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Eisige Winternacht! Der Nordoststurm saust übers verschneite Land, er heult durch die ächzenden Wälder und fegt im offenen Feld den Schnee hin und her. Auf den Eisenbahndamm dort beim Wärterhaus hat er's besonders abgesehen; höhnisch und feindselig pfeift er um die Telegraphenstangen, dazwischen summen die Drähte, und das Geleise entlang flackert die Laterne des Bahnwärters Siegel, der heute eine böse Nacht hat. Er brummt verdrießlich in den grauen, von Eis starrenden Bart, schaut bedenklich nach den klirrenden Telegraphenstangen, nach den Schneewehen, die immer wieder über die Bahn herwirbeln, und schüttelt den Kopf, wenn er an den Nachtzug denkt, für den er seine Strecke sicher halten soll.
Drinnen im Wärterhause sitzen Frau und Tochter bei der Lampe. Die saubere Stube zeigt einen gewissen Wohlstand, die weißen Gardinen am Fenster bewegen sich unaufhörlich im hereindringenden Luftzug. Die Mutter sitzt unthätig im Lehnstuhl, das bleiche Gesicht muß einst schön gewesen sein, jetzt zeigt es Spuren eines Leidens, auf das auch von Zeit zu Zeit ein böser Husten hindeutet. Die Tochter, deren Aehnlichkeit mit der Mutter nicht zu verkennen ist, sitzt schweigend und mit gesenktem Blicke am Spinnrad, nur zuweilen, wenn der Sturm draußen heftiger vom Wald herüberstößt, wendet sie einen Augenblick das Gesicht nach dem Fenster. Es liegt ein herber Zug um ihren geschlossenen Mund; manchmal öffnet sie die Lippen halb, als wollte sie zu einer Rede ansetzen; aber sie unterläßt es, nur ihr Busen geht einige Athemzüge stärker auf und ab.
Auch die Mutter schweigt und ihre Augen ruhen besorgt auf der Tochter. Endlich bricht sie das Schweigen und fragt: »Was hast Du, Margreth? So hab ich Dich noch nie gesehen wie heute. Man hat ordentlich Angst, nur mit Dir zu reden. Bist Du heute Nachmittag, als Du in der Stadt warest, dem Fritz wieder begegnet?«
Das Mädchen nickt kaum merklich mit dem Kopfe und läßt das Spinnrad hastiger gehen. Die Mutter fährt fort: »Red' doch und sag mir, was Dich heut so ganz verstört! Du weißt ja, daß Du mir alles sagen darfst. Und Du weißt auch: gern hab ich Dein Verhältniß zu dem Fritz nie gesehen, aber weil Dein Vater nichts dawider hätte, wenn Du ihn nähmest, und weil er selber ein braver Mensch ist, so wollt' ich nicht zu viel dagegen sagen!«
»Warum hast Du's nie gern gesehen?« fragte das Mädchen, ohne aufzublicken, aber mit eigenthümlicher Betonung.
»Weil ich gewiß weiß, daß sein Vater nie die Einwilligung zu einer Heirat zwischen euch gibt. Wir sind ja nicht gerade von den Aermsten, aber dem reichen Bauern auf dem Schwarzwald droben bist du doch zu gering zur Söhnerin. Und dem Fritz selber thut er auch nichts besonderes zu lieb: dem hat ers noch nie verziehen, daß er's verzwungen hat, unter die Forstleute zu gehen – die kann der Alte einmal nicht leiden! Deswegen hat er auch dem Fritz nicht das Geld gegeben, daß er genug hätte studiren können – sonst hätte der andere Aussichten, als sein Lebenlang Forstwart zu bleiben. Freilich dann dürftest Du auch noch weniger dran denken, seine Frau zu werden.«
Margreth erwiderte: »Das alles wissen wir längst; der Fritz hat mirs schon oft genug auseinandergesetzt. Deswegen könnte sein Vater doch noch Ja sagen. Warum weißt Du so gewiß, daß ers nicht thut?«
Die Mutter schwieg und strich ihre Schürze zurecht. Margreth ließ ihr Spinnrad stehen, und einen festen Blick auf die Mutter heftend, fragte sie: »Mutter, wer ist mein Vater?«
Erschrocken blickte die Mutter auf: »Kind, wie kannst Du so fragen? Draußen begeht Dein Vater seine Strecke in Nacht und Sturm!«
Margreth erhob sich, trat dicht vor die Mutter hin und fuhr mit tonloser Stimme fort: »Dem Fritz hat sein Vater geschrieben, er wollte am Ende aufs Geld nicht sehen, aber ich habe ja nicht einmal meinen rechten Vater! Der Fritz hat darüber gelacht – es sei ein dummes Geschwätz von böswilligen Leuten – aber mir ist allerlei durch den Kopf gegangen, was ich bisher nicht recht verstanden habe, und ich frage noch einmal, Mutter: wer ist mein Vater?«
Sie stand mit weitgeöffneten Augen, ihr Athem flog. Die Mutter bedeckte das Gesicht mit den Händen und gab keine Antwort.
»Mutter!« rief das Mädchen noch einmal, »wer ist mein Vater?«
Langsam that die Alte die Hände vom Gesicht und langsam, schweren Athems begann sie: »Ich weiß nicht, wie lang ich noch lebe – ich habe geglaubt, ich könns Dir verbergen, ich könne Dich verschonen – aber ich seh', es geht nicht mehr – setz' Dich, Margreth, setz' Dich so, daß ich Dir nicht ins Gesicht sehen muß – hör zu und sprich nichts dazwischen – und vergiß nicht, daß ich Deine Mutter bin!«
Margreth ließ sich schlaff auf einen Schemel neben der Mutter Kniee nieder, sie faltete die Hände im Schooß und schaute auf einen einfachen Ring, den sie am Finger trug. Die Mutter holte tief Athem und erzählte, anfangs oft stockend, allmählig lebhafter: Du weißt, Dein Vater – Dein Stiefvater, will ich jetzt sagen – ist aus hiesiger Gegend; ich stamme vom Schwarzwald her, wo auch der Fritz zu Hause ist. Sein Großvater ist ein reicher Bauer und Holzhändler gewesen wie sein Vater auch – nein, noch reicher – er hat alle Jahre viel hundert Stämme den Neckar und den Rhein hinunter gelassen. Mein Vater ist ein Sägmüller gewesen, nicht reich aber wohlhabend, bis er am Ende in der Gant eines Bauern fast alles verloren hat. Bald darauf ist er gestorben, wie ich kaum achtzehn Jahre alt war, und ich kam in den Dienst auf den Hof, von dem der Fritz stammt. Der Großvater, der alte Fritz Zehnder, ist ein braver Mann gewesen, die Dienstboten habens gut bei ihm gehabt und bei seiner stillen Bäurin. Auf mich haben sie etwas gehalten und ich bin schier gewesen wie die Tochter vom Haus. Aber der Michel, der einzige Sohn, der Vater von Deinem Fritz – das ist ein wilder Bursch gewesen und hat seinem Vater viel Sorgen gemacht. Gearbeitet hat er nicht gern, das Jägdeln war ihm lieber, auf den Kegelbahnen in der ganzen Gegend war er immer vornean und viel hinter den Mädchen her; dazu hat er manchmal Schulden gemacht, von denen sein Vater nichts wissen durfte. Auch auf mich hat der Michel ein Aug geworfen, bald nachdem ich auf den Hof gekommen bin, und hat mir oft zugesetzt mit schönen und leichtfertigen Reden. Ich aber hab' ihn allezeit kurz ablaufen lassen, denn daß er nichts Ehrbares im Schilde führte, konnt' ich mir denken. Und überdem war ich schon einem Andern gut, der hat Heinrich Kern geheißen und ist Forstwächter in der Staatswaldung gewesen – –«
Sie hielt einen Augenblick inne, und die Tochter hob den Blick zu ihr, senkte ihn aber sogleich wieder. Die Mutter fuhr fort: »Seine Eltern und meine Mutter hätten nichts dawider gehabt, daß wir uns heiraten; aber so schnell ists damit nicht gegangen. Ich bin noch gar jung gewesen, und weil wir beide kein Vermögen gehabt haben, so meinten die Alten, wir sollen noch ein paar Jahre warten und uns zuerst noch etwas ersparen. So sind auch mehr als ein paar Jahre hingegangen, der Michel Zehnder hat indessen den Hof zum Theil übernommen und hat geheiratet; der Alte hat noch den Holzhandel behalten. Viel anders ist der Michel dadurch nicht geworden und sein Weib hat's nicht gut bei ihm gehabt; nach einem Jahr hat sie einen Buben geboren – das ist Dein Fritz – von da ab hat sie gekränkelt, ist auch nach einem Jahr gestorben, und der Michel hats immer mehr wieder getrieben wie in seiner ledigen Zeit.
