fräulein, wenn Sie nicht klug aus der Sache werden, wie soll dann ichs werden? Aber wenn Sie mir nur einmal sagen wollten – Sie müssen doch wissen, aus was Grund und Ursach Ihnen mein Vater selig zehntausend Gulden gegeben hat und wozu?«
Das Fräulein schwieg. Offenbar kämpfte sie mit sich selbst– mit ihrem Stolz vielleicht, der ihr verwehren wollte, von einer Sache zu reden, die – nun, die jedenfalls, dachte Philipp, nicht gerade den Glanz des Mohrschen Wappens erhöhen mochte. Aber dann war auch wieder ein Zug von Ratlosigkeit auf ihrem nicht unschönen Gesicht, der rührend wie bei einem Kinde oder aber auch lächerlich wirken konnte, je nachdem. Philipp fand nichts zu lachen.
Endlich richtete sich das Fräulein kerzengerade in die Höhe und mit einiger Anstrengung, aber mit recht vornehmem Ton begann sie:
»Ich will mich entschließen, Herr Hölzle, über diese Angelegenheit mit Ihnen weiter zu reden, obwohl ich mich eigentlich nicht dazu verpflichtet glaube. Aber ich möchte auch nicht, daß hier irgend ein Mißverständniß obwalte, das einen Schatten auf den Namen Mohr werfen könnte, oder –« ihre Stimme klang schon weniger vornehm, nahm sogar einen etwas unsichern Ton an – »oder daß irgend jemand, daß Sie etwa durch unser Haus in Schaden kämen, obwohl mir das Letztere kaum denkbar ist, so viel ich von Geldsachen verstehe. Nun also, kurz: die fraglichen zehntausend Gulden sind ein Anlehen, welches Ihr Vater kurz vor seinem Tode mir oder genauer meinem Bruder Ferdinand vermittelt – hören Sie wohl: vermittelt hat, welches zwar zur Stunde noch nicht heimbezahlt ist, aber jedenfalls zur rechten Zeit erledigt werden wird – für die Sicherheit birgt der Name von Mohr!«
»Den Teufel auch: rechte Zeit und Sicherheit und Name von Mohr!« wäre Philipp beinahe herausgeplatzt. Er glaubte jetzt schon etwas mehr Licht zu haben.
»Verzeihen Sie,« sagte er, »das wäre dann also ungefähr so, daß mein Vater das Geld auf seinen Namen bei dem Löwenthal aufgenommen und dann Ihnen oder dem Herrn Ferdinand gegeben hätte.«
»Wahrscheinlich,« sagte sie mit einem Ton, als ob daran gar nichts Verwunderliches wäre.
»Ja, aber,« sagte Philipp, allmählig erregt werdend, »das ist ja dann immer kurioser! Dann wären Sie also das Geld jetzt uns schuldig! Und wo wäre dann die Schuldverschreibung?«
»Schuldverschreibung?« fragte das Fräulein. »Ich sagte Ihnen ja, der Name von Mohr – verstehen Sie – der Name von Mohr und das Ehrenwort meines Bruders sind vollständig genügende Sicherheit. Sie brauchen hier nicht die Achseln zu zucken, Herr Hölzle! Uebrigens, wenn Sie für diese Sicherheit kein Verständniß haben, so liegt hier auch noch eine Urkunde, die mein Bruder Ferdinand vor seiner Abreise nach Amerika ausgestellt hat!« Sie erhob sich rasch und mit unwilliger Bewegung, gieng zu einer altmodischen Kommode, kramte ein Papier hervor und warf es vor Philipp auf den Tisch.
Philipp entfaltete das Papier. Es war nichts geringeres als eine kurze, aber notariell beglaubigte Erklärung, daß Herr Ferdinand von Mohr dem Philipp Konrad Hölzle die Summe von fünfunddreißigtausend Gulden schulde, nebst Zinsen vom Tag der Ausstellung der Urkunde an.
Wie verrückt starrte Philipp bald das Papier, bald das Fräulein von Mohr an. »Fünfunddreißigtausend Gulden,« murmelte er, »das ist ja das große Loos! Fünfunddreißigtausend Gulden! – Aber das versteh' ein Anderer!«
»Das ist sehr einfach,« sagte das Fräulein unbefangen. »Ich glaube, ich deutete schon an, daß außer den besprochenen zehntausend Gulden vorher schon zehntausend und wieder fünfzehntausend Gulden vermittelt wurden – ich sage: vermittelt, Herr Hölzle!«
Nun hätte aber einer den Philipp Hölzle sehen sollen, er hätte ihn nicht wieder erkannt!
»Vermittelt!« stieß er heraus, »so, das heißt man also: vermittelt! Das ist ja aber zum reinen Ausderhautfahren – verzeihen Sie! Also fünfunddreißigtausend Gulden schuldet der Herr Ferdinand von Mohr dem alten Philipp Konrad Hölzle, und der Alte stirbt, und der Bankerott geht über sein ehrliches Geschäft, und der Philipp Hölzle junior und der Konrad Hölzle junior schinden sich fünf Jahre lang ab, um das Geschäft wieder zu Ehren zu bringen und jeden Kreuzer Schulden ehrlich abzuzahlen – und das hochadelige Haus von Mohr spricht kein Wort dazu und der Herr Ferdinand von Mohr ist längst nach Amerika, wo ihn kein Teufel mehr finden kann – und – und –«
Er hielt aufathmend inne, denn das Fräulein von Mohr war wie ohnmächtig im Sopha zurückgesunken. So etwas war dem Philipp noch nie vorgekommen; er kratzte sich hinterm Ohr, er legte sachte das Papier auf den Tisch, dann gieng er nach der Thüre und sah sich nach der Lore um. Er fand sie auf dem Flur draußen und sagte zu ihr, sie möchte doch hereinkommen, er wisse nicht, was mit dem gnädigen Fräulein sei. Die Lore sah ihn einen Augenblick groß an und ging dann rasch an ihm vorbei nach dem Zimmer des Fräuleins. Philipp aber stieg langsam und wie geistesabwesend die Treppen hinunter; es lag ihm wie Blei in den Gliedern und er wußte nicht, was er sollte und wollte.
Als er die geschnitzte Hausthüre hinter sich zugezogen hatte und auf den Marktplatz hinaus trat, der in winterlichem Schnee und augenblendendem Sonnenlicht glitzerte, blieb Philipp stehen. Es flimmerte ihm vor den Augen und es war ihm, als tanzten die Häuser um den Marktplatz her, als schnitte der steinerne Ritter auf dem Marktbrunnen Fratzengesichter, als riefe es drüben aus dem Hölzle'schen Hause mit der Stimme des Konrad: »Fünfunddreißigtausend Gulden! Das große Loos! Ha, ha, ha!«
Philipp wußte nicht, wie lange er schon auf einem Fleck gestanden und grad vor sich hinaus gestarrt hatte, da legte sich eine Hand auf seinen Arm und er hörte die Stimme der Lore, welche sagte: »Sie möchten noch einmal hinauf kommen, Herr Hölzle!« Die Stimme klang so ruhig und hell wie immer und Philipp kam wieder zu sich selber. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und folgte der Lore ins Haus zurück. Und da fiel ihm erst siedendheiß ein, daß er die Schuldverschreibung droben hatte liegen lassen, die er doch füglich hätte mitnehmen dürfen und sollen.
Als er in das Zimmer des Fräuleins zurück kam, saß diese wieder steif aufrecht wie die Sophalehne, aber doch von einigen Kissen gestützt und mit angegriffenem Gesichte. Die Lore trat zu ihr und rückte ein wenig an den Kissen, aber das Fräulein winkte ihr, sich zu entfernen, und sagte:
»Setzen Sie sich, Herr Hölzle! Ich muß noch weiter mit Ihnen reden. Aber sagen Sie mir: sind Sie denn in der That in den letzten Jahren in Noth gewesen?«
»Na, wie die Vögel im Hanfsamen haben wir nicht gelebt! Das können sich das gnädige Fräulein denken!« sagte Philipp etwas brummig.
»Nein,« sagte sie, »das ist's ja grade, daß ich mir die Sache nicht denken kann, nicht denken konnte bis jetzt –«
»Dann müssen Sie aber wenig von solchen Sachen verstehen!« meinte Philipp.
»Wenig? So gut wie gar nichts! Woher sollte ich auch? Aber sagen Sie mir: sind Sie denn in der That der Meinung, daß jene zehntausend Gulden den Bankerott Ihres Geschäftes herbei geführt haben? Von einem Bankerott sprachen Sie doch? Ach Gott ja, ich meine, ich habe seinerzeit so etwas gehört, aber wie konnt' ich denken –«
»Ja, wenn Sie gewußt haben, was ich jetzt weiß, so wär's nicht so schwer zu denken gewesen! Wenn ich mir die Sache jetzt zusammen reimen soll, so muß wohl mein Vater von den ersten zehntausend und dann von den fünfzehntausend Gulden einen guten Theil bereinigt haben – aber die letzten zehntausend, ja die werden uns schon den Hals gebrochen haben!«
»Aber das ist ja schrecklich,« jammerte jetzt das Fräulein auf's neue, »ich konnte, ich wollte es nicht glauben – ach Gott, ich bin wie ein Kind in diesen Dingen! – aber es wird nun wohl so sein! Und deswegen, Herr Hölzle –« sie nahm wieder einen etwas feierlichen und vornehmen Ton an – »deswegen glaube ich Ihnen um der Ehre unseres Namens willen eine Erklärung schuldig zu sein, wie das alles so gekommen ist. Auch die Bibelstelle, die Ihr Vater da auf den Zettel geschrieben hat, mahnt daran.«
Sie sah nachdenklich vor sich nieder, als suche sie nach einem passenden Anfang für ihre Erklärung, die wohl zu einer Erzählung werden mochte, und ihr Gesicht nahm jenen einwärts gekehrten Ausdruck an, der bei älteren Frauen zu beobachten ist, wenn sie von längstvergangener Jugendzeit erzählen. Philipp aber sagte:
»Ja, wär' mir schon lieb, wenn ich einmal drüber etwas erfahren könnte!«
Das Fräulein schwieg noch eine Weile, dann begann sie mit leisem Tone, fast wie im Selbstgespräch:
»Als kleines Mädchen hab' ich drunten auf dem Marktplatz viel mit dem Philipp Konrad gespielt – oder eigentlich nicht gespielt. Er war fünf Jahre älter als ich – ein stiller Lateinschüler, der fast nie mit seinen Kameraden herum tollte und manche Neckerei darüber hören mußte, daß er lieber mit seinem Buche in einem Winkel oder dort auf den Stufen am Marktbrunnen saß. Und dort bin ich oft bei ihm gesessen, und er hat mir erzählt von griechischen und römischen Göttern und Helden und vom hürnenen Sigfrid und vom Kaiser Barbarossa. Wenn er davon sprach, gieng ihm der Mund auf und er konnte schön und lebhaft erzählen. Und dann saß er wieder ganz still da, nur mit einem Lächeln, das ich heut noch sehe, und hörte mir kleinem Ding zu, wenn ich ihm die Märchen wieder erzählte, die ich von der Kinderfrau gehört hatte. Und einmal, da war er schon dreizehn Jahre alt, erklärte er mir ganz ernsthaft –« das Fräulein stockte und erröthete halb und halb, doch dann lächelte sie und fuhr fort: »nun ja, warum soll ich diese Kinderei nicht erzählen – Charlotte, sagte er, weißt Du, was ich einmal werde? Ein berühmter Professor, so berühmt, daß sogar Fürsten und große Herren mich zu Hofe laden, und dann bin ich so gut wie von Adel und Du bist nicht mehr als ich und dann kannst Du meine Frau werden! – Er sagte das mit einem sehr gnädigen Ton, aber ich erwiderte ihm noch gnädiger, daß ich dann doch noch das Fräulein von Mohr sei und mich sehr besinnen werde, einem bürgerlichen Professor die Hand zu reichen. – Doch genug! Ich weiß im Grund nicht, warum ich das erzähle – man denkt eben gern wieder an die schöne Kinderzeit und – kurz, ich wollte eigentlich nur sagen, daß Ihr Vater und ich Kindheitsgespielen waren, wie denn auch später noch lange Zeit gute Nachbarschaft zwischen uns war. Die von Mohr sind nicht so adelstolz, wie man sagt. Mit vierzehn Jahren mußte Ihr Vater wie die meisten Bürgersöhne die Schule verlassen und das väterliche Handwerk lernen – er thats ungern, aber er fügte sich in seiner stillen Art; mit zwanzig Jahren hatte er schon sein Meisterstück gemacht, und weil sein Vater bald darauf starb und er der einzige Sohn war, so kams auch, daß er sehr früh schon heiratete. Das war nun freilich etwas gewagt für die damaligen kriegerischen Zeitläufte, aber –«
Das Fräulein stockte abermals; sie wollte sich nicht wieder von der Erinnerung zu weit fortreißen lassen. Jene »Kinderei« hatte sie wohl erzählen können, aber es ging doch nicht wohl an, daß sie dem Philipp Hölzle junior erzählte, was eigentlich den Philipp Konrad Hölzle senior zu seiner raschen Heirat getrieben hatte. Sie hätte sonst sagen müssen, daß es dem stillen jungen Handwerker doch mit jener Kinderei ernster gewesen war, als man hätte denken sollen; daß auch das halbwüchsige gnädige Fräulein eine Zeit lang einen abenteuerlichen Geschmack daran gefunden hatte, und daß er dann, als das nicht mehr angieng, in einer Art von Trotz eiligst um die Hand seiner Base Eva geworben hatte – was übrigens der gescheiteste Streich seines Lebens war, wie sich hernachmals im Ehestand herausstellte.
Von diesen Dingen also redete das Fräulein kein Sterbenswörtlein, fuhr vielmehr fort:
»Kurz, es war schon bei der Heirat nicht ohne Schwierigkeiten mit den Behörden abgegangen, und als nun im Jahr Zwölf die Mannschaften für den russischen Feldzug Napoleons ausgehoben wurden, da mußte Ihr Vater auch mit. Doch davon hat er Ihnen wohl selbst erzählt?«
»Nein,« erwiderte Philipp, »mein Vater hat überhaupt fast nie erzählt, ich hab' immer geglaubt, er habe etwas aufgeschrieben, aber ich hab' in seinem Nachlaß nichts dergleichen gefunden. Aber das weiß ich noch, wie ich als kleiner Bub nicht hab' begreifen können, warum mein Vater so lange verreist war und meine Mutter immer so traurig, und daß ich damals oft hungrig war.«
Das Fräulein lächelte. »Und dann erinnern Sie sich vielleicht auch noch, daß damals zuweilen das junge Fräulein von Mohr in Ihr Haus hinüber kam? Doch davon will ich nicht reden – ich rede überhaupt zu viel, vielleicht hat Ihr Vater zu wenig geredet. Nun, den russischen Feldzug hat auch mein verstorbener Bruder Ludwig als Offizier mitgemacht, er war kaum achtzehn Jahre alt, und es war gut, daß unsere Mutter damals schon gestorben war; Ludwig war immer ihr Liebling gewesen, zu sehr vielleicht – und nun der Jammer, als alle die schlimmen Nachrichten aus Rußland einliefen, als endlich die wenigen Uebriggebliebenen heim kamen – aber Ludwig war nicht dabei – und Ihr Vater auch nicht, Herr Hölzle! Erst als man beide schon für todt betrauert hatte, kamen sie eines Tages beide zusammen heim –«
»Ja, das weiß ich auch noch,« fiel hier Philipp lebhaft ein, »und davon – ja davon hat mein Vater dazumal doch erzählt, wie sie sich mit einander in tausend Nöthen durchgeschlagen haben, der Herr Lieutenant von Mohr und er, und wie ihn der Herr Lieutenant einmal von den Kosaken errettet hat! Aber das war dazumal – später war nicht mehr davon die Rede.«
Das Fräulein seufzte: »Ja, später! Da sprach man freilich nicht mehr von Ludwig von Mohr!« Es klang fast ein bitterer Ton in diesen Worten. Nach einer Pause fuhr sie wieder fort: »Ich muß rascher erzählen! Ich erzähle auch nicht, um das Haus Mohr zu rühmen, sondern nur, um uns, um mich vor Ihnen zu rechtfertigen. Als Ihr Vater nach Hause gekommen war, stand's natürlich schlimm um sein Geschäft und Vermögen, die Kriegszeit dauerte noch fort, dann kamen die Hungerjahre – damals war gerade Ihr Bruder geboren, mein Vater hatte sich wieder verheiratet, auch mein Bruder Ferdinand wurde damals geboren; bei uns ging noch alles erträglich, aber in Ihrem elterlichen Hause nicht ebenso. Meine zweite Mutter – o daß sie nach wenigen Jahren starb! Wie vieles wäre anders geworden, wenn sie länger gelebt hätte! Sie war nicht viel älter als ich, aber ich verehrte sie wie eine Heilige, und das war sie auch! Sie also war es damals, welche theils aus eigenem Antrieb, theils auf den Wunsch meines Bruders Ludwig alles aufbot, um Ihrem Vater in seinen Nöthen beizustehen und ihm über die bösen Jahre nach Kräften hinüber zu helfen. Es kamen bessere Jahre und Ihres Vaters Geschäft kam bald, so sagte man, empor, wie es früher nie gewesen war. Natürlich ist er dann, das weiß ich noch aus meines Vaters Mund, keinen Pfennig an unser Haus schuldig geblieben, aber – nun, Herr Hölzle, jetzt begreifen Sie es vielleicht, daß Ihr Vater in seinen letzten Lebensjahren alles that, was er konnte, um mir aus der Noth zu helfen, in die mich – ich kann's ja nicht verhehlen – der Leichtsinn meines Bruders Ferdinand gebracht hatte! Sie können mir glauben, daß es mir nicht leicht wurde, Ihren Vater darum zu bitten und so gewissermaßen ihn an alte Dankesschulden zu mahnen – aber ich wußte keinen andern Ausweg! Es ist ja leider nicht mehr alles bei uns, wie es früher war, und für Ferdinands Spielschulden war sein Ehrenwort verpfändet – was bleibt unserm Hause am Ende noch als die Ehre des Namens? Und Ihr Vater – ich sehe jetzt erst ein, was er für uns gethan hat! Ich verstand ja nichts vom Geschäftlichen, ich wußte nur, daß meines Bruders Ehre wiederholt auf dem Spiel stehe, und ich hatte den begreiflichen Wunsch, daß alles so still als möglich abgehe. Und Ihr Vater, obwohl wir eigentlich lange so gut wie keinen Verkehr mehr gehabt hatten, er sagte nur immer: »ja, ja, das läßt sich machen! Seien Sie ganz ruhig! Das geht gut!« Wie konnte ich ahnen, daß die Dinge so gehen werden! Mein Bruder Ferdinand sagte freilich, als ich ihm in Baden-Baden die letzten zehntausend Gulden einhändigte, damit er in Ehren los und nach Amerika kommen könne – er sagte zuerst lachend: »das muß ich sagen, das ist äußerst gutmüthig von dem alten Hölzle!« – dann aber fügte er ganz ernst bei: »nein, ich wäre ein Schuft, wenn ich das so hinnähme! Das muß sicher gestellt werden, und Du wirst sehen, Charlotte, in Amerika geht's aus anderem Ton und in wenig Jahren ist alles bereinigt!« Und dann fertigte er die Schuldverschreibung aus, die hier liegt. Ich – ach wie harmlos war ich – ich hob sie gut auf, um für alle Fälle – –«
»Na,« sagte jetzt Philipp, »Sie brauchen sich nicht weiter zu entschuldigen, gnädiges Fräulein. Ich verstehe jetzt schon so viel, als gerade nöthig ist. Und ich will da nicht viel weiter sagen. Lieber wär' mir's, wenn manches anders gegangen wäre, aber was kann man machen? Und mein Vater hat immer gewußt, was er gethan hat.« – »Vielleicht,« fügte er dann nachdenklich bei, »wär's auch besser gewesen, wenn er mehr geredet oder schriftlich gemacht hätte – heißt das nur, wie man so sagt, um Lebens oder Sterbens willen!«
Beide schwiegen; das Fräulein betrachtete wieder das abgerissene Blatt aus dem Notizbuch des alten Hölzle und Philipp heftete seine Blicke auf die Schuldverschreibung, die immer noch auf dem Tisch lag. Dann erhob sich Philipp und griff nach dem Papier.