Mit dem Heinrich Kern aber hat er all die Jahre hindurch eine böse Feindschaft gehabt. Den hat er so wie so nicht leiden können, weil er scharf im Dienst gewesen ist und es genau genommen hat mit der Reviergrenze beim Jagen. Und seit der Michel vollends gemerkt hat, wie's zwischen mir und dem Heinrich stehe, da ist er noch giftiger gegen ihn geworden. Auch der Heinrich ist voll Wuth gegen den Michel gewesen, seit er von mir erfahren hat, daß der Michel mir nachstelle. Nun hat der Michel einen Hühnerhund gehabt, ein schönes Thier wars, aber schlecht gezogen; der Michel war nicht der Mann, einen Hund recht zu behandeln. Der Hund ist oft ohne den Herrn vom Hof weggelaufen und hat allein im Wald gejagt. Der Heinrich hat dem Michel mehrmals gedroht, er schieße den Hund weg, wenn er ihn wieder im Staatswald beim Jagen treffe, und wie das Ding kein End nehmen wollte, hat ers auch gethan. Darauf hat der Michel dem Heinrich seinen Dachshund auf offener Straße niedergeschossen, und darüber müssen sie scharf aneinandergerathen sein. Der Heinrich hat dann geklagt und der Michel ist verurtheilt worden. Das hat natürlich die Feindschaft nur schlimmer gemacht, der Michel hat sich wieder einen Hühnerhund gekauft und der Heinrich wieder einen Dachs. Nach acht Tagen hat der Heinrich seinen Dachs nicht weit von seinem Haus in einer Schlinge erwürgt gefunden – es ist nie herausgekommen, wers gethan hat. Und wieder nach acht Tagen ist auf unserm Hof der Schuppen in Brand gerathen, in welchem des Michels Hühnerhund bei Nacht lag; der Brand ist bald gelöscht worden, den Hund hat man noch gerettet und auch sonst war der Schaden nicht groß. Aber der Michel hat offen den Heinrich der Brandstiftung bezüchtigt, die Sache kam wieder vor Gericht, doch konnte man dem Heinrich nichts beweisen. Aber mir ists von da an immer gewesen, als gäbs noch ein großes Unglück; ich hab dem Heinrich zugeredet, daß er die Feindschaft ruhen lasse, und er hat mir auch versprochen, daß er sie nicht weiterführe, wenn der Michel ihn in Ruhe lasse.
Mittlerweile ist der alte Zehnder an einem Schlagfluß gestorben und der Michel ist Alleinherr geworden. Von da an ist er auf einmal gewesen wie ein umgewendeter Handschuh; hat er vorher das Geld hinausgeworfen, so ist er jetzt eher geizig gewesen als freigebig, hat er vorher um keine Arbeit sich viel gekümmert, so hat er jetzt in alles den Kopf gesteckt und die Dienstboten haben ihm nichts mehr recht machen können. Bloß manchmal, wenn am Nachmittag ein Jud bei ihm gewesen ist, hat er Abends alle Thüren zugewettert, ist dann ins Wirthshaus gegangen und spät in der Nacht erst heimgekommen. Mich hat er gleich aufs erste Ziel vom Hofe fortgeschickt. Leid war mir das nicht; in einem Vierteljahr hätte ich ja doch gehen müssen, denn meine Hochzeit mit dem Heinrich war jetzt bestimmt ausgemacht. Der Hochzeitstag kam auch schnell vollends herbei; es war eine kleine und stille Hochzeit, aber wir waren vergnügt und im Glück. Nur hat mirs wollen kein gutes Vorzeichen sein, daß der Heinrich am Abend, wie grad der Michel Zehnder auf der Straße vorbeiging und ein lustiger Vetter, der durchs Fenster sah, zu dem Heinrich sagte: »Da geht Dein guter Freund!« – daß der Heinrich antwortete: »Oder mein guter Feind! Dem kanns noch schief gehen!« Ich hab ihn am andern Tag gefragt, was das habe heißen sollen, er hat gelacht und gesagt: »Nichts weiter!« Aber mir ist das Wort nachgegangen. Und kaum vierzehn Tag' nach unserer Hochzeit, an einem Sonntag – der Heinrich ist mit der Dämmerung fortgegangen auf eine Nachtstreife in den Wald – da, so Nachts um die Elfe geht auf einmal Feuerlärm los: es brenne droben im Zehnderhof! Der Michel hatte an dem Nachmittag wieder bös gewettert und ist noch im Adler gesessen, wie der Feuerlärm los ging; auf dem Hof sei alles schon im Schlaf gelegen, hats geheißen, und der Forstwächter Kern sei am Hof vorbeigegangen und habe den Brand zuerst gesehen, wie das Feuer schon aus dem Dachstuhl geschlagen habe. Das ist ein Lärm und ein Schrecken und ein Durcheinander gewesen, das Löschen hat nichts mehr geholfen, der ganze Hof ist zusammengebrannt und erst spät hat man gemerkt, daß eine Magd, die ganz oben unterm Dach ihre Kammer gehabt hat, mit verbrannt ist. Nun hats, wie allemal bei einem Brand, geheißen, das Feuer sei angelegt worden und der Michel hats wieder dem Heinrich Schuld gegeben. Ein paar Tage vorher hatten sie wieder einen Streit gehabt, und der Michel hats vor Gericht auf seinen Eid genommen, daß der Heinrich ihm gedroht habe, er zünde ihm noch das Haus überm Kopf an. Auch an den früheren Brand in dem Schuppen hat man wieder gedacht und der Michel hat Zeugen beigebracht, daß der Heinrich damals im Wirthshaus gesagt habe: es könne noch einmal der ganze Hof zusammenbrennen, nicht blos ein Schuppen. Der Heinrich hat zwar gesagt, er habe das nur so gemeint, daß man auf dem Zehnderhof mit Feuer und Licht unvorsichtig umgehe – und das ist auch zum Theil wahr gewesen, der alte Zehnder hat oft darüber gescholten – aber man hat dem Heinrich diese Auslegung nicht geglaubt. Sie haben ihm auch nachgewiesen, daß er in dieser Nacht eigentlich einen andern Reviergang hätte machen sollen, auf dem er nicht am Zehnderhof vorbeigekommen wäre – und so ist noch vieles auf ihn gebracht worden, was gegen ihn war. Ich weiß das Alles nicht mehr so genau, habe auch vieles nicht so recht verstanden, was die Herren vom Gericht als Beweis angenommen haben – aber kurzum, dem Heinrich hat alles nichts geholfen, er ist dreiviertel Jahr lang im Untersuchungsgefängniß gesessen und dann ist er verurtheilt worden, obschon er sich nicht schuldig gegeben hat. Und zwar, weil die Magd mitverbrannt ist, hat er lebenslängliches Zuchthaus bekommen. Jetzt sinds zweiundzwanzig Jahre her und er sitzt noch.«
Die Erzählerin schwieg wieder und wischte die Augen. Ohne aufzublicken sagte Margreth mit dumpfem Ton: »Weiter, Mutter, weiter!«
Die Mutter seufzte tief auf, draußen tönte das Signal, das die Abfahrt des Zuges von der nächsten Station ankündigte, durch das Sausen des Sturmes vernahm man die Schritte des Bahnwärters, der den Schlagbaum schloß –
»Weiter, Mutter, weiter!« drängte Margreth, »wer ist mein Vater?«
»Der Heinrich Kern!« preßte die Mutter hervor. »Am Tag, da sie ihn ins Zuchthaus einlieferten, bist Du geboren worden. – Da bin ich gesessen im Elend mit Dir, die Leute haben mit Fingern auf mich gezeigt, der Michel hat höhnisch gelacht, wenn er mir begegnet ist, und hat öffentlich gesagt, ich werde wohl auch von des Heinrichs Absicht gewußt haben und er könnte mich auch ins Zuchthaus bringen, wenn er nicht Mitleid mit meinem Wurme hätte –«
Abermals schwieg sie. Aber Margreth drängte aufs neue: »und dann!« »Und dann«, fuhr die Mutter langsam fort, »dann ist meine Mutter an mir gewesen und die ganze Freundschaft, ich solle mich von dem Heinrich scheiden lassen. Heraus komme er ja doch nicht mehr aus dem Zuchthaus und ein grobes Verbrechen sei ein Scheidungsgrund. Ich hab grad hinausgeschrieen, wie sie das zum erstenmal zu mir gesagt haben, aber – aber – veracht' deine Mutter nicht, Margreth – wir sind alle schwache Menschen – mit der Zeit hab ich mirs doch einreden lassen, meine eigene Mutter hat mirs eingered't, daß es nicht blos mein Recht sondern meine Pflicht sei, mich scheiden zu lassen; ich sei's mir selber schuldig und meinem Kind. Und weil kein Mensch mehr dran gezweifelt hat, daß der Heinrich Kern mit Recht verurtheilt sei, und weil ich am End in meinem Elend nimmer wußte, wo mir der Kopf stand, hab ich am Ende Ja gesagt und die Scheidung ist beantragt und vom Gericht ausgesprochen worden. Wie mir das vor Gericht eröffnet wurde, hätt ich in den Boden sinken mögen vor Angst und Reu im Herzen, aber nun ists geschehen gewesen.«
»Und glaubst Du in Wahrheit, daß mein Vater schuldig gewesen ist?« frug jetzt Margreth mit flammenden Augen.