»Ich will jetzt gehen,« sagte er, »und ich meine, wir lassen die Sache vorderhand, wie sie ist. Freilich, den Schuldbrief hier, den müßt' ich wohl mitnehmen, gnädiges Fräulein –«
»Versteht sich!« sagte sie, wie aus einem Traum erwachend. »Und das Blatt hier –«
»Wenn das Ihnen von Werth ist, so – nun, ich habe nichts dagegen, wenn Sie's behalten. Aber, was ich noch sagen wollte – der Herr Ferdinand – hm, hin werden die fünfunddreißigtausend Gulden schon sein, ob ich den Schuldschein habe oder nicht –«
Nun aber richtete das Fräulein wieder stolz den Kopf in die Höhe. »Was soll das heißen?« fragte sie streng.
»Ich meine eben – Amerika ist weit – und ob der Herr Ferdinand noch lebt – und wenn auch – –«
»Sie wollen sagen,« unterbrach ihn das Fräulein, »daß Sie Zweifel darein setzen, ob mein Bruder seine Schuld einzulösen gewillt sei? Ist's schon so weit mit uns, daß man selbst an der Ehrenhaftigkeit eines Mohr zweifelt? Ich sage Ihnen: und wenn mein Bruder von den Todten auferstehen müßte, er würde kommen, seine Ehre zu retten!« Sie brach in Weinen aus.
»Na, na,« sagte Philipp begütigend, »so gefährlich war's ja nicht gemeint! Ich meinte nur – lebt denn der Herr Ferdinand noch?«
»Ja,« sagte sie, ihre Thränen trocknend, »er lebt! Zwar hab' ich schon einige Zeit keine Nachricht mehr von ihm, aber mein Herz sagt mir's: er lebt und er wird wieder kommen!«
»Wir wollen's einmal hoffen,« erwiderte Philipp, »ich kann ja Gottlob warten, und im schlimmsten Falle sind das gnädige Fräulein auch noch da. – Jetzt könnt' ich also gehen, aber da hab' ich noch was auf dem Herzen, vielleicht könnten Sie mir auch darüber Auskunft geben – nemlich, das ist auch eine kuriose Sache, das mit der Lore – mein Bruder Konrad nemlich – oder eigentlich, weil wir von dem Herrn Ferdinand gesprochen haben – –«
Weiter kam er nicht; er hatte über dem Bisherigen ganz vergessen, wie er diese Sache fein hatte einfädeln wollen, nun war er recht ungeschickt dran hingetappt und das Fräulein machte Augen, wie wenn er japanesisch gesprochen hätte.
»Ich weiß rein nicht, was Sie wollen?« sagte sie erstaunt. Philipp aber dachte nach diesem ungeschickten Anfang schon wieder auf den Rückzug. Er sagte rasch:
»Ja, dann verzeihen Sie, dann werden Sie wohl auch nichts weiter wissen. Drum also nichts für ungut, gnädiges Fräulein! Ich wünsche gesegnete Mahlzeit!« Und ehe das Fräulein ihn aufhalten konnte, hatte er sein Papier eingeschoben und war abgezogen.
Mit dem Fräulein aber giengen seine letzten Worte den ganzen Nachmittag um. Sie war in der That die harmlose gute Seele, als welche sie sich vor Philipp gegeben hatte, und die eigenthümliche Mischung von Standesbewußtsein und Weltunerfahrenheit, welche aus ihren Worten sprach, war so wenig erheuchelt als das erschrockene Mitleid mit dem Mißgeschick der Gebrüder Hölzle, das ihr jetzt erst im rechten Licht aufgegangen war. Immerhin fühlte sie sich durch die Auseinandersetzungen mit Philipp wieder einigermaßen getröstet und beruhigt und war des festen Glaubens, daß diese ganze Angelegenheit über kurz oder lang zum befriedigenden Abschluß kommen werde. Dagegen beunruhigte sie jetzt die Schlußfrage Philipps, die sonderbare Zusammenstellung der Namen Lore, Konrad, Ferdinand; sie fürchtete eine neue unliebsame Entdeckung. Endlich beschloß sie, der Sache sofort auf den Grund zu gehen, und als gegen Abend die Lore gerade im Zimmer beschäftigt war, begann sie mit ernstem Ton:
»Lore, ich habe etwas mit Dir zu reden, und ich hoffe, Du wirst so aufrichtig sein, wie ich es von Dir erwarten darf.«
Lore war mitten im Zimmer stehen geblieben, sie sah das Fräulein mit ruhigem Blick an, aber auf dem Brett, das sie in der Hand hielt, klirrten doch die Tassen ein wenig, als ob ihre Hände zitterten. Es mochte ihr sofort außer Zweifel sein, daß das, was das Fräulein mit ihr zu reden habe, mit dem Besuch Philipps im Zusammenhang stehe. Das Fräulein aber gieng rasch auf die Sache los und fragte:
»Herr Hölzle hat diesen Vormittag Deinen Namen und den meines Bruders Ferdinand in Einem Athem genannt – kannst Du Dir denken, wie er dazu kam?« Dabei heftete sie einen forschenden Blick auf die Gefragte. Diese hielt den Blick aus, ohne zu erröthen, aber sie antwortete nicht.
»Lore!« mahnte das Fräulein. Keine Antwort. Aber das Mädchen senkte jetzt den Blick und ihr Gesicht ward bleicher.
»Lore,« sagte das Fräulein in gütigem Tone, »ich habe Dich, seit Du in meinem Hause bist, so gehalten, daß ich glaube, Vertrauen und Aufrichtigkeit von Dir erwarten zu dürfen, um was es sich auch handeln möge! Du weißt, mit welchem Widerstreben ich Deinem Eigensinn – anders kann ich's nicht nennen – nachgegeben habe, als Du darauf bestandest, alle Geschäfte im Hause allein besorgen zu wollen. Habe ich Dich darum jemals als Magd behandelt? Habe ich Dich überhaupt jemals Deine dienende Stellung fühlen lassen? – Du wirst vielleicht erwidern, daß Du's nicht anders verdient habest, und es ist wahr, ich mußte oft staunen: Du warst nicht, wie andere Deinesgleichen sind, Du hast Dich um mich bemüht, fast als wäre ich Deine Mutter oder Schwester – aber um so mehr erwarte ich Vertrauen von Dir! Dein Schweigen sagt mir, daß meine Frage nicht müßig ist – Lore, willst Du mir nicht antworten?«
Das Fräulein hatte sich allmählig in einen erregten ungeduldigen Ton hineingesprochen, es war, als fühle sie, daß hier etwas sei, das um jeden Preis aufgeklärt werden müsse. Die Lore war während der Rede des Fräuleins unbeweglich gestanden, nur ihre Lippen hatten einigemale gezuckt – war's in Schmerz oder Trotz? Nun hob sie die Augen wieder und sagte fest: »erlassen Sie mir die Antwort, gnädiges Fräulein!«
»Nimmermehr, ich muß sie haben!«
Die Lore schwieg.
»Und ich habe noch eine zweite Frage! Auch den Namen seines Bruders Konrad hat Herr Hölzle zugleich mit dem Deinen genannt –«
Nun schoß eine jähe Röthe über das Gesicht der Lore und das Brett mit den Tassen in ihrer Hand klirrte heftiger. Sie setzte dasselbe auf den Tisch nieder, schlang beide Hände ineinander und mit mühsam verhaltener Erregung fragte sie ihrerseits:
» Was hatte er von seinem Bruder und mir zu sagen?«
»Nichts, nichts!« sagte das Fräulein, wie erschrocken über den ungewohnten Ton, in dem die Lore gesprochen hatte. »Es war nur eine Andeutung, eine Frage, die ich nicht verstand und worüber ich von Dir Aufklärung möchte.«
»Und diese sollen Sie haben,« sprach jetzt die Lore, »ich merke, daß ich das mir selber schuldig bin. Was auch der Philipp Hölzle Ihnen gesagt oder angedeutet haben mag: er hat gelogen, wenn er etwas anderes gesagt hat, als daß ich einmal die Braut des Konrad Hölzle war und daß dieser schuldig ist, wenn ich's nicht mehr bin!«
Das Fräulein zog die Augenbrauen in die Höhe: »So! da höre ich neue Dinge! Das hat also ganz in der Stille über den Marktplatz hinüber und herüber gespielt? Lore, ich hätte geglaubt –«
»Nein, das hat nicht über den hiesigen Marktplatz gespielt! Seit ich hier bin, habe ich kein Wort mit Konrad Hölzle gewechselt. Das war in Baden-Baden zur Zeit, als ich bei Ihnen eintrat.«
»Warum hast Du mir damals nichts davon gesagt?«
»Ich wollte es sagen, aber zuerst fand sich keine passende Gelegenheit und dann war's nicht mehr nöthig, weil alles aus war.«
Das Fräulein wiegte den Kopf und schien nachzudenken. Die Lore preßte die Lippen aufeinander, als kämpfe sie sich selbst zur Ruhe.
»Lore,« begann das Fräulein wieder, »sag' mir alles aufrichtig; es ist gewiß am besten so! Warum hat der Konrad Hölzle Dich verlassen?«
»Es war ein Mißverständniß!« sagte die Lore zögernd.
»Ein Mißverständniß? Und weiter nichts? Hättet ihr das nicht seither lösen können?«
»Vielleicht, wenn der Konrad gewollt hätte.«
»Oder wenn Du gewollt hättest, Lore!«
Lore richtete sich in ihrer ganzen Höhe empor:
»Wenn er so gering von mir dachte, daß dies Mißverständniß überhaupt möglich war, so hätte ich mich heruntergegeben durch jedes Wort, mit dem ich ihm wieder entgegen gekommen wäre.«
»Aber so sag' mir doch: worin bestand das Mißverständniß?«
Lore schwieg. Das Fräulein dachte wieder nach. Dann sagte sie, als komme ihr plötzlich ein Gedanke, mit scharfem Ton:
»Lore, ich will wissen, was mein Bruder Ferdinand bei dieser Sache zu thun hat! Wenn Du nicht antworten willst, so sind wir geschiedene Leute. Was ich dann denke, ist meine Sache!«
Jetzt schoß der Lore abermals alles Blut in's Gesicht, ihre Lippen schürzten sich wie zu einer empörten Antwort, aber sie schwieg; plötzlich verließ sie raschen Schrittes das Zimmer, ohne auf den Befehl des Fräuleins zu achten, welcher sie bleiben hieß. Doch nach wenigen Augenblicken kam sie wieder zurück, sie hielt ein Packet Papiere in der Hand, die sie in ihrem Stübchen geholt hatte, und schweigend, aber mit funkelnden Augen legte sie dieselben vor das Fräulein auf den Tisch. Dann wandte sie sich trotzig an's Fenster.
Verwundert entfaltete das Fräulein die Papiere. Da war der kurze Abschiedsbrief des Konrad Hölzle an die Lore. Ein entrüstetes »Aha!« entfuhr den Lippen des Fräuleins. Aber gleich darauf, als sie die andern Papiere, die meist aus vergilbten Briefen bestanden, zu entfalten begann, rief sie: »das ist meines Bruders Ludwig Hand!«
Es wurde still im Zimmer; nur zuweilen knisterte das Papier in der Hand des Fräuleins oder kam ein tiefer hastiger Athemzug aus ihrer Brust, während ihre Augen über die Zeilen flogen. Am Fenster stand die Lore, wenige herbe Tropfen rannen über ihre Augen – draußen überglühte der Purpur der sinkenden Sonne den Schnee auf Marktplatz und Dächern, und ein Widerschein davon lag auf der Lore schönem Gesicht.
Das Fräulein hatte zu Ende gelesen. Das letzte Papier hatte die Züge Ferdinands gezeigt und die Worte enthalten: »Daß ich die in der Anlage verzeichneten Schriftstücke in alten Papieren meines Stiefbruders Ludwig von Mohr gefunden und seiner Tochter, Eleonore Kraft, zu beliebigem Gebrauche übergeben habe, beurkunde ich unter Beidrückung des Familienwappens.« – Folgte der Name und die Datirung aus Baden-Baden.
Die Stille im Zimmer verlängerte sich, der Purpurschein draußen verschwand und die Dämmerung begann in's Zimmer zu schleichen. Das Fräulein saß unbeweglich in ihrer Sophaecke, und am Fenster stand die Lore – keine Thräne kam mehr aus ihren Augen, aber ihr Mund schloß sich immer herber und trotziger.
Endlich brach ein Wort die Stille: »Lore, komm!« Das Wort klang ganz leise, aber es zitterte etwas in der Stimme des alten Fräuleins, als habe eine Mutter gerufen. Und einen Augenblick darauf kniete die Lore vor ihr und barg das trotzige stolze Haupt in ihrem Schoß. –
Es war völlig dunkel geworden. »Nun mache Licht,« sagte das Fräulein, »und setze Dich dann wieder zu mir!«
Lore entzündete die Lampe, dann holte sie einen Schemel und setzte sich zu den Füßen des Fräuleins. Diese strich ihr mit der Hand über den braunen Scheitel, sie rückte die Lampe näher, sah dem Mädchen ins Gesicht und nickte. Endlich sagte sie:
»Nun erzähle mir in der Ordnung, wie es damals in Baden-Baden gegangen ist, und was das Mißverständniß mit Konrad Hölzle war! Wir sind ja ganz allein und es hörts kein Mensch außer mir.«
Zögernd begann die Lore. Sie erzählte von jenem Vorgang in der Lichtenthaler Allee, wie sie mit Konrad Hölzle bekannt geworden und dann so gut wie seine Braut geworden sei; wie dann eines Tages Ferdinand von Mohr in der Wirthschaft erschienen sei und ihr in Gegenwart der Wirthin den Antrag gestellt habe, bei dem Fräulein in Dienst zu treten. Er sei so kurz angebunden, fast mürrisch und hochfahrend gewesen, daß es ihr nicht im Traum eingefallen sei, er könnte noch irgend welche andere Absicht haben als die, einen lästigen Auftrag des Fräuleins auszuführen. Und doch – wie der Konrad später gefragt habe, durch wen der Antrag an sie gekommen sei, habe sie – sie habe selbst nicht gewußt, warum – nicht mit der Sprache heraus mögen.
»Und das war von Anfang an nicht gut,« fuhr sie fort, »ich sah wohl, daß es den Konrad verstimmte. Doch gab er sich zufrieden und drang nicht weiter in mich. Als ich ihn zum ersten Mal, nachdem ich bei Ihnen eingetreten war, wieder sah, schien's auch, als ob alles in Ordnung wäre. Aber noch am selben Tag war's, daß Ferdinand mich ins Gärtchen rief und mir – nun eben das alles sagte. Ich meinte, ich müsse in den Boden sinken, und verbat mir recht grob solche Scherze, aber dann gab er mir die Papiere dort, er wurde sehr ernst dabei – und am Ende mußte ich ihm glauben. Er sprach dann so allerlei, als sollte aus mir – ich weiß nicht was alles noch werden, ich aber erklärte ihm rund und deutlich, daß ich bleiben wolle, was ich einmal sei, und daß ich im übrigen bald die Frau des Konrad Hölzle werde. Ich weiß nicht, hat ihn nur der Name Hölzle so verdutzt gemacht, oder war noch etwas anderes dabei – er sagte kurz: nun ja, wie ich wolle; übrigens wisse außer ihm und mir noch niemand von diesen Dingen und ich solle auch vorderhand davon schweigen; dann gieng er weg. Aber zwei Tage nachher sprach er wieder im Gärtchen mit mir – er sprach so ernst und so gut, daß ich ein Zutrauen zu ihm haben mußte: er sagte, er wolle nicht weiter von jener Angelegenheit reden und mir's ganz überlassen, was ich thun wolle; nur eine Urkunde habe er mir für alle Fälle ausgestellt; er selbst gehe jetzt, wie ich wohl schon wisse, nach Amerika; und weil er's herzlich mit mir meine, müsse er mir auch sagen, daß er dem Vater des Konrad Hölzle, der ein sehr wohlhabender Handwerker sei, viel Geld schulde – es sei möglich, daß das Verlegenheiten für die Familie Hölzle gebe, aber er könne es jetzt nicht ändern; doch sei er gewiß, daß er in kurzer Zeit in Amerika so weit kommen werde, um seine Schulden abzutragen; inzwischen habe er nur die Eine Bitte an mich, daß ich, wenn ich die Frau des Konrad Hölzle sei und wenn in der Familie schlecht von ihm gesprochen werde, daß ich dann ein gutes Wort für ihn rede. Das sollte ich ihm versprechen und ihm vertrauen. Ich gab ihm die Hand darauf – er streckte mir die seinige so bittweise entgegen, daß ich nicht anders konnte, und dann –« die Lore senkte ihr Gesicht tiefer und sprach kaum hörbar – »dann hat er mich geküßt.«
»Das hätte er können bleiben lassen!« sagte das Fräulein eifrig.
»Ja!« bestätigte die Lore und richtete sich stolz wieder auf. »Und ich hätte mir's auch nicht gefallen lassen – ich hatte mir noch von niemand dergleichen gefallen lassen, selbst nicht von dem Konrad! Aber ich war so verwirrt und – kurzum, das gab das Mißverständniß, von dem ich sagte! Am andern Tag erhielt ich das Briefchen von dem Konrad, das Sie gelesen haben, und nun wußt' ich, daß er gelauscht hatte. Einem Mann aber, der seiner Braut nachschleicht und sie belauscht, geb' ich kein gutes Wort mehr, und wenn mir das Herz darüber entzwei springt, und wenn ich fünf Jahre lang und in Ewigkeit ihn täglich vor mir sehen muß!«
Lore sprang auf und drückte das Gesicht wieder an die Fensterscheiben. Auf dem Marktplatz drunten flimmerte der Schnee im Schein der Laterne, aus dem Wirthshaus in der Straße rechts kam lautes Rufen – sie wandte sich vom Fenster zurück, setzte sich wieder auf ihren Schemel und begann leidenschaftlich zu weinen.