»Das wird wohl erst in der Ewigkeit klar werden«, erwiderte die Mutter mit unsicherer Stimme.
»Nein, das muß auf Erden noch klar werden, wenn ein gerechter Gott im Himmel ist!« rief Margreth leidenschaftlich.
Die Mutter aber fuhr leise fort: »Ich wills zu End erzählen! Wie Du ein Jahr alt wärest, ging ich wieder in einen Dienst, weit weg von meiner Heimat, und dort lernte ich deinen Stiefvater kennen. Ich wollte lange nichts davon wissen, sein Weib zu werden, im Herzen war mirs doch immer wieder, als müsse meines geschiedenen Mannes Unschuld noch an den Tag kommen. Aber wie Jahr um Jahr verging und der gute treue Mensch, der Siegel, nicht nachließ, hab ich ihm endlich die Hand gegeben – vorab um Deinetwillen, Margreth, damit Du einen Vater habest. Er hat Dir dann auch gerichtlich seinen Namen, Siegel, geben lassen. Später sind wir hieher gekommen und habens durch Fleiß und Sparsamkeit zu einigem Wohlstand gebracht – – um Gottes Willen, was ist das?« brach sie ab und auch Margreth fuhr von ihrem Sitz empor.
Durch das Heulen des Sturms tönten rasch hinter einander grelle Nothpfiffe einer Lokomotive, dann ein Dröhnen und Poltern und Rasseln und Krachen – Margreth stürmte hinaus und auch die Mutter eilte so schnell als sie konnte ans Fenster. Daß ein Eisenbahnunglück geschehen war, schien klar, und angstvoll fragte sich die Frau, ob ihren Mann eine Schuld dabei treffen könne?
Dieser selbst war, als Margreth aus dem Hause eilte, schon auf dem Wege von seinem Posten nach der Unglücksstätte, und eilends folgte ihm Margreth. Etwa hundert Schritte vor dem Wärterhause lag die entgleiste Lokomotive, in den Abhang des Dammes hineingewühlt, über dieselbe geschoben ragten der Tender und die Trümmer eines Gepäckwagens, auch der erste Personenwagen schien zertrümmert, die übrigen Wagen leichter beschädigt. Schmerzens- und Schreckensrufe ertönten, aus den hinteren Wagen riefs, drängte sichs durch Fenster und mühsam geöffnete Thüren, dazwischen schollen wenige befehlende und beruhigende Männerstimmen. Margreth stand einen Augenblick schaudernd still, dann eilte sie näher, um wo irgend möglich Hilfe zu bringen. »Ein Axenbruch in Folge der Kälte!« hörte sie bei der Lokomotive den Führer derselben, der unversehrt geblieben, sagen – offenbar zur Beruhigung des Bahnwärters, der über eine regungslos daneben liegende Gestalt die Laterne hielt: es war der todte Heizer. Der zertrümmerte erste Personenwagen schien kaum besetzt gewesen zu sein – »das sind alle!« hörte Margreth einen Schaffner sagen, sie sah zwei Männer, die sich mit Hilfe anderer hervorzuarbeiten versuchten, ein Dritter, ein großer starker Mann, lag noch zwischen Balken eingeklemmt. »Er lebt noch, schafft ihn frei!« befahl ein Mann im Pelzrock, der von den hinteren Wagen herzugeeilt war und sich über den Unglücklichen gebeugt hatte – es war ein Arzt, der zufällig mitgefahren war. »Hier Hand ans Werk!« rief derselbe nochmals, »dort hinten sind nur leichte Verwundungen!« Noch einige andere Männer, welche den Kopf nicht verloren hatten, standen den Beamten des Zuges bei, einige Ordnung und Ruhe in die Verwirrung zu bringen, und da in der That infolge des Bruchs einer Kuppelung die schlimmste Zerstörung sich auf die ersten Wagen des Zugs beschränkt hatte, während weiter hinten Schrecken und leichtere Quetschungen das ganze Unglück ausmachten, so waren in nicht allzulanger Zeit die meisten Passagiere auf dem eiligen Weg zu dem nur zehn Minuten weit entfernten Dorfe, von welchem allmählig auch Beistand anrückte. Der Mann zwischen den Balken konnte nach einigen vergeblichen Versuchen doch losgemacht werden; die beiden Gefährten desselben wurden gleichfalls schon nach dem Dorfe geschafft und auch den todten Heizer dorthin zu bringen schickte man sich an. Jener am schwersten Verletzte dagegen wurde auf des Arztes Anordnung nach dem Bahnwärterhause gebracht. Margreth war schon vorausgeeilt, um ein Bett zu bereiten, sie hatte die Mutter, soweit es ging, beruhigt und nun empfing sie mit hochgehobener Lampe den Arzt und die tragenden Männer mit ihrer regungslosen Last an der Thüre und geleitete sie in die Kammer. Ihr forschender Blick fiel auf des Verunglückten hartgeschnittene bartlose Züge, auf ein schlichtes schon ergrauendes Haar, und sie fragte sich im Stillen, wer der Mann sein könne.
Als er auf dem Lager gebettet war und der Arzt eine nähere Untersuchung seiner Verletzungen vorzunehmen sich anschickte, trat die Mutter herein. Sie warf einen Blick auf des Mannes Gesicht, sie trat näher, sie schaute schärfer und vorgeneigten Hauptes hin, dann wandte sie sich ab und stützte sich wankend auf Margreth. Diese eilte, sie wieder hinaus und in ihren Lehnstuhl zu geleiten, und ängstlich fragte sie: »Mutter, was ist Dir?«
»Es ist Michel Zehnder!« war die kaum hörbare Antwort. » Der?« rief Margreth entsetzt.