»Glaubst Du, daß Du Recht hast, Lore?« fragte das Fräulein nach einer Pause.
Lore sah rasch empor: »Gewiß!« sagte sie.
»Vielleicht doch nicht!« erwiderte das Fräulein sanft und nachdenklich. »Ich bin auch einmal jung gewesen und habe einen Mann geliebt und er mich – und ich mußte ihn verachten! Denn er war ein preußischer Edelmann und entzog sich dem Dienst seines Vaterlandes noch zu einer Zeit, da man auch bei uns im Süden die Ketten Napoleons abgeworfen hatte, noch nach der Leipziger Völkerschlacht. Aber meine Verachtung wurde zum Mitleid, weil ich ihn trotz allem liebte, und ich habe meinen Stolz weggeworfen und bin ihm nachgegangen und habe ihn zurecht gebracht – bei Waterloo ist er unter den Augen des Feldmarschalls Blücher gefallen.«
Auch des Fräuleins Augen standen in Thränen. Sie trocknete dieselben rasch wieder und fuhr fort:
»Sag' mir eins, Lore: liebst Du den Konrad noch?«
Lore antwortete nicht, aber sie barg auf's neue ihr Gesicht in des Fräuleins Schoß.
Nach einer Weile begann das Fräulein: »warum hast Du mir von alle dem nicht früher gesagt?«
»Weil ich keinen Grund dazu hatte!« erwiderte die Lore. »Und es soll auch jetzt alles bleiben wie's ist!«
Und es blieb so, so viel auch das Fräulein an jenem Abend noch mit der Lore redete. Aeußerlich wenigstens, für die Augen der Leute änderte sich nicht das Geringste in der Stellung der Lore im Mohr'schen Hause.
Ebenso wenig trat im Haus der Gebrüder Hölzle nach jenem Sonntag eine bemerkenswerthe Veränderung ein. Die Schuldverschreibung, welche Philipp aus dem Mohr'schen Hause gebracht hatte, lag wohlverschlossen, auch dem Konrad unbekannt, in der Kommode; Philipp selber arbeitete schweigsam auf dem Handwerk weiter und Konrad kam immer mehr zu der Ueberzeugung, daß er durch Schicksal und Talent zum Führer und Anwalt des unterdrückten Volkes berufen sei.
Zwar hatte Philipp eine Weile geschwankt, ob er von seiner Unterredung mit dem Fräulein von Mohr dem Konrad berichten solle oder nicht. Aber er hatte zu sich selbst gesagt: »so wie der Konrad jetzt ist, gießt das nur Oel in's Feuer; er wird nur wüthiger und giftiger, wenn er davon hört, daß die Mohr'schen uns so viel Geld schuldig sind. Wird das einmal bezahlt, so ist's gut – ist das Geld hin, so ist's schon besser, wenn der Konrad jetzt nichts davon erfährt. – Freilich, verdammt wär's doch, wenn das Geld hin wäre! Na, gar zu gutmüthig wär' dumm! Wenn ich sehe, daß von dem Ferdinand nichts zu hoffen ist, so halte ich mich eben an das Fräulein, und wenn nur ein paar tausend Gulden dabei heraus springen! Aber nein – das geht doch nicht! Ich kann ihr doch nicht Haus und Hausrath verkaufen lassen. – Sei's, wie's wolle, wir können warten. Vielleicht kommt das große Loos, dann können wir den Herrschaften ihren Bettel hinwerfen. – Ob wir das thäten? Abwarten! – Aber was die Lore anbelangt, da bin ich jetzt so klug wie vorher! Ich hab's aber auch eselhaft dumm angegriffen! – O Philipp! Reden ist nicht dein' Sach'!«
Um so mehr war das Reden inzwischen Konrads Sache geworden. Wenn man eine Zeit lang immer über dasselbe geredet hat, so geht's am Ende wie geschmiert, und die Leute, die einem Redner nach ihrem Herzen zuhören, verlangen ja gewöhnlich nicht, daß er viel Gescheites oder Neues oder Tiefdurchdachtes vorbringe – wenn nur die Stimme so recht thut, als ob die Wände wackeln sollten, wenn nur all' paar Sätze so eine kräftige oder rührende Redensart fällt, die einem bekannt vorkommt, ob man sich auch nicht viel dabei denken könne – aber sie klingt doch so schön und überzeugend! – und wenn nur im Ganzen der Redner nichts sagt, was dem Zuhörer quer durch den Kopf geht, wenn er vielmehr alles so hinzustreichen weiß, daß jeder hinterdrein meint, das sei alles von Ewigkeiten her wahr gewesen und er selbst habe das schon lang gewußt, er hab's nur nicht so schön sagen können wie der Redner: dann hat's der Redner gewonnen, ob er nun der Pfarrer auf der Kanzel sei oder der Volksredner im Wirthshaus! Nur beileibe darf er nichts sagen, was die Eigenliebe der Zuhörer verletzen oder ihr Gewissen beunruhigen oder unsanft an ihren Beutel langen oder vollends gar voraussetzen könnte, daß die Hörer selber etwas denken. Thut ein Redner das, dann kann er heimgehen und darf froh sein, wenn's keine faulen Eier regnet.
Konrad that nichts dergleichen, er redete ganz so, wie's die Leute wollten. Im Herzen zwar verachtete er von Tag zu Tag gründlicher seinen ganzen Anhang. Er fieng auch an, allerlei Bücher zu lesen, ob ihm auch dabei der Kopf schmerzte vom Bier und Wein des vorigen Abends; und weil er von Natur ein gescheiter Kerl war, so merkte er allerhand, was seinen Zuhörern im Wirthshaus nicht im Schlaf einfiel. Aber er sagte ihnen kein Sterbenswörtlein davon, er sagte ihnen nur das, was sie hören wollten. Es machte ihm einen grimmigen Spaß, die Leute durcheinander zu hetzen – was am Ende dabei heraus kommen sollte, darnach fragte er nicht, und er beruhigte sein Gewissen damit, daß ja doch über kurz oder lang alles durcheinander gehen werde und daß es da vollends auf einen Bauernschuh nicht mehr ankomme. Drunter hinein glaubte er aber auch selbst alles, was er redete – wie's eben geht, wenn man viel redet! Und er redete immer mehr, je mehr er manchmal sich selbst hätte aufs Maul schlagen mögen. Er war eben, wie der Philipp sagte, »ganz aus dem Häusle«.
Und so brachte er's im Lauf des Winters zum zweiten Vorstand des demokratischen Vereins. Zu gleicher Zeit mit diesem Verein war noch ein anderer entstanden, welcher der liberale Verein hieß; dieser setzte sich mehr aus den sogenannten Honoratioren und Studirten zusammen, war auch weniger für's Schimpfen, Lärmen und Trinken, als für's verständige Rathschlagen über ein einiges und freies Deutschland. Im Grunde wäre Konrad lieber dem liberalen Verein beigetreten, aber dort hätte er bescheiden hintenanstehen, hören und lernen müssen, deswegen blieb er beim demokratischen Verein, bei dem er vornean stand, reden und belehren konnte nach Herzenslust. Und das Schöne bei der Sache war überdies, daß der demokratische Verein in Gestalt des liberalen nun einen weiteren Feind hatte, gegen den man losziehen konnte – denn was waren diese Liberalen im Grunde anders als elende Fürstenknechte? Die wahre Freiheit war ja nur bei den Demokraten, und der Philipp verstand wohl nichts von der Sache, als er einmal seinem Bruder sagte: »Konrad, wenn Du wenigstens bei den Liberalen wärst, ließ' ich mirs gefallen! Die wissen doch, so weit ich's verstehe, wenigstens etwas, nemlich was sie wollen. Ihr Demokraten aber könnt nur saufen und krakehlen!« – worauf der Konrad lachte und sagte: »kannst recht haben, aber mir gefällts so besser.«
So wurde es Februar Achtzehnhundertundachtundvierzig, die Pariser Revolutionstrommel rasselte und wirbelte in die deutschen Köpfe hinein und auch die Gescheitesten konnten nicht immer mehr ihre Gedanken sauber über Wasser halten. Von den Liberalen im Städtchen giengen dazumal einige zu den Demokraten über, und das schmeichelte dem Konrad. Dann giengs an die Gründung der Bürgerwehr; aber wie es zwei Vereine gab, so entstanden auch sofort zwei Bürgerwehren, eine liberale und eine demokratische, bei letzterer war Konrad Hölzle Adjutant; – und während draußen in der Welt die Ereignisse ihren ehernen Schritt giengen, gewannen im Städtchen die Händel zwischen Liberalen und Demokraten immer mehr an alles verschlingender Bedeutung und stellten im Kleinen ein schönes Bild der kommenden deutschen Einigkeit dar.
Das Frühjahr kam, der berühmte März gieng vorüber, im April schlug man sich im badischen Oberland, nun kam der Mai und man wählte für die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt.
Trotz all' dieser wichtigen Ereignisse hatte man im Städtchen noch genügend Zeit, darauf zu achten und darüber zu reden, daß am 17. Mai des Nachmittags an dem Mohr'schen Hause auf dem Marktplatz eine fremde Kutsche vorfuhr, aus welcher ein hochgewachsener Mann mit großem Bart und eine wunderschöne junge Frau stiegen. So rasch sich auch die eichenen Thürflügel des Hauses hinter den Beiden schlossen, so rasch wurde es doch bekannt: der Ferdinand von Mohr sei aus Amerika zurück gekommen und habe eine Frau mitgebracht, die ihm mindestens zehn Millionen zugebracht habe. Das letztere wurde von den Einen stark bezweifelt, die Andern aber wußtens gewiß, nur gestanden sie wohlweislich nicht, woher?
Auch dem Philipp Hölzle wurde diese Neuigkeit noch am Abend desselben Tages von einer Hausbewohnerin mitgetheilt. Er brummte: »Dumm's Zeug!« – so grimmig, daß sich die Frau beleidigt zurückzog. Aber schlafen konnte er doch die ganze Nacht nicht, obwohl der Konrad diesmal zeitiger als sonst nach Hause gekommen war. Dieser hatte im demokratischen Verein dieselbe Nachricht gehört, hatte dann eine große Rede gehalten: wie schmählich es sei, daß man in solch' großer Zeit sich um solch' nichtigen Klatsch kümmern möge; daß aus den Mienen und Reden eines Theils der Versammlung noch der alte dumme Respekt vor dem Adel und dem Gelde spreche; daß damit nun bald ein Ende werden müsse, wie's denn überhaupt höchste Zeit sei, nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gleichheit mit dicken Buchstaben auf die Fahne zu schreiben – die Brüderlichkeit könne ihm seinethalb gestohlen werden, denn mit der sei's ja doch eine verlogene Geschichte, so gut wie mit der christlichen Liebe, von welcher der fetteste Heuchler am meisten fasle – er habe es überhaupt satt mit all den verlogenen Redensarten und er werde dem demokratischen Verein noch ein ganz neues Licht aufstecken oder aber zu den Liberalen übergehen – – und so weiter! Er hatte sich in einen Ton hineingeredet, in welchem fünfundzwanzig Prozent besserer Erkenntniß sich mit fünfundzwanzig Prozent alten Hasses und fünfzig Prozent hergebrachten Geredes mischten; aber die fünfundzwanzig Prozent Erkenntniß hatten ihm ein namhaftes Zischen eingetragen, und so war er zum ersten Mal seit langer Zeit als der Erste nach Hause gegangen – innerlich angeekelt von seinem bisherigen Treiben, aber zugleich in Zorn und Wuth versetzt von alten Erinnerungen, die sich alle an den Namen Ferdinands von Mohr knüpften.
»Also, mit einer Frau ist der Ferdinand heimgekommen – natürlich, und die Lore kann sich jetzt die Frau von Mohr in der Nähe besehen! Ja, und sie kann sich spiegeln, die Lore: so ist's noch all' dem hoffärtigen Mädelsvolk gegangen, das gemeint hat, ein adeliges Herrlein, das fein scharmutziren kann, sei besser als unsereins gemeiner Bürgersmann! Geschieht ihr recht! Wer zuletzt lacht, lacht am besten – und jetzt ist das Lachen an mir! – Aber da lach' einer! Ein Heiliger könnt 's Fluchen lernen! Nein, jetzt dauert mich die Lore. Lieber Gott, so ein Frauenzimmergehirn, das ist bald verdreht und verruckt! So ein netter Kerl, wie der Ferdinand damals war – Wetter, ich konnte mich ja auch sehen lassen – aber so was Nobles, Flottes, und wie er damals in der Lichtenthaler Allee vor den beiden andern stand – da sperren sie die Augen auf, die Weibsleute! Aber so sind sie halt einmal; mach' sie einer anders! Nein, die Lore dauert mich jetzt! Da wird's schöne Thränen geben heut Nacht, und das Stölzlein wird umknicken wie ein junges Apfelbäumchen ohne Stütze. Schad' drum: ihr Stolz ist ihr doch gut gestanden! Aber der Ferdinand, den soll – –! Ja, das sind diese verfluchten, hochwohlgeborenen Kerle, die meinen, alle anständigen Bürgermädchen seien nur für ihren Spaß da! Und wenn so ein Köpfchen verdreht und der Rahm von der Milch abgeschöpft ist, dann findet man immer noch eine reiche Frau, und das arme Mädel soll thun, als ob das ganz in der Ordnung wäre. – Nein, ich sag's nochmal: jetzt dauert mich die Lore! Aber dem Ferdinand – na, dem will ich noch was einbrocken, der soll mich noch kennen lernen! Jetzt sind wir gemeinen Leute Herr, jetzt wird's anders!«
So brummte der Konrad vor sich hin und noch im Bette überlegte er allerlei Pläne, wie man von Seiten des demokratischen Vereins dem Herrn Ferdinand von Mohr den Aufenthalt in der Heimat versüßen könnte. Am andern Morgen gieng er sehr früh in mehrere Wirthshäuser, fand auch bald verschiedene Leute, die er suchte, aber es war eigen: keiner der Pläne, die er sich ausgesonnen hatte, wollte ihm so recht mehr gefallen, und die Gesichter, die ihm seine Kameraden machten, ihre kurzen und spitzigen Antworten erinnerten ihn lebhaft daran, daß er mit seiner Rede am vorigen Abend gerade kein Glück gehabt hatte. Er war ärgerlich, bekam einige Händel, trank drunter hinein etwas mehr, als gerade Morgens schon gut war, und befand sich bald in einer ganz heillosen Gemüthsverfassung.
Unterdessen saß Philipp ruhig an seiner Arbeit; äußerlich wenigstens merkte man ihm nichts davon an, daß auch ihn dasselbe umtrieb wie den Konrad, nur freilich von einer ganz andern Seite her. Sollte er jetzt wieder hinüber gehen ins Mohr'sche Haus und dem Herrn Ferdinand seinen Schuldbrief präsentiren? Das Sicherste schien's wohl jedenfalls; aber ob's auch so ganz schicklich war, den Heimgekehrten gleich am ersten Tag mit Schuldforderungen zu behelligen? Uebrigens – was, schicklich? Hier handelte sich's um keine Schicklichkeit! Oder wenn, so konnte man's eher schicklich heißen, daß der Herr von Mohr gleich am ersten Tag daran denke – ja, wenn er überhaupt dran dachte!
Auf dem Stadtkirchenthurm schlug's elf Uhr, da klopfte es an Philipps Thüre und herein trat – wahrhaftig kein anderer als Ferdinand von Mohr! Philipp erkannte ihn, trotz des großen Bartes und des etwas ernsteren Gesichtsausdrucks, und sein einziger Gedanke war vorläufig: »na, jetzt bin ich aber begierig!«
»Sie sind der Herr Philipp Hölzle, nicht wahr?« begann Ferdinand. »Ja, freilich, Sie haben sich die Zeit her nicht viel verändert; und Sie führen das Geschäft, nicht wahr?«
»Zu dienen!« erwiderte Philipp, »Sie sind doch der Herr Ferdinand von Mohr?«
Ferdinand nickte und sagte mit einem Blick auf den Gesellen und den Jungen: »Ich habe eine geschäftliche Angelegenheit mit Ihnen zu erledigen.« Philipp verstand den Blick und schickte die Beiden fort, indem er wiederholt dachte: »nun bin ich aber wahrhaftig begierig! 's wär' doch kaum zum Glauben!«
Letzteres sagte er unwillkürlich halblaut vor sich hin; Ferdinand hatte es gehört und sagte lächelnd:
»Was wär' kaum zum Glauben? Daß einer, der Schulden halber nach Amerika ist, nach fünf Jahren zurück kommt, um ehrlich seine Schulden zu zahlen? Ja, sehen Sie, da drüben passirt manches, was kaum zum Glauben ist, zum Beispiel eben das, daß ich in fünf Jahren ein solider und reicher Mann geworden bin. Aber daß ich ein ehrlicher Mann geblieben bin, das werden Sie mir doch wohl glauben, Herr Hölzle?«
»Ja, das schon –« sagte Philipp langsam.
»Aber Sie möchtens auch sehen, nicht wahr? Nun, eben deswegen bin ich da. Sie haben eine Schuldverschreibung auf meinen Namen im Betrag von fünfunddreißigtausend Gulden nebst Zinsen – diese möchte ich mir zurück erbitten.«
»Ja, aber,« sagte Philipp bedenklich, »die ganze Summe werden Sie wohl nicht auf einmal zahlen können – außer Sie wären etwa in dem Goldland gewesen, das sie voriges Jahr entdeckt haben sollen – Kalifornien, glaub ich, heißt's.«
»Ja,« lachte Ferdinand, »dort bin ich allerdings gewesen, habe auch ein kleines Sümmchen von dort mitgenommen und dann – Sie können's ja wissen, wenn Sie's so sehr interessirt – ich mache keinen Hehl daraus und Sie wissen ja ohnedies, wie mir meine Schwester sagt, allerlei aus unserm Hause – nun also kurz: ich habe mein altes Glück gehabt und in der Geschwindigkeit noch einen reichen Mann da drüben beerbt, der mir nicht blos sein Geld, sondern auch seine Nichte hinterlassen hat – und das Letztere meine ich eigentlich allein, wenn ich von Glück rede!«
»Teufelskerl! Und was wird dazu die Lore sagen?« dachte Philipp, ließ es aber nicht laut werden.