»Mutter, sag mir noch Eins,« fragte sie dann wieder: »weiß der Fritz von dem, was du mir erzählt hast?«
»Ich glaube nicht! Er ist ja noch ganz klein gewesen, wie das alles geschehen ist! Wie ich aus der Gegend weg kam, war er vier Jahr alt, und daß er mich nicht wieder erkannt hat, weiß ich gewiß. Ich glaub' auch kaum, daß sein Vater seither gewußt hat, wo ich bin, und daß das Mädchen, das der Fritz heiraten will, meine Tochter ist!«
Der Arzt hatte seine Untersuchung beendet; die Verletzungen waren derart, daß auf Erhaltung des Lebens einige, doch nur schwache Hoffnung war. Von einem Fortschaffen des Unglücklichen konnte nach der Meinung des Arztes vorläufig keine Rede sein, und der Bahnwärter, der Zeit gefunden hatte, einen Augenblick hereinzukommen, gab dem Arzte die Zusage, daß er den Mann bis auf Weiteres in der Pflege seines Hauses behalten wolle. Nachdem der Arzt noch einige Anordnungen getroffen hatte, entfernte auch er sich nach dem Dorfe, um dort den andern Verwundeten den ersten Beistand zu leisten; ein leicht verletzter Schaffner des Zugs blieb in der Kammer zurück und erklärte sich bereit, bei der vorläufigen Pflege des Schwerverletzten nach Möglichkeit behilflich zu sein. Den Bahnwärter rief seine Pflicht wieder hinaus zu der Unglücksstätte; von dem Zugführer, welcher zur Feststellung der Persönlichkeit die Brieftasche Michel Zehnders geöffnet hatte, hatte auch er erfahren, wer der Mann sei, und soviel wußte er von der Vergangenheit, daß er gerne seiner leidenden Frau den Namen verheimlicht hätte. Er forderte sie deshalb im Hinausgehen auf, sich zur Ruhe zu begeben, und Margreth geleitete sie in eine Stube im oberen Geschoß des Hauses hinauf. Sie selbst kehrte in die Kammer zurück, wo Michel Zehnder lag; er lag noch immer ohne Bewußtsein, hart athmend. Margret that von Zeit zu Zeit, was der Arzt angeordnet hatte, der verwundete Schaffner war ihr dabei behilflich und ließ sich selbst von ihr die Umschläge um seine Kopfwunde erneuern. Gesprochen wurde wenig zwischen den Beiden, aber immer wieder mußte Margreth ihre Blicke mit einer Mischung von Grauen und Abneigung auf dem regungslos Daliegenden ruhen lassen. Das war also der Mann, der sie ihres Vaters beraubt hatte! Denn daß ihr Vater unschuldig verurtheilt sei und daß hier dieser sein Feind an der ungerechten Verurtheilung die Schuld trage, das stand für Margreths Herz fest, wenn auch ihr Kopf sich vergebens mühte, Klarheit in die Sache zu bringen. Immer aufs neue rief sie sich die Erzählung ihrer Mutter ins Gedächtniß zurück, und für eine Weile hatte sie ganz vergessen, daß der hier Liegende zugleich der Vater ihres Geliebten sei. Als ihr dies plötzlich wieder ins Gedächtniß kam, da preßte sie beide Hände vor die Stirn – ihre Gedanken wirbelten. Wenn nun morgen, wie es ja geschehen mußte, Fritz selber aus der Stadt kam, um seinen Vater zu suchen – wie konnte sie ihm entgegentreten, jetzt, da sie alles wußte? Und wie sollte es in Zukunft werden? Doch was konnte Sie, was konnte Fritz dafür, daß das alles so war? Aber dennoch – – es war ihr, als wolle ihr Herz zerspringen, als müsse ihr Kopf wirr werden. Und dabei mußte sie wieder und wieder Hand anlegen zur Pflege des Mannes, den sie als die Ursache all ihrer Noth betrachtete.
So verging die Nacht und der Morgen kam; von draußen tönte das Geräusch der Arbeiter, welche die Bahn frei machen sollten, hier innen in der Kammer war alles still. Der Schaffner war hinausgegangen, Margreth stand allein am Bette und hörte auf die schweren Athemzüge des Kranken. Ein Sonnenstrahl kam durchs Fenster und übergoß Margreths blasses Gesicht mit lichter Röthe.
Da schlug Michel Zehnder zum erstenmal die Augen auf – nur einen Augenblick, dann schloß er sie wieder. Nach einer Weile öffnete er sie zum zweitenmal, sein Blick ging langsam umher, dann blieb er auf Margreth haften. Größer und starrer, wie angstvoll wurden die Augen, und nun stieß er röchelnd hervor: »Marie – Marie – bist Du's? Gott im Himmel, wo bin ich denn?«
»Ich heiße Margreth!« erwiderte das Mädchen, das wie gelähmt stand.
»Margreth? Margreth?« sagte er langsam, »Du bist doch die Marie, des Sägmüllers Marie!«
»Meine Mutter heißt Marie,« erwiderte Margreth, kaum wissend, was sie sagte; wie gebannt hielt sie den starren Blick aus, der auf ihr ruhte. Noch einen Augenblick starrte der Mann, dann fielen ihm langsam die Augen wieder zu.
Draußen nahten eilige Schritte dem Wärterhause. Margreth warf einen Blick durch das Fenster, und als sie einen der nahenden Männer erblickte, preßte sie die Hand aufs Herz: »o Gott, er ists!«
Sie ging in die vordere Stube hinaus, dort öffnete sich eben die Außenthüre und ein schlanker junger Mann mit grünem Kragen an der Juppe trat ein.
»Ists wahr, Margreth?« rief er ihr entgegen. »Mein Vater liegt bei euch, auf den Tod verletzt?«
Margreth erwiderte nichts; sie gab dem jungen Manne die Hand, öffnete die Kammerthüre und ließ ihn eintreten. Dann wandte sie sich zu den andern Männern, welche nun die Stube betraten – es war der Bezirksarzt aus der Stadt und ein höherer Eisenbahnbeamter, welcher auf die Unglücksstelle entsandt worden war. Als sie mit diesen die Kammer wieder betrat, stand Fritz Zehnder am Bett seines Vaters, er hielt die Hand des wieder bewußtlos Liegenden und seine breite Brust athmete heftig.
Der Arzt begann im Beisein des Beamten eine abermalige Untersuchung, Fritz winkte Margreth in die vordere Stube zurück. Dort faßte er ihre beiden Hände und ihr traurig und liebevoll ins Auge sehend sagte er: »Margreth, das ist mein Vater! Er war auf dem Weg zu mir und nun liegt er hier – in Deiner Pflege!«
Margreth fand keine Erwiderung und Fritz fuhr fort: »Wer hätte gedacht, daß es so kommen könnte! Und doch, wenn das Unglück einmal geschehen sollte, wie gut noch, daß es hier geschah! Und wenn er, Gott gebs, am Leben bleibt, dann wird er Dich kennen und schätzen lernen!«
Margreth zog ihre Hände aus den seinen, sie sank auf einen Sitz nieder und brach in krampfhaftes Weinen aus.
»Was ist Dir?« fragte Fritz, »Du bist überanstrengt von dieser schrecklichen Nacht!«
Er beugte sich zu ihr und sagte ihr Worte des Dankes und der Liebe. Sie bat ihn, sie allein zu lassen und wieder in die Kammer zu gehen. Er that es und Margreth barg das Gesicht in den Händen und weinte weiter. Sie war noch verwirrter als vorher: hatte sie ein Recht zu der Anklage, die sie gegen den Mann dort drinnen erhob, gegen den Vater ihres Geliebten? Aber der Blick, der Blick, mit dem er sie angestarrt hatte – seine Worte! Er hatte sie für ihre Mutter gehalten – so mußte ja diese in ihrer Jugend ausgesehen haben und das hatte ihn so erschreckt! Und sah dieser Schrecken nicht aus wie das böse Gewissen? Und nun der Sohn dieses Vaters – so ahnungslos, so liebevoll, so dankbar! Nein, es war Alles nur Einbildung ihres aufgeregten Gehirns – aber dann, dann war ihr Vater in der That ein Verbrecher, mit Recht verurtheilt! Oder gabs noch eine dritte Möglichkeit? War alles nur ein böser Irrthum?
Solchergestalt jagten sich wieder ihre Gedanken im Kreise und sie fand keinen Ausweg.
Indessen hatte der Bezirksarzt das Ergebniß der ersten Untersuchung bestätigt gefunden: es waren innere Theile verletzt und ein Arm so zerschmettert, daß eine Amputation desselben nöthig werden mußte, wenn der Verwundete überhaupt die nächste Nacht überleben würde. Doch nahm der Arzt noch nicht alle Hoffnung auf Rettung des Lebens.