»So und jetzt, denke ich, könnten wir unser Geschäft bereinigen,« fuhr Ferdinand fort, indem er eine Brieftasche hervor zog; und ernster setzte er hinzu: »ich bin nicht blos mit dem Geld in Ihrer Schuld, sondern ich habe auch, wie mir meine Schwester sagt, noch anderes Ihrem Hause gegenüber auf dem Gewissen, wovon ich da drüben überm Meer keine Ahnung hatte. Sie können mir glauben, daß ich das von ganzem Herzen bedaure und so viel wie möglich wieder gut machen möchte. Auch mit Ihrem Bruder Konrad hätte ich einiges zu reden – doch davon nachher! Machen wir einmal das eigentliche Geschäft ab!«
Und er zählte Schein um Schein, Goldstück um Goldstück auf den Tisch, während Philipp aus der Kommode den Schuldschein holte und sich dabei vorkam wie ein Märchenprinz. Er mußte ordentlich seine Gedanken zusammen nehmen, um sich klar zu machen, daß im Grund durch diese märchenhafte Geschichte nur das Hölzle'sche Vermögen wieder auf einen Stand gebracht werde, auf dem es zu seines Vaters Zeiten zwar nicht ganz gewesen war, auf dem es aber jetzt ungefähr hätte sein können, wenn nicht der Bankerott dazwischen gekommen wäre.
Darüber bemerkte er nicht, daß sich mit dem Schuldschein sein vielgeliebtes Fünfunddreißiggulden-Loos aus dem Fach der Kommode geschoben hatte und auf dem Rand der Klappe liegen geblieben war. Das Geld, das Ferdinand aufzählte, betrachtete er mit gefalteten Händen, dann zählte er es nach, prüfte einige Scheine und Goldstücke extra, legte den Schuldschein in Ferdinands Hand und brachte dann den schweren Mammon in dem Fach der Kommode unter, wo vorher nur der zweifelhafte Schuldschein und das ebenso zweifelhafte Loos gelegen waren.
Da polterte es draußen auf der Treppe, die Thüre wurde aufgerissen, hastig und mit grimmigem Gesicht stürmte Konrad herein.
»Heut ist der achtzehnte Mai,« rief er, ohne zunächst den Herrn von Mohr zu bemerken, »heut wird die Nationalversammlung in Frankfurt eröffnet – wenn Du ein rechter Deutscher sein willst, Philipp, so machst Du heut auch blau! Freilich, die Esel vom demokratischen Verein – –«
Jetzt erst sah er, wer noch in der Stube war; einen Augenblick maß er seinen Mann mit erstauntem Blick, dann rief er höhnisch:
»Ah, der Herr Ferdinand von Mohr! Was verschafft uns die Ehre? Aus Amerika zurück, weil man den Tag mitfeiern will?«
»Aus andern Gründen zwar, alter Schulkamerad,« erwiderte Ferdinand gemüthlich, »doch –«
»Was Schulkamerad? Der Teufel hol' den Schulkameraden! Ich bin kein Schulkamerad eines –« Er stockte. Ferdinand sagte, immer noch ruhig, aber nachdrücklich:
»Sie wissen selbst, was Sie sind!« schrie Konrad.
»Gewiß! Zum Beispiel amerikanischer Bürger! Sodann –«
»Nun? Nur heraus damit, Herr Junker!« höhnte Konrad wieder. »Uebrigens kann das jeder adelige Lump werden, amerikanischer Bürger! Sodann – was liegt denn da, Philipp? Das Fünfunddreißiggulden-Loos? Das ist jetzt in der Revolutionslotterie gewonnen und jetzt schmeißen wir die Stube zum Fenster hinaus und den Adel und die Regierungen hinterdrein! Jetzt sind wir Herr!«
Und er ergriff das Loos, riß es rasch in kleine Fetzchen und warf dieselben zum Fenster hinaus. Dann ergriff er einen Pack Lederhandschuhe, der da lag, warf ihn gleichfalls durchs Fenster und langte nach einigen Lederhosen.
Das alles war so geschwind gegangen, daß Philipp kein Wort und keinen Schritt der Abwehr gefunden hatte.
Jetzt aber faßte Ferdinand den Wüthenden mit festem Griff beim Handgelenk und sagte: »Spaß ein Ende!«
Konrad riß sich los und stellte sich mit geballten Fäusten seinem Gegner gegenüber.
»Kein Spaß!« schrie er, »grimmiger Ernst! Und jetzt sagen Sie mir, was Sie mir in meiner Stube zu befehlen haben? Sie Lump, Sie adeliger Mädchenfänger, Sie –«
Nun erhob auch Ferdinand die Hand zum Schlage; Philipp, dem allzu viel im Kopf surrte, machte endlich einen Schritt, um dazwischen zu treten; da gieng wieder die Thüre auf – und auf der Schwelle stand die Lore.
Beide Gegner wandten zugleich ihren Blick nach der Thür und ließen die Hände sinken. Der Lore Gesicht war ohne jede Farbe, ihre Lippen zuckten, ihre großen Augen funkelten.
»Konrad!« rief sie mit einem Ton, der mehr wie ein Befehl als wie eine Bitte klang.
Auch des Angerufenen hochgeröthetes Gesicht wurde mit einem Schlage bleich; nun war er nüchtern. Einen Augenblick wars so still in der Stube, daß man das Geplätscher von allen drei Röhren am Marktbrunnen hätte unterscheiden können. Dann trat die Lore einige Schritte vor und ihre Stimme klang nicht mehr so befehlend, ihre Augen senkten sich, um sich dann schnell wieder mit ruhiger Festigkeit auf Konrad zu heften, als sie sagte:
»Konrad, wir haben fünf Jahre kein Wort mit einander gesprochen. Daran bin ich schuldig, nicht Du und nicht der, den Du für einen Feind hältst. Hätt' ich Dir ein gutes Wort gegeben, so hätte ein Wort das andere gegeben und Du wüßtest längst, was man Dir jetzt mühselig erklären muß – jetzt, wo's zu spät ist! Wär' ich nicht zu stolz gewesen, so wärst Du heut auch ein anderer Mensch, als Du bist. Aber daran, daß ich Dir kein gutes Wort geben wollte, daran bist auch wieder Du schuldig! Seiner Braut nachschleichen und sie belauschen und dann natürlich falsch verstehen, was man hört und sieht – ist das Mannesart?«
Nun aber brach Konrad wieder los – nicht mehr wüthend und halbbetrunken wie vorher, aber mit der schmerzlichen Entrüstung eines Mannes, dem man vorgeworfen, was er so nicht verschuldet hat:
»Ich – nachschleichen? belauschen? Lore, sag das nicht noch einmal!«
»Was denn?« erwiderte die Lore, aber sie sagte es nicht mit der festen Zuversicht, in der sie vorher gesprochen hatte. Konrad bewegte die Lippen, als ringe er nach Worten. Nun legte sich Ferdinand ins Mittel:
»Alter Schulkamerad,« begann er – und Konrad fuhr nicht mehr auf gegen diese Benennung. »Da handelt sich's um Dinge, die wir am besten unter uns Männern besprechen. Daß ich nicht der Kerl bin, für den Sie mich halten, das kann Ihnen Ihr Bruder Philipp in einer andern Hinsicht bezeugen –«
»Ja wohl, Konrad!« rief Philipp im Ton vollster Ueberzeugung.
»Und dann,« fuhr Ferdinand fort, »Sie sind, wie ich höre, ein patriotischer Mann und heut ist der Tag, an dem die Nationalversammlung in Frankfurt eröffnet wird. Das ist doch heut eine Hauptsache, nicht wahr? Ich aber bin amerikanischer Bürger, und das –« Ferdinand sprach die folgenden Worte mit Nachdruck und nicht ohne Schärfe, »das kann zwar jeder adelige oder bürgerliche Lump werden, aber auch jeder adelige oder bürgerliche Ehrenmann. So, schätz' ich, könnten Sie wohl« – das sagte er wieder gemüthlicher – »heut Nachmittag irgendwo in einem stillen Winkel ein Glas Wein mit mir trinken, oder auch eine Tasse Kaffee mit meiner Frau: da würden sich dann alle Mißverständnisse im Handumdrehen lösen. Was meinen Sie?«
Konrad antwortete nicht; er ließ langsam seine Blicke nach der Lore hinüber gehen und diese hielt seinen Blick aus, fest und stet wie das gute Gewissen selber.
Nun aber glaubte Philipp die Zeit gekommen, wo auch er etwas sprechen müßte; er trat zu Konrad, legte ihm feierlich die Hand auf die Schulter und sprach:
»Siehst Du, Konrad, der Herr von Mohr hat ganz Recht und die Lore, wie mir scheint, auch! Unser Loos hast Du zum Fenster hinaus geschmissen, aber dort in der Kommode liegen baare fünfunddreißigtausend Gulden nebst Zinsen von fünf Jahren. Und die sind unser ehrliches Eigenthum und Erbe vom Vater her. Wie das zugeht, das wird Dir der Herr Ferdinand erklären, oder kann ichs selber thun; aber ich – ich hab' Dir schon lang gesagt – die Lore nemlich –«
Weiter kam er nicht. Er hatte bei seinen letzten Worten nach der Lore hinüber gesehen und ihr freundlicher, dankbarer Blick mußte ihm das Konzept seiner Rede verdorben haben.