Fritz blieb am Bette seines Vaters, Margreth ging unruhig ab und zu, sie war bald unten im Hause, bald oben, wo ihre Mutter lag, welche sich nach den Vorgängen der Nacht nicht im Stande fühlte, das Bett zu verlassen. Das wortkarge scheue Wesen des Mädchens fiel dem jungen Manne wohl auf, doch glaubte er sich dasselbe einfach aus den Verhältnissen erklären zu können. Der Bahnwärter hatte auch den Vormittag über wenig Zeit, im Hause zu verweilen, und eine unheimliche Ruhe und Stille lag über den Räumen desselben, nur von draußen kam noch vielfach unruhiges Geräusch der Arbeit und einer neugierig die Unglücksstätte besuchenden Menschenmenge.
Als am Nachmittag Margreth oben bei der Mutter sich befand und an deren Bett in Kummer und Erschöpfung einen Augenblick eingeschlafen war, schlug Michel Zehnder unten die Augen wieder auf. Er sah heller drein als in der Frühe, er erkannte seinen Sohn, er fragte wieder, wo er sei? Möglichst schonend und allmälig gab ihm Fritz auf wiederholte Fragen die volle Auskunft.
»Also das ist das Mädchen,« fragte der Alte in mildem Tone weiter, »das Du heiraten willst? Ich hab' sie heut früh gesehen, wie ich einen Augenblick zur Besinnung kam. Das ist sie? – So, so! Sieht sie ihrer Mutter gleich?«
»Auffallend!« erwiderte Fritz.
»Und die Mutter heißt Marie?«
»Ja!«
»Und ihr Vatersname?«
Fritz nannte den Namen.
»Ich habe mich nie genau darnach erkundigt, doch mein' ich: aus unserer Gegend. Ihr Vater war Sägmüller oder etwas dergleichen, glaub ich!«
Der Alte stöhnte schmerzhaft und blickte zur Zimmerdecke. Nach einer Weile frug er: »Was hat der Doktor gesagt? Ich werd' wohl sterben müssen!«
Fritz erwiderte, daß der Arzt noch Hoffnung gegeben habe. Der Alte schüttelte den Kopf: »Es ist alles wund in mir! Ich spürs, ich werd' sterben müssen! Ist kein Pfarrer in der Nähe?«
»Doch, im Dorf drüben! Er hat sich schon am Vormittag nach Dir erkundigt.«
»Er soll kommen!«
Fritz ging hinaus und fand bald einen Boten ins Dorf. Als er wieder zurückkam, lag der Kranke in unruhigem Halbschlummer.
Der Pfarrer kam, ein würdiger alter Herr von zutrauenerweckendem Ansehen. Nachdem die ersten Worte gewechselt waren, verlangte Michel Zehnder, daß man ihn mit dem Pfarrer ganz allein lasse. Etwas verwundert verließ Fritz die Kammer, Margreth, die inzwischen auch wieder herabgekommen war, glaubte sich denken zu können, um was es sich zwischen dem Alten und dem Pfarrer handeln werde. Sie forderte Fritz auf, mit ihr zur Mutter hinaufzugehen – nur, um jetzt nicht allein mit ihm sein zu müssen. Michel Zehnder aber begann, als er mit dem Pfarrer allein war: »Herr Pfarrer, ich hab etwas auf dem Herzen, das kein Mensch weiß außer mir. Es muß herunter, wenn ich soll sterben können!«
Der Pfarrer forderte ihn auf, getrost zu reden, Michel aber fragte: »Nicht wahr, was ich einem Geistlichen unter dem Beichtsiegel anvertraue, das erfährt kein Mensch?«
»Kein Mensch, so lange Ihr selber es nicht gestattet!«
»Auch das Gericht nicht?«
»Nein! auch da gilt das Beichtgeheimniß!«
»So, so! Nun hören Sie mich an, Herr Pfarrer, und helfen Sie mir, daß ich sterben kann! Die Frau, in deren Haus ich durch das Unglück verschlagen worden bin, ist aus meiner Heimat, und die Tochter, die mein Sohn durchaus heiraten will, ist eigentlich nicht des Bahnwärters Tochter, der hat sie nur angenommen –«
Der Pfarrer nickte; er wußte das aus den Kirchenbüchern. Michel fuhr fort: »Der Vater heißt Heinrich Kern, und wenn er nicht vor zweiundzwanzig Jahren zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt worden wäre, so – so hätte die Margreth ihren rechten Vater. Daß er aber im Zuchthaus sitzt, das – – grad um das handelt sichs, Herr Pfarrer!«
Es wurde ihm offenbar schwer, auszusprechen, was er sagen wollte. Der Pfarrer munterte ihn auf, sein Herz zu erleichtern, wenn ihm nicht das Sprechen zu sauer werde, und Michel begann wieder: »Ja, 's geht mir herb, Herr Pfarrer! Nicht blos, weil mir das Reden weh thut, sondern auch – ach Gott, es muß heraus, ich könnt ja heut' Nacht sterben müssen! – Herr Pfarrer, der Heinrich Kern ist unschuldig verurtheilt – er hat mein Haus nicht angezündet – ich habs selber gethan!«
Er stöhnte und drückte sein Gesicht in das Kissen. Der Pfarrer schwieg, überrascht von diesem Geständniß. Michel Zehnder wandte sein Gesicht wieder herum und fuhr fort: »Jetzt ists heraus, Herr Pfarrer, nun hören Sie auch vollends, wie das gegangen ist!«
Was er nun mit mancherlei Unterbrechungen und mit allmälig matter werdender Stimme erzählte, war kurz Folgendes: Zur Zeit jenes Brandes sei er im Gedränge mit Schuldforderungen eines Juden gewesen, die noch aus seiner ledigen Zeit stammten und im Stillen ganz ungeschickt herangewachsen und wucherisch vermehrt worden waren. An jenem Sonntag Nachmittag sei er wieder von dem Juden gedrängt worden; anderer Schulden wegen, die er erst in den letzten Tagen hatte bereinigen müssen, sei er nicht im Stande gewesen, den Juden zu befriedigen und dieser habe wie schon früher mit Exekution gedroht; früher habe der Jud sich immer wieder beschwichtigen lassen, jetzt habe er geglaubt, sein Opfer sicher zu haben und sei auf seiner Drohung beharrt. Als er weg gewesen sei, sei er, Michel Zehnder, ins Wirthshaus gegangen, um seine Sorgen zu vertrinken, und als er gegen Abend etwas benebelt nach Hause zurückgekehrt sei, sei ihm der Gedanke gekommen, daß die hohe Summe, mit der Haus und Hof versichert war, mehr als ausreichend wäre, den Wucherer zu befriedigen, daß er noch Geld übrig und jedenfalls für den Neubau Credit haben würde. Der Gedanke habe ihn nimmer losgelassen, nach dem Abendessen sei er, ohne daß das jemand hätte auffallen können, wieder dem Wirthshaus zugegangen, aber unterwegs noch einmal umgekehrt und habe das Feuer so gelegt, daß der Brand erst allmälig zum hellen Ausbruch kommen konnte. Das sei ihm gelungen, ohne daß er bemerkt worden wäre, und als der Feuerlärm begonnen habe, sei er längst wieder bei seinem Schoppen gesessen. Daß sein Todfeind, der Forstwächter, den Brand zuerst entdeckt habe, sei ihm gerade geschickt gekommen. Schon früher einmal habe er selber einen Schuppen angezündet, worin sein Hund gelegen sei, um die Schuld auf den Heinrich Kern zu bringen, mit dem er gerade wegen der Hunde Streit gehabt habe. Damals sei's nicht gelungen, dem Forstwächter etwas nachzuweisen, jetzt aber habe ihm, dem Michel Zehnder, der Teufel keine Ruhe gelassen: jetzt muß der Kern dran, habs immer in ihm geheißen, und wenn Du einen Meineid noch schwören mußt! Jetzt gehts vollends in Einem hin!