Konrad aber sah auch nach der Lore und in seinem Blick glänzte etwas – wars Scham und Reue, wars alte und wieder neue Liebe? Er wandte sich ab, gieng nach der Kammerthür und sah nicht mehr um. –
* * *
Im Herbst des Jahres Achtzehnhundertachtundvierzig wartete der Posthalter vergeblich auf seinen früheren Herbstgast, den Professor, derselbe war in Frankfurt als Abgeordneter zur Nationalversammlung. Auch im folgenden Jahre kam er nicht, aber im dritten stellte er sich wieder ein und mit ihm sein jüngerer Freund, der Doktor. Und an einem schönen Septembermorgen saßen sie wieder auf des Professors Lieblingsplatz, auf der Bank am Thorwege der Post und betrachteten sich den Marktplatz und was drum und drauf stand und gieng. Es hatte sich nicht viel verändert seit jenem Morgen, da die Gebrüder Hölzle ihren sonderbaren Frühtrunk gehalten hatten; auch die Postliese war noch zur geeigneten Zeit mit der Wasserflasche am Brunnen zu sehen, sie spülte und hüpfte noch so zierlich wie sonst, nur war ihre Redeweise noch etwas schnippischer geworden. Die Lore freilich erschien nicht mehr am Brunnen, eine andere Magd trug das Wasser nach dem Erkerhause mit der geschnitzten Eichenthüre, an welchem im übrigen auch keine Veränderung zu merken war. Aber dort am Haus der Gebrüder Hölzle –
»Herr Posthalter,« rief der Professor, »wo sind denn die Gebrüder Hölzle hingekommen? Dort auf der Tafel zwischen den Kappen und Lederhosen steht ja nur noch: Philipp Hölzle!«
»Ja, das ist eine eigene Geschichte!« erwiderte der immer noch rüstige und gesprächige Posthalter bereitwillig. »Da sind so allerlei Veränderungen vorgegangen, auch drüben im Mohr'schen Hause; aber das Närrische dabei ist, daß eigentlich kein Mensch recht weiß, was vorgegangen ist, und die's wissen, kann man entweder nicht gut fragen oder wollen sie's nicht sagen. So also zum Exempel sagt man, der Philipp Hölzle habe vor zwei Jahren das große Loos in der Badischen Lotterie gewonnen; er selber aber sagt, wenn man ihn drum fragt, gar nichts als: »dummes Zeug!« – und hat offenbar seinen stillen Spaß dran, die Leute für Narren zu haben. Aber Thatsache ist doch, daß er seit damals sehr bei Geld sein muß: er hat sein Geschäft bedeutend erweitert – der Herr Professor sehen ja die nobeln Schaufenster, wo früher nur das kleine Lädlein war – und droben arbeitet er mit fünf Gesellen und verschickt seine Waare weit herum. Der Konrad Hölzle aber – ja das war eine ganz sonderbare Sache! Denken Sie sich: in der unruhigen Zeit damals war der Konrad einer der ärgsten Schreier, die's gegeben hat, und man hat geglaubt, wenns einmal irgendwie losgehe, werde man schöne Sachen mit ihm erleben. Nun denken Sie sich, ich weiß noch gut: es war gerade der achtzehnte Mai – damals sind ja der Herr Professor in Frankfurt dabei gewesen, wie die Nationalversammlung eröffnet wurde – und da gab's drüben bei den Hölzle einen ganz wüsten Lärm. Am Tag vorher, das war auch merkwürdig, war der leichtsinnige Ferdinand von Mohr aus dem Haus da neben, den man schon lang todt gesagt hatte, auf einmal von Amerika zurück gekommen als ein steinreicher gemachter Mann und mit einer schönen Frau. Am andern Vormittag – wer weiß, warum? er hat vielleicht ein paar Handschuhe kaufen wollen – geht er ins Hölzle'sche Haus hinüber, bald darauf kommt der Konrad angetrunken vom Wirthshaus heim, und nun gibts einen Spektakel da drüben, noch ganz anders als dazumal, wie Sie zum letzten Mal hier waren, Herr Professor! Die Leute sagten, der Konrad sei mit dem Messer auf den Amerikaner losgegangen, dieser habe ihm die Pistole vorgehalten und der Philipp habe mit Mühe das Schlimmste verhütet. Nun, so arg wirds gerade nicht gewesen sein – aber das Merkwürdigste war, daß auch die Lore, die Magd des alten Fräuleins von Mohr, ins Haus der Hölzle hinüber lief, gerade wie der Lärm am ärgsten war – dann wurde auf einmal alles mäuschenstill und nach einer Weile kam der Amerikaner mit der Lore wieder aus dem Haus. Und dann – nun denken Sie sich nur einmal das, meine Herrn! – von dem Tag an war der Konrad wie ein umgewendeter Handschuh! Er gieng nicht mehr in den demokratischen Verein, kaum mehr in ein Wirthshaus, aber da drüben im Mohr'schen Hause ist er mehr als einmal gesteckt. Was dort vorgegangen ist, das weiß wieder kein Mensch. – Der Ferdinand scheint der Haushaltung seiner Schwester wieder aufgeholfen zu haben, sie nahm wieder eine doppelte Bedienung an, eine Köchin und eine Jungfer; in welcher Eigenschaft dann die Lore noch im Haus war – ja, wenn mans wüßte! Aber nun kommt das Allertollste: kaum sind ein paar Wochen ins Land gegangen, so wird eines schönen Sonntags nach der Predigt ein Paar proklamirt, gleich zum ersten, zweiten und dritten Mal, und das war der Konrad Hölzle und die Eleonore Kraft! So hieß nemlich die Lore mit ihrem ganzen Namen, wie man jetzt erst erfuhr. Zwei Tage nachher war Hochzeit, und zwar, denken Sie sich, im Mohr'schen Hause – eine ganz stille Hochzeit, und noch am selben Abend ist der Ferdinand von Mohr und seine Frau wieder abgereist, nach Amerika zurück, und mit ihnen in derselben Kutsche der Konrad und die Lore. Können Sie sich so was denken, meine Herren? Es war meine eigene Kutsche, und meine eigenen Pferde dran und mein Postknecht auf dem Bock – aber wie das alles gegangen und gekommen war, das hat mir kein Mensch gesagt. Und das war eigentlich doch nicht recht von den beiden Hölzle, nicht wahr, Herr Professor? Einem alten Schulkameraden ihres Vaters selig hätte man schon etwas anvertrauen können, ich hätt's ja nicht weiter gesagt!«
»Gewiß, das war abscheulich!« lachte der Professor, »und so können ja auch wir neugierigen Fremdlinge nichts weiter darüber erfahren!«
»Thut mir leid, daß ich nicht dienen kann,« sagte der Posthalter. »Denn was die Leute dazumal alles geredet haben, das werd' ich doch nicht nachsagen, das war ja alles dummes Zeug, wie der Philipp Hölzle sagt. Aber das weiß ich gewiß und aus des Philipps eigenem Mund, daß es dem Konrad und der Lore gut geht in Amerika drüben; der Konrad hat ein großes Geschäft in Saint Louis, und einen Buben haben die Beiden auch schon, und der heißt Ludwig Ferdinand. Ludwig Ferdinand! Nun denken Sie sich so was, meine Herren! Alle Hölzle haben ja seit Menschengedenken Philipp oder Konrad oder Philipp Konrad geheißen. Da hat am Ende gar noch der Ferdinand von Mohr, der in der Nähe von Saint Louis ein großes Gut haben soll, seinen Aeltesten Philipp Konrad geheißen – dem alten Philipp Konrad Hölzle zu Ehren! Unmöglich wär's nicht!«
Der Posthalter schwenkte mit komischer Verdrießlichkeit ab, der Professor aber rief ihm nach: »Noch einen Augenblick, Herr Posthalter! Was ist's denn mit dem Philipp Hölzle? Ist der jetzt auch verheiratet?«
»Mein Zimmermädchen, die Liese, sagt, der Philipp gehe auf Freiersfüßen bei dem alten Fräulein von Mohr,« murrte der Posthalter zurückkehrend. »Na, die Liese hat ein boshaftes Maul, aber nach all' dem närrischen Zeug, was da in der Nachbarschaft vorgegangen ist, könnte man am Ende auch das noch glauben! Uebrigens, Spaß bei Seite, das ist wahr, daß der Philipp an manchem Sonntag Nachmittag bei dem Fräulein zu Besuch ist. Ob sie da Betstunde halten oder Kalender machen oder alte Geschichten erzählen, von denen andere Leute nichts erfahren sollen, das mag der Kukuk wissen. Die Liese sagt, die Jungfer des Fräuleins sage, sie spielen Domino. Aber das sind auch Dummheiten!«
Damit gieng der Posthalter ins Haus. Der Professor aber sagte zu seinem Gefährten, der nachdenklich vor sich hin sah: »Nun, Doktor, haben Sie jetzt bald Ihre Geschichte fertig? Daraus müssen Sie unbedingt eine machen, und jetzt ist's gar nicht mehr schwer, wenn man ein bischen mehr Phantasie hat als der Posthalter – so viel zum Beispiel, wie Sie haben!«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Ich sehe da allerdings eine Geschichte, ziemlich klar und rund. Aber ich werde mich hüten, sie zu schreiben oder gar drucken zu lassen. Die Einen würden sie doch nicht glauben und für abenteuerliche, unwahrscheinliche Erfindung eines müßigen Kopfes erklären; die Anderen aber, die ganz Vortrefflichen, würden sich darüber beklagen, daß die Geschichte keine Moral habe –«
»Hollah!« fuhr der alte Professor dazwischen, »junger Freund, ich habe auch ein bischen Phantasie, wenn ich gleich noch keine Geschichte geschrieben habe. Aber aus den paar Brocken, die uns heute und vor drei Jahren der Posthalter preisgegeben hat, wollt' ich doch am Ende eine Geschichte machen, in welcher jede Person und jedes Ereigniß die Moral in sich selber trüge!«
»In sich selber trüge!« wiederholte der Andere langsam. »Das verstehen jene Vortrefflichen nicht. Sie wollen die Moral mit fetten Buchstaben darunter geschrieben haben. Ich aber schreibe unter meine Geschichten keine Moral!«