»Und den Meineid hab ich geschworen,« schloß Michel, »ich habs auf meinen Zeugeneid genommen, daß der Forstwächter mir einige Tage vorher mit Brandstiftung gedroht habe, und das hat beim Gericht den Ausschlag gegeben. Aber das war gelogen! Wie nun der Kern zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt war, da hat michs wieder reuen wollen, aber wenn ich jetzt mich selber angegeben hätte, so hätt ich an seine Stelle müssen – und das, das hätt ich nicht ertragen! Einmal war ich schon auf dem Weg zum Gericht – ich bin wieder umgekehrt; ein andermal ist mir im Traum die Magd erschienen, die im Haus mitverbrannt ist, und am andern Morgen hab ich mein Gewehr geladen und bin in den Wald hinausgegangen, aber ich habs geladen wieder mit heim gebracht. Am End hab ich gedacht: geschehen ist geschehen! Aus der Noth mit dem Juden bist du, sieh daß du wieder vorwärts kommst, werd brav und rechtschaffen – mit der Zeit wirst du auch das vergessen. Ja, Herr Pfarrer, ich habs mit der Zeit vergessen – heißt das: vergessen nicht, aber ich mußte nicht mehr so viel drandenken; sonst ist mirs gut gegangen – aber jetzt – da lieg ich – und wie ich heut früh nach dem Unglück das Aug zum erstenmal wieder aufschlage, da steht jemand an meinem Bett, ich mein', es sei des Sägmüllers Marie, wie sie dazumal aussah – aber es war die Tochter, die Margreth, deren Vater ich ins Zuchthaus gebracht habe – und da, da ist mir alles wieder gekommen – o, Herr Pfarrer, helfen Sie mir, daß ich sterben kann!«
Der Pfarrer war tief erschüttert von diesem Bericht. Mit Ernst und Nachdruck redete er an das Gewissen Michel Zehnders und wies ihn darauf hin, daß seine Reue nur dann echt sei und sein Gewissen erleichtern könne, wenn er bereit sei, auch dem Gericht ein offenes Geständniß abzulegen, damit der Unschuldige freigelassen werden könne. Aber davon wollte Michel nichts wissen – um seines Sohnes willen, sagte er; er könne ihm das nicht anthun, daß er als der Sohn eines dreifachen Verbrechers umhergehen müsse; und wenn er je selber wieder gesund würde – dann die Schande! Und in seinen alten Tagen noch ins Zuchthaus wandern! Der Pfarrer erwiderte ihm, daß von letzterem keine Rede sei, da in zweiundzwanzig Jahren Verjährung eingetreten sei; aber das schwere Unrecht, das er einem Unschuldigen und noch zwei Andern zugefügt habe, müsse er bekennen und so weit möglich zu sühnen bereit sein, wenn er mit versöhntem Gewissen sterben wolle. Endlich sagte Michel: »Herr Pfarrer, Sie mögen Recht haben! Aber ich brings jetzt nicht übers Herz! Kommen Sie morgen wieder! Wenn ich noch lebe – vielleicht, daß ich's zu Stande bringe. Und wenn ich über Nacht sterben sollte, nun dann sagen Sie dem Gericht, was ich Ihnen gebeichtet habe, daß der Kern freikommt – aber doch so, daß mein Fritz nichts davon erfährt!«
Der Pfarrer sah, daß Michel Zehnder erschöpft war und daß es jedenfalls Zeit sei, ihn sich selbst zu überlassen. Er sprach noch ein kurzes ernstes Mahnwort und ging.
Vor der Thüre hielt ihn Fritz an, der ihn dort erwartet hatte.
»Herr Pfarrer,« sagte er, »was ists mit meinem Vater? Es liegt etwas in der Luft, was ich nicht verstehe, was aber in irgend einer Weise mit meinem Vater Zusammenhängen muß. Die Leute hier sind so verstört, mehr und in anderer Weise, als sich aus den Aufregungen der vergangenen Nacht erklären läßt! Meine Braut vor allem – Sie wissen ja vielleicht, daß ich mit Margreth so gut wie verlobt bin – sie ist ganz anders als sonst – und nun diese lange Unterredung meines Vaters mit Ihnen! Ich bitte Sie, geben Sie mir Klarheit und befreien Sie mich aus dieser peinlichen Ungewißheit!«
»Es sind mir allerdings von Ihrem Vater sehr ernste Dinge anvertraut worden,« erwiderte der Pfarrer, »und es mag sein, daß dieselben mit dem zusammenhängen, was Sie beunruhigt. Aber ich habe kein Recht, das mir auferlegte Beichtgeheimniß zu brechen – auch Ihnen gegenüber nicht, Herr Forstwart! Gedulden Sie sich bis morgen! Vielleicht löst sich dann die Sache!«
Der Pfarrer ging; Fritz aber vermochte nicht sich zu gedulden. Er sah nach seinem Vater; dieser lag erschöpft und wie im Fieberschlummer. Der Arzt kam wieder; er fand ein wenig Fieber, aber sonst den Zustand des Kranken nicht wesentlich verschlimmert; er gab sogar noch etwas mehr Hoffnung als am Morgen. Dies war für Fritz um so beruhigender, als er um seines Dienstes willen vor Nacht noch zur Stadt zurückkehren mußte; eh er aber ging, zog er Margreth in eine Ecke der Wohnstube und begann: »Margreth, ich bitte Dich, sag mir, was Dich drückt und verstört! Es geht ein Geheimniß durch euer Haus, von dem nur ich nichts weiß! Auch der Pfarrer weiß etwas und gibt keine Antwort! – Margreth, sprich,« fuhr er dringender fort, als diese mit gesenkten Augen schwieg, »sprich um Deinetwillen und um meinetwillen, um unser Aller willen!«
Noch immer schwieg Margreth. Dann, mit einem schweren Athemzug sich aufrichtend, sah sie ihm ins Gesicht und frug: »Fritz, weißt Du, wer und was mein Vater ist?«
»Wozu die Frage?« erwiderte Fritz verwundert. »Daß Dein Vater nichts als ein Bahnwärter ist, hat mich noch nie in meiner Liebe gestört. Du bist Du, was auch Dein Vater sei; auch ich bin ein Bauernsohn und nichts weiter!«
»Mein Vater ist aber nicht der Bahnwärter Siegel,« sagte jetzt Margreth mit entschlossenem Ton. »Mein Vater heißt Heinrich Kern und sitzt wegen schwerer Brandstiftung seit zweiundzwanzig Jahren im Zuchthaus!«
»Was?« fragte Fritz, als hätte er nicht recht gehört.
»Und Deines Vaters Haus wars, das vor zweiundzwanzig Jahren abbrannte!«
»Was?« rief Fritz noch einmal und griff sich an die Stirne. »Was sagst Du, Mädchen? Sag mirs noch einmal! Ich erinnere mich dunkel, daß unser Haus abgebrannt ist, als ich ein kleines Kind war – ja und jetzt fällt mir auch wieder ein, daß man mir später gesagt hat, ein Forstwächter Kern, der meines Vaters Todfeind gewesen sei, habe den Brand gelegt und sitze dafür im Zuchthaus – aber was, was sagst Du von dem?«
»Daß er mein Vater ist! Ich weiß es seit gestern Abend,« wiederholte Margreth tonlos.
Fritz starrte vor sich hin, als begreife er immer noch nicht.
»Frag' meine Mutter,« fuhr Margreth fort, »wie das ging? Oder nein, laß Dirs von mir selber sagen, es muß doch klar werden zwischen uns!« – Und mit kurzen Worten, ohne ihn anzusehen, wiederholte sie die Hauptsache aus ihrer Mutter Erzählung. Fritz hörte schweigend zu, er hielt die Arme über der Brust gekreuzt und biß in seinen Bart.
Als Margreth geendet, sah sie ihm wieder ins Gesicht und fragte: »Das erzählt man von dem Vater – willst Du die Tochter zum Weibe haben?«
Fritz wandte sich ab, aber nur einen Augenblick. Dann schloß er das schöne bleiche Mädchen leidenschaftlich in seine Arme und erwiderte: »Und wenn Dein Vater ein siebenfacher Mörder wäre, was kannst Du dafür? Du bist Du und von Dir laß ich nicht!«
»Ich danke Dir!« flüsterte Margreth. – »Aber jetzt geh! Dein Vater bleibt in guter Pflege!« setzte sie zögernd hinzu.
»Mein Vater!« wiederholte Fritz nachdenklich; es war ihm, als sei doch noch nicht alles klar.
»Margreth,« fragte er wieder. »Es ist noch etwas übrig – was weißt Du sonst noch? Was weißt Du von meinem Vater?«
»Nichts sonst!« erwiderte sie fest.
»Gewiß nichts? Nichts darüber, warum er so lange mit dem Pfarrer verhandelte?«
»Nein!«
Er sah ihr ins Auge, er schüttelte den Kopf – endlich verabschiedete er sich. Andern Morgens wollte er zurückkehren.
Als er weg war, tönte in Margreths Ohren immer noch seine Frage: »was weißt Du von meinem Vater?« – Hatte sie gelogen, als sie antwortete: »Nichts« – ? Nein, sie wußte in Wahrheit nichts! Aber dennoch war ihrs, als müßte sie ganz genau wissen, was Michel Zehnder mit dem Pfarrer geredet habe. Und sie mußte sich Gewalt anthun, daß sie wieder in die Kammer gehen und nach dem Kranken sehen konnte. Der Spruch: »liebet eure Feinde!« kam ihr in den Sinn, und sie dachte, daß es damit doch kein so einfaches Ding sei, wie es ihr im Konfirmationsunterricht seinerzeit geschienen habe. Lieben, den Mann hier lieben? Nein! Pflegen wollte sie ihn, wohlthun wollte sie ihm nach Kräften. Aber lieben? Nein! – Sie wußte nicht, daß das Mitleid, das sie für den Unglücklichen empfand, auch schon Liebe ist.
Die Nacht war ziemlich ruhig verlaufen. Margreths Pflegvater, der Bahnwärter, hatte seine Tochter nach Möglichkeit abgelöst, so daß diese einige Ruhe im Schlaf finden konnte, den ihr Jugend und körperliche Erschöpfung trotz aller inneren Aufregung verschafften.
Der Bahnwärter Siegel war eine stille, in sich gekehrte, einfach gutartige Natur. Er wußte von der Vergangenheit, er wußte, wer der Mann war, der in seinem Hause lag – aber er verarbeitete Alles in der Stille und stellte die Lösung der Fragen, die sich auch ihm aufdrängten, der Zukunft und Gott anheim. Für den Augenblick lebte er nur seiner Pflicht, und als seine Pflicht betrachtete er es auch, dem Verunglückten die Pflege seines Hauses angedeihen zu lassen, wie auch sonst die Dinge sein mochten.
Der Morgen war schon ziemlich vorgerückt, Michel Zehnder war gegen die Frühe in Schlummer gesunken, der noch andauerte. An seinem Bette saß jetzt nicht Margreth, sondern ihre Mutter.
Was die Frau am vergangenen Tage in sich durchgekämpft hatte, das hatte sie keinem Menschen gesagt. Alles Vergangene war ihr aufs neue lebendig geworden; sie hatte allen Jammer einstiger Tage wieder durchgelebt und – waren es einzelne Worte und Bemerkungen, die Margreth hatte fallen lassen, war es die geheimnißvolle Unterredung Michel Zehnders mit dem Pfarrer oder stimmte nur ihre eigene Ahnung mit der ihrer Tochter zusammen? Auch in ihr erwachte mehr als je eine völlige Gewißheit, daß Heinrich Kern unschuldig verurtheilt worden sei, und ein quälender Verdacht, daß Michel Zehnder in irgend einer Weise schuldig an all dem alten Unglück sei. Aber die leidende vielfach geprüfte Frau, die selber mit dem Gedanken des Todes sich im Stillen schon vertraut gemacht hatte, war eher im Stande, mit den Regungen der Abneigung gegen Michel Zehnder fertig zu werden, als das junge lebhaft empfindende Mädchen. Sie kämpfte alle Leidenschaft hinunter, sie wollte vergessen, vergeben, was auch Zehnder gethan haben mochte, sie wollte sich als Christin zeigen, die auch den Feind lieben könne. Und so war sie in der Frühe aufgestanden, sie fühlte sich kräftiger als sie selbst geglaubt hätte – und nun saß sie an Michel Zehnders Bett, als dieser erwachte.
Langsam wandte er den Kopf herum und faßte die Frau ins Auge. Auch sie sah ihn an, ohne Worte, aber mit einem milden Blick.
»Bist Du's, Marie?« fragte nun Michel.
»Ja, ich bins! Des Sägmüllers Marie!«
»Was thust Du da?«
»Euch pflegen will ich, Bauer! Ihr seid ja in meinem Haus! Die Margreth hat draußen zu thun!«
»Aber Du kennst mich doch?«
»Ja freilich!«
Er schwieg. Dann fragte er wieder: »Hast Du denn keine Feindschaft gegen mich?«
Sie zögerte mit der Antwort. Dann sagte sie: »Ich könnt' sie wohl haben. Aber ich möchte nach des Heilands Worten thun: liebet eure Feinde!«
»Also, Dein Feind bin ich doch?«
»Gutes habt Ihr mir nie gethan!«
»Aber Böses, gelt? Dir und dem Heinrich!«
Sie antwortete nicht.
»Kannst Du mirs vergeben?«
»Ich wills vergeben – ich wills, und wenns noch mehr wäre, als ich weiß! Ich wills, und ich mein', ich könnts auch! Unser Herrgott kann auch mich bald in die Ewigkeit rufen!«
Er schwieg wieder. Sie murmelte halblaut: »und vergib uns unsre Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern!«
Dann schwiegen wieder beide. Er hatte die Augen geschlossen; nach einer Weile drang eine Thräne zwischen seinen Augenlidern hervor.
Draußen tönten Schritte. Der Pfarrer und der Arzt kamen. »Herr Doktor, was halten Sie von mir?« fragte Michel Zehnder.
Der Arzt untersuchte wieder. Als er fertig war, fragte der Kranke nochmals: »Nun was ists? Sagen Sie mirs nur grad heraus! Ich glaub', ich kann alles ertragen!«
Der Arzt erwiderte: »Sicheres kann ich nicht sagen! Ich glaube, ans Sterben gehts für heute noch nicht! Ob Sie wieder aus dem Bett kommen, kann ich freilich nicht voraussagen, aber den Arm – den müßten wir jedenfalls abnehmen, wenn Sie's aushalten?«
»Kanns dabei zum Sterben gehen?«
Der Arzt zuckte die Achseln. Eine ängstliche Stille trat ein. Nun ging leise die Thüre auf und auch Fritz kam wieder. Der Bahnwärter und Margreth waren schon vorher eingetreten. Der Alte athmete noch schwerer als vorher, nachdem er seinen Sohn begrüßt hatte; es schien, als ringe er mit einem Entschlusse. Endlich schaute er nach dem Pfarrer, winkte ihn näher und sagte:
»Herr Pfarrer, was mit mir wird, obs zum Leben oder Sterben geht, das kann oder will mir der Herr Doktor nicht gewiß sagen. Aber mit mir ist eine Veränderung vorgegangen – mein Gewissen muß rein werden, ganz rein! Die Frau hier hat gesagt, sie wolle mir vergeben, und wenn ich ihr noch mehr Böses gethan hätte, als sie wisse. Aber Sie haben gesagt, Gott werde mir nur vergeben, wenn ich alles bekenne. Herr Pfarrer, leicht wird mirs nicht – aber ich spür', es muß sein! Ich will sterben können, wenns zum Sterben gehen sollte! Sie könnens bekannt machen, was ich Ihnen gestern gebeichtet habe – auch vor Gericht – und ich wills bestätigen, wenn das Gericht zu mir kommt und mich – noch – am Leben trifft!«
Er sank in völliger Erschöpfung zurück; der Arzt bat alle Anwesenden, die Kammer zu verlassen. In der Stube draußen wagte zuerst keines, ein Wort zu reden. Endlich brach Fritz das peinliche Schweigen. »Herr Pfarrer,« sagte er, »einmal müssen wirs doch erfahren! Sagen Sie nur alles!«
Und der Pfarrer sagte, was ihm Michel Zehnder gebeichtet, so kurz und schonend als möglich.
»Mein Vater ist unschuldig! Gott sei Lob und Dank!« rief Margreth aus, wie von einer Last befreit. Die Mutter sank halb ohnmächtig in ihren Lehnstuhl und Fritz stand starr und regungslos. Nach einer Weile, währenddem die andern um die Frau beschäftigt waren und der Pfarrer versuchte, ihr einige tröstende Worte zu sagen, nahm Fritz schweigend seinen Hut und ging mit schwerem langsamen Schritt hinaus. Margreth bemerkte es und eilte ihm vor die Thür nach.
»Fritz, wohin?« fragte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß nicht! Nur an die Luft! Mir schwindelt!« erwiderte er. Margreth ergriff seine Hand und wollte etwas sagen, er aber fuhr fort:
»Margreth, jetzt sind die Rollen gewechselt, jetzt bin ich eines Verbrechers Sohn – hast Du noch Lust, das Weib eines solchen zu werden?«
Margreth hielt seine Hand fest und antwortete: »Was hast Du gestern zu mir gesagt? Und wenn Dein Vater ein siebenfacher Mörder wäre, Du bist Du! Das sag' ich auch zu Dir und zwischen uns bleibt alles, wie es war. Aber eh ich Dein Weib werde, muß mein Vater frei sein und –« sie stockte – »und er muß jetzt seinen Willen dazu geben!«
Er nickte trüb und sagte tonlos: »Da hast Du Recht! Ja, ja!« Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Jetzt laß mich gehen, Margreth! Ich will in den Wald hinüber – es ist mir so wirr im Kopf!«
Sie sah ihn ängstlich an; er lächelte: »Sei ruhig, Mädchen! Ich thu' mir nichts zu leid, ich komme zurück, sobald ich wieder ordentlich denken kann!«
Er ging langsam davon. Als Margreth in die Stube zurückkehrte, sagte eben ihre Mutter mit matter Stimme: »Herr Pfarrer, es soll bei meinem Wort bleiben, ich wills ihm vergeben. Aber jetzt ists doch schwerer, als ich geglaubt hätte!«
– In Michel Zehnders Befinden trat von diesem Morgen an eine Verschlimmerung ein. Am Nachmittag konnte er noch gerichtlich vernommen werden und sein Geständniß bestätigen. Nachher ließ er auch noch Fritz und Margreth an sein Bett kommen und sagte mit schwacher Stimme: »Ich hab's seither nicht leiden wollen, daß ihr euch heiratet! Jetzt wär mirs ein Trost, wenn Du, Fritz, an der Tochter gut machen würdest, was ich am Vater und an der Mutter gesündigt habe. Aber jetzt sagt vielleicht ein Anderer Nein! Und ihr selber – könnt ihr mir verzeihen?«
»Du bist mein Vater!« sagte Fritz und Margreth reichte dem Kranken schweigend die Hand.
»Willst Du Deinen Vater fragen, Margreth, ob er mir auch verzeihen könne?« sagte Michel wieder.
Margreth nickte. Michel Zehnder schloß die Augen, seine Lippen bewegten sich, als ob er bete.
In der folgenden Nacht starb er.
* * *
Jahre sind seitdem vergangen. Am Rand einer herrschaftlichen Privatwaldung im Oberland steht ein schmuckes Forsthaus. Der Förster Fritz Zehnder ist im Wald draußen, unter der Thüre des Hauses steht sein Weib, die Margreth, einen Säugling auf dem Arm, und zwei ältere Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, spielen an der Bank neben der Thüre. Auf der Bank sitzt ein hagerer Mann in gebeugter Haltung, Haare und Bart sind völlig weiß und lassen ihn älter erscheinen, als er in Wahrheit sein mag. Er sieht dem Spiel der Kinder zu und lächelt trüb vor sich hin. Der Mann heißt Heinrich Kern und die Kinder nennen ihn Großvater. Die Leute in der Umgegend halten ihn für kindisch und halb irrsinnig; er ists nicht, aber als ein gebrochener Mann an Leib und Seele ist er aus dem Zuchthaus gekommen, in dem er zweiundzwanzig Jahre unschuldig gesessen hat. Es sei ein Wunder gewesen, haben die Aerzte gesagt, daß ers nur so lange ausgehalten habe. Die Margreth hat ihn damals abgeholt, als er entlassen wurde, sie hat ihn noch an das Krankenbett ihrer Mutter geführt, welche seit dem Tod Michel Zehnders das Lager nicht mehr verlassen hat und im Frühjahr darauf zur ersehnten Ruhe eingegangen ist. Sie hat damals den Heinrich Kern noch gefragt, ob er ihr verzeihen könne, daß auch sie an ihm irr geworden sei und sich von ihm habe scheiden lassen? Er hat nur gelächelt und ihr die Hand gegeben. Dann hat sie auch noch gefragt, ob er dem Michel Zehnder vergeben könne? und er hat geantwortet: »Ich weiß nicht! Ist auch einerlei! Mein Leben ist verloren, und das gibt mir niemand zurück, ob ich hasse oder vergebe!« Und wie die Margreth ihm von dem Fritz gesagt hat, und wie dieser selber gekommen ist und ihn gefragt hat, ob er den Sohn entgelten lassen wolle, was der Vater ihm angethan habe, da hat er den Kopf geschüttelt und hat erwidert: »was können die Kinder für die Sünden der Väter? Unser Herrgott mags damit halten, wie's recht ist – ich sag kein Ja mehr in diesem Leben und kein Nein! Holt mir den Schreiner, daß er mir das Maß zum Sarge nimmt!«
Und der Fritz und die Margreth haben geheiratet – es war keine fröhliche Hochzeit. Erst hier in dem Forsthause am Walde ist ihnen die Sonne wieder heller aufgegangen, und auch dem Vater ist der Sarg noch nicht so schnell gezimmert worden. Er hat tiefsinnig vor sich hingelebt und erst, wie er Enkel hüten konnte, hat er allmälig wieder lächeln gelernt.
Nun sitzt er auf der Bank im Sommersonnenschein – er sitzt immer gern in der Sonne, wenn sie nicht gar zu heiß brennt – die Kinder spielen zu seinen Füßen und zwei junge Dachshunde kommen herangelaufen und treiben um die Kinder ihr Wesen.
»Margreth,« wendet sich jetzt der Alte zu seiner Tochter, »sieh, der Waldmann da wird grad in Farbe und Zeichnung, wie mein Waldmann gewesen ist. Ich glaub auch, daß er gut für den Bau wird – den soll der Fritz nur nicht hergeben!«
Margreth erschrack. »Vater, denk nicht an die alten Zeiten!« sagte sie.
Er lächelte wieder und sagte: »Warum nicht? Ich kann wieder daran denken und hab in letzter Zeit oft drangedacht. Ich meine auch, es wird wieder heller in mir, das Denken thut mir nicht mehr so weh. Und ich mein' jetzt, dem Michel Zehnder hab' ich verziehen – die Kinder da sind ja auch seine Enkel und Dein Fritz ist sein Sohn! Was der an Dir und mir Guts gethan hat, das mög' ihm unser Herrgott vergelten! Und ich brauch unsers Herrgotts Gnade auch!«
Margreth setzte sich zu ihm auf die Bank und faßte seine Hand. Sie konnte nichts sagen als: »Vater!« – aber sie war glücklich. Nach einer Weile sagte der Alte wieder:
»Ich hab' Deine Mutter drum beneidet, daß sie zur Ruhe durfte, und hab all die Jahre her gedacht, wanns doch auch an mich kommen werde? Aber heut ist mirs, als möcht' ich wieder eine Büchse anrühren und könnt' einmal wieder mit dem Fritz in den Wald gehen!«
Er streichelte den Hund, der ihm um die Kniee schnupperte.
Plötzlich sagte er: »Aber es ist, wie wenns kalt würde! Und die Sonne steht doch noch hoch!«
Er lehnte sich zurück und blickte nach dem Wald hinüber, über den das helle Sonnengold herfluthete. Vom Waldrand her kam Fritz Zehnder, die Büchse auf der Schulter, einen Hühnerhund zur Seite. Sein ältester Bub sprang ihm entgegen. »Vater,« rief er, »der Großvater sagt, der Waldmann werde gut – und er selber will morgen mit Dir in den Wald!«
Fritz Zehnder antwortete nicht; er beschleunigte seinen Schritt, denn er sah, wie sein Weib sich erschrocken über ihren Vater beugte. Als er näher kam, waren des Alten Augen geschlossen, sein Athem stand still, die Sonne lag hell auf seinem friedlich ruhigen Gesicht und dem weißen Haar.